27.4.21

Songs My Brothers Taught Me / Mubi



„Nomadland" von Chloé Zhao war mit drei Auszeichnungen - Bester Film, Beste Hauptdarstellerin (Frances McDormand) und Beste Regie - der große Gewinner der letzten Oscar-Verleihung. Auf einen Kinostart des Dramas um eine moderne Nomadin in den USA müssen wir warten – ein Termin steht noch nicht fest. Doch der ebenso eindrucksvolle Debütfilm der Chinesin Chloé Zhao, „Songs My Brothers Taught Me", ist zum perfekten Zeitpunkt jetzt online zu sehen. Die intensive Geschichte von Bruder und Schwester in einem Reservat South Dakotas begeistert sowohl in den gespielten wie in den halb-dokumentarischen Teilen.

Der Teenager Johnny (John Reddy) und seine jüngere Schwester Jashaun (Jashaun St. John) leben in einer kleinen Stadt im Pine-Ridge-Reservat. Bestimmt von den Lakota Sioux, aber auch von Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Drogen, Kriminalität, Selbstmorden und Depression. In der Schule wollen alle Jungs Bullenreiter werden, Johnny selbst will mit seiner Freundin weg, nach Los Angeles. Dafür verdient er Geld mit Alkohol-Schmuggel und illegalem Verkauf. Der ältere Bruder sitzt schon im Gefängnis und meint, das sei besser, als noch bei der Mutter zu sein. Die kümmert sich weniger um die Kinder, als um ihre Alkoholsucht und eine Kirchengemeinde.

„Songs My Brothers Taught Me" begeistert von den ersten Aufnahmen an mit einer freien, großartigen Kamera: Weite und Stille der Prärie, aufgenommen mit speziellen Weitwinkel-Objektiven, erinnern an die Filme von Terrence Malick, an „The Tree of Life" oder „Der schmale Grat". Chloé Zhaos Erstling ist auch eine Ode an die Prärie, die „plains" und die karstige Erosionslandschaft der „Badlands" von South Dakota. „Badlands" so hieß der erste Film von Terrence Malick aus dem Jahr 1973. Johnny fasst zusammen: „Es ist schwer, dort zu leben, schwer von dort wegzugehen."

Der Unfall-Tod des längst ausgezogenen Vaters bringt Johnny und Jashaun mit vielen anderen Halbgeschwistern zusammen, neue Verbindungen entstehen. Die kleine Schwester, traurig über Johnnys Pläne, freundet sich mit einem voll-tätowierten und meist voll besoffenen Graffiti-Künstler an, der Traditionen in moderne T-Shirt-Kunst verwandelt. Von ihm stammt auch der Hinweis auf eine Prophezeiung des Häuptlings Crazy Horse: Nach dem Massaker von Wounded Knee im Jahre 1890, bei dem wehrlose Indianer von den Soldaten abgeschlachtet wurden, würde es sieben Generationen bis zu einem Neuanfang dauern. Die siebte Generation ist nun die von Jashaun.

Regisseurin Chloé Zhao schrieb auch das Drehbuch zu der berührenden Geschichte. Während sie in New York lebte, las sie von der hohen Selbstmordrate in Pine Ridge und reiste in das Reservat, um vor Ort Einheimische zu treffen. Sie verbrachte dort vier Jahre, während sie an dem Film arbeitete. Zur großen Authentizität tragen auch die Laiendarsteller bei. So viel Einfühlungsvermögen, so viel Können und Kunst wurde zurecht im Nachfolger „Nomadland" selbst mit dem Mainstream-Preis Oscar anerkannt. Dokumentarisch bei diesem wehmütigen, aber nicht hoffnungslosen Porträt einer abgeschlossenen Gemeinschaft sind die Einblicke in Wohnungen und Lebenssituationen. Atmosphärisch überwältigend dann grandiose Landschaftsaufnahmen. „Songs My Brothers Taught Me" lässt den Konflikt mitfühlen, die Probleme, den Alkohol und die Aussichtslosigkeit. Aber auch das freie Leben in der Prärie, den Rückhalt einer - sehr großen – Familie und der Gemeinschaft mit alten Traditionen. Auch ohne die Oscar-Nachhilfe ein unbedingt sehenswertes Filmereignis und die Entdeckung eines ganz großen Regietalents.

