28.12.22

Die Insel der Zitronenblüten

Spanien, Luxemburg 2022 (Pan de limón con semillas de amapola) Regie: Benito Zambrano, mit Elia Galera, Eva Martin, Mariona Pagès, Tommy Schlesser, 121 Min., FSK: ab 12

Leben und Tod - direkt und sehr dramatisch in der ersten Szene, wenn die mallorquinische Ärztin Marina (Elia Galera) in Afrika ein Kind per Kaiserschnitt zur Welt bringt, aber die Mutter nicht retten kann. Leben und Sterben, drunter machen es der gleichnamige Roman von Cristina Campos und die melodramatische Verfilmung von Benito Zambrano „Die Insel der Zitronenblüten" nicht.

Kurz darauf kommen die Schwestern Marina und Anna (Eva Martín) nach 14 Jahren Trennung wieder auf Mallorca zusammen, weil eine unbekannte Wohltäterin ihnen eine Bäckerei in Valldemossa vermacht hat. Anna will das Anwesen sofort verkaufen, weil ihr untreuer Mann sie in den Bankrott manövriert hat. Marina steht hingegen unentschieden an einem Wendepunkt ihres Lebens: In ihr wuchs der Wunsch, das Baby der Anfangsszene zu adoptieren. Ihr luxemburgischer Freund Matias, der bei der gleichen Hilfsorganisation arbeitet, fühlt sich jedoch von der Ankündigung überfahren und verschwindet erstmal, um ein paar Hilfslager aufzubauen. Während sie um eine Entscheidung ringt, Adoptionsstress und Verlobungsversprechen abwägt, versucht sie auch das Geheimnis der Wohltäterin Lola zu entdecken. Helfen könnte die ruppige Bäckerin Catalina, die mit Lola zusammen den sagenhaften „Pan de Limon" des Titels buk, doch sie weist jede Frage ihrer neuen Assistentin Marina zurück. Mittlerweile entsteht eine Wohn- und Arbeitsgemeinschaft aus drei Generationen Frauen. Bevor das Rätsel um Lola und ihr Rezept entdeckt sind, erkrankt allerdings Anna schwer. Noch mehr Geständnisse stehen an...

„Die Insel der Zitronenblüten" hat für Marina einiges in petto: Backen lernen, um die große Liebe bangen, eine Adaption mit reichlich Bestechung durchziehen und die eigene Vergangenheit aufarbeiten. Weshalb schickten ihre Eltern sie im Alter von 14 Jahren weg und ließen sie nie wieder zurück nach Hause? Zwischen den touristischen Bildern vom traumhaften Örtchen Valldemossa gibt es eine Menge Drama nach dem wohl eher trivialen Roman von Cristina Campos. Doch das alles ist gut inszeniert und gespielt, sodass man dem Erwarteten gerne folgt. Wie Lolas berühmter Zitronenkuchen mit Mohnsamen ist auch dieses Filmgenre mit Tränen am besten angerührt. Die traurige Geschichte, vom Leben, das auf rührende Weise immer weitergeht, gab es schon mal filmisch wesentlich mutiger im mexikanischen „Bittersüße Schokolade". Die Luxemburger Schauspielerin Désirée Nosbusch hat übrigens mitproduziert, was die Anwesenheit eines Luxemburger Arztes erklärt.

22.12.22

Blueback - Eine tiefe Freundschaft

Australien 2022 (Blueback) Regie: Robert Connolly, mit Mia Wasikowska, Radha Mitchell, Eric Bana, Ilsa Fogg, 103 Min., FSK: ab 6

