31.1.20

Varda par Agnès

Frankreich 2018 Regie: Agnès Varda 115 Min.

Agnès Vardas possierlich als „Großmutter der Nouvelle Vague" zu bezeichnen, übersieht, dass die Französin eine der wichtigsten, innovativsten, intelligentesten und wunderbarsten Filmemacherin nicht nur ihrer Zeit war. In „Varda par Agnès" blickt die 90-jährige Künstlerin kurz vor ihrem Tod im März 2019 gewohnt geistreich und berührend auf ihr Werk zurück.

„Nichts ist banal, wenn man die Menschen mit Liebe und Empathie filmt!" Vom ersten Welterfolg „Cleo – Mittwoch zwischen 5 und 7" (Cléo de 5 à 7) im Jahr 1961 über „Vogelfrei" (Sans toit ni loi) mit Sandrine Bonnaire als Obdachlose, den herzzerreißenden Abschied von Vardas Lebensgefährten Jacques Demy in „Jacquot" bis zu den späten Erfolgen „Die Sammler und die Sammlerin" (Les glaneurs et la glaneuse) und „Augenblicke: Gesichter einer Reise" (Visages Villages) zeichnet der filmische Blick Vardas diese Liebe für die Menschen vor ihrer Kamera aus. Und eine Neugier für andere, neue Sichtweisen. Die kindliche Freude über die erste digitale Kamera in ihrer Dokumentation „Die Sammler und die Sammlerin" bleibt unvergesslich. Und die Kunstfertigkeit, aus scheinbar banalen Alltagsfunden ein komplexes Meisterwerk zu formen.

Vardas letztes Werk dreht sich um eine Reihe von Vorträgen. Eine „Master Class" aber nicht nur über das Filmen, sondern über das Leben. Und wieder einmal Glück, 24 mal pro Sekunde. Ausführlich lässt sie die Entstehung ihres Klassikers „Cleo" aufleben. Schämt sich im Gespräch mit Sandrine Bonnaire etwas, wie sie das Mädchen für die harte Rolle hat leiden lassen.

Dann die unglaubliche Geschichte vom Dreh von „Jane B… wie Birkin" mit Schauspielstar Jane Birkin. Die Aufnahmen wurden unterbrochen, um eine Geschichte, die Jane Birkin erwähnte, in den Sommerferien zwischendurch zu drehen. Mit Charlotte Gainsbourg, der Tochter von Birkin und Mathieu Demy, dem Sohn von Agnes Varda: „Die Zeit mit Julien". Leben samt Betreuung schulfreier Kinder und Kunst in Harmonie - wie so oft bei Varda.

„Varda par Agnès" ist ein letzter Schatz, den dieser filmisch so außergewöhnliche, aber vor allem emotional so kluge Mensch hinterlässt. Eine gute Gelegenheit, sie kennenzulernen oder sich ihrer zu erinnern.

30.1.20

Intrige

Frankreich, Italien 2019 (J'accuse) Regie: Roman Polanski, mit Cast: Jean Dujardin, Louis Garrel, Emmanuelle Seigner, Grégory Gadebois 132 Min.

Nach dem gleichnamigen Roman von Robert Harris („Der Ghostwriter", „Enigma") inszeniert Roman Polanski in „Intrige" den wahrscheinlich größten politischen Skandal des späten 19. Jahrhunderts aus Nebenperspektive als Krimi und Spiegel der französischen Gesellschaft. Ein hintersinniges und aktuelles Drama um das vielfältige Wirken von Antisemitismus, das bei den Filmfestspielen von Venedig 2019 den Großen Preis der Jury gewann und für 12 Césars nominiert ist.

„Intrige" ist nicht, wieder Originaltitel „J'accuse" vermuten lässt, die Verfilmung des berühmten gleichnamigen Zeitungsartikels von Émile Zola. Es ist auch nicht die Geschichte des 1895 zu Unrecht aus antisemitischen Gründen wegen Spionage verurteilten, degradierten und verbannten Offiziers Alfred Dreyfus. Sondern die seines Ausbilders und zeitweiligen Weggefährten, den Offizier Marie-Georges Picquart, der am Rande der Intrigen mitarbeitet, die Dreyfus verurteilen ließen. Der aber auch später aus Gewissensgründen als Chef des Geheimdienstes den Skandal auffliegen ließ.