 (Mubi) *****

„Songs My Brothers Taught Me" (USA 2015), Regie: Chloé Zhao, mit John Reddy, Jashaun St. John, Irene Bedard, 98 Min., Altersfreigabe: Ohne Angabe

Winterreise / Video on Demand ****


In seiner letzten Rolle verkörpert Bruno Ganz den Holocaust-Überlebenden George Goldsmith, nach eigener Aussage ein „langweiliger alter Mann" aus Tucson, Arizona. Doch sein Sohn Martin Goldsmith befragt ihn zur Kindheit in Deutschland, in welcher der Vater Günther Goldschmidt hieß und von Mozarts „Zauberflöte" zur Karriere eines begnadeten Flötisten inspiriert wurde. Bis die Nazis alle jüdischen Musiker mit Berufsverbot belegten. Frühe Fluchtpläne bricht Goldschmidt ab, weil er bei einem Orchester des jüdischen Kulturbundes seine spätere Frau kennenlernt...

Basierend auf dem autobiografischen Buch „Die unauslöschliche Symphonie. Musik und Liebe im Schatten des Dritten Reiches – eine deutsch-jüdische Geschichte" von Martin Goldsmith gelingt Regisseur Anders Østergaard eine faszinierende Mischung aus Dokument und fiktionaler Nacherzählung. Die nur zögerlich gewährten Erinnerungen des grantigen Vaters (Bruno Ganz) sind elegant zwischen dramatisierte Dokustückchen und nachgespielte Erlebnisse montiert. Alles begleitet von sehr passenden Sätzen aus Schuberts Liedzyklus „Winterreise": „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus". Die geradezu perverse Institution des jüdischen Kulturbundes ist neben dem persönlichen Drama ein faszinierendes Thema: Die gerade deutschlandweit entlassenen jüdischen Künstler wurden darin zu Zehntausenden während einer Gnadenfrist zum Propaganda-Instrument für die Reichskulturkammer.

„Winterreise" (Dänemark, BRD 2019), Regie: Anders Østergaard, mit Bruno Ganz, 89 Min., FSK: ab 12

Tilo Neumann und das Universum / TVNow ****


In der Mitte seines Lebens und ganz am Boden kann der mäßig motivierte Lehrer Tilo Neumann (Christoph Maria Herbst) nur noch auf die beschlagnahmten Drogen seiner Schüler zurückgreifen. Viel Alkohol, Gras und auch LSD lassen den geschiedenen und frustrierten Zyniker ein Licht sehen und eine Stimme hören. Am nächsten Morgen verkatert über der Kloschüssel ist es eher düster, doch eine freundliche weibliche Stimme (Elena Uhlig) hört Tilo immer noch. Was zu viel Verwirrung und zu einem Deal mit dem allgegenwärtigen Wesen führt: Wenn Tilo ab jetzt seinen Mitmenschen hilft, wird die Stimme ihm helfen und in einem Jahr und elf Monaten soll alles wieder gut sein. Dummerweise zeigte die tolle neue Serie Tilo gleich zu Anfang genau nach einem Jahr und elf Monaten völlig besoffen auf einer Parkbank. Und ausgerechnet der schwer erträgliche jüngere Guru, der bei Tilos Frau einzog, kommt ihm zu Hilfe.

Christoph Maria Herbst („Stromberg")  als Mann der Stimmen hört, als deutscher Mel Gibson („Was Frauen wollen") oder als Reminiszenz an „Mein Freund Harvey", einem eingebildeten Hasen. Das ist schon mal eine klasse Idee. Dazu sprudelt „Tilo Neumann und das Universum" nur so über von sehr witzigen Ideen, etwa dass im Radio immer der passende Song zur aktuellen Lebenssituation läuft – ganz ohne Alexa. Die Stimme hilft auch als Schlüsselfinder, Terminkalender, Humor-Beraterin und füllt Duschgel nach.

Herbsts Tilo ist zwar beratungsresistent, aber mit etwas Opportunismus bereit zum Gutmenschentum. Die Serie begnügt sich nicht nur mit diesem Vergnügen und gibt der Hauptfigur auch tragische Tiefe. Das erinnert in kurzen Episoden an die geniale britische Serie „After Life" mit Ricky Gervais. Das Spiel mit drei Erzählebenen (was Tilo erzählt, was eigentlich passiert ist, was sonst passiert wäre) vollendet den rundum gelungenen Spaß mit Tiefgang.

„Tilo Neumann und das Universum", (BRD 2021), Regie: Julian Pörksen, mit Christoph Maria Herbst, Elena Uhlig, Christina Große, acht Folgen à 25 Min.

21.4.21

The United States vs. Billie Holiday / Video on Demand



„Mein Lied ‚Strange Fruit' erinnert sie daran, wie sie uns umbringen." Dieser Satz macht die neue Film-Biografie zur legendären afroamerikanischen Sängerin Billie Holiday bedeutend für unsere Zeit des „Black Lives matter". Der Rest von „The United States vs. Billie Holiday" ist eher mittelmäßig. Auch bei klasse Ausstattung und Kamera, toll interpretierten Songs sowie gutem Spiel der Soulsängerin Andra Day, die für einen Oscar nominiert ist.

