29.3.22

Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann


USA, Großbritannien 2020 (The Reason I jump) Regie: Jerry Rothwell, 82 Min., FSK: ab 6

Der Dokumentarfilm basiert auf dem gleichnamigen Buch des Autisten Naoki Higashida. Er beschrieb seine Realitätserfahrungen, um sie Nicht-Autisten zu vermitteln. („Neurotypisch" sagt man heute übrigens zum ausgemusterten „normal" der Nicht-Autisten, wenn man keine Hass-Breitseiten riskieren will. „Neurodivers" ist Neusprech für Autisten.) Jerry Rothwell, mit seiner Frau Übersetzer des Buches, ergänzt die Zitate der Tonspur mit den Geschichten von fünf jungen Autisten, die sich nur mit Problemen äußern können.

Die Porträts aus Großbritannien, Indien, Japan oder Sierra Leone werden begleitet von experimentellen Bildern und Sounddesigns, die das empfundene Chaos der Welt vermitteln sollen. Bei allem Streit, ob diese Mittel des Films zutreffend sind, was logischerweise nicht für alle Menschen des Autistischen Spektrums funktionieren kann, vermittelt die Dokumentation eine Ahnung von anderen Welten. Eltern sprechen gerührt über die Wirkung des Buches, wie es half, ihre Kinder zu verstehen. Eine großartige Kamera sowohl bei dokumentarischen als auch bei künstlerisch inszenierten Momenten hebt das gezwungenermaßen einseitige Werk von simplen Interview-Filmen ab.

A Hero - Die verlorene Ehre des Herrn Soltani


Iran, Frankreich 2021 (Ghahreman) Regie: Asghar Farhadi, mit Amir Jadidi, Mohsen Tanabandeh, Fereshteh Sadrorafaii, 123 Min., FSK: ab 12

Zwei Tage hat der Gefangene Rahim Zeit, während eines Freigangs seine Dinge zu regeln und vielleicht sogar die Erlassung seiner Strafe zu erwirken. Eine zufällig gefundene Handtasche mit wertvollen Münzen könnte seinen Gläubiger besänftigen und die Freiheit erkaufen. Doch dann kommt alles anders ... Ein Krimi, so klingt es. Doch die Spannung bei Asghar Farhadis Filmen („Nader und Simin - Eine Trennung") liegt in seinen Menschen, in ihren nie einfachen moralischen Entscheidungen. Der Cannes-, Berlinale- und Oscar-Sieger packt erneut mit einer nur scheinbar einfachen Geschichte aus dem Iran.

Ein Mann verlässt das Gefängnis - allerdings nicht, um direkt ein neues Leben zu beginnen. Das Raffinierte an Asghar Farhadis „A Hero - Die verlorene Ehre des Herrn Soltani" liegt im häppchenweisen Preisgeben von Informationen. Die Frau, die den wegen Geschäftsschulden verurteilten Maler und Kalligraf Rahim (Amir Jadidi) empfängt, ist seine Freundin Farkhondeh (Sahar Goldoust). Die beiden lieben sich, sind aber noch nicht verheiratet und müssen sich im Iran deshalb heimlich sehen. Die große Freude beim Paar (und dem fast immer lächelnden Rahim) hat noch einen anderen Grund: Mit den von Farkhondeh gefundenen Goldmünzen hofft er, einen Teil seiner Schulden beim Gläubiger Bahram (Mohsen Tanabandeh) abzubezahlen und seine Haftstrafe zu verkürzen. Dann könnte er seine Freundin endlich heiraten und mehr Zeit mit seinem Sohn verbringen, der bei seiner Schwester lebt.

Dann versagen zufällig Taschenrechner und Kuli beim Goldhändler. Die Bedenkzeit nutzt das Gewissen. Rahim entscheidet sich, die Besitzerin der Münzen zu suchen. Nach etwas holperiger Rückgabe des Fundes durch seine Schwester erfährt die Gefängnisdirektion von der guten Tat. Der auch im Iran übliche Medienzirkus stürzt sich auf den bescheidenen Mann. Er kommt auf Titelseiten und ins Fernsehen. Bevor nach den Gesetzen medialer Heldengeschichten anonym geäußerte Zweifel den Niedergang einläuten. Der versprochene Job wird verweigert, das von einer Wohltätigkeitsorganisation gesammelte Geld kommt nach einen Shitstorm im Internet einem zum Tode Verurteilten zugute. Rahims Weg fordert immer wieder Entscheidungen, die nie das gewünschte Ergebnis bringen.

„A Hero - Die verlorene Ehre des Herrn Soltani" spielt in der Stadt Shiraz, fern von den Tumulten in Teheran. Am Anfang besucht Rahim seinen Schwager an der antiken Stätte von Naqsch-e Rostam. Der Kritiker vom „film-dienst" bemerkte treffend, dass sich im Auf und Ab auf den Gerüsten vor der Grab- und Königsstätte Rahims Aufstieg und Niedergang im Film vorzeichnet.

Während es eine Binse ist, dass die besseren Figuren in Literatur, auf der Bühne und der Leinwand die ambivalenten sind, zeigt Asghar Farhadi hier ungekannte Schattierungen von Grau. Der Regisseur und Autor legte darauf großen Wert: „Im wirklichen Leben bestehen Menschen aus einer Vielzahl von Dimensionen, und unter bestimmten Umständen übernimmt eine davon die Oberhand und wird deutlicher sichtbar. Dies sind ‚graue' Charaktereigenschaften: Sie sind nicht stereotypisch, einseitig. Wie jede Person im täglichen Leben sind sie gegensätzlich, haben antagonistische Tendenzen und sind gespalten, wenn es um Entscheidungen geht."

Die Reihe von Asghar Farhadis Auszeichnungen ist eindrucksvoll: Die Berlinale entdeckte ihn 2009 mit einem „Silbernen Bär" für „Elly", der Geschichte eines Wochenendausflugs ans Meer. 2011 gab es den „Goldenen Bär" für das Familien-Drama „Nader und Simin - Eine Trennung", dazu auch den Oscar als „Bester fremdsprachiger Film". Farhadis französische Produktion „Le passé - Das Vergangene" erhielt in Cannes 2013 den „Preis der ökumenischen Jury". „The Salesman" wurde 2016 erneut in Cannes („Bestes Drehbuch") und 2017 mit einem Oscar ausgezeichnet. Für „A Hero - Die verlorene Ehre des Herrn Soltani" gab es nun in Cannes den Großen Preis der Jury.

Tatsächlich ist es packend, wie Farhadi ohne Verfolgungsjagden oder dauernde Raufereien eine enorme Spannung aufrechterhält. Wir bangen mit diesem bescheidenen Menschen, der immer das Gute will und leicht beeinflussbar zunehmend verzweifelt feststellt, dass ihm alles aus den Händen rinnt. Entscheidend spielen die Situation von Rahims Sohn mit seinen Sprachproblemen und auch eine Todesstrafe am Rande mit. Es zeigt sich erneut, wie raffiniert die Geschichten des iranischen Kinos sind, wie hoch das Niveau der Inszenierung.


Das Ereignis


Frankreich 2021 (L'événement) Regie: Audrey Diwan, mit Anamaria Vartolomei, Kacey Mottet Klein, Sandrine Bonnaire, 100 Min., FSK: ab 12

„Das Ereignis" erhielt beim Filmfestival von Venedig 2021 den Goldenen Löwen als „Bester Film", gegen eine Konkurrenz von Regisseuren wie Paolo Sorrentino und Pedro Almodóvar. Das erschütternde Drama nach dem gleichnamigen autobiographischen Buch von Annie Ernaux erzählt eine eigentlich „alte Geschichte". Die in einer Zeit, in der das Recht auf die weibliche Selbstbestimmung selbst innerhalb von Europa und Amerika wieder zurückgenommen wird, erneut furchtbar aktuell wird.

Anne (Anamaria Vartolomei) ist exzellente Literaturstudentin, eine starke junge Frau, die weiß, was sie will. Es ist das Jahr 1963 in Frankreich, Studentinnen leben im eigenen Wohnheim. Das andere Geschlecht reizt bei Tanzabenden, doch über den Begegnungen schwebt die Angst vor dem Unausgesprochenen. Dann erwischt es auch Anne: Im Heißhunger klaut sie Essen im Kühlschrank von anderen Kommilitoninnen - klares Anzeichen einer Schwangerschaft! Die junge Frau will unbedingt ihr Leben und ihr Studium weiterführen. Aber Schwangerschaftsabbruch wird mit Gefängnisstrafe für das Opfer und den Arzt bedroht. Aus Äußerungen ihrer Umgebung merkt sie schnell, dass sie mit der Situation allein zurechtkommen muss. 