Als ihre Mutter Dora einen Schlaganfall erleidet, kehrt die Meeresbiologin Abby (Mia Wasikowska) zurück zu ihrem Heimatort an der westaustralischen Küste. Erinnerungen kommen hoch, wie Abby als Achtjährige (Ilsa Fogg) noch Angst vorm Tauchen hatte, von ihrer Mutter (Radha Mitchell) in größere Tiefen gedrängt wurde. Und wie sie dort zum ersten Mal Blueback begegnete, einem seltenen Riesenlippfisch (Eastern Blue Groper), der in der Bucht heimisch ist. In Zukunft wird sie ihren „Freund" immer wieder besuchen. Dabei erlernt das Mädchen einen rücksichtsvollen Umgang mit den Ressourcen: Sie nehmen nur jeweils eine von drei Muscheln, damit für folgende Generationen genug übrigbleibt. Doch schon früh wird das Riff durch das Ausbaggern für größere Schiffe bedroht und ein übler Investor lässt hemmungslos selbst geschützte Meereslebewesen wegfischen. Dora kettet sich an Baufahrzeuge und wird von der Polizei festgenommen. Die sehr kämpferische Aktivistin ist jedoch mit dem Einsatz der „feigen", also zurückhaltenderen Tochter nicht zufrieden. Auch auf dem weiteren Weg des Erwachsenwerdens will Dora nicht akzeptieren, dass Abby mit einem Studium der Meeresbiologie fern von zuhause einen anderen Weg sucht, die Natur zu retten.

Aus dem gleichnamigen Roman von Tim Winton macht der australische Regisseur Robert Connolly („The Dry") eine überzeugende Öko-Geschichte. Der klassische Mix aus einer aktuellen problematischen Situation und Jugend-Erinnerungen bekommt ökologisch die volle Punktzahl. Die Wasseraufnahmen sind großartig, nach „Avatar: The Way of Water" nun ein echter Unterwasser-Film mit sterbenden Korallenriffen. „Wir reißen ein großes Loch in die Wand und werden alle hineinfallen", sagt ein Aborigine-Freund Abbys. Für die mangelnde Originalität der ruhigen Geschichte gibt es allerdings etwas Abzug. Es überzeugen trotzdem die erwachsenen Darsteller Mia Wasikowska, Radha Mitchell und besonders Eric Bana als leicht verrückter Fischer „Mad" Macka.

18.12.22

Der gestiefelte Kater: Der letzte Wunsch


USA 2022 (Puss in Boots: The Last Wish) Regie: Joel Crawford, 102 Min., FSK: ab 6

Dieser Kater hat medial viel mehr als nur neun Leben: Seinen ersten Leinwandauftritt feierte der Gestiefelte Kater 2004 in „Shrek 2 – Der tollkühne Held kehrt zurück", wo er zum Publikumsliebling wurde. Es folgten zwei weitere Shrek-Filme, 2011 ein erfolgreiches Solodebüt, Fortsetzungen und eine Serie. Jetzt gehen ihm – vielleicht wegen zu viel Abenteuer – die Leben aus, wie ein Mediziner nach gewohnt flottem Einleitungs-Abenteuer des steckbrieflich gesuchten Superstars feststellt. Gerade noch das mexikanische Dorf vor einem grimmigen Riesen gerettet und jetzt soll er aufs Altenteil in einem Heim für Katzen. Klar, dass der Gestiefelte Kater das nicht wahrhaben will. Einsicht und Angst kommen erst, als der Tod persönlich in Form eines düsteren, großen Wolfes an der Bar neben ihm sitzt.

Doch der traurige Ruhestand bei schlechtem Essen und unpersönlichem Katzenklo hält nicht lange an: Sowohl Gevatter Tod als auch rachsüchtige alte Bekannte fallen im Tierheim ein und zwingen den Kater zu Plan B: Den geheimen Ort eines mythischen Wunschsterns finden und vorher die magische Schatzkarte dazu klauen. Dann kann sich der charmante Schnurrhaargauner weitere Leben wünschen. Um die Schatzkarte kämpfen die hinterhältigen Kitty Samtpfote und der gutgelaunt geschwätzige Vierbeiner Perro, sowie Goldlöckchen und ihre drei berüchtigten Bandenbären.

Wie die knappe Zusammenfassung explodiert auch „Der gestiefelte Kater: Der letzte Wunsch" vor verrückten Figuren und Ideen. Die pausenlose Action unterhält mit viel Spaß durchgehend. Vor allem der kleine Hund Perro, der verkleidet im Katzen-Asyl lebte, ist als Side Kick in seiner gutmütigen Blödheit ein Volltreffer. Sorgfältigst auch die fantastischen Hintergründe im dunklen Wald. Die Moral, bei allem Jagen nicht zu vergessen, was man eigentlich schon hat, lässt sich nicht früh genug erlernen. „Der gestiefelte Kater: Der letzte Wunsch" ist eine Animations-Geschichte für große und ganz große Kinder, sprich Erwachsene. Vor allen Dingen der düstere Tod kann für kleinere Kinder zu beängstigend sein.