In den 1930er Jahren begann die steile wie wechselhafte Karriere Billie Holidays (1915 - 1959). Sie ist ebenso berühmt für Evergreens wie „All of Me", „Solitude", „Lady Sings the Blues" und „Strange Fruit", wie für ihre gewalttätigen Partner und Drogen-Eskapaden, die sie umbrachten. Holiday starb an einer Leberzirrhose.

Die Filmhandlung beginnt Ende der 1930er-Jahre, zur Zeit der Rassentrennung in den USA: Billie Holiday (Andra Day) ist eine der erfolgreichsten Jazzsängerinnen der Welt. Doch ihr brutaler Manager und Ehemann drängt sie immer wieder, den Protestsong „Strange Fruit" nicht, wie vom Publikum gefordert, als Finale zu singen. Die „seltsamen Früchte" (engl.: strange fruit) sind die Leichen gelynchter Schwarzer, die vor allem im Süden der USA in den Bäumen hängen. Männer der Regierung befürchten einen Aufruhr um das brennende Thema Lynchmorde, doch hinterhältig wollen sie den „Lady Day" genannten Star über ihren Drogenkonsum aus dem Verkehr ziehen. Selbst Billies Partner lässt sich nun von den Agenten kaufen, um sie zu verraten. Interessanter wird die Handlung mit dem schwarzen Bundesagenten Jimmy Fletcher (Trevante Rhodes), der mit Undercover-Einsatz für Verhaftung und Gefängnis-Aufenthalt der Sängerin sorgt. Er wird von seinen weißen Kollegen gefeiert, doch reumütig kehrt er zu Holiday zurück und verliebt sich in sie.

„The United States vs. Billie Holiday" von Regisseur Lee Daniels („Precious") zeigt die letzten zwölf Lebensjahre der Künstlerin und basiert auf der teilweise erdichteten Autobiografie Holidays, „Lady Sings the Blues", die sie ab 1956 verfassen ließ. Aber vor allem auf dem Buch „Chasing the Scream: The First and Last Days of the War on Drugs" von Johann Hari, das die Rolle der Regierung im „Krieg gegen die Drogen" als institutionellen Rassismus interpretiert.

Herzzerreißend sind jedoch die konkreten Momente grausamen Rassismus'. Etwa wenn der Star Holiday nur den Dienstboten-Aufzug benutzen darf – was der ebenfalls schwarze Liftboy durchsetzen muss. Und vor allem in der gewagtesten und stärksten Szene des Films, wenn Holiday Jimmy auf einem Heroin-Trip in eine Kindheit mitnimmt, die von Lynchmorden und Missbrauch geprägt ist. Im konventionellen Rest lässt sich schillernde Ausstattung genießen und vor allem großartige Songs, neu interpretiert von der gut spielenden Soulsängerin Andra Day. Bei den Golden Globes wurde sie als beste Drama-Hauptdarstellerin ausgezeichnet, für einen Oscar ist sie nominiert.

„The United States vs. Billie Holiday" (USA 2020), Regie: Lee Daniels, mit Andra Day, Trevante Rhodes, Garrett Hedlund, 130 Min., FSK: ab 16

Ab 23. April digital zum Kauf erhältlich.
Ab 30. April digital zum Leihen und ab 14. Mai auf Blu-ray/DVD

14.4.21

The Nevers / Sky


Eines macht die neue HBO-Serie „The Nevers" klar: Die Außerirdischen müssen Feministen sein! Denn nach dem fantastischen Erscheinen eines schillernden Raumschiffs im viktorianischen England sind fast nur Frauen vom ausgestreuten Feenstaub „berührt" und entwickeln Super-Fähigkeiten.

Penance Adair (Ann Skelly) wird zur brillanten jungen Erfinderin und düst bald mit einem dreirädrigen Elektro-Sportwagen zwischen den Pferdekutschen des Londons von 1896. Auch der Regenschirm, der Stromstöße austeilt, und andere geniale Prototypen gehen auf die Kappe der etwas tollpatschigen Q-Variante.

Einer „berührten" Prostituierten erzählen alle erregten Männer und Frauen neuerdings viel zu viel. Ein junges Mädchen spricht plötzlich ein Haufen Sprachen - gleichzeitig in einem Satz. Eine verwandelt jede Flüssigkeit zu Wasser. Einer der Schurken, eine Hommage an Bonds Beißer Richard Kiel, kann über Wasser laufen. Was zu einem grandiosen Duell mit der untergetauchten Witwe Amalia True (Laura Donnelly) führt. Diese Miss True leitet ein „Frauenhaus" der Berührten – hier können die gesellschaftlich Geächteten Schutz finden und gemeinsam gegen Verfolger agieren. Denn viele von ihnen werden durch mysteriöse Masken-Gestalten entführt. Von starken Frauen fühlt sich sogar das britische Empire bedroht, das politische Establishment und die Oberschicht gehen offensiv und hinterhältig gegen sie vor. So stellt sich die Serie auf die Seite der Frauen, aber auch zu den brutal ausgebeuteten ArbeiterInnen.