Die zelebrierte Degradierung und Erniedrigung des jüdischen Offiziers Dreyfus (Louis Garrel) vor vielen Soldaten und Pöbel wird von den Kollegen der Armee mit ein paar Juden-Witzen kommentiert. Als nicht ganz unbeteiligter Prozessbeobachter ist Marie-Georges Picquart (Jean Dujardin) dabei. Das eröffnet ihm Aufstiegsmöglichkeiten: Picquart wird nach einer Versetzung zum Geheimdienst jüngster Oberst der Armee. Das neue Arbeitsgebäude wird mit leisem Humor in all seiner Verdreckt- und Verkommenheit vorgeführt. Wie der von Syphilis zerfressene Vorgänger ist auch diese Gesellschaft verdorben. Mit naivem Staunen erfährt der neue Chef, was und wer alles ausspioniert wird. Als Zeichen einer Psychose gibt es geheime Listen wie bei Stalin: 2500 sind Verräter 100.000 direkt zu verhaften, die Juden gehören noch nicht dazu. (Ein böser Verweis, zu den Listen, die den Deutschen die Verhaftung der Pariser Juden ermöglichten.) Es ist die Abteilung, die stolz darauf ist, den vermeintlichen Spion Dreyfus entdeckt und überführt zu haben. Das entsprechende Schreiben hängt gerahmt an der Wand. An ihm wird sich Picquarts teilweiser Gesinnungswandel vollziehen.

Bei der aufwändigen Beschattung eines schwulen Gesandten wird Picquart klar, dass Dreyfus unschuldig war und nur aus antisemitistischen Gründen verurteilt wurde. Der großartige Jean Dujardin („The Artist", „OSS 117 – Der Spion, der sich liebte") verkörpert ganz unkomödiantisch eine ambivalente Figur: Sein Ehrgefühl führt ihn dazu, gegen alle Widerstände das Fehlurteil zu bekämpfen. Dafür geht er sogar ins Gefängnis, nachdem er bei einem geheimen Treffen demokratischer Kräfte - Abgeordnete, Herausgeber und Émile Zola - als „Whistleblower" sein Wissen geteilt hat. Doch mit dem gleichen Gerechtigkeitsgefühl gab der militärische Ausbilder Picquart einst Dreyfus gute Noten, obwohl er „Juden nicht leiden kann". In diesem Geist hielt sich die Fin de Siecle-Gesellschaft für kultiviert.

Mit der Hauptfigur Picquart teilt „Intrige" die ruhige, exakte Beobachtung. Der historische Krimi ist nie ungemein spannend, denn - Spoiler - man weiß, dass Dreyfus rehabilitiert wird. Bei allem Dekor und Kostüm sind die Personen sehr präsent und gegenwärtig. Neben Jean Dujardin sind auch die weiteren Rollen mit Louis Garrel, Emmanuelle Seigner und anderen exzellent besetzt.

Schockierend ist, wie übel die Rechtsprechung manipuliert wird, um zum gewünschten Urteil zu kommen. Die Wissenschaft des Graphologen (Mathieu Amalric) verbiegt sich in abstrusen Konstrukten, um die Schuld „des Juden" zu „beweisen". Polanski klagt in seinem hervorragend gemachten, exzellent gespielten Film, der immer noch notwendig ist, nicht einfach laut an. Er führt detailliert das Zusammenspiel von antisemitischer Gesellschaft und Überwachungs-Staat vor. In dem es auch kein Happy End geben kann - ein bitterer Epilog mit dem rehabilitierten Dreyfus und Picquart zeigt, dass die Sache mit der Gerechtigkeit ihre Grenzen hat.

21 Bridges

USA 2019 Regie: Brian Kirk, mit Chadwick Boseman, Sienna Miller, Taylor Kitsch, Stephan James, J.K. Simmons 100 Min. FSK ab 16

„Black Panther" Chadwick Boseman ist Held dieses Action-Films. Sein Polizist Andre Davis ein schießwütiger „Killer von Cop-Killern", gegen den mittlerweile intern ermittelt wird. Auch der Film „21 Bridges" gehört wegen seiner Schiesswütigkeit auf die Anklagebank: Nach einem extrem brutal und mörderisch verlaufenden Überfall mit Schnellfeuerwaffen wirkt die Trauer des Helden Davis angesichts der vielen toten Kollegen wie ein Hohn. Davis will in Konkurrenz mit anderen Abteilungen die flüchtigen Räuber Ray und Michael finden und lässt dafür alle 21 Brücken sperren, die nach Manhattan führen.