Als deutsche Stimme des tollkühnen Titelhelden ist inzwischen bereits zum fünften Mal Grimme-Preisträger Benno Fürmann („Babylon Berlin") zu hören. Als Synchronsprecher neu mit dabei sind Riccardo Simonetti („Glow Up") und Oliver Kalkofe („Schlefaz").

Oskars Kleid


Deutschland 2022, Regie: Hüseyin Tabak, mit Laurì, Florian David Fitz, Marie Burchard, 122 Min., FSK: ab 6

Ben (Florian David Fitz) ist das Muster eines frustrierten geschiedenen Familienvaters: Der Polizist ist nicht nur als Vater ein Versager, dazu ist er auch noch Ausländer- und Schwulen-feindlich, aggressiv, in jeder Hinsicht inkorrekt, ein netter Idiot und Ekel als Hauptfigur. Als seine Ex-Frau Mira (Marie Burchard) wegen einer schwierigen Schwangerschaft ins Krankenhaus muss, entführt er die gemeinsamen Kinder Oskar (Laurì) und Erna (Ava Petsch) zu sich, obwohl das eindeutig die schlechtere Lösung ist. Nun nimmt der gar nicht „woke" Wachmann die Kinder mit in den Dienst und gibt sie in der Spielecke vom Möbelhaus ab, während er sich mit Demonstranten prügelt.

Doch die wahre Herausforderung liegt darin, dass der neunjährige Sohn Oskar am liebsten Kleider trägt und jetzt Lili heißen will. Er wird von Mutter und Stiefvater Diego (Juan Lo Sasso) „als Transgender gelesen". Für Ben, der nicht besonders viel mit seiner Ex redet (und scheinbar seine Kinder nicht allzu oft sieht), ein Schock. Er schmeißt Oskars Lieblingskleid in den Müll, doch Diego bringt einen ganzen Koffer mit Mädchen-Klamotten. Oskar selbst hat keine Probleme, wird zum Unglauben der alten Männer nicht in der Schule verhauen. Was allerdings an einem Trick der Mutter liegt, die ihn als Mädchen an der Schule anmeldete. In seinem blindwütigen Aktionismus startet der Vater ein Umerziehungsprogramm, macht betont „Männersachen" und schickt Oskar mit Jungens-Kram in die Schule, was zu einer Katastrophe führt. 

Drehbuchautor Florian David Fitz und Regisseur Hüseyin Tabak wollten sich in der Vater-Sohn-Geschichte „Oskars Kleid" mit dem lange Zeit wenig beachteten Thema Transgender-Kinder „auf nachdenkliche und zugleich unterhaltsame Weise" beschäftigen. Herausgekommen ist ein überfrachteter Krampf, der als grobe Klamotte beginnt und so gerade die Kurve zu einer einfühlsamen Geschichte bekommt. Nun mag der Wandel von grob zu mitfühlend exakt dem Zustand des Polizisten Ben entsprechend. Glaubhafter wäre diese Figur allerdings, wenn sie nicht in allen Facetten unmöglich starten würde. Denn auf der Strecke bleiben zu viele Kollateralschaden: Nur weil Ben nun seinen Sohn Lili nennt und ihn selbst im Rock zur neuen Schule bringt, soll das mit der Ausländerfeindlichkeit ok sein? Und weil der verzweifelte Grobian bei einem alten Transvestiten Rat sucht, wird er diese später anständiger behandeln? Überhaupt, in welcher Zeit sind wir, wenn Transvestiten-Demonstrationen auf der Polizeistation enden?