Comic-haft wirkt das Spektakel mit der dämonisch wahnsinnigen Gegenspielerin Maladie (Amy Manson): Auch sie hat eine spezielle Eigenschaft - Schmerz gibt ihr Superkräfte. Damit steht sie für die rachsüchtige Fraktion der Berührten. Maladie will andere für Erlittenes leiden lassen. Amalia True bemüht sich hingegen um die Kontrolle der Kräfte und Emotionen. Das ist wieder die Grundfrage von „X-Men" – Anpassung oder Widerstand? True selbst gelingt die Kontrolle meist nicht: Immer wieder weist Penance sie vor neuen Abenteuern darauf hin, doch nicht erneut ein Trümmerfeld zu hinterlassen. 

Hier klingt etwas vom Humor an, mit dem „The Nevers" neben Action und Retrofuturismus nicht spart: Die meisten fantastischen Eigenschaften kennzeichnen Figuren, die tragische Tiefen haben. Aber eine Riesenfrau zeigt die Lust am verrückten Erzählen ebenso wie viele Erfindungen von Penance. Die historische Science-Fiction-Mystery-Serie um eine Bande viktorianischer Frauen wurde von Joss Whedon entwickelt, der sich schon in den Neunzigern mit „Buffy the Vampire Slayer" um Frauen-Power auf dem Bildschirm verdient gemacht hat. Die Dialoge von „The Nevers" stammen zum Teil von der feministischen Autorin Laurie Penny („Fleischmarkt", „Bitch Doktrin").

Die aufwändige und exzellent ausgestattete Produktion erweckt auch durch sehr gute DarstellerInnen Mitgefühl für alle, die anders sind und deshalb verfolgt werden. Allen voran glänzt Laura Donnelly („Britannia", „Outlander") als Anführerin Miss True. Sie zeigt in den ernsten Szenen die Last der Verantwortung, dann im Exzessiven die Lust am Leben und beim Schwätzen mit der Freundin ganz mädchenhafte Seiten. Nicht nur für die Geschlechter-Gerechtigkeit sei hier noch Ben Chaplin („Die Tore der Welt", „Mad Dogs") erwähnt: Sein Kommissar Frank Mundi zeigt die berufsmäßige Zerrissenheit so eindrucksvoll, wie man den guten Schauspieler seit längerem nicht mehr gesehen hat. Nach vier Episoden für die Presse kann es hier auch der Kritiker nicht erwarten, wie es mit diesen komplexen Figuren und der dichten, spannenden Geschichte weitergeht.



„The Nevers" (USA 2021) Regie: Joss Whedon, David Semel, Zetna Fuentes, mit Laura Donnelly, Ann Skelly, Olivia Williams, sechs Folgen à ca. 55 Min., Altersfreigabe ab 16

Ab April auf Sky Ticket sowie auf Sky Atlantic und über Sky Q auf Abruf.

13.4.21

Mirella Schulze rettet die Welt / TVNow


Wie sähe es aus, wenn der „Stromberg"-Autor Ralf Husmann sich die Umwelt-Aktivistin Greta Thunberg ausgedacht hätte? Sie würde Mirella Schulze heißen und klugen Serien-Spaß garantieren. Nein, beliebt ist die 13-jährige Mirella (Tilda Jenkins) wirklich nicht: Weder in der eigenen Familie, die Lebensmittel aus der Mülltonne essen soll, noch in der Schule. „Geh sterben, ich mach dich alle, du Opfer", meint die sehr blonde Mitschülerin, als der Klassen-Flug nach Spanien aus Öko-Gründen gestrichen wurde. Zwar feiert das ganze Dorf die Initiativen der Außenseiterin, doch viele arbeiten auch bei der Winterfeld AG, Mirellas Lieblingsfeind. So muss ausgerechnet ihre Mutter (Jördis Triebel), als Kommunikations-Fachfrau des Chemie-Konzerns immer wieder zwischen cholerischem Chef und dickköpfiger Tochter ausgleichen. Nur der lustige Lehrer der Kabarett-Gruppe ist glücklich, weil das ist ja fast wie früher ...

