29.12.17

Die Spur

Polen, BRD, Tschechien, Schweden, Slowakische Republik 2017 (Pokot) Regie: Agnieszka Holland mit Agnieszka Mandat, Wiktor Zborowski, Miroslav Krobot, Jakub Gierszał 128 Min.

Ein Öko-Thriller mit viel Frauen- Power, das ist außergewöhnlich. Genau so außergewöhnlich wie die alte Dame Duszejko. Die pensionierte Brückenbauingenieurin lebt in einem kleinen Dorf an der polnisch-tschechischen Grenze, unterrichtet noch nebenbei engagiert die Grundschüler und zeigt regelmäßig jagende und anders tiermordende Männer an. Da sie nicht nur Vegetarierin, sondern auch noch eifrige Astrologin ist, gilt Duszejko verständlicherweise als Sonderling.

Doch man ist schnell bei der liebvollen, alten Frau, die von Agnieszka Mandat einnehmend gespielt wird. Als die beiden Hunde der Duszejko verschwinden, geht das ebenso zu Herzen, wie die bestialische Fuchs-Zucht des arroganten, frauen-verachtenden Nachbarn wütend macht. Die Tode einiger Bewohner des kleinen Ortes lässt allerdings nicht nur Duszejko seltsam kalt. Ihr fällt vor allem auf, dass am Tatort immer ein paar unerschrockene Rehe auftauchen. Und auch im Schnee sind nur Hufspuren zu sehen.

Bevor sich die Suche nach dem Mörder zuspitzt, freundet sich die sympathische Protagonistin mit einer jungen, übel behandelten Frau, mit dem scheuen jungen Beamten und einem Insektologen an. Ein Pilze sammelnder Nachbar schwärmt ihr heimlich nach. Dieser sehr harmonischer Umgang der Menschen am Rande der Gesellschaft, die zusammen kiffen und feiern, balanciert die Naturfrevel der Jäger aus. Allerdings wird der Film nach dem Jagdkalender und den jeweiligen zum Abschuss frei gegebenen Tierarten gegliedert, es bleibt also immer Anlass für Schmerz und Wut der Duszejko.

„Die Spur" verfolgt ein Kaleidoskop des Lebens und des Verhaltens zum Tierleben auf dem Lande. Dabei zeigen aufblitzende Erinnerungs-Bilder das Vorleben der Menschen, mit denen Duszejko zu tun hat. Ist sie eine Art Hellseherin? Auf jeden Fall erklärt sie sich vieles und auch andere Leute mit der Astrologie. Und zeigt den Mord, ja sie sagt „Mord", an einem Wildschwein außerhalb der Jagdsaison an. Vehement geht sie auch die verlogene Kirche an, mit ihren Priestern, die Jagden segnen. Dass die EU gerade die Vernichtung des ältesten Urwaldes Europas in Polen verurteilte, zeigt, wie genau Agnieszka Holland diese Situation in Polen erfasst hat.

Die Rückkehr der fast 70-jährigen Agnieszka Holland auf die große Leinwand nach „Der Priestermord" (1987), „Hitlerjunge Salomon" (1989), „Washington Square" (1997) und nach einem Ausflug in die Welt der Serien, spielt in einer Landschaft mit wechselnden Jahreszeiten, deren wilde Schönheit jedoch nicht über Korruption, Grausamkeit und Dummheit ihrer Bewohner hinwegtäuscht. Ein mutiger, moderner Genremix aus komischer Detektivstory a la „Twin Peaks", spannendem Ökothriller und feministischem Märchen. Nicht nur, weil der ungarische Berlinale-Sieger „Body and Soul" mit starker weiblicher Rolle und eifrigem Tierleben sehr ähnlich gelagert war, gab es bei der Berlinale 2017 viel Aufsehen um den Film - und einen Silbernen Bären (Alfred-Bauer-Preis) für Agnieszka Holland.

Lux - Krieger des Lichts

BRD 2017 Regie: Daniel Wild mit Franz Rogowski, Heiko Pinkowski, Tilman Strauß 104 Min. FSK: ab 12

Torsten Kachel alias Lux (Franz Rogowski) ist der erste Reallife-Superhero Deutschlands. Der schüchterne Mann mit der Hasenscharte versteckt sich hinter einfacher Maske und Umhang. So sonderlich verteilt er Lebensmittel und Hygieneprodukte an Obdachlose in Berlin. Als seiner Mutter, bei der er noch lebt, von Immobilien-Spekulanten gekündigt wird, organisiert Lux erfolgreich eine Demo. Wir erfahren all dies über die Dokumentation eines kleinen TV-Teams. Regisseur Jan wird vom schmierigen Produzenten Brandt unter Druck gesetzt, mehr Action und vielleicht auch eine Romanze zu inszenieren. Einer kurzen Popularität folgt die Katastrophe für Lux, der sich in die Stripperin Kitty verliebt hat.

Ein gutherziger Simpel, skrupellose, manipulative Medien-Macher, die kranke Mutter und die ehrliche Assistentin. „Lux - Krieger des Lichts" ist dramaturgisch und medienkritisch eher unterbelichtet. Die Reflektion über Moral des Jobs gerät hölzern. Der Stil einer Mockumentary, also eines Spielfilms, der den Dokumentarfilm parodiert, wurde weder konsequent noch interessant durchgezogen. Dieser harmlose Taxi Driver ohne Führerschein ist altbekannt, vorhersehbar und träge. Weder lustig, satirisch noch dramatisch. Nur Hauptdarsteller Franz Rogowski kann auch hier nach großen Auftritten wie als Film-Sohn von Isabelle Huppert in Hanekes „Happy End" und kleinen Glanzlichtern in „Tiger Girl" oder „Victoria" wieder einmal sehr beeindrucken.

Das Leuchten der Erinnerung

Italien, USA 2017 (The Leisure Seeker) Regie: Paolo Virzì mit Helen Mirren, Donald Sutherland, Christian McKay, Janel Moloney 113 Min.

Carly Simon singt „It's too late", Janis Joplin von der Freiheit und dass man nichts mehr zu verlieren habe. Ja, der Aufbruch der beiden Senioren Ella (Helen Mirren) und John Spencer (Donald Sutherland) ist nicht nur musikalisch belastet und alles andere als ein Wochenend-Trip im Camping-Mobil. Sie wollen noch mal reisen wie früher und reichen sich beim Frühstück im Diner gegenseitig ihre Pillen. John wirkt verwirrt, doch seine Vorträge über Hemingway, mit denen er regelmäßig freundliche Kellnerinnen fesselt, haben Hand und Fuß. Der ehemalige Literatur-Dozent soll denn auch auf dieser Reise endlich das Hemingway-Haus in Keys West im Süden der USA sehen, entschied „Madame" Ella. Der Ort, wo Hemingway sich umbrachte!

Derweil versuchen aufgeregte Kinder, die Alten zurückzurufen. Denn John ist dement und Ella hat Krebs. Doch die Reise im historischen Winnebago-Camper, Modell Leisure Seeker aus 1975, verläuft anfangs unterhaltsam. John sitzt mit klaren und weniger klaren Momenten am Steuer. Er erinnert sich nicht an den Namen seiner Kinder, aber eine alte Studentin erinnert er noch zu gut. Das alte Ehepaar liebt den vertrauten Umgang, dabei sind beide sehr eifersüchtig. Ella erzählt zwischendurch wildfremden Menschen alte Geschichten. Abends machen sie draußen Diashow und der Campingplatz schaut mit. Während es den beiden Kranken erstaunlich gut geht, leiden die Zuschauer sehr an der Beschaulichkeit eines fast idealen Alters mit grenzwertigen Humor-Einlagen.

Doch selbstverständlich eskaliert der Film zum Drama. Die krebskranke Ella müsste behandelt werden. Irgendwann gesteht der Literatur- und Sprach-Liebhaber unfreiwillig eine Affäre mit der Nachbarin und wird prompt in ein Altersheim abgeschoben. Das Ende im gemeinsamen Freitod wird für Diskussionen sorgen. Doch man muss nicht nur über den Beitrag zu einer notwendigen gesellschaftlichen Grenzverlagerung reden. Auch das Filmische, das sehr einfache rührende Ende eines langen, zähen Weges sollte Thema sein.

Regisseur Paolo Virzì zeigt wieder mal, wie der große amerikanische Traum für Regisseure zur Seifenblase wird. Zwar kann der Film mit den Alt-Stars Helen Mirren und Donald Sutherland protzen, doch die Vorgänger aus Italien, „Die Überglücklichen" (2016) mit Valeria Bruni-Tedeschi und „Die süße Gier - Il Capitale Umano" (2013), waren so viel dichter und stimmiger.

27.12.17

Alte Jungs

Luxemburg 2017 (Rusty Boys) Regie: Andy Bausch André Jung, Marco Lorenzini, Pol Greisch 112 Min. FSK: ab 0

Parallel zum Start des Melodrams „Leuchten der Erinnerung" werden auch in Luxemburg Senioren auf Achse gebracht: Vier grantige Herren steigen unzufrieden aus dem Altersheim aus und wollen in einer alten Immobilie eine autonome Wohngemeinschaft gründen. Bürokratie und Banken stellen sich der sympathischen Idee entgegen, doch letztlich kommt ihnen vor allem das Leben in die Quere.

Die Frage, was man macht, wenn man nicht mehr für sich selber sorgen kann, geht bei reihenweise Altherren-Witzen in nichtkomisch unter. Die Darstellung geriet extrem hölzern und amateurhaft. Dazu wurde der luxemburgische Film miserabel nachsynchronisiert. Eben so grob und holprig verläuft auch die Handlung. Das ganze Elend gewinnt erst im traurigen Verlauf etwas Substanz. Aber auch wenn es schwer erträglich mit diesen Alten war, sie müssen deshalb nicht gleich sterben.

Die Dschungelhelden - Das große Kinoabenteuer

Frankreich 2017 (Les as de la jungle) Regie: David Alaux 98 Min. FSK: ab 6

Der Animationsfilm nach der gleichnamigen französischen Fernsehserie wirft die Kino-Kinder unvermittelt in ein recht verstörendes und bedrohliches Kriegs-Chaos: Der üble Koala Igor rennt Granaten werfend durch den lichterloh brennenden Dschungel. Terrorismus in Kinderfilm, „Apocalypse Now" nicht auf niedlich. Die Dschungelhelden aus Nashorn, Faultier und Tiger können ihn besiegen und auf eine einsame Insel verbannen. Wenigstens sie haben genug von der Helderei. Aber Maurice, Zögling der Tigerdame und eigentlich kleiner Pinguin, bricht eigenwillig auf, um für Gerechtigkeit im Dschungel zu kämpfen. Ein Goldfisch in Glaskugel wird absurderweise sein Sohn und begleitet ihn bei aberwitzigen Aktionen.

Für den schnellen Gag und witzige Figure muss müssen Logik und Glaubwürdigkeit durchgehend dran glauben. Was leider sehr überdreht und nur leidlich komisch geriet. Auch in den bekannten Familienkonflikten fehlt es an Feingefühl und Sorgfalt. Bei der vielleicht sogar zu ernst genommenen Dramaturgie eines Bond–Films retten einige nette Ideen und viele herrlich blöde Dialoge den bescheidenen Spaß über die Runden. Die Moral lautet, es ist besser wenn junge und alte Helden zusammenarbeiten. Ist nicht viel. Viel mehr ist nicht.

25.12.17

Die Flügel der Menschen

Kirgisistan, Niederlande, BRD, Frankreich, Japan 2017 (Centaur) Regie: Aktan Arym Kubat mit Nuraly Tursunkojoev, Zarema Asanalieva, Aktan Arym Kubat 89 Min. FSK: ab 6

Ein Mann stiehlt nächtens immer wieder die schnellsten Rennpferde der Gegend, um auf ihnen in freier Steppe zu reiten und sie dann freizulassen. Kirgisistan ist ein Land, das seine Pferde liebt. Das hat sich auch nach dem Niedergang des Kommunismus im Kapitalismus rücksichtloser Oligarchen und verhetzter Moslems nicht geändert. So ist das Verhältnis zu den Pferden eine Geschichte für sich. Die sich auf fein kunstvolle Weise mit anderen Geschichten und Beobachtungen verbindet.

Auf verschiedenen Ebenen bietet der wunderbare neue Film von Aktan Arym Kubat („Der Dieb des Lichts", 2010) gleich mehrere Themen dar: Es werden die alten Legenden des kirgisischen Volkes mit dem Islam verglichen. Der eine Bruder ist einer der reichen Oligarchen, der andere ein ehemaliger Filmvorführer und heimlicher Pferdedieb, der verloren immer noch mit einer alten Filmdose an der Hand herum läuft. Zentaur (wieder der Regisseur Aktan Arym Kubat in der Hauptrolle) ist sehr naiv sehr freundlich zu der Milch-Verkäuferin, ohne zu ahnen, was das ganze Dorf darüber lästert. Sehr schön auch, wie zwei Arten von Pferdedieben vorgeführt werden: Der eine glaubt, eine Ehre zu haben und schwärzt deswegen den anderen an, der tatsächlich ehrenwerte Motive hat. Denn der Legende nach muss ein besonderes Pferd zu einem mythischen Berg geritten werden, damit das kirgisische Volk wieder zusammen findet. Aber irgendwie gehört es zur Tradition dieses Volkes, Pferde zu stehlen.