Im Gegensatz zu wirklich einfühlsamen Filmen wie „Tomboy" von Céline Sciamma oder „Girl" von Lukas Dhont erleben wir nicht die Perspektive des Transgender-Kindes. Hier staunen die Außenstehenden, dass ein Neunjähriger sagt, seine Kinderbilder seien „falsch". Das ist teilweise die Verlagerung von Positionen einer krampfhaften Diskussion in einen krampfhaft komischen Film. In „Oskars Kleid" diskutiert auch die Generation der Großeltern: „Aber das ist doch eine interessante Frage. Wie kann sich ein Kind in dem Alter sicher sein, dass es in der falschen Haut steckt? Woher kommt das?" Trotz viel thematischem Geholpere bringt die routinierte Kompetenz des deutschen Komödien-Kinos die Geschichte zu einem rührenden und glücklichen Ende. So gut können Kida Khodr Ramadan, Burghart Klaußner und Senta Berger allerdings nicht spielen, dass man die Webfehler vergessen würde.

17.12.22

Ennio Morricone - Der Maestro


Italien 2021 (Ennio) Regie: Giuseppe Tornatore, 163 Min., FSK: ab 12

Der berühmte Ennio Morricone (1928 -2020), Komponist von über 500 Filmmusiken, wird am ehesten durch seine Melodien erkannt, etwa das Mundharmonika-Motiv aus „Spiel mir das Lied vom Tod". Regisseur Giuseppe Tornatore, für dessen ersten Film „Cinema Paradiso" der weltberühmte Morricone die Musik schrieb, realisierte nun eine große Filmbiografie aus Konzertaufnahmen, Filmausschnitten und Stimmen prominenter Wegbegleiter: Als Trompeter kam Morricone auf ungewöhnlichem Weg zum Studium der Komposition. Danach gab es eine frühe Begegnung mit John Cage und experimenteller Musik, bevor noch unter Pseudonym erste Western musikalisch arrangiert wurden. Mit Sergio Leones „Für eine Handvoll Dollar" kam der Ruhm. Ein eher unbekanntes Kapitel sind die italienischen Songs mit Einflüssen experimenteller Musik, die das kriselnde Label RCA retteten.

„Ennio Morricone - Der Maestro" entstand kurz vor Morricones Tod im Jahr 2019. Sehr schön werden raffinierte Feinheiten der Melodien in unzähligen Interviews mit unter anderem Clint Eastwood, Quentin Tarantino und Hans Zimmer erläutert. Doch erst nach einer Stunde gibt es mehr Filmszenen, immer unglaublich exakt auf die Erklärungen geschnitten, bei denen Morricone gerne singt, flötet und trällert. Wir sehen den Komponisten nur bei der Arbeit und den Interviews. Wirklich persönlich wird diese ausführliche Biografie über einen exzeptionellen, aber zurückhaltenden Künstler nicht. Nur andere erzählen, dass Morricone die Trompete nicht mehr einsetzte, als der bislang dafür verpflichtete Vater das Instrument nicht mehr gut genug spielen konnte. Dann erzählt Morricone noch, dass er all seine Musik zuerst seiner Frau Maria vorspielte. Es bleiben zahllose Filmmomente, die sich dank seiner Begleitung eingebrannt haben, sechs Nominierungen, aber nur ein Oscar (für „The Hateful Eight") und andauernder Erfolg, wenn zum Beispiel selbst Metallica ihre Shows mit „The Ecstasy of Gold" aus dem Spaghetti-Western „Zwei glorreiche Halunken" beginnen.

13.12.22

Drei Winter

Drei Winter

Schweiz, Deutschland 2022, Regie: Michael Koch, mit Michèle Brand, Simon Wisler, Elin Zgraggen, 137 Min., FSK: ab 12

Mit extrem ruhigen Bilder zeigt „Drei Winter", wie der zugezogene Marco (Simon Wisler) in einem entlegenen Schweizer Alpendorf zuerst mit der Kellnerin und Postbotin Anna (Michèle Brand) zusammenkommt, bevor ein Gehirntumor die Beziehung belastet. Von Kopfschmerzen und emotionalen Schwankungen des Flachländers Marco berichtet der Film eher, als dass er sie zeigt. Als sich der Tumor-kranke Mann dann angeblich vor Annas Tochter entblößt, wird eine Trennung angeordnet.