„Gibt's nicht irgendwas, was so heißt, wie es heißt?", meint Mirellas dummer Bruder angesichts von Ausspracheproblemen mit Chia und Quinoa. Es ist die Kunst von Showrunner Ralf Husmann („Stromberg", „Merz gegen Merz") und seinen Mit-AutorInnen, große Themen unterhaltsam in bodenständige und witzige Situationen mit durchgehend geschliffen spritzigen Dialoge runterzubrechen. Es gibt in der kleinen Sitcom eine Menge bekannter Widersprüche, etwa wenn der moralisch strenge Verkäufer vom Unverpackt-Laden selbst mit dem Auto zu McDoof fährt. Husmann meint dazu selbst: „Die Schulzes sind wie wir alle, nur lustiger und Humor hilft ja immer. Auch gegen den Klimawandel. Aber weniger fliegen, fahren und futtern hilft auch."

„Mirella Schulze rettet die Welt" (BRD 2021), Regie: Jonas Grosch, Sinan Akkuş, mit Tilda Jenkins, Jördis Triebel, Moritz Führmann, acht Folgen à 25 Min., Jugendfreigabe: ohne Angabe

Stargirl / Sky


Wie scheinbar alle Teenager (in den Filmen) Nordamerikas muss Courtney Whitmore (Brec Bassinger) umziehen. Das völlig verschlafene, aber ansonsten sehr freundliche Blue Valley begeistert das Mädchen aus Los Angeles überhaupt nicht. Die üblichen Highschool-Probleme mit Super-Zicken, Football-Idioten und traurigen Außenseitern wandeln sich, als Courtney in den Umzugskartons ihres Stiefvaters Pat (Luke Wilson) einen Metallstab findet, der sofort leuchtet und rumzappelt. Unter seiner eigenwilligen Anleitung fliegt das Mädchen bald durch die Gegend und schlägt im Autokino die Schul-Bullies zusammen. Überrascht von eigenen Kräften und Fähigkeiten rätselt Courtney, ob sie die Tochter des legendären Starman sein könnte. Während dessen alte Gegner bald auftauchen, versammelt sie Mitstreiter an ihrer Schule. Zum Glück eilt Stiefvater Pat mit einem Transformer-Roboter zu Hilfe – er war einst unterschätzter Sidekick Starmans.

Nach dem Erfolg von „Wonder Woman" war klar, dass weibliche Selbstermächtigung bei den SuperheldInnen in Serie gehen wird. Das auch von DC-Comic hochwertig produzierte und gespielte „Stargirl" hat mit Luke Wilsons Assistenten einen netten Charakter in Nebenrolle. Aber es erschreckt, wie schematisch auch diese Serie aufgebaut ist. Der Highschool-Film mit Superhelden-Einschlag will junges Zielpublikum mit der jungen Nickelodeon-Schauspielerin Brec Bassinger locken. Etwas weniger offensichtliche Handlung wäre hilfreicher gewesen.

„Stargirl" (USA 2020), Regie: Glen Winter, Greg Beeman u.a., mit Brec Bassinger, Luke Wilson, Yvette Monreal, 13 Episoden, je ca. 45 Min., Jugendfreigabe: keine Angabe

Immer sonntags ab 20.15 Uhr in Doppelfolgen auf Sky One sowie parallel auf Sky Ticket und über Sky Q auf Abruf.


7.4.21

8 Zeugen / TVNow

Die zehnjährige Tochter des Berliner Innensenators wird aus einem gut besuchten Museum entführt. Unter Zeitdruck holt die Polizei die Gedächtnisforscherin Dr. Jasmin Braun (Alexandra Maria Lara) zum Zeugenverhör dazu. Gegen alle Regeln, wie vor allem die anstrengende Wissenschaftlerin wieder und wieder betont. Das klingt - „inspiriert von der Arbeit der Rechtspsychologin Dr. Julia Shaw" - wie die zu lange, zu dröge Einleitung eines Buches, kommt aber dann in wenigen Minuten zur Sache. Acht Menschen berichten, was sie bei Explosion und folgender Aufregung erlebt haben. Ein junger Mann mit arabischem Namen lenkt den Verdacht auf einen kriminellen Clan. Eine Möchtegern-Autorin fantasiert Geschichten in die Ereignisse hinein. Die Kellnerin Theresa ist ein besonders komplizierter Fall, weil sie sich ihren Freund wahrscheinlich nur eingebildet hat. Im Duell mit einem angesehenen Professor ihres Fachs muss sich die psychisch labile Dr. Braun dann selbst rechtfertigen.