Während der Film die Wochen der fortschreitenden Schwangerschaft einblendet, versucht es Anne verzweifelt mit Selbstmedikation, drängt ihren fürsorglichen, aber ängstlichen Gynäkologen auf Kontakt zu einem anderen Kollegen. Der wird allerdings ein Mittel verschreiben, dass die Schwangerschaft nicht abbricht, sondern fördert. Eine schockierende Entdeckung, die zeigt, wie wenig Frauen das Recht auf Selbstbestimmung bei ihrem eigenen Körper zugesprochen wird.

Regisseurin Audrey Diwan inszeniert „Das Ereignis" geschickt: Beim Verzicht auf allzu viel Altmodisches und bei Annes selbstbewusster Haltung lässt sich vergessen, dass die Handlung mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegt. Tatsächlich ist das Thema Abtreibung nach Jahrzehnten Kampf um Frauenrechte wieder erschreckend aktuell. In Polen werden die Uhren zurückgedreht, in den USA Gynäkologen bedroht, in Deutschland ist das absurde „Werbeverbot" immer noch Gesetz - um nur ein paar der neuen frauenfeindlichen Entwicklungen anzuführen.
 
Der sehr bewegende Film erspart nichts von Annes Leiden an der furchtbaren Situation. Selbst der Besuch bei einer Frau, die illegal Abtreibungen macht, ist erst nicht erfolgreich. Dabei verlässt sich „Das Ereignis" ganz und ruhig auf das inhärente Drama der Geschichte, die Filmmusik setzt nur leicht gezupfte Akzente. Das funktioniert vortrefflich und preiswürdig durch das intensive Spiel von Anamaria Vartolomei, eine tolle Entdeckung. Die Rumänin gab ihr Schauspieldebüt 2011 als Zehnjährige in „I'm Not a F**king Princess" neben Isabelle Huppert. Im Historien-Film „Ein königlicher Tausch" (Originaltitel: L'échange des princesses, 2017) fiel sie als 12-jährige Tochter des französischen Regenten auf. Diese Louise Élisabeth d'Orléans heiratete in einem politischen Arrangement den 14-jährigen spanischen Thronfolger Ludwig. Für die Rolle der Anne in „Das Ereignis" gewann sie einen Prix Lumière als Beste Darstellerin sowie den César als Beste Nachwuchsdarstellerin.

Peterchens Mondfahrt (2021)


Deutschland, Österreich 2021, Regie: Ali Samadi Ahadi, 85 Min., FSK: ab 0

Früher war eine Reise zum Mond allein sensationell und auch Thema des ersten „Science-Fiction" von Pionier Georges Méliès. 120 Jahre später muss die Machart faszinieren - was der neuen Verfilmung des Kinderbuchklassikers „Peterchens Mondfahrt" klasse gelingt: Die Geschwister Anna und Peter folgen dem sprechenden Maikäfer Sumsemann aus ihrem Neubaugebiet mit den verdorrten Wiesen auf eine magische Reise zum Mond. Denn der hinterhältige Mondmann hat eine wunderschöne Birke mitsamt dem sechsten Bein vom Sumsemann entführt.

Gerdt von Bassewitzs Märchenspiel aus dem Jahr 1912 wurde nicht nur mit fantastischen Figuren, Tieren und Szenerien am Computer aufgefrischt. Die Handlung mit modernen Filmzitaten wirkt dank des deutschen Regisseurs iranischer Herkunft Ali Samadi Ahadi zeitgemäß: Das Wüsten-Rennen von „Star Wars" geht jetzt durch Parmesan-Berge und Magermilch-Schluchten. In der James Bond-Dramaturgie muss eine Mondkanone zur Welteroberung zerstört werden. Auf dem Schloss der Nachtfee gibt es dienstbare Minions, diesmal in Lila. Auch wenn Mondpudel mit furchterregendem Gebiss und leuchtenden Augen für die Kleinsten zu eindrucksvoll sein könnten, bietet diese Mondreise packende Unterhaltung mit Ökotouch.

22.3.22

Ambulance (2022)


USA 2022, Regie: Michael Bay, mit Jake Gyllenhaal, Yahya Abdul-Mateen II, Eiza González, 137 Min., FSK: ab 16

Circa fünf Minuten „verschwendet" „Ambulance" für jede „Person", um sie mit ihrem jeweiligen „Drama" vorzustellen. Das muss als Basis reichen für extrem flache Action. Danny (Jake Gyllenhaal) raubt Banken aus, weil er das schon immer gemacht hat. Sein ungleicher Bruder Will (Yahya Abdul-Mateen II) wollte damit nichts mehr zu tun haben, braucht aber Geld für die experimentelle Krebsbehandlung seiner Frau. Das US-amerikanische Gesundheitssystem zahlt mal wieder nicht. Nach knapp 30 Minuten geht dann in diesem Ballermann-Film das Schießen und Morden los. 

Der Überfall geht mehrfach schief. Nicht nur taucht zufällig ein Streifenagent auf, der in eine Kassiererin verliebt ist, die Bankräuber wurden auch von schwerbewaffneten Spezialkräften erwartet. Auf der Flucht entführen Danny und Will ausgerechnet den Krankenwagen (Ambulance), der einen durch sie schwerverletzten Polizisten retten will. Was zu einer Menge Schrott und einer blutigen Operation per Telemedizin mitten in der endlosen Verfolgungsjagd führt. 

Michael Bay war als Regisseur und Produzent einst berüchtigt für Actionfilme, die einen mit Zuviel an Waffen, Zerstörung, Effekten und Krach erschlugen. Und dazu gnadenlos auch noch hunderte Figuren am Rande. „Armageddon" (1998), „Pearl Harbor" (2001) oder „Transformers" (2007) gelten als „Höhepunkte" seiner Regiearbeit. In den letzten Jahren hat er sich vor allem mit Wiederholungen von „Transformers" beschäftigt, seine simple Überwältigungs-Masche ist aus der Zeit gefallen. Das Remake des dänischen Thrillers „Ambulancen" aus dem Jahr 2005 verläuft nun in seiner andauernden Raserei so unwahrscheinlich, dass es zeitweise wie Action-Parodie wirkt - oder wie eine Bewerbung für SchleFaZ - die schlechtesten Filme aller Zeiten.

Echte Schauspieler wie Jake Gyllenhaal sind völlig unterfordert bei dieser aufgesetzten Liebe zwischen zwei ungleichen Brüdern, die kurz zusammenhält und dann endgültig zerbricht. Selbst für Fans des Genres wird dieser laue und unausgegorene „Bay-Watch" nur mühsam die Zeit totschlagen.


21.3.22

Silence Breakers


Israel, Frankreich, Deutschland 2021, Regie: Silvina Landsmann, 88 Min., FSK: ab 12

Jüdische Israelis zeigen, was Israelis den Palästinenser antun. Auf diese Formel kann man die Arbeit von „Breaking the Silence" bezeichnen. Dies ist eine israelische Organisation, die durch Whistleblower aus den Reihen der Armee ein Bewusstsein für die militärische und zivile Situation in den besetzten Gebieten schaffen möchte. Noch schockierenden Szenen von den Störmanövern extremistischer Siedler gegenüber einer Gruppe interessierter Besucher konzentriert sich der Dokumentarfilm auf die Arbeit der Aktivisten in ihren Büroräumen, unterfüttert von Medienberichten über sie. Das Gesamtbild ist das einer zerrissenen Gesellschaft, in der Meinungsfreiheit und Diskussionskultur im eigenen Land längst Opfer der brutalen Besatzungspolitik wurden.

19.3.22

Come on, Come on


USA 2021 (C'Mon C'Mon) Regie: Mike Mills, mit Joaquin Phoenix, Woody Norman, Gaby Hoffmann, 114 Min., FSK: ab 6

Regisseur Mike Mills („Jahrhundertfrauen") berührt und begeistert erneut mit einem ungemein sensiblen Meisterwerk über einen Journalisten, der sich überraschend um seinen neunjährigen Neffen kümmern muss. Neben Joaquin Phoenix begeistert der junge Woody Norman als sehr aufgewecktes Kind.

Der New Yorker Radiomoderator Johnny (Joaquin Phoenix) interviewt Kinder zu ihren Träumen, Ängsten und Hoffnungen. Er hat beruflich also viele Erfahrungen und Kontakte mit Kindern und Jugendlichen. Doch ein unerwarteter Anruf von seiner Schwester Viv (Gaby Hoffmann), die in Los Angeles nicht nur räumlich sehr entfernt lebt, zwingt ihn zu einem Schnellkursus in Leben mit Kindern. Denn Viv will sich um ihren bipolaren Partner kümmern. Und lässt Johnny ganz schnell mit ihrem Sohn Jesse (Woody Norman) allein. Es ist das erste Mal, dass der frisch getrennte Single Johnny für ein Kind verantwortlich ist - und das erste Mal, dass Jessy längere Zeit von seiner Mutter getrennt ist.