Zur Strafe und Läuterung soll der schließlich gefasste freie Mann Zentaur Moslem werden und nach Mekka pilgern. Ausgerechnet sein ehemaliges Kino wird jetzt als Gebetsraum entweiht. Doch in einem magischen Moment lässt er wieder einen Film laufen und die Betenden können sich der Verführung in ihrem Rücken nicht entziehen. Dafür wird Zentaur aus dem Dorf verbannt und die Tür zum Vorführraum vernagelt. Traditionen und die neue Dominanz einer der überkommen Religionen, die erniedrigte Rolle der Frau unter den neuen geistigen Ver-Führern ... in seiner scheinbar einfachen Erzählung vermittelt „Die Flügel der Menschen" ungemein viel nicht nur über die kirgisische Gesellschaft im Wandel.

Loving Vincent

Großbritannien, Polen 2017 Regie: Dorota Kobiela, Hugh Welchman mit Douglas Booth, Saoirse Ronan 95 Min. FSK: ab 6

„Loving Vincent" ist entgegen der Werbebehauptung nicht der erste Film, der vollständig aus Ölgemälden erschaffen wurde, aber vielleicht der aufwändigste. 125 Künstler arbeiteten über Jahre an einem Gesamtkunstwerk, das die berühmten Bilderwelten Vincent van Goghs in 65.000 Einzel-Ölbildern auf der Kinoleinwand lebendig werden lässt. Denn der niederländische Maler (1853-1890) fasziniert nicht nur durch seine Kunstwerke, auch das Leben eines getriebenen, ausgeschlossenen Menschen beschäftigt die (Film-) Kunst von großen Geschichten wie Vincente Minnellis Sozial-Porträt „Vincent van Gogh – Ein Leben in Leidenschaft" über Robert Altmans Familien-Geschichte „Vincent & Theo" bis hin zu sogar einer berührenden Hymne in einer Folge von „Doctor Who".

„Loving Vincent" nutzt unter anderem die vielen Porträts, die van Gogh von Zeitgenossen zeichnete, um diese animiert das letzte Jahr des Künstlers nacherzählen zu lassen. Ein Jahr nach dem Tod van Goghs taucht ein Brief des Künstlers an dessen Bruder Theo auf, den der junge Postbeamten-Sohn Armand Roulin auszuhändigen soll. Doch Theo ist mittlerweile auch verstorben und aus Armand wird ein Detektiv, der im Dorf Auvers-sur-Oise unter anderem aufklären will, woher der Maler eine Pistole hatte und wie er sich damit umbringen konnte.

Es ist tatsächlich ungemein reizvoll, wie sich die Porträts einer Wirtin, des Postboten Roulin, der schönen Tochter des Arztes Dr. Gachet und von diesem selbst mit Leben füllen. Die Spielszenen mit realen Schauspielern wurden dafür nachträglich von vielen internationalen Künstlern in Polen aufwändig übermalt. Selbstverständlich beeindrucken auch die „Hintergründe", die immer nur leicht bearbeiteten und animierten Landschafts-Gemälde van Goghs. Seine dramatische Geschichte blitzt dabei in schwarz-weißen Rückblenden auf. Das ist biographisch ausreichend unterfüttert, deutlich wird etwa das Erstaunen darüber, wie er in nur acht Jahre vom Amateur-Maler zum großen, verkannten Künstler wurde.

Allerdings wird im Hin und Her auf der Spur der Gerüchte, im Wechsel der verschiedenen Perspektiven von Menschen, die man ja noch lebendig befragen und sogar schon fotografieren konnte, als der Künstler posthum berühmt wurde, vor lauter Zeichnung die Figuren-Zeichnung vernachlässigt. Denn auch diese schöne Spielerei mit den populären Motiven van Goghs hält allein nicht eine Spielfilmlänge das Interesse. Dann müsste ein menschliches Drama greifen. Das ist ja durchaus vorhanden, wird in „Loving Vincent" (so die Signatur seiner vielen Briefe and den Bruder) allerdings arg einfach erzählt. Ein Mitgefühl für den armen Kerl bleibt nicht aus, doch das bekam selbst das Fernsehfilmchen der BBC-Serie „Doctor Who" ergreifender hin. Oder gar Don McLeans Song „Vincent (Starry Starry Night)", der im Abspann läuft. Immerhin: Wenn man den Zeichentrick komplett ausblendet und vergisst, dass hinter der Farbe Schauspieler aktieren, ist ein van Gogh immer sehenswert. Und so viele zu Recht berühmte Gemälde auf einmal bekommt man ansonsten nur mit Anstehen in Amsterdam zu sehen. Die Regisseur Dorota Kobielau und Hugh Welchman, die für ihre Recherche die Briefe des Künstlers benutzen konnten, erhielten den Europäischen Filmpreis 2017 in der Kategorie Bester Animationsfilm.

The Killing of a Sacred Deer

Irland, Großbritannien 2017 Regie: Yorgos Lanthimos mit Colin Farrell, Nicole Kidman, Barry Keoghan 121 Min. FSK: ab 16

Der griechische Regisseur Yorgos Lanthimos ist Schöpfer äußerst faszinierender und verstörender Werke: Von „Attenberg" (2010) blieb der Abschied einer jungen Frau vom sterbenden Vater hängen, aber auch die „Crazy walks" der Figuren, die in dem skurillen Festival-Erfolg ungewöhnliche Beziehungen austesten. Normale Familien-Beziehungen wurden in „Alpen" (2011) vermittels einer mysteriösen Escort-Firma durch bezahlte Leih-Menschen ersetzt, die als Code-Namen Berggipfel der Alpen trugen. Im völlig untergegangenen und vom Verleih sträflich behandelten „The Lobster" (2015) wurden Singles nach einer Gnadenfrist und Umerziehungs-Chance in Tiere verwandelt. Die Regeln der Rebellen des Paarungs-Regimes sind jedoch ebenso grausam, wie die Figur von Colin Farrell erfahren muss. Im neuen Film von Regisseur und Drehbuchautor Lanthimos spielt Farrell einen Herzchirurgen und seltsamen Familienvater vor einer unmenschlichen Entscheidung.

Man könnte endlos seltsame Momente aufzählen, die nach der umwerfenden Eröffnung mit Franz Schuberts kraftvoller Stabat Mater auf der Tonspur und einer OP am offenen Herzen im Bild irritieren. Die Vorführung einer amerikanischen Muster-Familie ist schon durch steifes Gehabe, entseelte Dialoge und verzerrende Kameraobjektive ein Horror. Es gilt auch die anhaltende Irritation zu notieren, welches Verhältnis der Arzt wohl zum 16-jährigen Martin (Barry Keoghan) hat, der verwöhnt und beschenkt wird. Oder direkt zum altgriechischen Kern-Konflikt des Films kommen, dass der Chirurg wohl mit Restalkohol im Blut die Operation an Martins Vater verpfuscht hat, der nun ein Halbwaise mit sehr einsamer Mutter ist. Die (Alicia Silverstone) darf sich noch lächerlich an den ungewöhnlich nach-sorgenden Arzt ranschmeißen, aber dann äußert Martin in der Mitte des Films knapp seine niederschmetternde Prophezeiung: Stevens Kinder und seine Frau (Nicole Kidman) werden in vier grausamen Schritten erkranken und, nachdem ihnen Blut aus den Augen laufen wird, sterben. Es sei denn, der schuldige Mediziner opfert jemanden aus seiner Familie. Dann würden die anderen gesund weiterleben können. Und so geschieht es.

Solche unentrinnbaren Dilemmata haben sich schon die alten Griechen überlegt, um ihre Figuren zu quälen und Moral zu exemplifizieren oder überkommene Gesetze zu kritisieren. Hier entspannt sich vor allem das Gegeneinander des modernen, aufgeklärten Arztes mit unerklärlichen Erscheinungen. Die Versuche, Martin umzustimmen, bekommen religiöse Züge, etwas Gewalt darf auch dabei sein. Selbstverständlich bleibt dies in der Präsentation unterhaltsam skurril, wenn etwa die halb gelähmten Kinder durchs luxuriöse Haus robben.

Yorgos Lanthimos erhielt in Cannes 2017 mit seinem Ko-Autor Efthymis Filippou den Preis für das Beste Drehbuch. Doch auch wenn dies unverkennbar ein Lanthimos-Film ist, es ist trotz erstaunlichsten Ereignissen nicht sein bester. Dafür bleiben die vielen Elemente der horrenden Familien-Geschichte zu divergent.

24.12.17

Voll verschleiert!

Frankreich 2017 (Cherchez la Femme!) Regie: Sou Abadi mit Félix Moati, Camélia Jordana, William Lebghil 88 Min. FSK: ab 6

Französische Gesellschaftskomödien waren in letzter Zeit oft mit üblem und plattem Rassismus verseucht. „Voll verschleiert!" ist als Grenzfall zwischen Drama und Komödie nicht überzeugend, vermeidet aber zumindest Fettnäpfe und Plattitüden.

Die französischen Studenten Armand und Leila leben und lieben sich im Heute. Dass seine Eltern vor den Religiösen aus dem Iran flüchteten und ihre aus Marokko stammten, interessiert das aufgeklärte Paar nicht. Sie wollen gemeinsam nach New York und dort ein Praktikum bei den Vereinten Nationen absolvieren. Dann kommt Leilas Bruder Mahmoud aus dem Jemen zurück. Islamistische Gehirnwäsche macht ihn zum Sittenwächter von Bruder und Schwester. Mahmoud verbrennt Leilas Ausweis, sperrt sie zuhause ein und schluckt ihre Sim-Karte herunter. Die würde übrigens mit Schweine-Gelantine produziert, lautet die aufgeweckte Antwort der Studentin. Zudem will er den kleineren Bruder, der noch nicht erwachsen ist, in den jemenitischen Bürgerkrieg schicken.

Die Doku-Regisseurin Sou Abadi zeigt in ihrem Spielfilmdebüt Erschreckendes. „Voll verschleiert!" wirkt lange nicht wie Komödie, sondern wie ein Drama über den grassierenden menschenfeindlichen Wahnsinn namens Religion. Dann taucht Armand, um Leila überhaupt sehen zu können, verhüllt unter einem Niqab als Leilas neue beste Freundin Scheherazade auf. Dass sich der Hardcore-Religiösist Mahmoud ausgerechnet in die mysteriöse, verschleierte Dame verliebt, macht alles aberwitzig komisch. Trotz Burka-Verbot rennt Armand dauernd verhüllt durch die Stadt und wird dabei regelmäßig von einem Verkehrspolizisten ermahnt. Der engagierte Liebhaber findet sich nun zwischen mehr als zwei Welten, denn seine Eltern sind radikal säkular und kämpferisch für die Menschenrechte.

Zwar verfährt die Komödie etwas plump bei zufälligen verschleierten Begegnungen im Bus, wo seine Mutter dieser Frau Vorwürfe macht, dass sie sich in Freiheit für die Unfreiheit der Burka entscheidet. Doch es gibt auch eine herrliche Maskerade, in der ein Haufen befreundeter Flüchtlinge eine traditionelle Brautwerbung vorspielen und mitten in Paris Schafe als Brautpreis verlangen. „Voll verschleiert!" macht es sich nicht leicht mit zu leichtem Humor und erlaubt sich ein halboffenes Ende, das kurz wieder die real problematische Situation ernst nimmt. Was selbstverständlich in der Kürze nicht aufgehen kann.

20.12.17

Pitch Perfect 3

USA 2017 Regie: Trish Sie mit Anna Kendrick, Rebel Wilson, Brittany Snow 93 Min. FSK: ab 6

Drei halbwegs erfolgreiche Filme mit A-cappella-Musik im 21. Jahrhundert - das glaubt einem keiner! Doch „Pitch Perfect" hat seit 2012 mit einem leicht frechen Touch in völlig konventionellem Umfeld sein Publikum gefunden. Die Hauptdarstellerin Anna Kendrick ist seitdem noch etwas prominenter geworden. Und Rebel Wilson klagt mittlerweile Schadensersatz für eine verpasste Karriere ein. „Pitch Perfect" könnte sich also eigentlich erlauben, mit dieser Popularität wirklich was zu erzählen. Doch der dritte Teil will mit möglichst geringem Einsatz an Hirnschmalz und Handwerk einfach nur noch mal absahnen.

Die A-cappella-Truppe Bellas finden sich nach dem College und ihrem bescheidenen Ruhm in frustrierenden Jobs wieder. Deshalb sind die zehn jungen Frauen aus den USA sofort einverstanden in Süd-Europa als Werbung für die US-Armee aufzutreten. Eine völlig hirnrissige, an vielen langen Haaren herbeigezogene Idee. Und tatsächlich gibt es wieder einen völlig unmotivierten Wettbewerb. Die „besten" aus einer Country- und einer Frauen-Band, sowie einer DJ-Truppe dürfen als Vorband von dem real existierenden und auftretenden DJ Khaled fungieren. Es bleibt also uninteressant.

Die Routine aus vielen Cover-Songs wird mit einer Handvoll weiterer
Ideen zusammengeworfen und zusammengeschustert. Zwei Mädels vermissen ihren Papa, drei flirten ernsthafter als die anderen. Wie schlampig dies alles montiert wurde, zeigt, dass drei der fünf „Geschichten" er im Abspann aufgelöst werden. Vorher bekam Beca (Anna Kendrick) noch ihren Solo-Vertrag, nachdem alle aus heiterem Himmel plötzlich ein erfülltes Leben hatten und gar nicht mehr auftreten wollten.