Mit Einzelporträts und der großen Frage, wer das Kind entführt hat, zeigt „8 Zeugen" in ganz kurzen Folgen ein Kammerspiel mit von außen eingespielter Dramatik. Die beliebte Alexandra Maria Lara überzeugt ansonsten eher bei wenig komplexen Figuren. Nun soll sie schillernde externe Polizei-Helfer wie „Monk", „The Mentalist" oder „Professor T" kopieren. Im peinlichen Vorspann passt das gar nicht, aber aufgrund der unsicheren Figur ist gerade kein Charisma gefordert. Überzeugen kann die Mini-Miniserie letztlich mit ihrer raffinierten Grund-Idee und einer richtig guten Geschichte: Wie beim klassischen Detektiv-Film führt die Spur Dr. Braun letztendlich auf sich selbst zurück.

„8 Zeugen" (BRD 2021), Regie: Jörg Lühdorff, mit Alexandra Maria Lara, Ralph Herforth, Nadine Schröder, acht Folgen à 25 Min., Altersfreigabe: keine Angabe

Die Bande aus der Baker Street / Netflix

Arthur Conan Doyles (1859-1930) Geschichten rund um Sherlock Holmes und dessen (fiktive) Adresse Baker Street 221b sind in Kino und TV immer ein Hit. Wobei die Qualität in den letzten Jahren exponentiell anstieg: Der drogensüchtige Holmes von Robert Downey Jr. mit den Steam Punk-Elementen im historischen London begeisterte 2009 und 2011 im Kino. Die 13 Folgen des BBC-"Sherlock" mit Benedict Cumberbatch in der Hauptrolle sind ein absoluter Höhepunkt der Serien-Kultur. Auch die US-Serie „Elementary" mit Jonny Lee Miller und Lucy Liu verpflanzt die bekannten Krimi-Geschichten in die Gegenwart. Der US-amerikanische Film „Enola Holmes" machte aus der in „Sherlock" genial wahnsinnig bösen Schwester kürzlich auf „Netflix" eine Jugendgeschichte. Nun übernimmt gleich eine ganze Jugend-Bande aus der Baker Street das Kommando, Holmes und Watson werden zu Nebenfiguren. Mit gemischten Resultaten.

Rund um Baker Street 221b ereignet sich im London des vorletzten Jahrhunderts Mysteriöses: Babys werden entführt und ein unheimlicher Vogelmann attackiert Verfolger mit einer Schar von Raben, die Hitchcock neidisch machen würde. Eine bösartige Zahn-Fee nimmt gleich alle Zähne der Kinder mit, dann gibt es Klone der Beklauten und Zombies. Mittendrin versuchen vier Jugendliche den Rätseln auf den Grund zu gehen: Die burschikose Bea (Thaddea Graham) mit den asiatischen Gesichtszügen, ihre halluzinierende Schwester Jessie (Darci Shaw), der grobe Billy (Jojo Macari) und clevere Spike (McKell David) leben nicht auf der Straße, aber nicht weit davon entfernt im Keller einer Kneipe. Ein schwer kranker Prinz (Harrison Osterfield) gesellt sich aus Herzensgründen zum Team. Bea erhält vom dunkelhäutigen Watson (Royce Pierreson) ihre Aufträge, versucht aber gleichzeitig zu erfahren, was es mit dem geheimnisvoll versteckten Sherlock (Henry Lloyd-Hughes) auf sich hat. Derweil lernt Jessie mithilfe einer leuchtenden Figur aus ihren Träumen, in die Köpfe der Bösewichte einzudringen. Auf der Spur einer dunklen Macht aus dem Jenseits, die verzweifelte Menschen ergreift und immer stärker wird.

Auch wenn das Übersinnliche in der „Baker Street" ganz nah an ganz billigen Fantasy-Geschichtchen angesiedelt ist – die Jugendbande ist nicht weit hergeholt: „Lumpengehilfen" oder „Street Arabs" gab es bereits in originalen Geschichten Doyles, in „A Study in Scarlet" und „The Sign of the Four". Der Verfall Sherlocks, diesmal ein Junkie mit tragischer Vergangenheit, führt zur Geschichte von Beas Mutter, die zusammen mit ihm schon gegen den „Riss" zwischen den Welten kämpfte.

„Die Bande aus der Baker Street" hat eine Menge Vergangenheit und Traumata im Gepäck. Bea und Jessie kommen aus dem Armenhaus. Erklärt das die „Schwesternschaft" bei völlig abwesender Ähnlichkeit? Ob das ein film-immanentes Rätsel sein soll oder einfach eine dieser modernen „diversen" Besetzungen gegen alle historischen und Vererbungs-Lehren, wird sich hoffentlich später klären. Generell ist wie bei der Adels-Posse „Bridgerton" ein munterer Mix in den Ethnien festzustellen. Watson ist dunkelhäutig, Spike wirkt mit seinen Dreadlocks, den historisch tatsächlich sehr alten Filzlocken, sehr modern. So was muss man heutzutage wohl machen, um Oscars oder TV-Preise zu bekommen. Wirklich problematisch für die Wirkung sind allerdings zweitklassige Schauspieler, sowie zu saubere und künstlich heruntergekommene Kulissen und Kostüme. Ein chargierender Mycroft Holmes; Statisten, die deutlich auf die Tee-Pause warten ... so hat es gerade eine fantastische Geschichte, die hemmungslos Genres mixt, schwer mit der Glaubhaftigkeit.