Der oft verschlossene, einsame und auch manchmal seltsame Mann, der sich umständehalber um ein Kind kümmern muss und dabei zum offeneren Menschen wird ... das Klischee gibt es bei Mike Mills nicht. Der 1966 geborene Kreative, der Musikvideos für Künstler wie Moby, Yoko Ono und Air gedreht hat, zeigte in seinen Filmen „Jahrhundertfrauen" (2016), „Beginners" (2010) und „Thumbsucker" (mit Keanu Reeves, 2005) immer Familien anderer Art und vor allem auf andere Art und Weise: Wenn Filme ansonsten unter die Haut gehen, tief in die Seele und auf Gefühle blicken, geht Mills noch ein paar Lagen tiefer. Ganz wie Jesse in „Come on, Come on" immer wieder oberflächliches Gerede oder ausweichende Antworten abkanzelt: „Blabla, Blabla...". Mills ist mit der Künstlerin und Filmemacherin Miranda July verheiratet. Er hat einen Sohn, der große Inspiration für „Come on, Come on" war.

Nach ein paar Tagen in Los Angeles, in denen der hyperaktive Jesse Johnny enorm fordert, lädt der Journalist den Jungen zu sich und seiner Arbeit nach New York ein. Eine geniale Beschäftigungs-Idee ist, Jesse das Aufnahme-Equipment zu geben und so die Welt anders erleben zu lassen. Auf Spaziergängen am Strand von Santa Monica und in New York hört das sehr aufgeweckte und extrem neugierige Kind zu. Zuhören ist generell ein großes Thema in „Come on, Come on", denn Johnny und Jesse kommen sich vor allem in Gesprächen näher. Gespräche, die auch versuchen, den impulsiven, manchmal verängstigten, manchmal besorgten Jungen einen Umgang mit den eigenen Gefühlen zu vermitteln. Gespräche mit einer intensiven Offenheit, die man selten im Film erlebt.

Die Jagd auf Klänge mit großem Mikrophon und Kopfhörern erinnert zwar an „Lisbon Story" von Wim Wenders (mit Rüdiger Vogler als Philip Winter), doch Mike Mills erzählt von einer anderen Inspiration durch den deutschen Regisseur: „Schon früh dachte ich an ‚Come on, Come on' als eine Art Blues-Riff auf ‚Alice in den Städten', sagt Mills, „denn wie Wenders wollte ich eine Kinderfigur zeigen, die ein Wesen mit Willenskraft, Sorgen, Wünschen und Ängsten ist, die die gleiche Berechtigung haben wie die Gefühle eines Erwachsenen." In „Alice in den Städten" reist der deutsche Journalist Philip Winter (Rüdiger Vogler) mit einem jungen Mädchen durch die USA, nachdem dessen Mutter nicht auftaucht.

Wie oft bei Wenders wird auch „Come on, Come on" zu einem Roadtrip, als Johnny für seine Interviews nach New Orleans muss. Begleitet wird er dabei von Kollegin Roxanne. Die Schauspielerin Molly Webster ist im wirklichen Leben Senior Correspondent für das New Yorker Radio Lab, also eine echte Vertreterin dieser faszinierenden Arbeit, Kindern eine Stimme zu geben.

Joaquin Phoenix spielt angenehmerweise mal keinen extremen Charakter wie den „Joker". Doch der wahre Star in  „Come on, Come on" ist Woody Norman als Jesse: Mit großen, wachen Augen saugt er alle Aufmerksamkeit und Energie aus seiner Umgebung auf. Das Ergebnis dieses immer emotionaleren Zusammentreffens ist ohne künstliche Dramatik packend und berührend. Mills sagt dazu: „Unsere kleine, intime Geschichte spielt sich im Kontext einer viel Größeren ab. Dieses Spektrum spüre ich oft auch bei meinem Kind. Unsere gemeinsame Zeit ist intim und privat, und doch geht es um die großen Themen des Lebens."

Die Schwarzweiß-Kamera von Robbie Ryan liefert ganz wunderbare Bilder aus Los Angeles, New York und New Orleans. „Schwarzweiß funktioniert für beides. Es ist intim, lässt aber auch mehr Spielraum, holt die Figuren aus der Zeit heraus, distanziert uns vom Alltag und macht die Bilder fast zu Zeichnungen," sagt der Regisseur. 

Der Soundtrack liefert einen lebendigen Mix, während der Score aus Synthesizern und Klarinette von den Zwillingsbrüdern Aaron und Bryce Dessner zurückhaltend komponiert wurde. Die Gründer der Rockband „The National" haben schon mit Mills an einem 25-minütigen Film zur Musik ihres Albums „I Am Easy to Find" zusammengearbeitet.

Die eingeblendeten Titel der Bücher, die Jesse vorgelesen werden, sind Empfehlungen und Fußnoten zum Film. Das unübersehbare Riesen-Poster mit dem Schriftzug Rousseau über dem Bett, weist zwar auf den großen Pädagogen („Emile oder Von der Erziehung") hin, doch „Come on, Come on" folgt weder dem Franzosen noch reibt er sich an dessen Theorien.

JGA: Jasmin. Gina. Anna.


Deutschland 2021, Regie: Alireza Golafshan, mit Luise Heyer, Taneshia Abt, Teresa Rizos, 119 Min., FSK: ab 12

„Keine Sorge, das wird richtig, richtig peinlich!" Dieses Versprechen im Vorfeld eines exzessiven Junggesellinnen-Abschieds erfüllt „JGA: Jasmin, Gina und Anna" nur im guten Sinne. Die drei verzweifelten Single-Frauen Jasmin, Gina und Anna scheitern grandios an der großen, wilden Ibiza-Party. Sie werden beim Spaß mit Seelen-Weh allerdings nicht bloßgestellt.

Autor und Regisseur Alireza Golafshan überraschte in seinem Debütfilm „Die Goldfische" mit einer frechen Behindertenkomödie (und Tom Schilling in einer fiesen Hauptrolle). Nun wagt sich Golafshan auf das mit unappetitlichen Fettnäpfchen verminte Gebiet der Filme über Junggesell(inn)en-Abschiede. Die „Hangover"-Reihe mit Koma-Saufen, unfreiwilligen Tattoos und dem Verlust von Gliedmaßen ist am bekanntesten. Frauen-Varianten wie „Girls' Night Out" mit Scarlett Johansson ließen nicht lange auf sich warten.

In „JGA: Jasmin, Gina und Anna" stürzen sich drei nicht mehr ganz junge Frauen in den Junggesellinnen-Abend ihrer Freundin. Wenn Jasmin (Luise Heyer) mit einem riesigen Aufblas-Penis an der Bushaltestelle vor dem Poster einer Nonnen-Fernsehserie sitzt, wird klar, dass es in Richtung „Hangover" geht. Aber auch der traurige Unterton von Verzweiflung am eigenen Lebensweg wird gesetzt. Die ruppige Gina (Taneshia Abt) und die naive Anna (Teresa Rizos) komplettieren „JGA". Sie sind die Einzigen aus dem Freundinnen-Kreis, die nicht wegen Kindern oder Partner am Feiern gehindert werden. Dann laufen die „Um die 30"-Singles mit neonfarbenen Tüll-Röckchen und rosa Stretch-Limousine auch bei der zukünftigen Braut auf. Die ist nämlich gerade schwanger und will auf keinen Fall Alkohol-Exzesse. Also nix Ibiza als Überraschungstrip. Aber dann führen nicht stornierbare Flugtickets und das Elend des eigenen Lebens in einer traurigen Viertelkneipe zu einem lauten „Trotzdem".

Die tragische Suche nach Spaß geht auch auf der Party-Insel herrlich schief. Eckpunkte des Niedergangs der Drei von der Trinkstelle sind: bereits vergebene Hotelzimmer, gestohlene Koffer und Kreditkarten, aber vor allem ein Treffen mit Tim. Ausgerechnet der Tim (Dimitrij Schaad), dessen Trennung Jasmin in den letzten sieben Jahren zum beziehungsunfähigen Trauerkloß machte, feiert hier einen Junggesellen-Abschied. Und zwar seinen Eigenen! Das ist der definitive Tiefschlag, über den auch als Ecstasy verkaufte Kurkuma-Pillen nicht hinweghelfen.

Passend zum Genre gibt es eine Reihe von Verwicklungen und Unglücke. Erfreulicherweise macht das beim Zusehen Spaß, selbst wenn die Scherze nicht derbe sind. Und mal keine Leiche zu entsorgen ist. „JGA" hat leider auch Längen, vor allem weil das Finale der schwächste Teil der Komödie wird. Denn da geht es nur noch ums Herz und um Freundschaften. Genau die Art von gefühlsduseligem Film, weswegen „Hangover" und Co. als derbes Gegengift erfunden wurden.