Wie die Machos von Polizei, FBI und Drogenfahndung lässt auch der Film überdeutlich seine Muskeln spielen: Hubschrauber (-Aufnahmen), dauernde Verfolgungsjagden mit viel Kollateral-Schaden und weiterhin Geballer mit weiteren Toten. Selbstverständlich entdeckt der etwas klügere Kleingangster Michael während seiner Flucht, dass er in ein Drogenlager getappt ist, dass von Davis' korrupten Kollegen betrieben wird. Also muss Michael gefangen und gleichzeitig vor anderen Polizisten geschützt werden. Fürs Herz ist immer die Geschichte vom kleinen Davis dabei, der ohne seinen ermordeten Polizisten-Vater aufwuchs.

In Härte und ästhetischem Overkill ahmt der Serien-Regisseur Brian Kirk Legenden wie Michael Mann („Heat") erfolglos nach. Der Look von New York in der Nacht wirkt gewöhnlich, die Gewalt abschreckend. Nur Hauptdarsteller Chadwick Boseman macht mit seiner vielschichtigen Figur als kluger und ausgegrenzter Ermittler Eindruck. Auch J.K. Simmons („Whiplash") gefällt als Vorgesetzter Captain McKenna sehr. Brücken an Kirk: Etwas weniger (Gewalt) wäre hier mehr gewesen.

28.1.20

Countdown (2019)

USA 2019 Regie: Justin Dec, mit Elizabeth Lail, Jordan Calloway 91 Min. FSK ab 16

Während im Kino nebenan hoffentlich Meisterwerke von Terrence Malick und Ken Loach starten, schraubt die wöchentliche Dosis Horror die niedrigen Erwartungen in dieses Genre weiter runter: „Countdown" ist ein Film, der sich nicht mal die Mühe macht, sein Countdown-Konzept durch einen Titel zu ersetzen. Eine ach-so-spaßige Handy-App zählt die eigene Lebenszeit runter, und wenn man probiert, daran zu tricksen, kommt ein böser Dämon vorbei.

„Countdown" liefert wieder das übliche Teenager-Abmurksen gemäß „Final Destination". Fröhlich flackern die Neon-Röhren, während man immer mehr vom mysteriösen Wesen sieht, das die Freunde pünktlich umbringt. Nicht mal die schematischen „Spannungs-Momente" sind hier spannend. Es gibt eine kleine Romanze und dann sorgt ein unkonventioneller Priester noch für etwas Exorzismus. Denn im Computer-Code stecken ein paar böse lateinische Sprüche und diese Sprache ist eindeutig des Teufels. Während man bei solchen erbärmlichen Filmchen höchsten sanft entschlummert.

27.1.20

Little Women (2019)

USA 2019 Regie: Greta Gerwig, mit Saoirse Ronan, Emma Watson, Florence Pugh, Eliza Scanlen, Timothée Chalamet, Laura Dern, Meryl Streep, 135 Min. FSK ab 0

Louisa May Alcotts bekannter Jugendroman „Little Women" aus der Mitte des 19. Jahrhunderts in den Händen der großartigen Schauspielerin, Autorin und Regisseurin Greta Gerwig, die als „Frances Ha" und als „Mistress America" so einzigartig das verspätete Erwachsenwerden im heutigen Amerika skizziert hat. Auch im Regiestuhl enttäuscht Gerwig nicht, aber im klassischen Stoff taucht die typische Gerwig nur selten auf.

„Little Women" gab es schon mit Katharine Hepburn, Janet Leigh und mit Winona Ryder in der Hauptrolle. Nun erleben wir die March-Schwestern Jo (Saoirse Ronan), Meg (Emma Watson), Amy (Florence Pugh) und Beth (Eliza Scanlen) mit ihrer Mutter Marmee (Laura Dern) als Familie und liebenswert quirligen Haufen, der beispielsweise zu Weihnachten auszieht, um das eigene Essen mit einer bitterarmen Familie zu teilen. Es ist (Bürger-) Krieg, es wird gestorben, geweint und gelacht, es gibt viel Rührung, einigen Aufruhr. Für das Komische und Romantische ist Laurie (Timothée Chalamet), der langjährige Freund der vier Mädchen zuständig.

„Little Women" ist nicht von ungefähr ein sehr erfolgreicher Roman. Ganz wie bei Jane Austen auf dem alten Kontinent geht es immer noch um gesellschaftliche Normen und darum, auf jeden Fall die Töchter unter die Haube zu bekommen. Was die Erzählerin Jo überhaupt nicht interessiert. Zwar hat sie in New York ihre erste Geschichte verkauft, doch eine harsche Kritik von einem hübschen und intelligenten Franzosen lässt sich wieder nach Hause eilen.