Die überhaupt nicht mitreißenden Liedchen füllen also riesige Lücken in der Handlung aus. Trotzdem blieb wohl nicht genügend Zeit, Figuren und ihre Affärchen auszuarbeiten. Erst bei der aufgesetzten Gangster-Geschichte in der letzten Viertelstunde geht es endlich um was und Fat Amy (Rebel Wilson) schlägt mit bislang unerwähnten Fähigkeiten richtig zu. Denn ihr singender Gangster-Papa will an ihr Millionen-Konto auf den Kaimans und entführt deshalb die restlichen Bellas. Es ist traurig, aber Rebel Wilson hat als originelle Ordinäre hat tatsächlich die besten Wortwitze und Szenen in diesem Abgesang einer durchschnittlichen Idee. Hier qualifizieren sich gleich gruppenweise Leute für die nächsten Goldenen Himbeeren.

19.12.17

Eine bretonische Liebe

Frankreich, Belgien 2017 (Ôtez-mois d'un doute) Regie: Carine Tardieu mit François Damiens, Cécile de France, André Wilms, Guy Marchand, Alice de Lencquesaing 100 Min.

Der 45-jährige Bombenentschärfer und Witwer Erwan (François Damiens) hat Probleme damit, die Schwangerschaft seiner chaotischen Tochter ohne Bekanntgabe des Vaters zu akzeptieren. Und dann vor allem damit, dass er selbst gar nicht Sohn seines Vaters ist, wie ein Gentest verrät. Auf der Suche nach seinem Erzeuger findet Erwan den flotten 70-jährigen Joseph (André Wilms), der sein „echter" Vater sein könnte. Der ist allerdings vor allem Vater der unnahbaren Ärztin Anna (Cécile de France), die Ewan zufällig beim Wildschwein-Überfahren trifft.

Beim ersten Date demonstriert der peinlich pünktliche Perfektionist betrunken am Strand das Entschärfen einer Bombe mit einem Kondom als Bombenersatz. Ansonsten wartet boulevardesk die Bombe Geschwisterliebe auf ihre Explosion. Womit sich auch die berufliche Charakterisierung von Erwan abgenutzt hat. Erwan bleibt in seiner Desorientierung zwischen echtem und möglichem Vater alleine. So wirr wie die Hauptfigur fühlt sich der ganze Film an. Er könnte mit exzellenten Darstellerleistungen gelingen, doch die gibt es nur teilweise: Großartig vor allem André Wilms („Le Havre") als wahrscheinlicher Vater. Gekonnt wie Cécile de France als brüske Veterinärin die Verwirrung in der Verwechselungs-Komödie rüberbringt. Der mögliche Erzeuger des Enkels ist als Volltrottel in der Entschärfertruppe ein Totalausfall - auch für den Film. Und in all dem kann vor allem François Damiens als Hauptfigur nicht interessieren.

La Mélodie - Der Klang von Paris

Frankreich 2017 (La Mélodie) Regie: Rachid Hami mit Kad Merad, Samir Guesmi, Alfred Renély 102 Min. FSK: ab 0

Süßer die Geigen nie kleben: Der Grob-Komiker Kad Merad macht auf Rührung und es schüttelt einen öfters mal: Der arbeitslose Geiger Simon Daoud (Kad Merad) übernimmt den Job, einer Musikklasse im sozialen Brennpunkt das Violinenspiel beizubringen. Nach dem Prinzip „Jedem Kind ein Instrument", das in NRW allerdings wieder ausgelaufen ist. Die furchtbare Klasse von Simon produziert erst einmal Streit und Katzenmusik. Das Zusammenspiel der jungen Darsteller bei zeitweise chaotischen Proben gelingt besser als das Geigenspiel, doch aus Mobbern und Opfern werden Freunde, die auf einem Hochhausdach hoch über Paris zusammen üben. Selbstverständlich wandelt sich auch der stille, ernste, zurückhaltende Violinist, nachdem er die Verführung durch einen besseren Job abgelehnt hat. Auch ein besonders interessierter Schüler darf nicht fehlen. Arnold vermisst seinen Vater und findet einen väterlichen Freund in Simon, der seinerseits den Kontakt zu seiner Tochter wieder aufnehmen will.

Auch wenn „La Mélodie" furchtbar vorhersehbar der Melodie solcher pädagogisch wertvoller Wohlfühl-Filme folgt, einige Überraschungen gibt es trotzdem und sie werden vor allem von Kad Merad getragen. Wie sein neu motivierter Lehrer in einer demütigen Geste selbst den größten Quertreiber, die Nervensäge Samir, integriert, hat Stil und Klasse. Diskussion über pädagogische Konzepte sind hingegen nur pflichtschuldig eingestreut: Der immer engagierte, perfekte Kiez-Lehrer Samir (Farid Brahimi) will niemanden zurücklassen, während Simon anfangs elitär nur mit den guten, engagierten Kindern weitermachen will. Wenn dann die konventionelle Dramaturgie bis zum großen Abschlusskonzert wieder die Regie übernimmt und das dann doch nicht so mitreißend wie geplant ist, wünschte man sich viel mehr vom wilden freien Spiel der Kinder, das zwischendurch aufblitzte. Was das übrigens alles mit dem „Klang von Paris" zu tun haben soll, können einem wohl nur Marketing-verseuchte Schwamm-Hirne der Presseabteilungen erklären. In der Realität nämlich: Gar nichts.

Drei Zinnen

BRD, Italien 2017 Regie: Jan Zabeil mit Alexander Fehling, Bérénice Bejo, Arian Montgomery 90 Min. FSK: ab 12

Frohen Mutes zieht die kleine Patchwork-Familie in die Berge: Aaron (Alexander Fehling) und seine französische Freundin Lea (Bérénice Bejo) sind seit zwei Jahren ein Paar. Tristan (Arian Montgomery), Leas achtjähriger Sohn, bekommt beim tollen Urlaub die Natur um das berühmte Dolomiten-Gebirgsmassiv Drei Zinnen von Aaron gezeigt. Das Richtige für Männer und große Jungs, die sich besser kennenlernen müssen. Doch der biologische Vater ruft mehrmals am Tag an, Lea ist schwanger und das Paar plant, mit dem Jungen nach Paris umzuziehen. Zu viel Veränderung für einen Achtjährigen.

Scheinbar verstehen sich Aaron und Tristan, haben eine gute Zeit zusammen. Doch da gibt es die Probleme einer Patchwork-Familie: Darf er ihn Papa nennen? Und: „Wieso hast du mehr Muskeln als mein Papa?" Effektiv störend besteht der Knirps auf die Nacht im Bett der Mutter. Ärger und Frust entladen sich bei Aaron im Sägen und Holzmachen, aber auch der Kleine zickt beleidigt und lässt seine Unsicherheit am Stiefvater raus. Kleine Gemeinheiten und fiese Aggressionen belasten die Geduld von Aaron. Der zeigt deutlich, dass er der Stärkere ist.

Das ist an sich spannend, die nicht ungefährliche Bergwelt sowie die dauernden Sägen im Bild betonen das geschickt. Auch wie das Echospiel im Gebirge plötzlich zum richtigen Problem wird, belegt das gute Buch und die sehr gekonnte Dramaturgie von Jan Zabeil. Wenn das alles dann im Bergdrama kulminiert, fühlt man sich nicht vom langen Seil des Genres mitgezerrt, es ist ein äußerst gelungenes Miteinander von Innen und Außen. Nie werden die Personen dem Drama geopfert, der eiskalte Psychothriller funktioniert gerade erst durch hervorragend genaue und glaubhafte Charakterzeichnung. Auch die exzellente, unaufdringliche Musikbegleitung wirkt gerade durch ihre Zurückhaltung umso eindringlicher. Genau wie die Naturaufnahmen mal nicht dem Schauwert geschuldet sind, sondern sich der eigentlichen Dramaturgie unterordnen.

Schöne gemeinsame Gespräche und Aktionen wie der Spaziergang zum Sonnenaufgang skizzieren beiläufig das filigrane Dreiecks-Verhältnis. Es ist raffiniert angelegt, dass die drei Bezugspersonen für Tristan in drei Sprachsphären existieren: Aaron in Deutsch, die Mutter spricht französisch und der biologische Vater englisch. Hauptdarsteller Alexander Fehling („Im Labyrinth des Schweigens", „Homeland") spielte schon in Zabeils Erstling „Der Fluss war einst ein Mensch". Nun, international berühmt, gelingt ihm, neben Bérénice Bejo („The Artist", „Le Passé") als Star am Rande, ein moderner Männer- und Vatertyp. Vollbärtig steht er im urigen Gelände seinen Mann, bleibt aber auch mit seinen Gefühlen nicht hinterm Berg. Selbst wenn diese sogar einen Großen irritieren. Der kleine Tristan ist jenseits von Niedlichkeit und zeigt teuflisch, was passiert, wenn Kinder in Beziehungsdingen der Großen mitbestimmen dürfen. Bei der Weltpremiere auf dem 70. Locarno Filmfestival wurde „Drei Zinnen" mit dem Variety-Piazza Grande Award ausgezeichnet.

14.12.17

Wo spielt die Zukunft des Films?

Shawn Bu und Julien Bam gründen Raw Mind Pictures.

Sie sind das interessanteste Brüder–Paar der Medien-Szene unserer Zeit: Die beiden Aachener Shawn Bu und Julien Bam sorgen regelmäßig für Erschütterungen in der Film- und der YouTube-Szene. Jetzt gründeten sie in Köln die „junge und wilde" Produktionsfirma Raw Mind Pictures. Die Medien-Macher der Zukunft stehen für eine große Richtungsfrage: Wo läuft demnächst die Unterhaltung - im Kino oder am Rechner?

(Raw Minds Pictures: Julien Bam, Shawn Bu, Jannik Siebert)

Unter den Cannes–Gewinnern gibt es die Coen-Brüder aus Texas und auch die Dardennes aus Lüttich, aber so auf der Höhe der Zeit wie Shawn Bu und Julien Bam ist gerade keiner. Shawn Bu erreichte mit seinem Abschlussfilm an der FH Aachen im Fachbereich Gestaltung, dem Star Wars-Fanfilm „Darth Maul Apprentice" mittlerweile über 15 Millionen Views auf YouTube. Julien Bam hat dort inzwischen über 4,4 Millionen „Follower". Live Auftritte von Julien sind Riesen-Events mit viel Gekreisch und gesperrten Straßen. Man sieht ihn ganz prominent in der neuen Fanta–Werbung „Fanta x you", hauptsächlich von Aachenern gestaltet und das „erste große Ding" der neuen Produktionsfirma Raw Mind Pictures. Julien stand vor der Kamera, Shawn führte Regie. Der Clip wurde direkt von Jan Böhmermann für eine seiner Mediensatiren im „Neo Magazin Royale" parodiert - dann ist man bekannt!

(am Set von „Fanta x you")

Und gerade erst sorgte das Team mit ihrem Trailer zum Game „Bridge Constructor Portal" für eine Welle in der Spielebranche. Dass Shawn allerdings auf jeden Fall zum großen Film ins Kino will, während Julien sensationell erfolgreich im YouTube-Format arbeitet, macht die beiden auch zu Symbolen eines Medienwandels. Jetzt gründeten sie zusammen mit einem alten Freund, dem weltweit gereisten Jannik Siebert ihre eigene Produktions-Firma Raw Mind Pictures.

(Shawn Bu beim Dreh zu "The Apprentice", Foto: Günter Jekubzik)

Schon im Kinderzimmer zeigten sich die unterschiedlichen Interessen, erzählt Shawn: Während Julien oft Animes sah, war der ältere Bruder von „Star Wars" begeistert, vertiefte sich in die Hintergrund-Informationen und wollte wissen, wie das alles gemacht wurde. Die Eltern waren selber filmbegeistert, genau wie die Familie in Singapur. „Terminator" durfte er schon mit 11 Jahren sehen „weil das inhaltlich so gut war und man sieht, dass es nicht echt ist." Die Mutter der beiden stammt aus Singapur, fast jedes Jahr ging es dorthin.

Bald fing Shawn an, selber Filmchen zu machen. Dem kam die rasante Entwicklung von digitalen Kameras und Schnittprogrammen entgegen: „Fünf Jahre vorher war das nicht möglich." Zudem erhöht das Digitale die Motivation, „weil man es direkt allen zeigen kann". Trotzdem erkannte Shawn recht schnell, die wenigsten Leute bleiben beim Filmemachen. Das „ist keine Frage von Zeit haben, sondern Zeit nehmen!"

(Shawn Bu und Mark Hamill)

Mit all seinem handwerklichen Wissen konnte Shawn auch seinem Bruder Julien bei dessen ersten Clips helfen. Mittlerweile ist der mit regelmäßigem Vlog (Video-Blog), samt irrer Tricktechnik, vollem Körpereinsatz und Story um seine öffentliche Identität ein Star. Regelmäßig klicken Zuschauer seine Beiträge an, dabei spannt er auch schon mal seine Eltern für einen Verwöhn-Tag in Aachen ein. Hier fing er mit dem Team von JuBa-Films an.

Der Dritte im Team, Jannik Siebert, stammt auch aus der Region, aus Geilenkirchen. Er war Produktionsleiter bei „Darth Maul: Apprentice", arbeitete vorher bei großen TV-Shows für den die Sender RTL, VOX, Sat1 und WDR , als Theater-Leiter im Cineplex Aachen und dann ganz weit weg als Entertainment Administrator auf Kreuzfahrtschiffen. Kurz nach dem Landgang feierte Siebert nun den Stapellauf der Produktionsfirma Raw Mind Pictures.