Im Ensemble überzeugt Luise Heyer („Nahschuss", „Der Junge muss an die frische Luft") in der Hauptrolle der zu lieben Frau, die selbst beim Lachen traurig wirkt. Teresa Rizos („Irre sind männlich") blitzt in einigen Szenen als grandiose Komödiantin auf. Axel Stein gibt diesmal den spießigen Stefan Trauzeuge und Kassenwart, nicht unbedingt eine Glanzrolle. Wie überhaupt die drei Männer zu vernachlässigen sind.

17.3.22

Tove


Finnland 2020, Regie: Zaida Bergroth, mit Alma Pöysti, Krista Kosonen, Shanti Roney, 107 Min., FSK: ab 12

Tove Jansson, die finnlandschwedische Schöpferin der international beliebten Mumintrolle, hatte viele Kämpfe und Niederlagen hinter sich, bevor sie täglichen Drei-Bild-Streifen ihres Mumin-Comicstrips in der englischen Zeitung „Evening News" einwilligt. Als Tochter eines renommierten Bildhauers suchte sie erst Anerkennung für die eigene Malerei. Spät zieht sie von den Eltern in ein Atelier, dem nach sowjetischen Bombenangriffen noch Fenster fehlen. Selbst für die geringe Miete reicht es nicht, da der finnische Künstlerverband ihr wieder und wieder kein Stipendium gibt. Zudem steckt Tove zwischen der offenen Beziehung mit dem verheirateten linken Politiker Atos und ihre unglücklichen Liebe zur Frauen-verschleißenden Theaterregisseurin Vivica.

Selbst diese große, ungemein selbstsichere Frau aus gutbürgerlicher Familie schätzt vor allem Toves nebenbei gezeichnete Geschichten von den Trollwesen mit den Knollnasen und wird später daraus ein Theaterstück machen. In diesem kommen zwar die beiden Frauen vor, doch zur Premiere verführt Vivica lieber die Darstellerin des Tove-Mumins.

Tove Jansson (1914-2001), deren „Mumin"-Bücher und -Comics in mehr als 40 Sprachen übersetzt wurden, schrieb Romane für Erwachsene, war politische Illustratorin und Karikaturistin, malte und schuf Skulpturen. So wie die Nachwelt sie auf den niedlichen Teil der auch tiefsinnig und weisen Mumin-Geschichten reduzierte, konzentriert sich „Tove" auf das Emotionale. Wie so oft in Künstlerinnen-Biografien. Das allerdings sehr gekonnt inszeniert. Es gibt nur wenige „große Bilder", dafür Zeitstimmung aus dem Nachkriegs-Helsinki mit viel Wodka sowie dem Zusammenwirken von Bourgeoisie und Boheme. Der sympathische Film gewinnt vor allem durch die eindrucksvolle Hauptdarstellerin Alma Pöysti mit ihrer lebendigen und empfindsamen Verkörperung einer Emanzipation in Leidenschaft und Kunst. „Tove" war in Finnland ein Publikumshit, wurde ins Oscar-Rennen geschickt und beim Filmpreis Jussi in sieben Kategorien ausgezeichnet.

Cicero


Deutschland 2020, Regie: Tina Freitag, Kai Wessel, 117 Min., FSK ab 0

Die Dokumentation über zwei hochtalentierte Musiker, Vater Eugen (1940-1997) und Sohn Roger Cicero (1970-2016), sieht mit vielen quasselnden Zeitgenossen und ein paar Musikstückchen aus, wie konventionelle Selbstdarstellung in Film-Biografien. Doch „Cicero" scheitert sogar an diesem simplen Standard und wird dank vielfach unglücklicher Darstellung selbst Fans extrem ermüden.

Das Doppelporträt von Vater Eugen und Sohn Roger Cicero, beide herausragende Artisten ihrer Zeit und beide relativ jung an Hirnschlägen verstorben, langweilt schon zu Anfang mit vielen „Talking Heads", den üblichen Interviews mit Leuten, die sich über Roger Cicero begeistern. Mit relativ wenigen Bilddokumenten wird vor allem nach-erzählt, was im Film nicht sonderlich attraktiv ist. (Die ganzen Menschen, die einen vollquatschen, lernt man übrigens nicht kennen - das trägt viel zum Desinteresse gegenüber dieser Machart bei.)

Dann wechselt „Cicero" völlig unvermittelt zur Biografie des Vaters Eugen, einem herausragenden Jazzpianisten aus Rumänien, der obwohl unter deutschen Kollegen hochverehrt, nie international Karriere machte. Dies alles, eine kurz behandelte Drogenabhängigkeit, das Verhältnis zum Sohn, klingt nach spannender Geschichte. Der Film „Cicero" präsentiert es durch seine Machart trotzdem extrem uninteressant.

Nach weiterem uneleganten Fokuswechsel erzählen Mitmusiker, Manager, Label-Vertreter, Stylisten und Verwandte den Erfolg von Roger Cicero, was vor allem als Musterbeispiel für Musik-Marketing herhalten kann. Ein Konflikt zwischen Kommerzialisierung mit dem deutschen Swing-Album und einer „puren" Jazzmusik ohne Schnickschnack etwa bei den durchdesignten Klamotten mit Hütchen, wird erwähnt. Das Debakel der ESC-Teilnahme ist Geschichte. Roger Cicero äußert sich nie dazu. Zu etwas anderem ebenso wenig. So bleibt eine von der Idee her reizvolle Doppelbiografie zweier ähnlicher Musikerkarrieren völlig seelenlos und sogar gegenstandslos. Die, über die so viel geredet wird, verschwinden im endlosen Redeschwall.

 

15.3.22

Drei Etagen


Italien 2020 (Tre Piani) Regie: Nanni Moretti, mit Nanni Moretti, Margherita Buy, Riccardo Scamarcio, Alba Rohrwacher, 121 Min., FSK: ab 12

Ein schreckliches Ereignis bringt die Bewohner eines Hauses in Rom zusammen auf die Straße. Ausgehend von diesem einzigen Schnittpunkt erzählt der italienische Autorenfilmer Nanni Moretti („Liebes Tagebuch", „Das Zimmer meines Sohnes", „Mia Madre") vier dramatische Familiengeschichten. Das Kaleidoskop der zerbrochenen italienischen Institution Familie wird mit viel Emotionen und Tragik von einem grandiosen Ensemble präsentiert.

Hochschwanger versucht Monica (Alba Rohrwacher) mitten in der Nacht auf der leeren Straße ein Taxi zum Krankenhaus zu bekommen. Angerast kommt ein anderer Wagen und überfährt auf dem Zebrastreifen eine Frau, bevor er eine Wand durchbricht und in einem Atelier zum Stehen kommt. Dieser heftige Auftakt bringt die Menschen des „getroffenen" Wohnhauses zusammen. Dora (Margherita Buy) und Vittorio (Nanni Moretti) sind die Eltern des betrunkenen Unfallfahrers Andrea (Alessandro Sperduti), der bald verhaftet wird, da die überfahrene Frau tot ist. Monica hat alles gesehen, verschwindet aber schnell mit ihrem Taxi. Und Familienvater Lucio (Riccardo Scamarcio), in dessen Studio das Auto gelandet ist. Wegen der Aufregung geben Lucio und Sara (Elena Lietti) ihre siebenjährige Tochter Francesca (Chiara Abalsamo) zu den älteren Nachbarn Giovanna (Anna Bonaiuto) und Renato (Paolo Graziosi). Der Senior ist zwar leicht dement, kümmert sich aber liebevoll um das kleine Mädchen.

Als der immer mürrische Lucio seine Tochter am folgenden Abend wieder bei den Nachbarn parkt, weil er zum Spinning-Kurs will und dort lüstern auf die Trainerin starrt, passiert das nächste Unglück. Francesca und der alte Renato sind verschwunden. Polizisten und die Familien suchen, der panische Vater erinnert sich an den Lieblingsplatz der Tochter im Park. Dort sitzt sie tatsächlich, sie hatten sich nach dem Eis verlaufen und der senile Mann verletzte sich am Fuß. Weil der völlig Verunsicherte, der sich auch noch in die Hose gemacht hatte, mit dem Kopf im Schoß des Kindes lag, startet eine Maschinerie, um Missbrauch auszuschließen. Gespräche bei der Polizei und bei einer Psychologin machen klar, dass nichts Schlimmes passiert ist. Nur Lucio beharrt seltsamerweise aggressiv auf seinem Verdacht, er will sogar mit Gewalt den Dementen im Krankenhaus zwingen, sich zu erinnern. Und ausgerechnet derjenige, der beim alten Mann Übergriffigkeit vermutet, verfällt dann der dreisten Verführung von Renatos noch minderjähriger Enkelin Charlotte (Denise Tantucci).