Wie in Stein, von dem man reichlich sieht, gemeißelt, arbeitet „Drei Winter" mit behäbigen, statischen Szenen. Die Geschichte um eine belastete Liebe nimmt sich viel Zeit, das landwirtschaftliche Tun, Bergwelt und abgeschiedenes Dorfleben zu zeigen. Da wirken die Intermezzi eines Heimat-Chores fast erlösend. Was Anna in dieser engen Welt voller Vorbehalte gegenüber Fremden tut, erweist sich als erstaunlich. Doch das ist eine Handlung, die einen Kurzfilm nicht überstrapazieren würde. Auch die Idee, das aufs Wesentliche reduzierte menschliche Leben mit dem Animalischen zu vergleichen, kann das Interesse nicht halten.

„Drei Winter" wurde im Wettbewerb der Berlinale 2022 mit einer lobenden Erwähnung ausgezeichnet.

12.12.22

Aftersun


Großbritannien, USA 2022, Regie: Charlotte Wells, mit Paul Mescal, Frankie Corio, 101 Min., FSK: ab 12

Calum (Paul Mescal) und seine elfjährige Sophie (Frankie Corio) machen Ende der 1990er Jahre einen Strandurlaub in der Türkei und so entspannt wie diese Tage waren, zeigt es der Film: Sie gehen schwimmen, spielen Billard und schauen sich das Abendprogramm der Animateure an. Sophie filmt den Vater und sich selbst auf ihrem neuen Camcorder. Die anderen Kinder am Pool interessieren sie nicht, sie seien zu klein. Nur zwei ältere Jungs und ein Mädchen, mit dem sie knutschen, faszinieren Sophie. Kurzer Streit ist schnell beigelegt. Manchmal, wie beim Tauchausflug, ist Calum genervt, erklärt es aber umgehend.

Verhalten erzählt „Aftersun" von diesem Urlaub. Das Eincremen mit Sonnenmilch und Aftersun gehört ebenso zu den Ritualen wie seine Tai Chi-Übungen. Selbst als Sophie abends alleine draußen bleibt, mit anderen Jugendlichen feiert, den Weg zum Hotel nicht mehr findet, einen Jungen küsst und sich Calum nachts auf die Suche macht, wird das nicht dramatisch geschildert. Ein ruhiger, entspannter Urlaub halt. Doch in einigen, elegant einmontierten Momenten sehen wir die erwachsene Sophie (Celia Rowlson-Hall), die sich zwanzig Jahre später mit den alten Videos an diesen Urlaub erinnert. Vielleicht eine Erklärung für die leichte Melancholie, die in diesen Jugendbildern mitschwebt. Obwohl sehr undramatisch inszeniert, hält „Aftersun" das Interesse der Zuschauer. Das liegt an den nahen Bildern von Kameramann Gregory Oke, aber ebenfalls am Spiel von Paul Mescal und der Newcomerin Frankie Corio. Es belegt vor allem das mutige Können von Regisseurin Charlotte Wells, die auch das Buch schrieb. „Aftersun" hat einen begrenzten Kinostart, bevor er auf der Streaming-Plattform Mubi zu sehen sein wird.

Ein Triumph


Frankreich 2020 (Un triomphe) Regie: Emmanuel Courcol, mit Kad Merad, David Ayala, Lamine Cissokho, 105 Min., FSK: ab 6

Ohne große Begeisterung übernimmt Etienne (Kad Merad) die Leitung einer Gefangenen-Theatertruppe. Er will wie üblich Fabeln vortragen lassen, doch als ihm selbst das dauernde Warten in der Maschinerie der Anstalt auffällt, kommt ihm „Warten auf Godot" in den Sinn. Nach den ersten Proben wird immer erstaunlicher, wie sehr das Stück Samuel Becketts die Situation der Inhaftierten spiegelt. Das Engagement wächst bei Etienne und seinen harten Jungs. Der gefährlichste von ihnen ist leider der beste Akteur, der sich seine Rolle geholt hat, indem er dem eigentlichen Schauspieler drohte. Behelfsregisseur Etienne sieht eine große Chance auch für sich: Von einem beneideten Freund, mit dem er früher „Godot" spielte und der jetzt ein richtiges Theater leitet, bekommt er die Möglichkeit einer Aufführung mit „seinen Jungs". Nachdem die Justiz-Instanzen mühsam überzeugt wurden, kommt es schon zur Mitte des Films zu einem großen Triumph. Das authentische Spiel – bei dem Godot im Gegensatz zum Original tatsächlich auftaucht – geht auf Tournee durch Frankreich. Bis zu letzten Abend in Paris, wo das überraschende Ende nicht den üblichen Genre-Pfaden folgt.