Es gibt als schönen Spiegel der Gesellschafts-Ordnungen die leidenschaftlichen Tänze mit viel Spaß in der Spelunke, den gezwungenen Gesellschaftstanz in schicken Kostümen und speziell die typischen Gerwig-Bewegungen beim heimlichen und ganz unzeitgemäßen Tanz auf der Terrasse. Im grandiosen Reigen außergewöhnlicher Schauspielerinnen spielt Saoirse Ronan Gerwigs Alter Ego, beziehungsweise jüngeres Ego, wie schon in „Lady Bird" verblüffend wiedererkennbar.

„Little women" bleibt über die Jahrzehnte ein netter Stoff fürs Kino, den man nicht nur am aktuellen Stand von Gleichberechtigung messen sollte. Den Bechdel-Test bestehen die Schwestern auf jeden Fall. Ob umgekehrt zwei Männer miteinander nicht über Frauen reden? Genau einmal passiert das wohl! Das Ringen mit der Frauen-Rolle, die keinerlei selbständige Kreativität erlaubt, löst sich in Wohlgefallen auf. Nur in der elegant verschachtelten Chronologie nimmt Greta Gerwig augenzwinkernd Louisa May Alcotts Kampf auf, ihre Figur auch ohne Hochzeit glücklich enden zu lassen. So ist die aktuellste Version von „Little Women" nicht unbedingt ein Film für Gerwig-Fans, aber einer für die Oscars, der nett unterhält und für alle happy endet.

Ein verborgenes Leben (2019)

BRD, USA 2019 (A Hidden Life) Regie: Terrence Malick, mit August Diehl, Valerie Pachner, Maria Simon, Tobias Moretti, Ulrich Matthes, Matthias Schoenaerts, Franz Rogowski, Karl Markovics, Bruno Ganz 174 Min. FSK ab 12

Die (wahre) Geschichte eines von Nazi-Justiz hingerichteten Wehrdienst-Verweigerers aus Österreich ist schnell zusammengefasst: Das paradiesische Leben und Lieben des Österreicher Landwirtes Franz Jägerstätter (August Diehl) und seiner Frau Fani (Valerie Pachner) wird auch durch die Einberufung zur deutschen Armee kaum getrübt. Ist es doch nur eine Grundausbildung, danach darf Franz, als Bauer unabkömmlich, wieder nach Hause. Doch der Naturbursch macht nicht mit bei Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus, er gibt kein Geld für die Nazi-Kriegssammlung und nimmt auch keines von deren „Familien-Förderung". Von der Dorfbevölkerung angefeindet, sucht der auch als Küster tätige Franz vergebens Hilfe bei Priester (Tobias Moretti) und Bischof. Irgendwann wieder einberufen, verweigert der trotzige Bergbewohner den Eid auf Hitler, nimmt keinen der vielen angebotenen Auswege an und wird schließlich hingerichtet.

Dass der reale Franz Jägerstätter 2007 von Papst Benedikt selig gesprochen wurde, ist eine andere (Kirchen-) Geschichte. Selig wird der Filmfan allein angesichts der Bilderströme von Terrence Malick. Es sind die gleichen hypnotisch wunderbaren Malick-Bilder wie aus seinem Cannes-Siegerfilm „The Tree of Life" (2011) mit Brad Pitt, aus dem frühen Erfolg „Days of Heaven" (1978) mit Richard Gere, auch wenn statt des vertrauten Kameramannes Emmanuel Lubezki nun der vertraute Stready Cam-Mann Jörg Widmer filmte. Die größte Veränderung liegt - neben Malicks Verhältnis zur Religion - darin, dass die Erzählung fast durchgängig chronologisch und linear verläuft. Sie fließt mit den Gedanken aus den Briefen der beiden Liebenden. „Ein verborgenes Leben" ist mit Abstand der eingängigste Terrence Malick-Film bislang.

Also eine Geschichte von einem der wenigen, die widerstanden haben. Wie Sophie Scholl, Georg Elser, Oskar Schindler, Janusz Korczak oder auch religiös motiviert, Dietrich Bonhoeffer. Doch noch nie wurden so gewaltig die Gedankenwelten des Widerstands, das Ringen um das richtige Handeln mit berauschender Ästhetik verbunden. Der wunderbare Fluss von Bewegungen im Malick-typischen, wogenden Gras betört anfangs in offenen Landschaften. Während Franz Jägerstätter in St. Radegund, Oberösterreich, lebte, wurde vor den Dolomiten in Süd-Tirol gedreht. Die in natürlichem Licht aufgenommenen Landschaftsbilder erinnern stark an die Gemälde von Giovanni Segantini. Aber auch die immer enger und dunkler werdenden Innen-Räume von Ställen, Bauernhäusern und Bischofssitz, die Kavernen im ersten Gefängnis und immer wieder das bedeutungsvolle Licht am Ende von Raum-Tunneln sind purer Augenschmaus.