Während dieser Seitensprung Lucios vor Gericht landet, ist der alkoholisierte Todesfahrer Andrea längst von seinem Richtervater Vittorio verurteilt. Zwar zeigt der verwöhnte Sohn keinerlei Reue und hofft auf die Beziehungen der Eltern bei der Justiz. Doch ebenso schockend ist die Härte des Vaters gegenüber seinem scheinbar unverbesserlichen Kind. Die Mutter Dora muss sich zwischen ihren geliebten Männern entscheiden und wird sich erst nach einem zweiten Fünfjahressprung der Handlung emanzipieren.

Die Freiheit, welche die einsame junge Mutter Monica über diese Jahre erreicht, ist im Gegensatz zu Doras spätem Frieden eine ganz bittere: Während ihr Mann wochenlang im Ausland arbeitet, bekommt die stille, sensible Frau in ihrer furchtbaren Einsamkeit Besuch vom Schwager, mit dem ihr Gatte zerstritten ist. Und von einem Raben, dem brutal poetischen Hinweis, dass Monica die Visionen und die Geisteskrankheit ihrer Mutter geerbt hat. Monica verschwindet in Panik.

Während der Regisseur, Produzent, Kinobesitzer im römischen Viertel Trastevere und Homo Politicus Nanni Moretti in seinem ersten großen Erfolg „Liebes Tagebuch" (1993) auf der Vespa das sommerleere Rom durchfuhr und zur Vermietung angebotene Häuser besuchte, reduziert „Drei Etagen" alles auf ein Gebäude und die darin komprimierten Dramen. Erstmals verfilmte der Star der intellektuellen Linken Italiens kein eigenes Drehbuch, sondern den Roman „Über uns" des israelischen Schriftstellers Eshkol Nevo, der in Tel Aviv spielt. Das Ergebnis ist ein reduzierter Moretti: Es fehlen die bissigen Kommentare zur gesellschaftlichen und politischen Situation. Die gab es früher als Breitseiten gegen Berlusconi in „Der Italiener" („Il caimano", 2006), immer im Gesamtkonzept der Filme und vor allem in langen Lamentos, wütenden Monologen, die Moretti oft selbst geliefert hat. Moretti ist sichtlich alt geworden und im Gegensatz zu seiner gnadenlosen Figur Vittorio auch sanft.

14.3.22

Aheds Knie


Frankreich, Israel, Deutschland 2021, Regie: Nadav Lapid, mit Avshalom Pollak, Nur Fibak, Yoram Honig, 109 Min., FSK: ab 12

Der israelische Regisseur Nadav Lapid wurde 2019 mit dem Goldenen Bären für „Synonymes" international bekannt. Die Geschichte um einen ehemaligen israelischen Soldaten, der sich nackt in einer leeren Pariser Wohnung wiederfindet, faszinierte und irritierte gleichermaßen. Ein Effekt, der in der teilweise autobiografischen, israelischen Geschichte „Aheds Knie" noch stärker ist: Ein namenloser Filmemacher reist darin in ein abgelegenes Dorf inmitten der Wüste von Arava, um in der dortigen Bibliothek seinen letzten Film vorzustellen. Dabei denkt er vor allem an sein neues Projekt über die palästinensische Aktivistin Ahed Tamimi, der nach einer Ohrfeige für einen Soldaten im Verhör gedroht wurde, ihre Kniescheibe mit einer Kugel zu zerschmettern. Aheds Knie!

Als X von Yahalom, der jungen stellvertretenden Leiterin der israelischen Bibliotheken, im menschenarmen Wüstenkaff empfangen wird, verhindert deren Geplapper allerdings jeden weiteren Gedanken. Sie wurde hier in der Wüste geboren, aber aufgrund ihres Engagements hochbefördert in das Ministerium für Bibliothekssachen. Es scheint eine erotische Anziehung zu geben, doch was X wirklich beschäftigt, ist ein Formular. Geld für die Reise gibt es nur, wenn er vorher ankreuzt, über was er mit dem Publikum reden wird, und wenn er bestätigt, über bestimmte Themen nicht zu sprechen. In einem wilden Fluss von Gedanken, Bildern und enthemmten Kamerabewegungen spitzt sich das Drama um staatliche Zensur zu.

Nadav Lapid wurde von einem tatsächlichen Gespräch mit einer stellvertretenden Leiterin der israelischen Bibliotheken zu diesem Film-Aufschrei inspiriert. Er meint, dass „die freie Meinungsäußerung in Israel heutzutage zusehendes einer düsteren Wintersonne gleicht, die immer dunkler wird und stirbt. Es gibt geradezu eine Kampagne gegen die Meinungsfreiheit – und an der Spitze dieser Kampagne steht zufällig die Kulturministerin selbst."

„Aheds Knie" ist jedoch weit mehr als diese Anklage und auch mehr als die andere gegen die Unterdrückung der Palästinenser. Wilde Schwenks und eine wackelnde Kamera zeigen das Casting für den Film-im-Film „Aheds Knie", Tanzszenen vom Chauffeur und von terrorisierten Soldaten entspringen der Fantasie des Filmemachers. Von der Mini-Siedlung mit Kulturprogramm geht es mit ein paar Schritten in die atemberaubende Wüste. Während sein Film gezeigt wird, erzählt der Regisseur der Kultur-Beauftragten von einem unmenschlichen Erlebnis seiner Dienstzeit. Es ist ein Durcheinander von Themen wie im wilden Gedankenfluss, zeitweise nervig, der Typ und der Filmstil. Aber aus allem kristallisiert sich ein sehr persönliches Drama um eine scharfe Analyse und ein tiefes Leiden an der israelischen Gesellschaft.

Regisseur X ist kein sympathischer Typ, ein Getriebener, immer unruhig, immer mit seinen Fingern spielend oder gestikulierend. Erst in seiner Wut scheint er ganz aufzugehen. Überhaupt sehr viel Wut überall, am Ende verfolgt ihn ein wütender Mob dumpfer Nationalisten, nachdem er sich nicht an den Vertrag gehalten, und die bittere Wahrheit ausgesprochen hat: „Der Minister sagt, wer unser Land beschmutzt, soll verhungern."

Petite maman


Frankreich 2021, Regie: Céline Sciamma, mit Joséphine Sanz, Gabrielle Sanz, Nina Meurisse, 73 Min., FSK: ab 0

Ein kleines Wunder ... dieser Film, der von einem ebensolchen erzählt: Es ist eine magische Situation, dass die achtjährige Nelly (Joséphine Sanz) beim geliebten Baumhaus ihre Mutter ebenfalls als Achtjährige trifft. Es ist emotional viel passiert bis zu diesem Moment. Nellys Großmutter ist gestorben und zusammen mit den Eltern fahren sie zu deren Haus, um es zu entrümpeln. Für Nellys Mutter (Nina Meurisse) ist das alles zu viel, sie verschwindet und lässt Vater (Stéphane Varupenne) mit Kind zurück. Darauf findet die Achtjährige im Wald ein anderes Mädchen, das gerade ein Baumhaus baut. Marion sieht sehr vertraut aus (die Mädchen werden von Schwestern gespielt) und Nelly ahnt bald, dass ihre neue Freundin eigentlich ihre eigene Mutter ist. Auf wunderbare Weise kann sie die neue Freundin in Mutters Wohnung von damals und den Vater im Haus von heute besuchen. So lernt das Kind nicht nur die Mutter besser kennen, es wird ihr auch Zeit geschenkt, sich von der Großmutter (Margot Abascal) zu verabschieden. Die ist zwar so alt wie Mama jetzt, aber trotzdem kann sie wieder Kreuzworträtsel mit ihr lösen.

Die Zeitreise in die Vergangenheit der eigenen Familie fällt in „Petite maman" (dt: Kleine Mama) nicht albern-fantastisch wie „Zurück in die Zukunft" oder kitschig wie Francis Ford Coppolas „Peggy Sue Got Married" aus. Das neue Meisterstück von Céline Sciamma nach dem schwelgenden „Porträt einer jungen Frau in Flammen" ist kein Hollywood-Blödsinn. Deshalb wird kein großer Tricktechnik-Zauber um das unglaubliche Treffen gemacht. Der ganz einfach und „natürlich" gehaltene Film nimmt es wie Nelly relativ unbeeindruckt auf, der eigenen Mutter als Kind zu begegnen.

Auch wenn Marion zum Beispiel nach der Musik der Zukunft fragt, die Nelly auf den Kopfhörern hat, läuft dies ganz gewöhnlich ab. Wichtiger als der Science Fiction-Scherz ist das Interesse aneinander, wenn sich die Mädchen von ihren Albträumen erzählen. Das aufgeweckte, fröhliche Mädchen findet einen einzigartigen Weg, mit Trauer und Abschied umzugehen. Und Céline Sciamma zeigt dies in ihrem fünften Film in poetisch stiller Art. Am Ende ist alles wieder gut, das Kind zeigt den Erwachsenen einen versichernden, beruhigenden Blick.

