Cannes. Ein Fest mit großem Staraufgebot, dazu ein Spektakel für Augen und Ohren im Kino war die Eröffnung der 65. Filmfestspiele in Cannes. Für die wichtigste Nebensache dabei, sorgte Regisseur Wes Anderson mit seinem genialen Kunstwerk „Moonrise Kingdom", ein bis ins kleinste Detail verschrobenes und verspieltes Romantik-Abenteuer zweier exzentrischer Jugendlicher.
Doch vor den Film hat der Cannes-Gott den Roten Teppich mit den am häufigsten fotografierten Treppenstufen der Welt gesetzt - "Les Marches" schwärmt der Franzose. Den Sexismus (eines Wettbewerbs ohne Regisseurinnen) auf die Spitze trieb Alec Baldwin, der seine Verlobte (in den Medien auch ohne Namen), die Stufen zum Palast hochtrug. Man kann diesen Wesen auch nicht zumuten, wie Jury-Mitglied Diana Kruger auf der Suche nach irgendeiner Hochzeit, exorbitante Schleppen selbst zu schleppen. Oder es länger in gemeingefährlichen High Heels auszuhalten. Dagegen sollen übrigens spezielle Einlage-Sohlen helfen, mit denen ein "Gift Store" im Hilton Hotel Stars beschenkt, die sich hierhin verirren. Passender Name der heißen Sohlen: Red Carpet - Roter Teppich! Bill Murray setzte seine spezielle Note beim Verkleidungszwang mit einer knallbunten Fliege. Wer seine vergessen hat, bekommt im Supermarkt ein Billigst-Modell für nur 35 Euro!
Murray glänzt auch im neuen Wes Anderson Wettbewerbs-Starter „Moonlight Kingdom" wieder mit Verschrobenheit. Wie aus einem Puppenhaus ganz großes Kino wird, ist das wunderbare Erlebnis, dass Wes Anderson zur Eröffnung in Cannes präsentierte: Absonderliche Familien zeigte er schon in den „Royal Tenenbaums" und in „The Darjeeling Limited". Nun paart er solch einen herrlich skurrilen Haufen mit noch etwas schrägeren Pfadfindern, macht das Ganze zu einer Benjamin Britten-Oper, mischt Motive von Tiermärchen unter und verbreitete in Design und Farben der 60er Jahre großen Spaß. Um reinzukommen, lasse man einfach „Le Temps de l'Amour" von Françoise Hardy anklingen.
Es ist das Jahr 1965 und in 3 Tagen wird ein historischer Wirbelsturm über diese Region hereinbrechen. Der Pfadfinder-Flüchtling Sam (Jared Gilman) und die zwischen depressiv und cholerisch schwankende Suzy (Kara Hayward), Tochter einer Anwaltsfamilie Bishop, haben ihr Abenteuer auf der Neuengland-Insel lange vorbereitet. Während er im Stile von „Die Verurteilten" aus dem Zelt mit einem absurden Loch, um das eigentlich eine Wand gehört, abhaut, kommt sie mit Koffer, Katze und tragbarem Plattenspieler zur romantisch vernebelten Bucht, die später Moonrise Kingdom genannt wird. Die beiden ungewöhnlichen Teenager verhalten sich weiterhin nicht nach der Regel "Wes Brot ich ess, des Lied ich sing" und tanzen zu Françoise Hardy den Rock ihrer ersten Liebe. (Dieser Genitiv-Kalauer musste sein.)
Wie noch nie zuvor gelingt es Wes Anderson, seine eigenwilligen Visionen mit ganz allgemeingültigen Gefühlen zu verbinden. Wie immer bewegt sich bei ihm die Kamera durch die bis ins kleinste Detail liebevoll konstruierten oder restaurierten Räume eines sehr großen Puppenhauses. So mussten Zelte im Schottenmuster her und auch die Requisiten sind so, dass Bill Murray zugibt, einige geklaut zu haben. Insgesamt ein Dekor, ein ganzer Film zum sich Reinsetzen - wohlgemerkt nicht ins Kino, das ist selbstverständlich, direkt in den Film will man, in das Haus der Bishops oder in die Bucht von Sam und Suzy.
Auf einer ganz anderen Ebene wird ganz am Anfang des Films Brittens "Young Persons Guide to the orchestra" aufgelegt. Die Familien der Instrumente sowie Percells Variantionen dazu ergeben ein Zusammenspiel mit der Handlung, das man sich noch mal in Ruhe anhören muss. Ko-Autor Roman Coppola ist übrigens ein zweites Mal im Wettbewerb, bei Walter Salles "On the Road" war er Produzent.
Längst war die Bühne, auf der Beth Ditto einen Auftritt hatte, wieder vom Glamour befreit, als die Presse bekam an gleicher Stelle zum Frühstück das heftige Drama „De Rouille et d'os" mit einer großartigen Marion Cotillard vorgesetzt. Die Piaf- und Coco Chanel-Darstellerin spielt im neuen Film vom Cannes-Sieger Jacques Audiard ( „Ein Prophet") eine Orca-Trainerin, der bei einem Unfall beide Beine abgebissen werden. Das ist extrem heftig inszeniert und tatsächlich wichtiger als ihre unbedeckten Brüste, die das Boulevard interessierten. Noch wichtiger eigentlich die Hauptrolle vom Flamen Matthias Schoenaerts („Bullhead"), der einen Kickboxer spielt, der sich weder um die am Boden zerstörte Frau noch um seinen kleinen Sohn kümmert - außer wenn er seine Fäuste einsetzen kann, um den ins Eis eingebrochenen Kleinen zu retten. Zwischen den Spielorten Côte d'Azur und Ardennen, zwischen großen Namen und intensivstem Autoren-Drama packt der sehr starke Film in fast jeder Szene. Stärker noch: Er haut um, schockt, bewegt, erschüttert.
„De Rouille et d'os" ist übrigens der erste von zwei Startern im Wettbewerb, die aus Lüttich stammen. Eine Produktionsfirma ist "Les Films de Fleuve" der Brüder Dardenne. Sie sind irgendwie immer in Cannes, auch wenn sie gerade keinen neuen Film haben. So wie Bouli Lanners, der Regisseur und Darsteller aus Lüttich, diesmal mit einer endlich ernsten Rolle als Kampf-Manager der tragischen Hauptfigur.
Außerhalb des Wettbewerbs enttäuschte Cannes-Liebling Fatih Akin: Für seine „Heimat"-Doku „Der Müll im Garten Eden" drehte er fünf Jahre im türkischen Dorf Camburnu, aus dem seine Eltern stammen. Ein politischer Beschluss machte aus den idyllischen Hügeln am Schwarzen Meer eine Hölle aus Gestank, Tierplagen und schwarzem Grundwasser. Der Film stellt zwar den aussichtlosen Kampf der – vor allem – Frauen aus dem Ort dar, schafft es aber nicht, über den Tellerrand hinaus zu blicken. Das Wort Müllvermeidung fällt kein einziges Mal. Das hinterlässt keinen besonderen Footprint im Festivalgeschehen und man kann sich ganz aufgeräumt wieder dem Wettbewerb widmen. Ulrich Seidls „Paradies: Liebe" ist hoffentlich verführerischer.