„Kino hat noch was Magisches" (Shawn Bu)

Nun stellt sich die Frage, was Shawn Budorovits - wie er komplett heißt, in Zukunft haben will: Kino oder Klicks? Die Antwort des zurückhaltenden, aber am Set äußerst selbstsicheren Filmemachers ist eindeutig: „Beides! Mein Ziel ist es Kinofilme zu drehen. Im besten Fall einen Star Wars-Kinofilm. Kurzfilme zu drehen, ist der beste Weg zu lernen, Erfahrungen zu sammeln und sein Können zu zeigen. Deswegen ist es toll, die Möglichkeiten von YouTube zu nutzen, um viele Menschen zu erreichen und Aufmerksamkeit zu erzeugen. „Und ich bin sehr gespannt, was für Auswirkungen der Star Wars-Film mit sich bringt."

Denn zwischendurch war Shawn auf der Welle der Sensation „Darth Maul: Apprentice" auch in Hollywood, hat Leute kennengelernt, kehrte aber zurück, um eigene Stoffe zu entwickeln. Raw Mind Pictures bereitet Serienprojekte vor. Es soll nach dem Science Fiction, wieder Genre werden, obwohl es das in Deutschland schwer hat.

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Darth Maul: Apprentice
„Lichtschwerter animieren ist relativ simpel" (Shawn Bu)

Lichtschwerter, Jedi-Kräfte, der ewige Kampf zwischen der guten und der dunklen Macht... „Darth Maul: Apprentice" ist alles, was die Fans an „Star Wars" lieben. Und sieht aus wie auf der Skywalker Ranch von Georg Lucas entstanden. Doch die kurze Geschichte um das Erwachen des besonders mächtigen Sith-Lords Darth Maul und seine letzten Gewissensbisse entstand in Aachen und Umgebung, an spektakulären Sets der Eifel und der Brunssummer Heide. Mit Steady-Cam, Drohne und Spezial-Choreograph, Vi-Dan Tran, für Kampfszenen. Die sagenhaften Effekte stammen selbstverständlich aus Rechnern und von Meistern ihres Fachs.
https://www.youtube.com/watch?v=yItcRErM45I


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Shawn Budorovits (* 25. August 1986 in Aachen; bürgerlich Shawn Budorovits)
„Hallo. Ich bin Shawn Bu und versuche, ein guter Filmemacher zu sein." So bescheiden tritt Shawn in seinem Twitter-Account auf, einen Wikipedia-Eintrag gibt es tatsächlich noch nicht! Erst wenn er beginnt, über seine Leidenschaft Film zu sprechen, leuchtet das enorme Wissen und Können auf. Bislang arbeitete er als Regisseur und Kameramann.
https://twitter.com/shawn_bu?lang=de

Julien Bam (* 23. November 1988 in Aachen; bürgerlich Julien Zheng Zheng Budorovits) sorgte schon im Team der tänzerischen und filmischen Überflieger von JuBa-Films mit Michael Hildebrandt, Vincent Lee und Gia Bao Tu für Aufsehen. Die Aachener Truppe wurde mit ihren Street Dance- und Martial Arts-Filmen weltweit hunderttausendfach gesehen wird. Der Kurzfilm „Eye of the Panda" war ein bewegendes Statement gegen Ausgrenzung.
https://www.youtube.com/user/JulienBam

www.rawmindpictures.com

Jumanji Willkommen im Dschungel

USA 2017 (Jumanji: Welcome to the Jungle) Regie: Jake Kasdan mit Dwayne Johnson, Jack Black, Kevin Hart, Karen Gillan, Nick Jonas ca. 120 Min.

22 Jahre nach dem ersten Versuch mit Robin Williams wird das Jumanji-Spiel wiederbelebt und es kommt ein ganz anderer Film raus. Was schon die Besetzung mit Dwayne Johnson („Baywatch", „Central Intelligence") und Jack Black („Gänsehaut", „King Kong") zeigt. Nichts Besonderes, aber halbwegs unterhaltsam und wenigstens nicht das Gleiche noch mal.

Die Absage an das Alte erfolgt gleich in der ersten Szene: Die gefundene Kiste mit dem gefährlichen Brettspiel Jumanji fliegt direkt in die Ecke. Man spielt jetzt am Computer! Aber die verstaubte Kiste / Idee lässt sich was Neues einfallen. Und nach einer knappen Einführung verschwinden vier Teenager in einem altmodischen Konsolen-Spiel. Sie sind als Spielfiguren im Dschungel von Jumanji gefangen und müssen mehrere Level überleben.

Der Witz der ansonsten sehr schematischen Handlung liegt im krassen Gegensatz zwischen den Teenagern und ihren Avataren: Der ängstliche Feigling landet im Körper des Ex-Wrestlers Dwayne „The Rock" Johnson als Dr. Smolder Bravestone, der selbstverständlich alle Fähigkeiten eines Action-Helden hat. Sein Freund aus Sandkasten-Tagen hingegen, der kräftige Sportler, wird zum ziemlich unfähigen, kleinen Scherzkeks (Kevin Hart), der vor allem nicht rennen kann. Und Rennen und Schreien ist die Hauptbeschäftigung in diesem Film.

Wobei alles eher lustig als spannend daherkommt: Das etwas dümmliche It-Girl Bethany pinkelt dämlich aufgeregt erstmals als Mann in Jack Blacks Rolle als Professor Shelly Oberon. Das Mädchen im Männerkörper droht penetrant unkomisch zum haarigen Schwulenwitz abzusinken, die Nachhilfe in Sachen weiblicher Verführung zeigt allerdings einen großartigen Jack Black. Denn die vierte Figur, die platte Lara Croft-Kopie Ruby Roundhouse (Karen Gillan) mit erstaunlichen Kick- und Kampf-Qualitäten war als Teenager ein kluges, aber sehr nerdiges und schüchternes Mädchen.

Ein alberner Komiker in Schwarz, ein Muskelmann mit Muskeln, noch ein Komiker, etwas verrucht, und eine Lara Croft für Arme. Das ist keine große Herausforderung für die Typen-Darsteller, die sich mit vielen Scherzen an der Computerspiel-Struktur entlang hangeln. Die Grundidee, Jugendliche und ihre Probleme spielerisch auf eine andere Ebene zu verlagern, hat etwas von Stephen Kings „Es", nur diesmal komisch und etwas abenteuerlich. Nachdem dies alles geklärt ist, kommt nichts mehr, auch wenn eine Art Zombie-Armee aus Kolonialisten unter Führung eines Herrn der Fliegen, Skorpione und Riesen-Ohrenkneifer immer wieder die Jagd beschleunigt.

Das ist letztlich alberne Kinderfilm-Action, die mangelnde Spannung gilt dabei als Pluspunkt. Bei „Jumanji 2" zahlt es sich mal aus, dass am Drehbuch mit Chris McKenna, Erik Sommers, Regisseur Jake (Sohn von Lawrence) Kasdan, Scott Rosenberg und Jeff Pinkner gleich fünf Leute rumgeschraubt haben. Da kommt sicher nichts Originelles oder was mit interessanter Handschrift raus. Aber wenigstens ein lauter, halbwegs anständig inszenierter und halbwegs unterhaltsamer Kram.

13.12.17

Star Wars: Die letzten Jedi

USA 2017 (Star Wars: The last Jedi) Regie: Rian Johnson mit Mark Hamill, Carrie Fisher, Adam Driver, Daisy Ridley, John Boyega, Oscar Isaac, Lupita Nyong'o, Andy Serkis, Domhnall Gleeson, Anthony Daniels 151 Min.

Spielen wir mal Science Fiction, nehmen wir an, jemand hätte die letzten Kino-Jahrzehnte krypto-verschlafen. Dabei zwar in den vergangenen Monaten als Science Fiction-Fan einiges Aktuelles gesehen, und dann jetzt dieser „Star Wars". Wie würde jemand, der einfach einen guten Film sehen will, das erleben und der seltsamen Aufregung um ihn herum trotzen können?

„Star Wars: Die letzten Jedi" zeigt als Vorspeise direkt gewaltige Feuerkraft in einem Weltall-Gefecht. Die letzten der Rebellen - heute würde man Terroristen sagen - versuchen der Übermacht einer kalten Diktatur zu entkommen. Autor und Regisseur Rian Johnson, der für diesen Mittelteil der dritten Trilogie mal kurz mit Star Wars spielen darf, vermischt flott Comedy und Märtyrertod. Es fängt eigentlich wieder mit dem klassischen Finale an, ein übermütiger X-Wing-Pilot zerstört ein riesiges Schlachtschiff.

Nach fast einer Stunde springt etwas Handlung an: Während die Nebenfiguren, die jungen Rebellen aus Teil VII auf der Suche nach einem Hacker in einem intergalaktischen Las Vegas voller kreatürlicher Waffenhändler landen, geht den letzten drei Widerstands-Schiffen auf der Flucht der Treibstoff aus. Doch das Herz der Geschichte, in der das Wort „Hoffnung" fast so oft fällt wie „Jedi", ist der mythische Lehrgang der jungen Rebellin Rey (Daisy Ridley) beim unwilligen Meister Luke Skywalker (Mark Hamill). Er will von den Jedis nichts mehr wissen und knabbert noch an seinem Anteil an dieser komplizierten Familiengeschichte mit einigen schwarzen Schafen.

Da die sich schon über einige Generationen und Galaxien spannt, sind neben den finanziellen (wegen Disneys Milliarden-Kauf von Star Wars) auch die Erwartungen an haufenweise Figuren und deren Nachwuchs zu erfüllen: So gibt es nach der geradezu albernen Retro-Hymne von Komponist John Williams noch immer diese schräge Schrift mit dem Märchen aus einer fernen Galaxie. Während Wiedersehen mit Luke, Prinzessin Leia (Carrie Fisher), sogar Meister Yoda und R2 gefeiert werden, kommt die Handlung nur schleppend in die Gänge.

Die Kraft („The Force") wird dabei esoterisch, was in einer metaphysischen Verbindung zu spannenden telepathischen Gespräche zwischen den neuen Antagonisten Kylo Ren (Adam Driver) und Rey (Daisy Ridley) führt. Überhaupt gibt es erstaunlich viel Dialog, das Gute und das Böse sind ungewöhnlich ambivalent. Was auch Lichtgestalt Luke mit einschließt. Aber selbstverständlich kommen die Lichtschwerter nicht zu kurz, wobei eine asiatisch beeinflusste Kampfeinlage mit roten Samurai und viel anderem Lichtwaffen-Gedöns eindrucksvoll den Anfang vom Ende einläutet. Das kann sich ansehen lassen, selbst wenn man kein Fan ist.

Rot dann auch der ästhetisch beeindruckende Akzent im Finale auf einem Salz-Planeten. Rian Johnson gelingt vor allem dort ein großes, bewegendes Finale, ein atemberaubendes Schlussbild mit gewaltigem Cliffhanger, den er seinem Vorgänger und Nachfolger J.J. Abrams für dessen Abschluss der dreifachen Trilogie hinterlässt. Eine wirkliche Hoffnung für die eher simpel strukturierte und racheversessene Kinolandschaft liegt im Schlusswort: Wir bekämpfen nicht, was wir hassen, sondern wir retten, was wir lieben!

12.12.17

Die kanadische Reise

Frankreich, Kanada 2016 (Le Fils de Jean) Regie: Philippe Lioret mit Pierre Deladonchamps, Gabriel Arcand, Catherine De Léan 98 Min. FSK: ab 6

Der 33-jährige Pariser Mathieu erhält aus heiterem Himmel einen Anruf aus Kanada, sein leiblicher Vater, den er nie gekannt hat, sei tot und habe ihm ein Päckchen hinterlassen. Spontan fliegt Mathieu nach Kanada, wo ihn in Montreal Pierre, der Überbringer der Todesnachricht und ein Freund des Verstorbenen erwartet. Die seltsame Anweisung: Zwei Halbbrüder wüssten nichts vom weiteren Sohn, es solle auch geheim bleiben. So erlebt Mathieu die aggressive Stimmung unter den zerstrittenen Brüdern, die in einem See nach der Leiche des Vaters suchen, um sich des Erbes zu vergewissern. Man spürt jenseits dieser cholerischen Idioten ein Geheimnis im Raum.

„Die kanadische Reise" ist ein ruhiger, ungewöhnlicher Familienfilm basierend auf einem Roman des Bestseller-Autors Jean-Paul Dubois. Regisseur Philippe Lioret („Die Frau des Leuchtturmwärters", „Welcome") begleitet den Protagonisten lange ziellos, um dafür am Ende mit allen Offenheiten umso rührender zu sein.

Leaning into the Wind - Andy Goldsworthy

Großbritannien, BRD 2016 Regie: Thomas Riedelsheimer 97 Min. FSK: ab 0

Bereits in seinem wunderbaren „Rivers & Tides" begleitete Thomas Riedelsheimer den in Schottland lebenden und arbeitenden Land art-Künstler Andy Goldsworthy über mehrere Jahre hinweg mit seiner Kamera. Mittlerweile ist Goldsworthy weltberühmt, die Kunstbücher seiner sehr vergänglichen Installationen findet man überall. Und Riedelsheimer zeigt in einem wieder sehr schönen Dokumentarfilm eine neue Phase dieses Schaffens: Es ist erneut das besondere Auge des einfachen, bescheidenen Goldsworthy, der besondere Strukturen, Farben und Materialien in der Natur findet und spielerisch für filigrane Arrangements gestaltet. Und der Kampf mit den Elementen, etwa die „Verkleidung" dunkler Steine mit gelben, nassen Blättern, die vom Wind verweht wird. Oder ein poetische Geschichte von Findlingen, die mit den Gletschern in ihre neue Heimat reisten. Die stellen allerdings direkt eine neue Dimension der Arbeiten von Goldsworthy dar: Er schildert seine Faszination für tote, umgefallene Bäume, aber man sieht ihn tatsächlich mittlerweile mehr in Städten. Zudem kommen Kräne und Kreissägen ins Bild, die Arbeiten wurden aufwändiger, benötigen helfende Hände.