 

Die Häschenschule - Der große Eierklau


Deutschland, Österreich 2021, Regie: Ute von Münchow-Pohl, 76 Min., FSK: ab 0

Im zweiten Zeichentrick-Abenteuer (nach dem 1924 erschienenen Kinderbuch „Die Häschenschule" von Albert Sixtus) kehrt der rebellische Großstadthase Max zurück zur Häschenschule, um Meisterhase zu werden. Noch vor dem ersten Training färbt sich das Goldene Ei – die Quelle der magischen Fähigkeiten aller Osterhasen – schwarz. Schuld ist Rocker-Hase Leo, der zusammen mit den Füchsen alle Ostereier klauen will.

Mit den kleinen Kino-Gängern lernt der wilde Max, dass gemeinsam mehr zu machen ist, als allein mit Egoismus. Wobei die gegnerischen Gruppen durchaus differenziert gezeichnet sind: Die „bösen" Füchse wollen als „Osterfüchse" eigentlich nur geliebt werden. Die tatsächliche Figurenzeichnung dieser deutschen Animation ist in der Mimik hölzern, aber durchaus reizvoll. Wortspiele („Hasennebenhöhlen-Entzündung") sorgen für zusätzlichen Spaß. Passend auch die Modernisierungen, wenn Leo als Influencer-Hase vor allem für die Klickzahlen Übles tut.

Der Wolf und der Löwe


Kanada, Frankreich 2021 (Le loup et le lion) Regie: Gilles de Maistre, mit Molly Kunz, Graham Greene, Charlie Carrick, 100 Min., FSK: ab 6

Nach „Mia und der weiße Löwe" dreht Naturfilmspezialist Gilles de Maistre seinen neuen Kinder-und-Tiere-Film ganz auf Disney: Schon in der ersten Szene wird ein tapsiges Löwenjunges zum Waisenkind. Auch die spätere menschliche Löwenmutter, die junge Alma (Molly Kunz), ist Waise. Mehr noch, am Anfang stirbt auch Almas Großvater, so dass nur ihr Ziehvater Joe (Graham Greene) bleibt. Ansonsten ist „Der Wolf und der Löwe" vor allem überdramatisch - und da ist das Flugzeug mit dem kleinen Löwenkind noch gar nicht abgestürzt.

Letztlich findet sich die angehende Pianistin Alma auf einer abgelegenen kanadischen Insel mit einer Wolfsmutter sowie einem Wolf- und einem Löwenkind in ihrer Hütte. Das Drama geht weiter, als die weiße Wölfin von sogenannten Tierschützern gefangen wird und auch die mittlerweile nicht mehr so kleinen Tierkinder bedroht werden.

„Der Wolf und der Löwe" hat selbstverständlich viele „Oh wie süß"-Momente. Mit putzigem kleinem Raubtier, während ein schwer verletzter Pilot nicht zu sehen ist. Schlimmer sind jedoch vernachlässigte Personenzeichnung und extreme Dramatisierung mit Story und Musik. Positiv nur, wie deutlich gezeigt wird, dass wilde Tiere nichts in einem Zirkus zu suchen haben. Dabei steht die Frage im Raum, ob Tierdressur für den Film so anders ist, als Dressur für den Zirkus.

8.3.22

Parallele Mütter


Spanien 2021 (Madres Paralelas) Regie: Pedro Almodóvar, mit Penélope Cruz, Milena Smit, Rossy de Palma, 120 Min., FSK: ab 6

Seine großen „Leading Ladies" sind wieder am Start, wenn Frauen-Filmer Pedro Almodóvar ein Mutter-Melodram auf die Leinwand zaubert. Bei Penélope Cruz („Offenes Geheimnis"), Rossy de Palma („Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs") und der eindrucksvollen Neueinsteigerin Milena Smit („Cross the Line – Du sollst nicht töten") dreht sich alles um unterschiedliche Verhältnisse zur Mutterschaft. Mit einem bitterbösen Twist der Geschichte.

Aus einer Porträt-Sitzung mit der Fotografin Janis (Penélope Cruz) entsteht ein Kind und eine Geschichte über Kriegsverbrechen der Franco-Falangisten. Damit hat der Archäologe Camarero (José Javier Domínguez) eigentlich schon seinen Job als Erzeuger erledigt - der Rest ist ein großartiger Frauen-Film. Denn die fast 40-Jährige Janis will von der leidenschaftlichen, aber verheirateten Bettbekanntschaft nichts mehr wissen, als der das Kind nicht will. So gebiert sie allein im Krankenhaus, genau wie die noch minderjährige Ana (Milena Smit), ihre Zimmernachbarin. Gemeinsam müssen die beiden Mädchen ein paar Tage nach der Geburt von den Müttern abgesondert behandelt werden. Janis bereut ihre ungewollte Schwangerschaft nicht und ist überglücklich. Ana, das genaue Gegenteil, ein verängstigter und traumatisierter Teenager. Dann kommt zur reifen und zur jungen Mutter noch die geschiedene Teresa (Aitana Sánchez Gijón), die Mama von Ana, hinzu. Ein völlig anderer Typ, denn sie hebt mit einer späten Schauspiel-Karriere gerade egoistisch ab und lässt die Tochter mit der Haushälterin allein in einer Luxuswohnung zurück. Janis und Ana verstehen sich prächtig, doch dann spielen Zufall und das Schicksal ein böses Spiel...

Penélope Cruz spielt eine moderne Frau mit großem Interesse für die Vergangenheit und sehr komplexem Charakter. Großherzig unterstützt sie Ana, völlig egoistisch löscht sie dann nach einer schockierenden Entdeckung mit ihrer Telefonnummer jeden Kontakt. Dass die mittlerweile unabhängige junge Frau später als Babysitter bei Janis einziehen darf und sogar Geliebte wird, hindert Ana nicht daran, fast sadistisch ihr dunkles Geheimnis für sich zu behalten. Die erneut glänzende Cruz ist übrigens selbst Mutter. Sie hat zusammen mit Javier Bardem einen Jungen.

In einer zweiten Haupthandlung dreht sich „Parallele Mütter" um die problematische Aufarbeitung des Spanischen Bürgerkrieges in heutiger Politik. Wobei die Massaker am Anfang einer Reihe von vaterlosen Mädchen in der Familie von Janis steht. Denn ihr Ur-Opa wurde von Francos Schergen am ersten Tag des faschistischen Putsches umgebracht – nachdem er selbst das Massengrab für sich und seine Kameraden schaufeln musste. Auf Betreiben von Janis gibt es nach Jahren endlich öffentliches Geld für Umbettung und Dokumentation der Kriegsopfer. Während Diktator Franco selbst bis 2019 im Valle de los Caídos (Tal der Gefallenen), einer monumentalen Gedenkstätte bei Cuelgamuros in der Sierra de Guadarrama, bestattet war. Der Ort ist weiterhin eine faschistische Pilgerstätte. Auch die Handlungen um den Ur-Großvater im Massengrab dreht sich selbstverständlich um Familie, Mütter und manchmal einsame Töchter.

In Ausstattung und Farbdesign ist Almodovar etwas zurückhaltender als in seinen „Bigger than Life"-Melodramen, zuletzt das autobiografische „Leid und Herrlichkeit" (2019). Die Bereitung einer traditionellen spanischen „Tortilla de patatas" geschieht trotzdem mit einem pinken Messer, mit knallroten und orangen Schüsseln. Da bleibt sich der Regie-Meister treu. Wie im politischen Thema: Wenn Ana sagt „Es waren harte Jahre, aber jetzt will ich leben. Leben und frei sein", dann ist das wie ein Rückblick auf die frühen Filme Almodovars („Pepi, Luci, Bom und der Rest der Bande"), wo 1980 eine junge Generation in der Madrider Movida die Befreiung von Francos erzkatholischem Spanien feierte.

Seit „Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs" (1988) sind die Schicksale von (Haus-) Frauen sein Lieblingsthema, mit dem gefeierten Höhepunkt „Alles über meine Mutter" (1999). „Alles" war wohl doch noch nicht auserzählt, wie das Regie-Genie in „Parallele Mütter" zeigt: Zwei tragische Mutter- Schicksale aufs engste miteinander verbunden. Ein großes leidenschaftliches und auch philosophisches Werk über das Leben an sich, wie es in Vergangenheit und den Kindern verankert ist. Eine Vernetzung, die sich auch in der Namensgebung zeigen wird. Nach moralisch und historisch erschütternden Szenen findet der große Spanier ein besonders berührendes und versöhnliches Schlussbild.