„Ein Triumph" erzählt die wahre Geschichte des schwedischen Theater-Regisseurs Jan Jönson nach, der mit den Insassen des Hochsicherheitsgefängnisses Kumla triumphal „Warten auf Godot" inszenierte. Am Tag einer Aufführung in Göteborg verschwanden fünf seiner Schauspieler spurlos. Ein Ereignis, zu dem Beckett selbst gesagt haben sollte, dass es die beste Interpretation seines Stückes sei. Der schon mit der Entwicklung des Stoffes und der Figuren begeisternde Film wurde bei den 33. Europäischen Filmpreisen als Beste Europäische Komödie des Jahres ausgezeichnet. Kad Merad („Willkommen bei den Schti's"), der sehr beliebte französische Komödiant, spielt routiniert den Theatermann auf Abwegen mit allen Frustrationen und der Wut, die in diesem steckt. Während seine private Geschichte in den schwierigen Momenten mit der erwachsenen Tochter etwas zu kurz kommt, sind die Szenen mit den Häftlingen Moussa (Wabinlé Nabié), Kamel (Sofian Khammes), Patrick (David Ayala), Jordan (Pierre Lottin) und Alex (Lamine Cissokho) packend und toll.

5.12.22

An einem schönen Morgen

 
Frankreich, Deutschland 2022 (Un beau matin) Regie: Mia Hansen-Løve, mit Léa Seydoux, Pascal Greggory, Melvil Poupaud, 114 Min., FSK: ab 12
 
Der Alltag der Pariserin Sandra (Léa Seydoux), Mitte 30, ist bestimmt vom Leben mit ihrer Tochter, die sie allein großzieht. Zwischen Kindergeburtstagen und Fechtturnieren der aufgeweckten Kleinen verdient Sandra als Übersetzerin und pflegt liebevoll ihren kranken Vater Georg (Pascal Greggory). Der leidet am Benson-Syndrom, einer neurodegenerativen Krankheit, ähnlich Alzheimer, und kann nicht mehr sehen. Zusammen mit der Mutter Françoise (Nicole Garcia), die seit Jahrzehnten vom Vater getrennt lebt, und einer nur sporadisch auftauchenden Schwester suchen sie ein menschenwürdiges und bezahlbares Pflegeheim. Zwischendurch erscheint Sandras alter Freund Clément (Melvil Poupaud) und beginnt eine leidenschaftliche Affäre, obwohl er verheiratet ist.
 
Es braucht wohl eine Regisseurin wie Mia Hansen-Løve, um aus so viel durchaus forderndem Alltag einen schönen Film zu machen! Hansen-Løve begann ihre Karriere mit sehr persönlichen Werken über den Tod ihres Mannes, des Produzenten Hubert Balsan, in „Der Vater meiner Kinder" und über ihren hedonistischen Bruder in „Eden". Dann begeisterte sie mit „Bergman Island" und Vicky Kriebs vor der historischen Bergman-Kulisse auf Fårö. Nun drehte die Tochter von zwei Philosophen wieder semibiografisch über den Abschied vom Vater, einem Büchermenschen, dem das Benson-Syndrom vor allem die Fähigkeit zu Lesen nahm. Während Vater Georg in verschiedenen Heimen recht zufrieden wirkt und immer nur auf seine Freundin wartet, obliegt es Sandra, sich auch von der riesigen Büchersammlung deutscher Philosophie und Literatur zu trennen. In einem Notizbuch zeigt sich der fortschreitende Verlust von Zeit und Zusammenhang auf poetisch schreckliche Weise.
 
„An einem schönen Morgen" – der Titel taucht im Original auf Deutsch als Literaturzitat auf – wird trotz eines prominenten Ensembles gänzlich von Léa Seydoux („Blau ist eine warme Farbe", „James Bond 007: Spectre") getragen. Es zeichnet diesen französischen Super-Star aus, dass sie auch „ganz gewöhnlich" spielen kann. Ihre Sandra schlägt sich tapfer durch ein Leben voller kleiner Dramen, ohne dass der Film sich zum Melodram aufschwingt. Er wiegt sogar die Tragik des Abschieds durch kleine Glücksmomente auf.