„Leaning into the Wind" reflektiert Leben und Arbeit, unerwartete Ereignisse lösen die Klarheit seiner Werke auf. Der vertraute Umgang mit dem Regisseur führt zu entspannten, sehr offenen Aussagen etwa über den Ursprung seines Arbeitens in der Landwirtschaft und gewährt auch Momente des Scheiterns. Die Zusammenarbeit Goldsworthys mit seiner Tochter Holly gibt der Kunst und der Person eine neue Dimension.

Aus ganz simplen und trotzdem tollen Ideen, sich immer wieder vor einem Regen auf einen Bürgersteig zu legen und beim Aufstehen seine trockne Silhouette zu hinterlassen, entsteht eine seiner betörend schönen Naturkunstwerke, „Sleeping stone". Ein aus Stein geschnittener Leerraum einer Person (Goldsworthy), die in rauer Landschaft schläft. Das wird kongenial begleitet durch die Filmideen von Riedelsheimer, sie haben beiden den gleichen spielerischen Witz in der Inszenierung, wenn etwa die Schafe den Aufbau einer weißen Decke in schlammig grüne Weide beobachten, die sie - die Schafe - später mit ihren verdreckten Hufen zu einem Kunstwerk machen. Das ist alles nämlich auch immer wieder umwerfend komisch (den Abspann bitte nicht übersehen!) und damit weit entfernt von „hoher Kunst". Zur Vollendung dieser sehr intimen Annäherung an diesen einzigartigen Künstler stammt die Musik wieder - sehr dezent - von Fred Frith, über den Riedelsheimer ja auch ein unglaublich passendes Filmporträt („Step across the border") gemacht hat. Gerade das Vergängliche und das genial-verrückt Spontane in Goldsworthys Kunst, macht diesen Film zu einem Glücksfall, lässt spüren, dass Film einzig und allein für solche Momente gemacht ist.

Lieber Leben

Frankreich 2016 (Patients) Regie: Grand Corps Malade, Mehdi Idir mit Pablo Pauly, Soufiane Guerrab, Moussa Mansaly, Nailia Harzoune 112 Min. FSK: ab 6

Mit Leichtigkeit, Optimismus und Lebensfreude erzählt „Lieber Leben" die Krankengeschichte des französischen Poetry-Slam-Künstlers Grand Corps Malade nach dessen Roman „Patients". Der sehenswerte Film hält sich dabei ebenso angenehm von üblichen Erfolgs-Biografien wie von den Krankheitsfilm-Klischees fern.

Ganz subjektiv wird der Moment des Aufwachens aus der Perspektive des plötzlich gelähmten Benjamin erzählt. Auch wenn wir nur Neonröhren und ab und zu ein medizinisch besorgtes Gesicht sehen, macht der ruppige Spruch „Von wem ist dieser Tetra hier?" alles klar: Benjamin (Pablo Pauly) gehört zu den vielen, die nach einem übermütigen Kopfsprung in zu flaches Wasser querschnittgelähmt sind. Nun erleidet er vor allem einen schwer erträglichen, banal fröhlichen Pfleger, der mit Benjamins elektrisch verstellbarer Rückenlehne spielt und ihn permanent in der dritten Person anredet. Der „Patient" ist halt ein junger, hoffnungsvoller Sportler, dem man die ästhetischen Vorbehalte gegen Stützstrümpfe und flauschige Schon-Schuhe als Hauptproblem abnimmt. Ein optimistischer Typ, der lange glaubt, dass er bald wieder Basketball spielen und auf Sportlehrer studieren wird.

Die negative Perspektive seiner Ärztin ist zwar niederschmetternd, doch streichen Sie hier unbedingt all die Hollywood-Streicher aus dem Kopf, die jetzt immer einsetzen. Auch die wundersame „Trotzdem"-Wende zum Guten und die Hymne des „Niemals Aufgeben" erspart uns der sympathisch geerdete Film mit seiner ebensolchen Hauptfigur. Wer jetzt einen platten Witz rausliest - geerdet / Rollstuhl - ist direkt im Ton der Tetra-Truppe rund um Benjamin in dieser Reha-Klinik.

Die Stimmung auf der Station der Querschnittsgelähmten, die Freundschaften und die Spannungen untereinander, der ruppige Ton, auch Spaß mit „Tetra-Boxduellen" (trotz wenig beweglichen Armen) machen aus „Lieber Leben" tatsächlich einen unterhaltsamen, witzigen und fast schon leichten Film. Und auch wenn er nicht die emotionale Gewalt von Julian Schnabels „Schmetterling und Taucherglocke" an den Tag legt, bewegt er trotzdem. Denn nebenbei gibt es auch die scheinbar ganz banalen frustrierenden Situationen, wenn etwa der elektrische Rollstuhl nicht mehr fährt und keiner zur Hilfe kommt. Vor allem Benjamins neuer Freund Farid (Soufiane Guerrab), der schon seit vielen Jahren mit dem Rollstuhl lebt, und nach einer Operation noch einmal zur Reha da ist, zeigt den „Anfängern" Perspektiven für ein Leben mit Querschnittslähmung auf. Und dann gibt es selbstverständlich noch die schwierige Liebe zur schönen Samia, die ebenfalls im Rollstuhl sitzt.

Wie die filmischen Betonungen besonders bewegender Szenen, bleibt auch der Einsatz von Rap- und Hiphop-Musik dezent in diesem ruhigen Fluss. Der Film endet damit, dass Benjamin die Reha-Klinik verlässt. Der Autor Grand Corps Malade - „großer, kranker Körper" - wurde nach seiner Reha mit einer Krücke als Markenzeichen zum bekannten Poetry-Slamer und hat mittlerweile mehrere Alben aufgenommen. Das Video mit dem Song „Espoir adapté" zeigt ihn selbst in einem mal sehr netten „Making of" des Films.

11.12.17

Meine schöne innere Sonne

Frankreich, Belgien 2017 (Un beau soleil intérieur) Regie: Claire Denis mit Juliette Binoche, Xavier Beauvois, Valerie Bruni-Tedeschi, Gérard Depardieu 94 Min. FSK: ab 12

Im Alter von 70 Jahren dreht die bekannte französische Regisseurin Claire Denis, die seit ihrem Erstling „Chocolat - Verbotene Sehnsucht" (1987) zahlreiche immer wieder neu spannende Filme inszeniert hat, ihre erste Komödie. Die ist nicht komisch, nur seltsam. Bei Claire Denis („35 Rum", „Beau Travail", „Nénette et Boni") war die Liebe schon mal so verzehrend, dass in ihrem genialen Vampirfilm „Trouble Every Day" (2001 mit Beatrice Dalle, Vincent Gallo und der Musik von Tindersticks) tatsächlich der Geliebte gebissen und verspeist wurde. Doch zu „Meine schöne innere Sonne" fällt einem nur dieses furchtbar blöde Vorurteil vom geschwätzigen französischen Film ein. Ausgerechnet der komplizierteste von drei bis vier selbstverliebten Männern, mit denen sich der Binoche-Charakter das Leben schwer macht, sagt: Siehst du, manchmal muss man gar nicht reden!

Und diese in Liebesdingen völlig orientierungslose Isabelle sagt nach der ersten verunglückten Sex-Szene im ersten Satz gleich alles: „Ist das mein Leben? Ich möchte Liebe!" Was untertrieben ist: Die Malerin Isabelle sucht verzweifelt nach Liebe. Deswegen „verliebt" sie sich in den ekligen Banker, einen beschissenen, selbstverliebten Idioten. Wobei es sie anfangs wenigstens anmacht, mit einem „Mistkerl" im Bett zu sein. Der ihm folgende jämmerliche Schauspieler klagt direkt über seinen Alltagstrott, windet sich dauernd und ist schon beim Zuschauen nach wenigen Minuten unerträglich. Verzweifelt, verdreht, kompliziert - Isabelle muss wirklich am Ende sein, um das auszuhalten. Dazu sind alle diese Männer sehr offensichtlich eindimensional, selbst Freunde und ein Hellseher wollen sich mit ihren Ratschlägen nur selbst in Stellung bringen.

Mit ganz hohen Stiefeln und einem selbst im Winter sehr offenen Dekolleté verkörpert die Binoche („Die Wolken von Sils Maria", „Caché") Isabelles verzweifelte Beziehungssuche, ohne dass man dem französischen Star diese Rolle abnimmt. Schon gar nicht, dass ihr „Liebesleben mit vierzig zu Ende" sein soll. So ist auch der Film in seiner linearen Abfolge falscher Männer, wenig emotional, schwer erträglich und im besten Fall rätselhaft.

6.12.17

A Ghost Story

A Ghost Story

USA 2017 Regie: David Lowery mit Casey Affleck, Rooney Mara 93 Min. FSK: ab 12

Wenige, intensive Szenen beschreiben das Leben eines jungen Paares bis er (Casey Affleck) bei einem Unfall stirbt. Nach dem Besuch der ebenfalls namenlosen Frau (Rooney Mara) in der Leichenhalle steht er auf und kehrt unter dem Bettlaken als Geist zurück nach Hause. Klingt schräg, könnte albern wirken, ist aber dank einem amateurhaft wirkenden 4:3-Format und der sonstigen, sehr stringenten und guten Inszenierung ein ungemein packender und bewegender Film. Fantastisch statt unheimlich, irritierend statt erschreckend.

Als stiller, für alle Lebenden unsichtbarer Beobachter begleitet der Geist unter dem Betttuch Alltag und Trauer seiner Witwe. Casey Affleck spielt uneitel meist ohne Gesicht, man sollte ihm einen Oscar geben, damit er den auch unter einem Bettlaken entgegen nimmt. Rooney Mara allerdings erspielt sich mit diesem ergreifenden Fast-Solo tatsächlich den Anspruch auf weitere Auszeichnungen.

Regisseur David Lowery, der vor dem Disney „Elliot, der Drache" (2016) den hochgelobten „The Saints - Sie kannten kein Gesetz" (2013) inszenierte, setzt Schwarzblenden sowie Szenen ohne Ton ein und fordert vor allem Geduld. Das kennt man vom Horror der „Paranormal Activity"-Serie, doch „A Ghost Story" ist als mutiger Arthouse-Film nur uneigentlicher Horror für Horror-Fans. Legendär wird die Szene werden, in der Rooney Mara einen kompletten Apfelkuchen aufisst. Wer weiter schaut, sich auf die meditativen Abläufe einlässt, erlebt einen verspielten Umgang mit Zeit, losgelöst aus subjektiver Wahrnehmung. Wenn sich die Geister / Bettlaken benachbarter Häuser stumm (mit Untertiteln) unterhalten und gar nicht mehr wissen, auf wen sie warten, ist das ebenso komisch wie faszinierend. Dazwischen sehr schön berührende Liebesszenen in Rückblenden oder in Einsamkeit. Letztlich erleben wir mit dem Geist das Kommen und Gehen in einem über die Jahre verfallenden Haus, eine Reflexion der Zeit mit einigen Überraschungen und Endlosschleife. Aus dem Mann wird ein „genius loci", ein Geist des Ortes. Ein ungewöhnlicher, äußerst faszinierender Film, der begeistern kann.

Daddy's Home 2

USA 2017 Regie: Sean Anders mit Mel Gibson, Mark Wahlberg, Will Ferrell 100 Min.

„Mad Max" gegen die Weihnachts-Klebrigkeit. Eigentlich ein schöner Filmtitel. Doch das Ende ist grausam, selbst Mel Gibson, dem Antisemitismus, Schlägereien und vor allem alkoholisiertes Autofahren vorgeworfen werden, kann in einer sehr persönlichen Darstellung eines Dirty Old Man der Zwangshaft dieser Patchwork-Familie nicht entkommen. In „Daddy's Home" wurde der übertrieben raue Muskel-Macho Mark Wahlberg als Dusty Mayron in die Familie seines übertrieben weichlichen und weinerlichen Nachfolgers Brad Whitaker (Will Ferrell) integriert. Im zweiten Aufguss dienen die völlig übertriebenen US-Weihnachten als Kulisse für eine Doppelung, weil die jeweiligen Väter anreisen: John Lithgow gibt einen noch lächerlicheren Opa und Mel Gibson ist der Space Shuttle-Pilot Kurt Mayron, die zynische, rücksichtlose und sexistische Hoffnung in dieser schlappen Komödie. Komisch ist bei ihr höchstens die orgiastische Zerstörung überbordender Weihnachtsdekoration mit einer Schneefräse. Drei Generationen, die alle den gleichen arg vereinfachten Konflikt zwischen Anpassung und Außenseitertum vorspielen, ermüden eher als dass sie unterhalten. Deswegen könnte ein richtig dreckiger Macho vom alten Schlag erfrischend anders sein, aber wie gesagt, der Mann, der Jesus in seinem Film „Die Passion Christi" stundenlang ausführlich und sadistisch folterte, küsst nun zu Weihnachten seinen erwachsenen Sohn ausführlich und leidenschaftlich auf den Mund. Das will man nicht sehen.