Vatersland

Vatersland

Deutschland, Belgien 2020, Regie: Petra Seeger, Margarita Broich, Felizia Trube, Bernhard Schütz, 118 Min., FSK: ab 12

Mitten in der Schreibblockade für ein neues Drehbuch wird der Filmemacherin Marie (Margarita Broich) eine Holzkiste voller Fotos, Filmaufnahmen und Erinnerungen aus ihrer Kindheit angeliefert. Zuhause ist es mit Mann und Tochter gerade schwierig, so zieht die erschöpfte Regisseurin zur Arbeit in ein kleines Studio. Beim Durchblättern der Aufnahmen des Vaters, eines Profi-Fotografen, lebt Maries Vergangenheit auf. Geprägt von Krebskrankheit und frühem Tod der Mutter, von Überforderung des Vaters und seinen Versuchen, Maria zum Erledigen des Haushalts zu zwingen. Als das nicht klappt, die junge Teenagerin immer rebellischer wird und der Alleinerzieher mit überall vermuteter Sexualität nicht zurechtkommt, folgt die Abschiebung ins katholische Mädcheninternat.

Am Anfang legt die kleine Maria ein trotziges und schmerzliches Unverständnis gegenüber der nicht erklärten Krankheit an den Tag. Es sind die 50er, eine Zeit, in der Kinder dumm gehalten wurden, ihnen nichts zugetraut wurde. Der strenge Vater bewältigt später Trauer mit militärischer Verteilung der Aufgaben im Haushalt und noch herzloserem Regime. „Vatersland" ist auch Geschichtsstunde einer anhaltenden Nazizeit, wenn die Mutter von ihrer Kindheit und Hochzeit erzählt. Direkt danach musste Vater an die Front. Dieser Rückblick führt zum Aufkochen einer Mischung aus verdrängter Trauer und Schuldgefühlen bei der erwachsenen Marie.

Der sehr leichte Erzählfluss von „Vatersland" lässt das berührende Leben nahezu unmerklich zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen jetzigen Problemen und Erinnerungen hin und herspringen. Dadurch entwickelt sich für die Zuschauer eine Geschichte, an der die Autorin eigentlich noch schreibt.

Der Zwitter zwischen Doku und Spielfilm sorgt für Gänsehaut, wenn die Spielszenen mit privaten Fotos und Filmstückchen der erfahrenen Regisseurin Petra Seeger unterlegt werden. Denn tatsächlich ist „Vatersland" ihre eigene Geschichte. Während das Genre nach dem Vorbild Heinrich Breloers meist berühmte Männer (Speer, Barschel, Klaus Mann...) porträtiert, geht es hier um eine Frau, die früh hörte „Das ist nichts für dich, Mädchen gehören vor die Kamera". Dass Seeger seit Jahrzehnten Dokumentationen für den WDR drehte, erzählt ihr Film nicht. Bekannt wurde sie erst mit ihrem preisgekrönten Kino-Dokumentarfilm „Auf der Suche nach dem Gedächtnis" über Nobelpreisträger Eric Kandel.

Nun werden in einer grandiosen Erzählform sehr mutig eigene Schuld, Gefühle und Erinnerungen offengelegt. Die großartige Darstellerin Margarita Broich, die Frankfurter Tatort-Kommissarin Anna Janneke, spielt mit der ihr eigenen Ruppigkeit Maria wie auch deren an Krebs erkrankte und früh verstorbene Mutter. Die Kamera führt nicht nur in einem magischen Moment des Verzeihens die reife und die junge Maria zusammen. Es gibt auch immer wieder poetisch schöne Bilder. Eine Epoche des Patriarchats bloßlegend sind dann grandiose Szenen, wie die Fotos des Vaters, die eine lachende und feiernde Mutter zeigen, dazwischen geschnitten die Mutter auf Knien in der Küche putzend. „Vatersland" ist das gleichermaßen emotionale wie kluge Meisterwerk einer Frauengeschichte, die für viele steht.

Für den Zeitkolorit sorgten übrigens einige Drehorte in Ostbelgien: Das Katharinenstift in Astenet, ein Campingplatz in Waimes und Malmedy.

7.3.22

Blue Bayou


Kanada, USA 2021, Regie: Justin Chon, mit Justin Chon, Alicia Vikander, Mark O'Brien, 118 Min., FSK: ab 12

In seinem herzzerreißenden Drama erzählt Justin Chon mit Alicia Vikander („The Danish Girl, Tomb Raider") in der Hauptrolle von gnadenlos grausamen Abschiebungen in den USA: Antonio LeBlanc (Chon selbst) wurde als Kleinkind von einer amerikanischen Familie adoptiert. Mittlerweile hat er mit seiner große Liebe Kathy (Alicia Vikander) eine Familie, kümmert sich liebevoll auch um die Stieftochter. Aber durch den dummen und eifersüchtigen Ex-Mann Kathys, einem Polizisten, wird Antonio grundlos verhaftet. Dabei stellt sich heraus, dass er wegen eines Formfehlers infolge des „Child Citizenship Act" aus dem Jahr 2000 nun abgeschoben werden kann. Wie zehntausend andere Unwissende ist sein Recht, US-Staatsbürger zu werden, verfallen. Er kann klagen, doch ein wohlwollender Anwalt braucht nur als Vorschuss 5000 Dollar. Dabei hat das Paar vor der Geburt ihres Kinds Geldprobleme. Dann wird er noch von einem rassistischen Polizisten verfolgt. Die Situation droht die Beziehung zu zerreißen.

Mit einer ganzen Reihe von erschütternden und herzzerreißend ungerechten Momenten klagt „Blue Bayou" gekonnt inszeniert und sehr emotional ein Unrecht an, das noch heute Tausende mit Abschiebung bedroht.

Der Schneeleopard


Frankreich 2021 (La Panthère des Neiges) Regie: Marie Amiguet, Vincent Munier, 92 Min., FSK: ohne Angabe

Eine Foto-Safari im tibetischen Hochland brachte den berühmten Natur-Fotografen Vincent Munier mit dem Schriftsteller Sylvain Tesson zusammen. Der Bildermacher veröffentlichte seine Aufnahmen im Band „Zwischen Fels und Eis", Tesson seine Erfahrungen im Buch „Der Schneeleopard". Die Regisseurin und Kamerafrau Marie Amiguet war auch dabei und dokumentierte die intensive Naturerfahrung. 

Im Film wird die Erfahrung der Landschaft literarisch überhöht, das lange Warten auf die scheue Tierwelt zur Selbsterfahrung und alles zusammen ein Porträt des Fotografen mit seiner einsamen Arbeitsweise. Das gibt den selbstverständlich grandiosen Landschaftsaufnahmen eines schon durch die extreme Höhe um die 4000 Meter menschenleeren Gebietes, den Schneebergen, Wüstenstücken, weiten Ebenen und zerklüfteten Felsen eine eigene Perspektive.

Die Suche nach dem titelgebenden, vom Aussterben bedrohten Schneeleoparden ist dabei eher eine Krücke bei der sowohl fotografischen als auch literarischen Gipfelstürmerei. Die während der besinnlichen Expedition gefundenen gewaltigen Tiere und kleinen Nager, die Einzelgänger und Herden sind reich und lohnend genug, selbst wenn man den weißen Leoparden nicht vor die Linse bekommen hätte.

Mord in Saint-Tropez


Frankreich 2021 (Mystère à Saint-Tropez) Regie: Nicolas Benamou, mit Christian Clavier, Gérard Depardieu, Benoît Poelvoorde, Rossy de Palma, 91 Min., FSK: ab 12

Französische Komödien sind oft erfolgreich einfach und platt. Dass mit „Mord in Saint-Tropez" und der Galionsfigur dieser Unkultur, Christian Clavier, diese Untiefen herrlich altmodisch umschifft werden, ist ein erfreuliches Film-Wunder. Clavier tritt in die Fettnäpfchen von Peter Sellers, Louis de Funes und Jacques Tati.

Selbst das Auto mit der durchgeschnittenen Bremsleitung verhält sich witzig beim Mordanschlag, wenn es nach kurvenreichem Schlingern an der Côte d'Azur senkrecht im Bunker eines Golfplatzes landet. Die Sabotage galt dem einflussreichen Unternehmer Tranchant (Benoît Poelvoorde). Dessen Beziehungen zu Minister Chirac wollen den besten Kommissar am Tatort. Schon die nächste grandiose Humor-Szene ist purer „Pink Panther": Wie Inspektor Boulins (Christian Clavier) mit noch brennender Pfeife in der Tasche im Büro seines Chefs (Gérard Depardieu) aufläuft und sich die kriminalistische Pfeife langsam selbst einnebelt, erinnert an entsprechende Szenen mit Peter Sellers als trotteligem Inspektor Clouseau. Nur dass sich die Zerstörung diesmal vorerst in Grenzen hält.