„Die Bande aus der Baker Street" (The Irregulars, USA 2020), Regie: Johnny Allan, Joss Agnew, Weronika Tofilska, mit Thaddea Graham, Darci Shaw, McKell David, Jojo Macari, acht Episoden à ca. 50 Min., Altersfreigabe Netflix: ab 14

Dead Pixels / ZDF


Die Geschichte vom Computer-Nerd, der nur von Pizza lebt, die unter der Tür durchgeschoben wird, ist so alt wie das Betriebssystem MS-DOS. Doch in dunklen Zimmern gibt es noch Nerds wie Meg, Nicky, Usman und Russell, die Tag und Nacht ihr Lieblings-Videogame zocken. Wenn man schon zwei Jahre in „Kingdom Scrolls" damit verbracht hat, Bären am Fließband totzuschlagen, um ein Schloss zu verdienen, das bald wieder abbrennt, dann kann man nicht einfach ins normale Leben zurück. Im Büro spielen Meg und Nicky nur. Am Ende der ersten Folge erleben wir, dass die beiden eigentlich in Zimmern nebeneinander wohnen. Dabei haben diese soziale Katastrophen nicht wirklich Spaß. Russell, der einfältige und knackige Neue in Büro und Spiel, der sich kindisch amüsiert, ist ihnen zu blöd. Also erschlagen sie ihn zuerst für seine Goldschätze und ignorieren ihn dann – im Spiel.

Die deftige Komödie „Dead Pixels" wählt die Perspektive der Computerspiel-Süchtigen, die nur vor dem Bildschirm essen und im Spiel heiraten. Vor allem Meg verteidigt diese einseitige Begabung aggressiv und sprachlich saftig. Das jetzt pubertär zu nennen, wäre wie dem Papst Katholizismus vorzuwerfen. Den typisch britischen Spaß präsentiert das ZDF in deutscher Erstaufführung direkt mit beiden Staffeln. Am Freitag ab 23.30 Uhr alle Folgen am Stück. Ab Samstag 10 Uhr in der Mediathek.

„Dead Pixels", Staffel 1+2 (USA 2020), Regie: Al Campbell, Jamie Jay Johnson, mit Alexa Davies, Will Merrick, Sargon Yelda, David Mumeni, jeweils sechs Folgen à 23 Min., FSK: ab 16

Glitzer & Staub / digitaler Download, DVD, Bluray ***


Der fast ur-typisch amerikanische, ehemalige Rodeo-Reiter Trey King „ist sauer", weil sein Kind ein Mädchen ist - aber zumindest ein Cowgirl! Wenig „mädchenhaft" setzt sich die neunjährige Ariyana Escobedo selbst mit gebrochenem und blutendem Fuß auf einen rasend gemachten Bullen, um ein paar Sekunden im Rodeo-Ring auf ihm zu „reiten". Die 17-jährige Tatyanna Begay lebt mit ihrer Familie in Navajo Nation, dem größten Reservat der USA. „Ohne das Bullenreiten wäre ich ein Niemand", sagt die stille junge Frau. Doch auch, dass sie immer den Blick ihres jüngeren Bruders spürt, der vor drei Jahren gestorben ist.

„Glitzer & Staub" von Anna Koch und Julia Lemke zeigt, wie sich vier junge Mädchen aus dem konservativen mittleren Westen der USA in der harten, männerdominierten Welt des Rodeo-Sports behaupten. Schwere Verletzungen bis zur angebrochenen Wirbelsäule sind in diesem „Sport" an der Tagesordnung. Die klassische Dokumentation lässt über den (Weide-) Zaun schauen und gewährt Einblicke in eine seltsame Szene stolzer und reaktionärer Landwirte mit Cowboyhut – weitgehend ohne zu werten.

Die nächste spannende Produktion von „Flare Film" („Vergiss mein nicht", „Berlin Bouncer") des aus Aachen stammende Produzenten Martin Heisler zeichnet mit grandioser Kamera (Julia Lemke) unaufdringliche Mädchen- und Familienporträts. Die stille Begeisterung des Films darüber, dass junge Frauen eine weitere Männerdomäne erobern, vergisst die Frage, ob die Sache an sich toll ist. Das Bocken der Bullen ist kein Reflex: Ihre Genitalien werden gequetscht, um sie rasend zu machen. Am Ende entscheidet sich eines der Mädchen gegen das Bullenreiten.