5.12.17

Die Lebenden reparieren

Frankreich, Belgien 2016 (Réparer les Vivants) Regie: Katell Quillévéré mit Tahar Rahim, Emmanuelle Seigner, Anne Dorval, Bouli Lanners 104 Min. FSK: ab 12

Voll das Leben - sinnlich und wunderbar, wie der junge Simon mit den Freunden an die Küste fährt und morgens in der Brandung surft. Dann der Tod auf der Rückfahrt im Auto. Hirntod im Krankenhaus, aber sein Herz schlägt noch. Was es den Eltern nicht einfacher macht, den Körper zur Organspende frei zu geben. Schon in den ersten rauschhaften Minuten auf dem und unter Wasser spürt man das großartige Filmemachen von Katell Quillévéré („Die unerschütterliche Liebe der Suzanne", „Ein starkes Gift"). Sie zeigt in der Verfilmung von Maylis de Kerangals Roman „Réparer les vivants" („Die Lebenden reparieren") minutiös die Abläufe in den Krankenhäusern. Dann ungewöhnlich die Rückblende zu einem wunderschönen Verlieben, was den Verlust für Eltern und Freundin unerträglich spürbar macht.

Die heftigen Gefühle werden gelebt von außergewöhnlich guten Schauspielern wie Emmanuelle Seigner („Venus im Pelz", „In ihrem Haus") und Tahar Rahim („Heute bin ich Samba", „Ein Prophet"). Der Lütticher Regisseur und Schauspielstar Bouli Lanners spielt ungewöhnlich bürgerlich den Chefarzt, der den Eltern die Situation des Sohns vermitteln muss. Was bedeutet „hirntot"? Ist das anders als ein Koma? Dabei versucht der sensible Arzt angesichts der zusammenbrechenden Angehörigen sachlich seine Arbeit zu machen. Und dann muss sein Kollege die völlig deplatzierte Frage nach der Organspende stellen. Deplatziert, brutal, unsensibel, aber lebensrettend für jemand anderen.

Im zweiten Teil bewegt die Geschichte der Mutter Claire mit ihren beiden sehr fürsorglichen, fast erwachsenen Söhnen. Eine degenerative Herzkrankheit macht sie langsam und zur alten Frau. Die allerdings noch mal ihre ehemalige Geliebte und jetzt berühmte Konzert-Pianistin trifft. Ein Spenderherz könnte Claire retten. Das klingt wie eine sachliche Dokumentation über die Segnungen der Organtransplantation. Doch auch wenn es tatsächlich als starkes Plädoyer für den eigenen Spenderausweis wirkt, ist „Die Lebenden reparieren die Toten" vor allem ein umwerfender Film mit viel mehr und stärkeren Emotionen als laute Produktionen, die mit viel (künstlichem) Gefühl werben. Ein großer Film voller Momente zum Vergehen, starken Songs, die man direkt auf der eigenen Playlist haben will. Dabei gibt es keine Diskussion über den unendlich schweren Entschluss, nur Film und seine enormen Mittel, welche die Entscheidung vermitteln. Es sind Feinheiten wie der Wunsch der Mutter, man möge Simon seine Augen lassen, die in all dem Großartigen des Films immer wieder erneut tief treffen. Die Operationen der offenen Herzen verlaufen hier nahezu poetisch.

4.12.17

Zwischen zwei Leben - The Mountain between us

USA 2017 (The Mountain between us) Regie: Hany Abu-Assad mit Idris Elba, Kate Winslet, Beau Bridges 112 Min. FSK: ab 12

Die scheinbar nicht zusammen passenden Partner, die durch kleinere bis mittlere Katastrophen auf einsamer Insel, in einsamer Hütte oder sonstwo auf jeden Fall einsam hingeworfen werden - das ist eine Geschichte, die meist im Komödien erzählt wird. Dass Frostbeulen und Rutschpartie hinzukommen, verhindert lang warme Gefühle zwischen den „flugbrüchigen" Alex und Ben. Und dass der Film durchgehend packend ist...

Ihr Flug fällt aus, doch die Journalistin Alex Martin (Kate Winslet) und der Neurochirurg Dr. Ben Bass (Idris Elba) wollen trotzdem ankommen. Vor allem sie wegen bevorstehender Hochzeit. Der schnell gecharterte kleine Privatflieger sieht gerade links ein Unwetter, da bricht schon der Pilot am Steuerknüppel zusammen und die Maschine zerlegt sich an eisigen Bergkuppen. Im Wrack übernimmt zuerst Ben die Führung für die am Bein verletzte Alex und den Hund des toten Piloten.

Bleiben oder weitergehen? lautet die Frage weit über der Baumgrenze und fern von jeder Zivilisation. Nach drei Tagen und heftigen Aussprachen brechen sie schließlich gemeinsam auf, weil Alex nicht ruhig bleiben kann. Mit verletzten Bein durch Tiefschnee, über steiles Gefälle und felsige Landschaften - solche Wanderungen schafft wahrscheinlich nur ein Filmstar. Oft meckert der Kritiker, dass alles furchtbar unrealistisch im Dienste der Spannung realisiert wird. Diesmal ist vieles furchtbar unrealistisch und vermeidet trotzdem gekonnt allzu viel Spannung.

Denn ein Film mit Kate Winslet und Idris Elba kann sich ganz auf das „Zwischen den Menschen" konzentrieren. Alex und Ben lernen sich erst nur fragmentarisch kennen. Wobei die Journalistin ziemlich unverschämt neugierig bei jeder Gelegenheit in seinen Sachen schnüffelt. Ben bleibt emotional reserviert. Doch sie kommen sich unweigerlich näher, müssen sich schließlich auch mal gegenseitig aufwärmen, ohne dass die Romantik gleich ausbricht. Dann steht eine große, atemberaubende Frage zwischen ihnen: War der erst wilde, dann kuschelige Sex in einer nach vielen Tagen gefundenen, verlassenen Hütte nur der Extremsituation des Überlebenskampfes geschuldet oder gäbe es auch sonst Anknüpfungspunkte für eine innige Beziehung, kurz: Liebe? Klar, sie redeten ja schon über Dustin Hoffman in der „Reifeprüfung" - während sie zu ihrer Hochzeit fliegt. Aber aufgesetzt oder nicht, dieser „Flug des Phoenix" mit reduziertem Personal und Schnee statt Wüste ist richtig gut vor allem im „Zwischen", im Kammerspiel in atemberaubender und lebensgefährlich einsamer Bergkulisse.

Forget about Nick

BRD, USA 2017 Regie: Margarethe von Trotta mit Katja Riemann, Ingrid Bolsø Berdal, Haluk Bilginer, Tinka Fürst 110 Min. FSK: ab 0

Wenn sich zwei Frauen über den gemeinsamen Ex unterhalten, dann kann das sehr witzig und geistreich ausfallen. Beim neuesten Film der Margarethe von Trotta („Die bleierne Zeit", „Hannah Arendt") ist es ein Totalausfall. Das ehemalige Model Jade (Ingrid Bolsø Berdal) beweint nicht nur das Verschwinden ihres untreuen, älteren Mannes Nick, sie muss auch noch in der ehemals gemeinsamen Luxus-Wohnung plötzlich die Ex-Ex von Nick ertragen, die sie doch einst aus dem Loft verjagte. Maria (Katja Riemann), die promovierte Germanistin aus Deutschland, wurde vor zehn Jahren eben wegen Jade von Nick verlassen. Nun kehrt sie nach New York in die ehemalige Ehe-Wohnung zurück - ein seltsamer Ehe-Vertrag und die erste schlecht herbei konstruierte Drehbuch-Idee machen es möglich. Anstrengend überdeutlich trifft die kühl gestaltete Jade auf die flippige, chaotische Maria. Diät-Nahrung trifft auf frisches Gemüse und kalorienreiche Kocherei. Das soll ein Rezept für flotte Komödie sein, bleibt aber fad, da hier vor allem Gegensätze rumlaufen, keine Menschen.

„Forget about Nick" ist eigentlich ein Kammerspiel, bei dem in die Brenn-Kammer Luxus-Loft verschiedene Personen über den Aufzug eingeschoben werden, ohne dass jemals ein Funke zündet. Egal ob Marias Tochter mit dem Enkel reinschneien und von Jade vereinnahmt werden, oder ob Nick tatsächlich auftaucht, und alle auf und vor der Leinwand sich fragen, was an diesem Fatzke eigentlich dran sein soll.

Ausgerechnet die höchstens mal in „Fack Ju Göhte" erträgliche Katja Riemann sorgt für die wenigen frischen Momente in diesem weder feministischen noch komischen Exen-Treff. Leider wird das kräftig abgewürgt, weil sie sich in dieser englischsprachigen Produktion selbst synchronisiert. Die sehr wandlungsfähige Norwegerin Ingrid Bolsø Berdal lässt nur erahnen, dass sie sicher viel mehr kann. Hier nimmt man ihr die Modedesignerin nie ab. Das Tempo entspricht dem, was Leute aus dem letzten Jahrhundert als schnell ansehen. Das Ganze ist wie der Versuch, nasse Streichhölzer anzuzünden. Auch dabei sprühen nie Funken. Die Aufklärung über Männer und Nick im Speziellen soll irgendwann passieren, nachdem sich die beiden Frauen endlich respektieren. Eine stellenweise weise Aussprache als der Film schon unaussprechlich langweilt. Es bleibt ein Zickenkrieg zum Weglaufen.

Man (ohne weibliche Beratung) will sich ja für die Rollen von betrogener Ehefrau und betrogener Betrügerin interessieren. Sieht, dass in der Mode Feminismus diskutiert wird und in den Holzhammer-Dialogen die Leiden von Müttern und Nicht-Müttern. Ob Selbstverwirklichung über Bildung oder eine Karriere oder ein Mode-Label der richtige Weg sein mag, sollte die Regisseurin von „Hannah Arendt" nicht so unpointiert behandeln. Bettina Brokemper ist mit ihrer Kölner Heimatfilm und ihren Auftrags-Arbeiten unter anderem für Lars von Trier eine der besten unter den deutschen Produzentinnen und Produzenten, aber dies ist ihr schlechtester Film. Margarethe von Trotta (muss man ihren Ex Schlöndorff, nicht Nick, sondern Volker, erwähnen?) hat in deutscher Filmgeschichte enorm Wichtiges gezeigt und gesagt. „Forget about Nick" sollte man schnell vergessen.

Burg Schreckenstein 2

BRD 2017 Regie: Ralf Huettner mit Henning Baum, Sophie Rois, Alexander Beyer, Uwe Ochsenknecht 100 Min. FSK: ab 0

Es beginnt wie Harry Potter für Arme und ohne Zauber. Danach wird's nur noch schlimmer: Die Internate von Burg Schreckenstein (Jungs) und Rosenfels (Mädchen) konkurrieren in einem Wettkampf, müssen aber zusammenarbeiten, als der Bestand der Schule auf Schreckenstein durch Immobilien-Spekulationen bedroht ist. Denn des Grafen mäßig unsympathischer Vetter Kuno (Uwe Ochsenknecht) will die Burg an Chinesen verkaufen, zum baldigen Abtransport in einen Freizeitpark. Nun werden wieder kleine Detektive aktiv, dabei liegt alles überdeutlich auf der Hand, der Schatz, der Tunnel, die Rettung.

„Burg Schreckenstein 2" sieht aus wie Kino aus den 50er Jahren und ist auch im Geist noch dort verhaftet. Tatsächlich veröffentlichte Oliver Hassencamp seine gleichnamige Kinderbuchreihe von 1959 bis 1988. Doch das ist keine Entschuldigung für so eine furchtbar altbackene Verfilmung. In ländlich „heiler" Umgebung - kein AfD- oder CSU-Wähler zu entdecken - sehen wir Internatsschüler, die nicht mehr nach Hause wollen und auf Smartphones verzichten. Letzteres ist selbstverständlich Drehbuch-Krücke, um den Stoff ins Heute zu bekommen. Trotzdem bleibt der ganze Film mit seinen ganz lauen Scherzen so bieder wie die Schuluniformen. Das ärgert nicht nur bei den überkommenen Geschlechterrollen. Die Sache mit dem Küssen aus dem Untertitel „Küssen verboten" spielt nur eine Nebenrolle. Und die Aufregung dabei scheint auf ein Zielpublikum im Vorschul-Alter gerichtet. Nicht mal Sophie Rois als „Direktorin Horn" kann was retten. Das ist so lebensfern, dass man sich glatt „Fack Ju Göhte" herbeisehnt.

29.11.17

Coco

USA 2017 Regie: Lee Unkrich, Adrian Molina (Co-Regie) 105 Min. FSK: ab 0

Der „Día de los Muertos", der mexikanische Tag der Toten parallel zu Allerheiligen, ist zwar schon vorbei, aber man kann sich nun auf diesen Totentanz der Trickfilmzauberer von Pixar freuen. Wie immer ist der Stil verspielt zwischen schnellem Scherz und richtigen Verweisen zur Filmgeschichte. Bei „Coco" wird die Vorgeschichte der Familie als Papierschnitt präsentiert: Wie einst der Urahn seine Familie für die Musik verließ und die Dynastie von Schuhmachern seitdem jeden Ton verbietet. Was für den Jungen Miguel ein wahrer Fluch ist, will er doch unbedingt wie sein großes Idol Ernesto de la Cruz ein berühmter Mariachi werden. Um beim Talentwettbewerb auf dem Dorfplatz mitzumachen, klaut Miguel dessen legendäre Gitarre aus dem Mausoleum. Doch schon der erste Akkord befördert Miguel direkt in die Welt der Toten, die sich gehörig über den Jungen aus Fleisch und Blut erschrecken. Nun hat Miguel nur noch die Nacht des Día de los Muertos Zeit, seinen Ur-Ur-Großvater zu finden.