Erst in St. Tropez und der Villa von Baron Tranchant legt Boulins richtig los. Als Kellner verkleidet soll er den Attentäter unter illustren Gästen aus der Filmwelt überführen. Die schrillen Exzentriker landen dabei zum Großteil im Lazarett. Ein Drehbuchautor wird im Jacuzzi unter Strom gesetzt und entwickelt in Folge ein Tourette-Syndrom. Zum Beweis, dass seine Pfeife mit Drogen „vergiftet" wurde, lässt der Kommissar den Baron selbst kräftig dran ziehen. Was zu einer großen Szene der beiden Komödianten Christian Clavier und Benoît Poelvoorde führt.

Mit 1970 sind Handlung und Humor des Films exakt verortet. Eigentlich ein Unding, aber es funktioniert vortrefflich! Herrlich das lange Warten auf den vorgespannten Pfeil einer kunstvollen Plastik und die Wirkung einer unglücklich platzierten Harke. Ein Musterbeispiel für sorgsam aufgebauten Slapstick auch der offene Kanaldeckel mitten im Weg und die Überlegung, man müsste doch das Warnschild direkt davor stellen. Aber dann ist unser Held zu faul dazu und fällt selbstverständlich auf dem Rückweg rein. Erstaunlich und wohltuend, wie dieser exzellent dekorierte und ausgespielte Retro-Humor noch zündet.

 

1.3.22

Trouble Every Day


Frankreich 2001, Regie: Claire Denis, mit Vincent Gallo, Tricia Vessey, Béatrice Dalle, 101 Min., FSK: ab 16

Die gefeierte Regisseurin Claire Denis schuf vor zwanzig Jahren einen faszinierenden und provokanten modernen Vampirfilm. Eine neue digitale 4K-Restaurierung bringt das vollblütige Meisterwerk erstmals in die deutschen Kinos: Der Wissenschaftler Shane Brown (Vincent Gallo) verbringt mit seiner Frau (Tricia Vessey) die Flitterwochen in Paris, sucht aber eigentlich seinen verschollenen Kollegen Léo (Alex Descas), der bei Experimenten in Afrika Wesen erschaffen hat, die bei der „Paarung" ihren Partner töten und verspeisen. Auch Léos Frau Coré (Béatrice Dalle) wurde infiziert. Ihre verschlingende Libido muss von Léo eingesperrt werden, wenn sie entwischt, muss er nachher „aufräumen".

Mit der typischen Körperlichkeit der Filme von Claire Denis („Nénette und Boni", „35 Rum", „Meine schöne innere Sonne", „High Life" mit Robert Pattinson), den wilden Stars Vincent Gallo und Béatrice Dalle, sowie vor allem dem genialen Soundtrack der Tindersticks beißt sich der nicht unbedingt jugendfreie „Trouble Every Day" unweigerlich in der Erinnerung fest.

The Batman


USA 2022, Regie: Matt Reeves, mit Robert Pattinson, Zoë Kravitz, Paul Dano, Jeffrey Wright, John Turturro, Peter Sarsgaard, Jayme Lawson, Andy Serkis, Colin Farrell, 177 Min., FSK: ab 12

Die Filmgeschichte der Comic-Figur Batman ist trotz großer Bekanntheit des Flattermanns nicht unbedingt eine Erfolgsgeschichte. Verlachte Nippel auf dem schwarzen Latexanzug, unglückliche Starbesetzungen und zu grelle Ganoven sorgten für Flops. Matt Reeves („Planet der Affen") folgt der Reihe missverstandener Regie-Einsätze. Dass Ex-Vampir Robert Pattinson („Biss zum Morgengrauen") nun die Fledermaus gibt, ist ein guter Witz und ganz miserables Casting.

Wieder macht eine dunkle Gestalt mit Schwermut die Stadt unsicher. Gotham Citys maskierter Rächer Batman ist der trübsinnigste Superheld überhaupt. Mit einem immer jämmerlich dreinblickenden Robert Pattinson erlebt diese Gestalt ihren Tiefpunkt. Doch die x-te Verfilmung der Batman-Comics lässt uns zuerst die Untaten vom Riddler (Paul Dano) miterleben. Einer Reihe sadistischer Anschläge fallen der Bürgermeister, der Polizeichef und der Staatsanwalt zum Opfer. Kryptische Hinweise richten sich persönlich an Batman und fordern ihn auf, eine Wahrheit ans Licht zu bringen. Es geht nicht nur um die schmutzigen Drogengeschäfte von Pinguin (Colin Farrell) und Carmine Falcone (John Turturro), nicht nur um Korruption bei Polizei und Politik. Auch die eigene Familiengeschichte von Bruce Wayne wird nach dunklen Flecken ausgeleuchtet. „Wer ist die Ratte?", also der Verräter, lautet eines der Rätsel vom Riddler. Batman, der sich hier recht begriffsstutzig zeigt, führt jedes Rätsel nur zum nächsten Opfer. Der Film „The Batman" hangelt sich an ihnen entlang durch elend und fast drei Stunden lange Bebilderung von Nichtigkeit.

Gefühle zeigt der große Waisenjunge Bruce Wayne für den kürzlich verwaisten Sohn des ermordeten Bürgermeisters und für Catwoman (Zoë Kravitz). Aber „The Batman" versagt als Romanze ebenso wie als Thriller oder Actionfilm. Was auch daran liegt, dass weder die Katzenfrau, der Riddler oder der Pinguin die übliche Hintergrund-Geschichte zu ihrer körperlichen und moralischen Deformation bekommen. Wie sehr sehnt man sich da zurück zu der „The Dark Knight-Trilogie" von Christopher Nolan mit Christian Bale in der Hauptrolle. Sie leistete wenigsten anständig charakterisierte Figuren, auch wenn sie die schwächsten Filme Nolans versammelte.

Was von „The Batman" und Matt Reeves bleibt, sind zwei, drei Szenen, in denen der Regisseur sein ästhetisches Können zeigt: Ein Gefecht im Dunkeln, bei dem nur die Gewehrsalven ausleuchten, wer gerade wieder mal gewinnt. Oder das überflutete New York von oben, mit Batman, der mit roter Fackel wie Moses die Geretteten durchs Wasser führt.

Regisseur Matt Reeves war bei „Cloverfield" und „Planet der Affen" gut, wenn er ausgetretene Erzählformen radikal änderte. Was bei einer Franchise wie Batman schwer möglich ist. Sein alternatives Gesamtkonzept, dass ganz schwach zu ahnen ist, wird markiert vom rauen Grunge-Song zu Anfang und Ende des Films. Sein New York namens Gotham City ist nicht mehr die gestylte Comic-Stadt. Sie ist recht realistisch, oft menschenleer, wie man es von apokalyptischen Szenen Reeves' kennt.

Auch der Titelheld soll realistischer sein, was dem ganzen Batman-Getue seinen einzigen Reiz nimmt. Pattinsons schwarzer Ritter ist kein Superheld, bekommt keine mythische Überhöhung. Die technischen Gadgets, die dem ganz normalen Milliardär zu seinen Stunts verhelfen, werden auffällig ignoriert. Der erste Auftritt vom Batmobil ist sogar ein Witz, weil Batman beim Start zur unerlässlichen Verfolgung den Motor abwürgt.

Dass selbst der Namensgeber zum Marketing-Produkt „Batman" schwer enttäuscht, liegt nicht allein am extrem schwachen Hauptdarsteller Pattinson. Aber vor allem an ihm, weil der mit seinem begrenzten Schauspielvermögen nur bestehen kann, wenn er sein Gesicht möglichst wenig bewegt und meist eine Maske aufhat. Da hatte jeder der Primaten aus Reeves' Nachäfferei „Planet der Affen" mehr Mimik zu bieten, als dieser Ex-Vampir. Während George Clooney für den Flattermann in Latex noch völlig überqualifiziert war, hat der ehemalige Mädchen-Schwarm ohne Biss selbst für diese, trotz aller Action hüftsteife Rolle zu wenig drauf. Batmännchen Pattinson ist weder schlagfertig noch intelligent oder raffiniert. Dafür recherchiert er mit nacktem Oberkörper, was fast so lächerlich ist wie das legendäre Batman-Kostüm Val Kilmers mit den deutlich sichtbaren Nippeln in „Batman Forever" von Joel Schumacher.

Comic-Nerds werden von „The Batman" ebenso enttäuscht sein wie Action-Fans. Am schlimmsten trifft es die, die einfach nur einen anständigen Film erwarten. Wenigstens bleibt die Gewissheit, dass die Batman-Franchise ein Garant für Enttäuschungen ist.