„Glitzer & Staub" (BRD 2020), Regie: Anna Koch, Julia Lemke, 93 Min., FSK: ab 6

Jesus Rolls / digitaler Download, DVD, Blu-ray


Unter den klassischen Szenen des großen Genres Bowling-Filme gibt es Bill Murray mit wehendem Toupet in „Kingpin" und John Turturro im lila Glitzer-Dress, der in „The Big Lebowski" als Jesus Quintana vor jedem Strike die Kugel leckt! Der großartige Schauspieler („Barton Fink", „O Brother, Where Art Thou?", „Transformers") und Regisseur Turturro („Mac", „Illuminata", „Plötzlich Gigolo") lässt die Nebenfigur Jesus wiederauferstehen. Nicht als „The Big Lebowski 2", sondern als Remake von Bertrand Bliers französischer Sexfilmkomödie „Die Ausgebufften" („Les Valseuses", 1974) mit schlankem Gerard Depardieu. Neben Turturro selbst treten Audrey Tautou, Christopher Walken, Susan Sarandon und Jon Hamm aus „Mad Men" auf.

Ja, da ist er wieder: Jesus Quintana (Turturro), der genial wahnsinnige Bowler. Im alten lila Glitter-Anzug und mit Haarnetz verlässt er stolz den Knast. In der Nachbar-Zelle wird ein Mariachi gespielt. Draußen wartet sein Kumpel Petey (Bobby Cannavale) auf ihn und zuerst klauen die Jungs auf Bewährung dem Haarstylisten Paul Dominique (Jon Hamm) sein Angeber-Auto. Damit geht es zur Mama (Sonia Braga), um mit viel Macho-Gehabe ihren Kunden rauszuschmeißen. Mama arbeitet immer noch als Prostituierte. Beim Versuch, Paul Dominique seinen Wagen zurückzubringen, fängt sich Petey eine Kugel am Hintern ein und Jesus trifft seine ehemalige Geliebte Marie (Audrey Tautou) wieder. Zu dritt fliehen sie weiter, es wird geraubt, betrogen, gewonnen und verloren. Wobei das bi-sexuelle Pärchen aus Petey und Jesus in wechselnden Konstellationen beim Hetero-Gehabe lächerlich wirkt.

Turturros wilde Geschichte erinnert schon in einzelnen Standbildern an „Die Ausgebufften" – 1974 provokant mit jungem Gérard Depardieu, Patrick Dewaere und Miou-Miou. Dass so ein anti-bourgeoises kriminelles Verhalten heutzutage noch aufregen soll und eine Freigabe erst ab 16 erhält, irritiert dabei am meisten. Während die Französin Audrey Tautou („Die fabelhafte Welt der Amélie") in Nachfolge von Miou-Miou recht freizügig eine einfältige Friseuse gibt, beschränkt sich das Sexualleben der Jungs auf nächtliches Kuscheln. Wenn Petey und Jesus Marie dann Orgasmus-Nachhilfe geben wollen, zeigt sich der Stoff doch erstaunlich überholt. Grenzüberschreitend dabei nur die Roadtrips in die ländliche Umgebung New Yorks. Es ist eine schräge Mischung aus Albernheiten und Bewegendem, wenn die Kerle weinend in Maries Armen liegen, nachdem sich die letzte Frau in ihren Armen umgebracht hat.

„Jesus Rolls" ist bei weitem kein Nachfolger für „The Big Lebowski". Ohne den Ruhepol „Dude" Lebowski (Jeff Bridges) verläuft das Blier-Remake wild und hektisch. Tatsächlich gibt es nur eine Bowling-Szene und wenig Gipsy Kings als musikalische Begleitung. Schwächen überspielt jedoch ein erstaunlich prominentes Ensemble: Christopher Walken, mit dem er schon bei „Illuminata" zusammengearbeitet hat, gibt kurz einen Gefängnis-Direktor, der wegen eines Bowlings-Erfolgs der Knast-Mannschaft unendlich dankbar ist. Der junge Pete Davidson („The King of Staten Island") hat einen netten Kurzauftritt als kurzzeitig Entlassener. Susan Sarandon spielt in der schönsten Rolle des Films eine frisch Entlassene, die Jesus als vermeintlich willige Sexualpartnerin aufliest. Großzügige Gesten im Stil eines Gentlemans verwandeln den groben Klamauk in eine anrührende Episode. Letztlich findet der Film aber auch Poesie im Scheitern des hemmungslosen Trios.

„Jesus Rolls" (The Jesus Rolls, USA 2019), Regie: John Turturro, mit John Turturro, Bobby Cannavale, Susan Sarandon, Audrey Tautou, Christopher Walken, 83 Min., FSK: ab 16