August Diehl („Der junge Karl Marx", „Inglourious Basterds", „23") hat mit dieser Michael Kohlhaas-Figur einen der besten Auftritte seiner Karriere bisher: Die riesige gedankenschwere Stirn zeigt den Dickschädel und erinnert ironischerweise an Riefenstahl-Physiognomie. Wobei die Ästhetik Malicks mit ihrer Weichheit das genaue Gegenteil ist. Zahlreiche andere eindrucksvolle Gesichter veredeln diesen außergewöhnlichen Film: Valerie Pachner, Maria Simon, Tobias Moretti , Ulrich Matthes, Matthias Schoenaerts (demnächst als Petrus im Jesus-Film von Malick), Franz Rogowski, Karl Markovics und Bruno Ganz in seiner letzten Rolle als der Richter des Todesurteils, der sich real danach selbst richtete.

Ein großer, grandioser Film, ein „einfacher" Malick für alle. Wäre da nicht die Gretchen-Frage: Malick, wie hast du's mit der Religion? Wurde die extremistische Religiosität der Brad Pitt-Figur in „The Tree of Life" noch mit irren Bildern der Evolution konterkariert, bleibt der gläubige Stolz des Franz Jägerstätter, der auch das Leben von Frau und Kindern opfert, unwidersprochen. Auch weil man nichts vom Grauen von Krieg und Terror-Herrschaft sieht, stellt sich die Frage nach dem „Warum?" umso mehr. Es geht nicht um absolute Freiheit oder Menschenrechte. Es ist nur so, dass Franz Jägerstätter nicht seinen Herrn auswechseln möchte. Hätte er auch Widerstand geleistet, wenn er in einem der vielen Unrechts-Regimes der Kirche gelebt hätte?

Sorry we missed you

Großbritannien, Frankreich, Belgien 2019 Regie: Ken Loach, mit Kris Hitchen, Debbie Honeywood, Rhys Stone, Katie Proctor, Ross Brewster, Charlie Richmond 100 Min. FSK ab 12

Weil er zu stolz für Arbeitslosengeld ist, nimmt Ricky in Newcastle einen Job als Paketbote an. Was „Job" bedeutet, ist allerdings Thema und Kern des Dramas um extrem prekäre Arbeitsverhältnisse und brutale Ausbeutung unter dem Deckmantel neoliberaler Ökonomien. Der neue Film des alten Sozialisten Ken Loach packt, klärt auf und erschüttert.

Bei der Einstellung gibt es viele tolle neue Namen für die alte Arbeit. Das Prinzip ist einfach: Alle Risiken und Investitionen übernimmt nun der Arbeiter, der als Franchise-Nehmer angeblich ein (schein-) selbständiger Unternehmer ist. „Selbst" ist jedoch nur die Selbst-Ausbeutung. Weil Ricky seinen eigenen Transporter mit zur Arbeit beim Paketdienst bringen muss, verkauft seine Frau widerwillig ihr kleines Auto. Nun fährt Abby mit dem Bus zu den Klienten ihres anstrengenden Jobs als Pflegerin. Doch trotz Stress, unverschämten Kunden und Strafzetteln für Falschparken scheint es zu laufen. Ricky und Abby haben tolle Kinder, die Tochter kümmert sich zuhause und auch um den großen, Teenager-arroganten Sprayer-Bruder.

„Sorry we missed you" (Wir haben Sie leider verpasst), benannt nach dem Spruch auf den Paketboten-Zetteln an der Haustür, verläuft lange undramatisch. Immer spannend dabei jedoch die Angst, dass wieder was schief geht. Wie damals, als die Familie mit dem Kredit für das eigene Haus scheiterte. Die Schlinge zieht sich langsam zu. Und als es dann knallt, sind selbstverständlich die Krankenhäuser überfüllt - auch Teil politischer Deregulierung.