Disney, zu denen die Toy Story-Macher Pixar nun gehören, belebte sich schon immer neu mit Motiven aus Kulturkreisen außerhalb der USA, nahm in „Vaiana" Geschichten und Stile aus der Südsee mit, kupferte bei Indianern und bei Iren ab. Nun also Mexiko und der dort sehr lebendige Totenkult. Schon 2014 wurde von der Fox-Filmproduktion das Thema im Zeichentrickfilm „Manolo und das Buch des Lebens" großartig umgesetzt. Was auch einen Bruch mit der Heilewelt–Philosophie der meisten Kinder- und Trickfilme bedeutete.

Bei „Coco" ist die Animations-Qualität jetzt fast schon hyperreal, teilweise sieht man richtige Gesichter, keine Zeichentrick-Kreationen. Dazu gibt es überwältigende Bildfantasien vor allem von der Totenwelt mit Fabelwesen wie ein allen Farben schillernder fliegender Löwe. Dazu viele nette Scherze in Wort und Bild, Liedchen und pures Gitarrenspiel. Dass etwa die Verwaltung der Totenwelt mit einem unvergessenen Mac II arbeitet, Frida Kahlo schräge Choreografien plant und der herrlich dämliche Hund Dante mit in die Unterwelt rennt, liefert auch genügend Scherz-Futter für Erwachsene.

Doch was Pixar mit Regisseur Lee Unkrich („Toy Story 3", „Findet Nemo", „Die Monster AG") vor allem wieder gelingt, ist das große Menscheln: „Coco" ist ein Loblied der Erinnerungen und Geschichten, das alle Übersetzungen und Synchronsprecher überlebt. Denn das emotionale perfekte gelandete Finale rettet die vergessliche Ur-Großmutter Coco und gleichzeitig ihren Vater im Totenreich mit Musik als stärkstem Vergiss mein nicht. Diesem märchenhaften und sehr rührenden Happy End verzeiht man glatt, dass die Handlung des kurzen Films unnötig verkompliziert eine zusätzliche Schleife dreht und dass der weihnachtliche Vorfilm mit der „Frozen"-Besatzung die Geduld strapaziert. Aber auch von den schmutzigen Seiten des Showgeschäfts erfährt der kleine Miguel ja etwas in diesem sehenswerten „Coco".

ghj: 120 BPM

120 BPM

Frankreich 2017 (120 Battements par minute) Regie: Robin Campillo mit Nahuel Pérez Biscayart, Arnaud Valois, Adèle Haenel 143 Min. FSK: ab 16

Anfang der 90er-Jahre kümmert sich die Aktivistengruppe Act Up in Paris um sexuelle Aufklärung, klärt auf über Aids-Verhütung, schmeißt in aufsehenerregenden Aktionen mit Kunstblut um sich und kämpft ganz einfach um das Überleben infizierter Aktivisten. Der großartige, packende Spielfilm über diese Act Up-Gruppe wirkt anfangs wie eine Dokumentation über die Arbeit der Gruppe, wäre da nicht der Star Adèle Haenel („Das unbekannte Mädchen"). Aber im Verlauf kommen uns die Menschen mit ihren Schicksalen immer näher, das starke Drama packt mit enormer Dynamik, viel Energie, herzergreifenden Liebesszenen und auch mit einer schön tuntige Cheerleader-Gruppe.

Über die interessante Form, die von den Diskussionsabenden mit eigener Debatten-Kultur immer wieder zu den Protestaktionen zurückblendet, vermittelt „120 BPM" Informationen, auch über die Blockaden der Pharma-Industrie, sowie eine Menge Leben mit und Sterben an Aids. Was sich didaktisch anhört, ist durch große Filmkunst mitreißend und berührend. In Cannes erhielt der aus Marokko stammende französische Regisseur und Autor Robin Campillo („Eastern Boys") den Großen Preis der Jury und den FIPRESCI-Preis, beim Europäischen Filmpreis 2017 wurde der Schnitt ausgezeichnet. Campillo engagierte sich in den 90ern jahrelang selbst bei Act up (Aids Coalition to Unleash Power).

120 BPM

Frankreich 2017 (120 Battements par minute) Regie: Robin Campillo mit Nahuel Pérez Biscayart, Arnaud Valois, Adèle Haenel 143 Min. FSK: ab 16

Anfang der 90er-Jahre kümmert sich die Aktivistengruppe Act Up in Paris um sexuelle Aufklärung, klärt auf über Aids-Verhütung, schmeißt in aufsehenerregenden Aktionen mit Kunstblut um sich und kämpft ganz einfach um das Überleben infizierter Aktivisten. Der großartige, packende Spielfilm über diese Act Up-Gruppe wirkt anfangs wie eine Dokumentation über die Arbeit der Gruppe, wäre da nicht der Star Adèle Haenel („Das unbekannte Mädchen"). Aber im Verlauf kommen uns die Menschen mit ihren Schicksalen immer näher, das starke Drama packt mit enormer Dynamik, viel Energie, herzergreifenden Liebesszenen und auch mit einer schön tuntige Cheerleader-Gruppe.

Über die interessante Form, die von den Diskussionsabenden mit eigener Debatten-Kultur immer wieder zu den Protestaktionen zurückblendet, vermittelt „120 BPM" Informationen, auch über die Blockaden der Pharma-Industrie, sowie eine Menge Leben mit und Sterben an Aids. Was sich didaktisch anhört, ist durch große Filmkunst mitreißend und berührend. In Cannes erhielt der aus Marokko stammende französische Regisseur und Autor Robin Campillo („Eastern Boys") den Großen Preis der Jury und den FIPRESCI-Preis, beim Europäischen Filmpreis 2017 wurde der Schnitt ausgezeichnet. Campillo engagierte sich in den 90ern jahrelang selbst bei Act up (Aids Coalition to Unleash Power).

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28.11.17

Madame

Frankreich 2017 Regie: Amanda Sthers mit Toni Collette, Rossy de Palma, Harvey Keitel 91 Min. FSK: ab 0

Ein gewöhnliches Dinner in Paris: Harvey Keitel (Bob Fredericks) lästert über die Pariser Leihräder, der Bürgermeister von London und sein Ehemann sind dabei, man verkauft nebenbei das letzte Abendmahl von Da Vinci, das am Kaminsims hängt. Madame Anne (Toni Collette) arrangiert den Abend und musste entsetzt feststellen, dass es durch den unangekündigten Besuchs ihres Stiefsohns (Tom Hughes) 13 Tischgedecke gibt. Nun muss eines der Hausmädchen einspringen. Maria (Rossy de Palma) soll dank ein paar gestreuter Bemerkungen als spanische Prinzessin inkognito durchgehen. Nun fesselt Maria nicht nur die Männer mit riesigem Dekolleté, sie erzählt zunehmend alkoholisiert auch vulgäre Witze. Ihr Tischnachbar, der wohlhabender Kunsthändler David (Michael Smiley) verliebt sich umgehend in Maria. Nun wird die Hausherrin und Societylady Anne eifersüchtig und richtig intrigant.

Der zweite Film der französischen Erfolgsautorin und Filmemacherin Amanda Sthers erzählt eine kleine Aschenputtel-Geschichte unglaublich groß und prominent besetzt. Harvey Keitel, Toni Collette und Rossy de Palma treten vor allem als die Stars auf, die sie sind, passend gerieten die Bilder eher schick als schön. Das hat zwar Potential, aber letztlich keine „Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs". Nur eine reiche Aufsteigerin, die beim nächtlichen Video-Chat mit ihrem Psychiater - der untreue Ehemann liegt daneben - weder richtig komisch noch tragisch ist. Als wirklich tragische Figur erweicht nur Rossy de Palma die Herzen.

27.11.17

Whatever Happens

BRD 2017 Regie: Niels Laupert mit Fahri Yardim, Sylvia Hoeks 101 Min. FSK: ab 6

Der Film beginnt da, wo andere Liebesbeziehungen enden und mit einem schnellen Ende wäre es auch besser gewesen: Der englische Titel kann nicht darüber hinweg täuschen, dass die ganze Romantik typisch deutsch ist. Eher gewollt als gekonnt und verkrampft, wo es spielerisch sein sollte.

Julian (Fahri Yardim) und Hannah (Sylvia Hoeks) verstehen sich schon bei der Wohnungsbesichtigung so gar nicht. Doch der flapsige Fotograf schnappt sich die begehrte Hütte, indem er sich mit der gänzlich unbekannten Hannah als Paar ausgibt. Sieben Jahre später räumen sie in einer Silvesternacht die Reste ihrer Beziehung auf und müssen auch noch vor der Übergabe streichen. Reichlich Zeit, um in Rückblenden Resümee zu ziehen.

Das Hin und Her zwischen dem Endzustand eines zerstrittenen, alten Pärchens und dem Werden der Beziehung ist in den Anfangszeiten typisch deutsche Beziehungskomödie und damit einfallslos wie gehabt. Die Niederländerin Hannah muss für ihren erstrebten Abschluss lernen und Julian macht laut Party. Doch der schon länger Verliebte hilft der begehrten Mitbewohnerin, hört sich auch die Probleme mit ihrem Freund an und nach bestandenem Examen bricht die Liebe endgültig aus.

Allerdings bleibt es den ganzen Film über fraglich, was Julian an dieser nur karriere-geilen Zicke findet. Während er sich nach der Geburt des ersten Kindes zum tollen, fast allein erziehenden Vater entwickelt, jettet Hannah durch die Welt und veranstaltet surreale Manager-Motivations-Kurse. „Leadership is about seeing the Gorilla" ist der Kernsatz von diesem Business-Schmonzes. Während zu eigentlich übersichtlichen Problemen keine Gespräche stattfinden, dehnt sich der Film gefühlt auf Star Wars Trilogie-Länge. „Whatever Happens" erlaubt sich einen großen Erzählbogen, ohne viel zu erzählen zu haben.

Es folgen wenig überraschend Einsamkeit, Seitensprung, Trennung, Streit ums Kind und rührselige Szenen, dem Kind die Trennung beizubringen. Überhaupt ist rührselig angesagt, auch in rumgenuschelten Pop-Songs. Wieso letztlich ausgerechnet die sehr entfremdete Hannah die Tochter mit nach New York nehmen soll, bleibt hingegen sehr rätselhaft.

Die Inszenierung von Niels Laupert in seinem Kino-Debüt ist eine Bewerbung für den Seniorenabend bei den Öffentlich-Rechtlichen: Kein Witz, nix Schräges, nix Flottes, auf keinen Fall was Originelles. Die Schmonzette dümpelt weit weg von fühlbarer Romantik vor sich hin. Das überlange TV-Filmchen könnte mit den halbwegs unverbrauchten Darstellern gefallen, aber nur Fahri Yardim („Der Medicus", „Jerks") füllt die dünne Drehbuch-Hülle mit etwas Ausdruck, die Niederländerin Sylvia Hoeks („Blade Runner 2049", „Renegades") fällt vor allem Dank süßem Dialekt auf. Ein Film zum Abgewöhnen, der mit den üblichen Kinomechanismen und den mäßigen Erwartungen an Deutsches sicher ein guter Publikumserfolg wird.

Der Mann aus dem Eis

BRD, Italien, Österreich 2017 (Iceman) Regie: Felix Randau mit Jürgen Vogel, André M. Hennicke, Susanne Wuest, Violetta Schurawlow 96 Min. FSK: ab 12

Nein, Ötzi ist echt kein Glückspilz: Da musste er fast 5300 Jahre warten, bis es einem Spielfilm über sein Leben gibt, weil das Projekt lange auf Eis gelegt wurde. Und dann ist „Der Mann aus dem Eis" zwar von den Bildern her umwerfend, aber der gesamte Film um eine erfundene Lebensend-Action mit Jürgen Vogel und André M. Hennicke so krude, dass man sich gleich zum Vergessen ins die Tiefkühltruhe legen will.

Es herrscht ein großes Grunzen und Schreien im Leben der 1991 im Südtiroler Schnalstal entdeckten Gletschermumie Ötzi: „Der Mann aus dem Eis" denkt sich eine Rache- und Action-Handlung zur geheimnisvollen Leiche aus, die mit einer Sperrspitze in der Schulter gefunden wurde. Jürgen Vogel spielt dabei Ötzi als Schamanen und Jäger Kelab, dem seine ganze Klein-Sippe brutalst und keineswegs jugendfrei vergewaltigt und umgebracht wurde. Nur ein Baby überlebte. Mit ihm verfolgt Kelab die drei Mörder unter Anführung von Krant (André M. Hennicke). Im Gepäck hat er nicht nur den Säugling, sondern auch eine Ziege als vierbeinigen Milchvorrat, denn die Alpen hatten da noch nicht Nestles Babypulver hervorgebracht. Auch das Schweizer Messer war noch unbekannt, aber Religion, Patchwork-Familie und Neue Männer kommen in dieser Handlung aus dem Jahr 3300 vor unserer Zeitrechnung durchaus vor. Da liegt der spöttelnde Gedanke nicht fern, dass Ötzi mit der Erfindung des Eispickels auch Filmgeschichte geschrieben hat und Tantiemen von „Basic Instinct" erhalten müsste.