 

She Said


USA 2022, Regie: Maria Schrader, mit Carey Mulligan, Zoe Kazan, Patricia Clarkson, 129 Min., FSK: ab 12

Carey Mulligan und Zoe Kazan spielen eindrucksvoll den Anfang von #metoo aus journalistischer Sicht nach: Die Jagd auf den Filmmogul und Vergewaltiger Harvey Weinstein wirkt scheinbar nüchtern erarbeitet, ist aber trotzdem schockend und bewegend. Regisseurin Maria Schrader macht nach ihrem Erfolg mit dem Emmy-Sieger „Unorthodox" einen weiteren großen Schritt in Hollywood.

Die deutsche Filmemacherin Maria Schrader entscheidet sich klar und klug für die Perspektive der Frauen – der Täter Harvey Weinstein ist im ganzen Film nur einmal kurz von hinten zu sehen. Die Hauptrollen spielen die Reporterinnen der „New York Times" Megan Twohey (Carey Mulligan) und Jodi Kantor (Zoe Kazan). Megan versuchte schon Donald Trump wegen seiner sexuellen Übergriffe festzunageln, bevor sie ein Kind bekam und wegen zahlloser Angriffe über einen Ausstieg vom Job nachdachte. Dann steigt sie 2017 in die Ermittlungen ihrer Kollegin Jodi ein. Einer der ersten Berichte von Frauen, die von Harvey Weinstein zum Sex gezwungen wurden, stammt von Ashley Judd („Doppelmord", „Bug – Tödliche Brut"). Doch auch die erfolgreiche Schauspielerin, die sich selbst spielt, traute sich nicht, gegen den Gewalttäter aufzutreten. So reihen sich die erschütternden Berichte aneinander, immer nach dem gleichen Muster: Versprechungen an junge Talente, die Treffen in Hotelzimmern, Weinsteins Auftritt im Bademantel, das Duschen, die Drohungen...

Anzeigen blieben erfolglos und sind nicht mehr im Archiv der Polizei auffindbar. Viele Frauen unterschrieben Schweigevereinbarungen und können heulend in Interviews nicht die Wahrheit sagen. Der Einfluss des überaus erfolgreichen Filmproduzenten und Oscar-Siegers („Shakespeare in Love") ist zu groß. Doch Megan und Jodi geben nicht auf und erarbeiten sich mit mühsamer Recherche das unwiderlegbare Bild eines gnadenlosen Machtmenschen, der reihenweise Frauen missbraucht hat.

Erstaunlich an Maria Schraders Nacherzählung des Anfangs der #metoo-Bewegung ist die scheinbar nüchterne Inszenierung: Lange wird auf Rückblenden zu den Verbrechen verzichtet, die dann im letzten Teil des Films umso wirkungsvoller einsetzen. Die Regisseurin vertraut ganz auf die (Nach-) Erzählung der furchtbaren Situationen, auf die Schilderung vom Erleiden der Gewalt. Das scheint vom Papier her wenig reizvoll, erweist sich aber als Prinzip „She said" – „Sie sagte ..." - im Film dank exzellenter Darstellerinnen als erschütternd. Statt Winkelzüge der Gegenseite aufzuzeigen, sehen wir den schwierigen Alltag der Journalistinnen mit geduldigen Männern in den jeweiligen Beziehungen. Der Aspekt, dass beide eine Tochter haben, lässt sich ohne weitere Betonung als Motivation erkennen, dass denen so etwas nicht passieren soll.

Die bekannte Schauspielerin Maria Schrader („Aimée & Jaguar", „Vergiss mein Ich") begeisterte als Regisseurin schon mit der Stefan Zweig-Biografie „Vor der Morgenröte" und der sensationell erfolgreichen Miniserie „Unorthodox" über die Flucht einer orthodoxen Jüdin. Nun bewahrt sie sich in ihrem Hollywood-Debüt einen eigenen Stil und lässt vor allem den entscheidenden Frauen der historischen #metoo-Bewegung ihren Raum.