Nein, die lange Entstehungszeit dieser historischen Geschichte hat ihr nicht gut getan. „Der Mann aus dem Eis" ist tatsächlich ein Rachefilmchen im Ziegenfell vor aufwendig rekonstruierten Kulissen. Dass das „Heiligtum", das der rachsüchtig Zottel jagt, ein Spiegel zur Selbsterkenntnis ist, bleibt als intelligente Idee solitär unter all den Dickschädeln. Jürgen Vogel fällt einem tatsächlich als erste Wahl für diese archaische Grunz-Rolle ein - sorry! Aber Ötzi ist keineswegs der beste Jürgen Vogel. Weil sich Regisseur Felix Radau entschied, die Figuren einen möglichen rätoromanischen Ur-Dialekt (ohne Übersetzung in Untertiteln) sprechen zu lassen, wirkt die ganze Sache mit den alten Pelzträgern genau so verschroben wie diese lustigen Leutchen, die Mittelalter-Musik machen. Selbstverständlich hält sich „Der Mann aus dem Eis" nicht exakt an das, was Archäologen erforscht haben. Ötzis Durchfall auf Grund von Darmparasiten wird wahrscheinlich erst in einem Hollywood-Remake (mit Mark Wahlberg?) eine große Rolle spielen. „Der Mann aus dem Eis" wird eine Kuriosität der Filmgeschichte bleiben, die Vorfreude auf den SchleFaz-Kommentar (Die schlechtesten Filme alle Zeiten) von Oliver Kalkofe auf Tele5 ist groß

Flatliners (2017)

USA 2017 Regie: Niels Arden Oplev mit Ellen Page, Diego Luna, Nina Dobrev, James Norton, Kiersey Clemons 110 Min.

„Flatliners" ist ein sehr spannender, effektiv inszenierter Film über Medizinstudenten, die mit der Grenze zum Tod rumspielen und dabei horrende Erfahrungen machen. Der „Flatliners" aus dem Jahr 1990 wohlgemerkt, inszeniert vom Spannungs-Profi Joel Schumacher und mit Kiefer Sutherland, Julia Roberts, Kevin Bacon, William Baldwin sowie Oliver Platt erstaunlich gut besetzt. 27 Jahre mit horrend steigenden Gesundheitskosten, die seitdem vergangen sind, wären ein guter Grund, den Film für ein paar Euro noch einmal zu sehen - oder neu zu inszenieren, für ein paar Millionen Euro. Allerdings ist „Flatliners 2017" wirklich genau der gleiche Kram, nur mit schlechteren Schauspielern und ein ganzes Stück billiger produziert - so flach, dass es ein Horror ist! Man hätte „Flatliners" wirklich nicht wiederbeleben sollen.

Fünf Medizinstudenten experimentieren mit dem Vorzimmer zum Jenseits. Courtney (Ellen Page) überrumpelt zuerst zwei Kommilitonen mit dem Versuch, nach einem künstlich erzeugten Herzstillstand die Nahtod-Erfahrung im MRT-Scanner zu dokumentieren. Erst der im letzten Moment herbei gerufene Ray (Diego Luna) kann Courtney wiederbeleben. Danach braucht sie nicht mehr zu lernen, weil sie sich an alles Mögliche erinnert, und kann nach 12 Jahren Pause plötzlich wieder richtig gut Piano spielen. Nun wollen auch die Kommilitonen die Flatline - die flache Linie des Herzmonitors - ausprobieren. Nach der als Routine-Veranstaltung ablaufenden Todeserfahrung tauchen allerdings - ebenso geistlos inszenierte - Schrecken aus der Vergangenheit im Leben der Studenten auf. Und wie in Stephen Kings „It", nur viel schlechter, muss jeder mit seinen Fehlern fertig werden.

Bei minimaler persönlicher Ausstattung der überarbeiteten jungen Mediziner voller Zweifel bekommen moralische Einwände im nicht besonders rasanten Ablauf gerade mal drei Halbsätze Zeit. Selbstverständlich ist der Horror wichtiger - ohne würde keiner dieses Filmchen nachdrehen. Aber weder die digital erzeugten Tunnelvisionen noch die Schrecken können Zuschauer aus der Langeweile-Flatline erwecken.

Dass die 25-jährige Sophia (Kiersey Clemons) den Mut fasst, bei ihrer Mutter auszuziehen, zeigt ungefähr, wie erwachsen die Themen ausgearbeitet wurden. In der Auflösung ist es geradezu peinlich, wie sich die fünf aus ihrer selbstverschuldeten Geisterstunde mit einer schnell hingeworfenen Entschuldigung retten können. Kiefer Sutherland, ein Überlebender des Originals, gibt jetzt einen Professor, der Medizinstudenten ausbildet und ihnen Druck macht. Ellen Page, das bekannteste Gesicht des Nachbaus, schaut lange Strecken wie tot in die Kamera und dann ist der Star tatsächlich bald hinüber. Auch schauspielerisch wurde gespart: Die weitgehend unbekannten James Norton als ein notorischer Anmacher Jamie und Kiersey Clemons als gestresste Studentin Sophia sind weitere Argumente, sich „Flatliners" aus 1990 anzusehen und nicht dieses missglückte Labor-Experiment von Regisseur Niels Arden Oplev („Verblendung").

22.11.17

Aus dem Nichts

BRD, Frankreich 2017 Regie: Fatih Akin mit Diane Kruger, Denis Moschitto, Johannes Krisch, Ulrich Tukur 106 Min. FSK: ab 12

Nach einer langen Durststrecke sorgte Fatih Akin mit „Aus dem Nichts" und dem Cannes-Preis für seine Hauptdarstellerin Diane Kruger fast wie selbstverständlich für einen deutschen Festivalerfolg. Entstanden aus persönlicher Wut über die falschen und sehr voreiligen Schuldzuweisungen an die türkischen NSU-Opfer in der Kölner Keupstraße.

Das glückliche Familienleben von Katja (Diane Kruger) wird aus heiterem Himmel - oder: Aus dem Nichts - zerstört, als ihr Mann und ihr Sohn bei einem Bombenanschlag sterben. Seltsamerweise ermittelt die Polizei beim Opfer und dringt ins Privatleben von Katjas Familie ein. Die Dealer-Vergangenheit ihres Mannes wird herausgekramt, seine türkisch-kurdische Abstammung gilt als verdächtig. Dann fasst die Polizei doch die Täter, ein junges Neo-Nazi-Paar. Aber auch das Gerichtsverfahren verläuft gegen die Erwartungen, die hämischen Mörder werden freigesprochen.

Bislang zeigte Fatih Akin das Zusammenleben verschiedener Ethnien als schwierig aber auch funkenschlagend reizvoll. So war es bereits 1998 bei seinem Debüt „Kurz und schmerzlos" und besonders schön 2009 in „Soul Kitchen". Politische Probleme gerieten allerdings auch filmisch problematisch: „The Cut" (2014) über das türkische Massaker an der armenischen Bevölkerung fiel trotz einiger Qualitäten bei der Kritik durch und die ökologische Doku „Müll im Garten Eden" (2012) über das Dorf seiner Eltern ist sein schwächster Film. Wenn einer der besten deutschen Regisseure nun einen mehrfach aufgeladenen NSU-Film dreht, ist also eine gewisse Skepsis vorhanden.

Und tatsächlich hängt ein ungeheuer packendes Melodram auf dem Weg zum fein spannenden Rachethriller im Mittelteil Gerichtsfilm durch. Fatih Akin taucht, was er unglaublich gut kann, voll ins dichte Leben toller Menschen mit Ecken und Kanten und schön vielen Tattoos. Was passieren wird mit der Familie Sekerci, weiß man schnell, wenn eine blonde Frau ihr Fahrrad vor dem Laden des Mannes im Hamburger Türkenviertel abstellt. Der Schock angesichts des Verlustes von Mann und Kind ist ungeheuer - und von Diane Kruger ungeheuer gut gespielt. Das immer noch unglaubliche Verhalten der auf dem rechten Auge blinden und tauben Polizei bekommt eine Breitseite ab. Sie tappt im Dunkeln, legt falsche Fährten aus, macht eine Hausdurchsuchung beim Opfer und schnüffelt in dessen Steuerunterlagen.

Doch wie und weshalb die Justiz scheitert, bleibt völlig beliebig. Man hätte den ganzen Gerichtsteil in einer Szene abhandeln können, dann aber Ulrich Tukurs Auftritt verpasst, der als Vater des Täters mit einer Entschuldigung ein selten anständiges Gegenbild gibt. Erst als Katja eigenhändig die Mörder verfolgt, blitzten wieder Momente von Akin freiem Inszenierungsstil auf, fällt die Eindeutigkeit an vielen emotionalen und moralischen Bruchstellen auf packende Weise auseinander.

Diane Kruger, die für diese Rolle in Cannes als Beste Darstellerin ausgezeichnet wurde, erweist sich hier wieder als sehr, sehr gute Schauspielerin, die einen Großteil der Films trägt. Sie entwickelte sich vom Modell und von „schönen" Rollen wie der Helena in Petersens „Troja" mit „Mr. Nobody" (2009) und „Barfuß auf Nacktschnecken" (2010) zur exzellenten Arthouse-Schauspielerin. Auftritte in „lauten" Filmen wie „Inglourious Basterds" komplettierten ihre Bekanntheit. Dass Kruger nach Leben und vielen Rollen wieder mal in Deutschland drehte, sorgte für Aufsehen. Wahrscheinlich letztlich für mehr Aufsehen, als „Alles aus dem Nichts" als nur streckenweise gelungener NSU-Film erzeugen wird.

21.11.17

Manifesto

BRD, Australien 2015 Regie: Julian Rosefeldt mit Cate Blanchett 98 Min. FSK: ab 0

Im bemerkenswertesten Film seit langem verkörpert die zweifache Oscar-Gewinnerin Cate Blanchett in 13 Rollen unterschiedliche Manifeste, die sie selber (meist im Off) spricht - vom Futurismus über Blauer Reiter und Fluxus bis zur Pop Art und Dada bei einer Trauerrede. Der deutsche Experimental-Filmer Julian Rosefeldt konnte den australischen Star zuerst für eine Installation gewinnen, die im Berliner Museum Hamburger Bahnhof zu sehen war. Die Kinoversion verschränkt die parallelen Projektionen in einer packenden, immer wieder überraschenden Abfolge. Divenhaft als russische Choreografin einer Tanztruppe in Alien-Kostümen (Fluxus), magisch als Puppenspielerin mit Blanchett-Puppe (Surrealismus).

Selbstverständlich bietet das Manifest zur Architektur, das Blanchett als einfache Arbeiterin auf den Weg zu einer Müllverbrennungsanlage begleitet, faszinierende und im Kontrapunkt spöttische Blicke auf Architektur. Exzellente Bildkunst, die der ganze Film bietet, und die bei den starken, dichten Texten und dem atemberaubend intensiven Spiel der Miniaturen nicht übersehen werden darf. Denn „Manifesto" ist pure Filmkunst auf höchstem Niveau ohne die üblichen Kinkerlitzchen wie Action oder billigen Emotionen.

Detroit

USA 2017 Regie: Kathryn Bigelow mit John Boyega (Dismukes), Will Poulter (Krauss), Algee Smith (Larry), Jacob Latimore 144 Min. FSK: ab 12

Das schockierende historische Drama „Detroit" beginnt mit einer pointierten Animation, die Jahrzehnte Geschichte afroamerikanischer Bevölkerung der USA zusammenfasst, bis im Sommer 1967 die Razzia in einem Club für Afroamerikaner Unruhen auslöst. Feuer werden gelegt, Läden geplündert, willkürliche, weiße Polizei-Gewalt eskaliert, das Militär marschiert in das Ghetto ein, ein Kind, das auf die Straße schaut, wird beschossen.

Die Situation wird noch dramatischer durch den blöden Scherz eines frustrierten Besoffenen, der mit seiner Schreckschuss-Pistole aus dem Algiers Motel auf Soldaten schießt. Das Motel wird brutal gestürmt, ein junger Lynch-Polizist erschießt direkt den nächsten Schwarzen, um darauf alle Bewohner „wegen der Ermittlungen" festzuhalten. Er reiht all an einer Wand auf, prügelt und foltert, führ Schwein-Exekutionen durch. Im Rahmen der historischen Unruhen bildet diese schockierende Gewalt innerhalb einer schon extremen Kriegssituation von Belagerung der eignen Bevölkerung, einen Tiefpunkt an rassistischer Menschenrechtsverletzung. Drei farbige Hotelgäste wurden ermordet, die Sicherheitskräfte angeklagt, aber freigesprochen.

Aus den in Protokollen und Gerichtsverfahren festgehaltenen Ereignissen gestalten Regisseurin Kathryn Bigelow und ihr Autor Mark Boal, der mit Zeitzeugen sprach, einen ungemein spannenden, intensiven, hautnah gefilmten und nahezu unerträglich beklemmenden Thriller. Als Katherine Bigelow 1989 mit dem Polizeifilm „Blue Steel" und Jamie Lee Curtis das Action-Kino unter weibliche Regie brachte, sprach man von Emanzipation und Fortschritt. Dass Bigelow neben ihrem großen Können auch noch etwas zu sagen hatte, wurde auch dem letzten mit ihren Filmen „Tödliches Kommando – The Hurt Locker" (sechs Oscars) und „Zero Dark Thirty" (fünf Oscar- Nominierungen) deutlich. „Change is coming" hieß es damals schon für die afroamerikanische Gemeinschaft, doch noch heute werden Polizisten, die unschuldige Schwarze erschießen, freigesprochen.