Der 83 jährige britische Regisseur und Cannes-Sieger Ken Loach liefert dieses brennende Thema schnell, quasi als Express-Bestellung ins Kino. Jan Böhmermann klagte diese moderne Ausbeutung, die regelmäßig an unserer Haustür klingelt, bereits in seiner Show an. Aber für einen Kino-Film ist „Sorry we missed you" schnell und hoch aktuell. Die tatsächlich mörderischen Arbeitsverhältnisse bekommen mit dieser zugrunde gerichteten Familie ein menschliches Gesicht. Sympathische, ehrliche Leute geben alles, aber sie können es in diesem politisch ungeregelten Ausbeutungs-System nicht schaffen. Das gilt für die Paketboten, aber auch für Abbys Arbeit im Pflegesektor unter Zeitdruck und ohne wirkliche Freizeit.

Das Drama aus den Realitäten unseres täglichen Straßenkampfes um Termine und Parkplätze ist in der Beobachtung (Buch: Paul Laverty) messerscharf: Die Anfahrt wird Abby nicht bezahlt, die Zeiten für die Pflege sind viel zu knapp und unmenschlich. Derweil fällt die Familie auseinander, denn ein freier Tag kostet Ricky 100 Pfund! Diese Situation nimmt der Jugend die Vorbilder und die Perspektive. Und all dieser Wahnsinn findet statt für noch eine Ladung unnötigen Konsums!

26.1.20

Die fantastische Reise des Dr. Dolittle

USA 2019 (The Voyage of Doctor Dolittle) Regie: Stephen Gaghan, mit Robert Downey jr., Harry Collett, Antonio Banderas, Michael Sheen 96 Min.

Ein Eisbär mit Strickmütze, ein ängstlicher Gorilla und ein klug sprechender Papagei - selbst mit einer heftigen Allergie gegenüber sprechenden Tieren macht diese Nach-Erzählung der bekannten Geschichte Dr. Dolittles enormen Spaß. Dank Robert „Ironman" Downey jr. in der heruntergekommenen Hauptrolle gewinnt das Trick-Spektakel sogar menschliche Substanz.

Ein von ihm selbst angeschossenes Eichhörnchen bringt Tommy Stubbins (Harry Collett) hinter die zugewachsenen Mauern eines englischen Anwesens, wo er Dr. John Dolittle aus seiner trauernden Zurückgezogenheit erweckt. Im kunterbunten Durcheinander dauert es nicht lange, bis Dolittle mit seiner Truppe exotischer Tiere das Eichhörnchen operiert und neu motiviert aufbricht, auch gleich auch die vergiftete Königin von England zu retten.

Es ist schwer zu urteilen, wer im königlichen Gemach mehr fasziniert: Die intriganten Hofherren, gespielt von Michael Sheen und Jim Broadbent, oder die Tierwelt inklusive eines Tintenfisches im Aquarium. Dolittle untersucht mit ungewöhnlichen, aber sehr moderne Methoden, wie der Nase des Hundes. Ganz in Tradition von „Sherlock" wird ein Insekt zur Spionage auf dem Bilderrahmen versteckt - es ist keine Wanze. Dann geht es hinaus in die Welt, um die rettende Pflanze auf einer mysteriösen Insel zu finden.

Die Geschichte von Dolittle wird meist vom Anfang her, von der Werdung des Doktors erzählt. Diesmal ist alles am Ende, fast. Nach rasantem Start erlaubt „Die fantastische Reise des Dr. Dolittle" nur wenige Atempausen, dafür viel Action und immer wieder neue, sprechende Tiere. Beim schon begeisternden Trailer fragte man sich noch, wieso Robert Downey jr. so ein abgenutztes Thema übernimmt. Aber nach wenigen Minuten, wenn ein gebrochener Dolittle mit einem ängstlichen Gorilla Schach spielt, und die Figuren kleine, verkleidete Mäuse sind, weiß man dass der exzellente „Sherlock"- und der „Ironman"-Darsteller genau der Richtige dafür ist. Vor allem, da dessen Ironman-Beschäftigung ja vorübergehend auf Eis gelegt ist.

Die Tier-Stimmen von Emma Thompson, Ralph Fiennes, Selena Gomez oder Marion Cotillard im Original tragen zur hohen Qualität dieses schönen Spaßes bei. Antonios Banderas tritt als verrückter Pirat in Konkurrenz zu einem mörderischen Tiger mit Mutterkomplex auf.

„Die fantastische Reise des Dr. Dolittle" von Regisseur und Oscar-Gewinner Stephen Gaghan (Syriana, Traffic) ist im Prinzip ein Abenteuerfilm mit etwas zu klassischem Verlauf im Stile von Indiana Jones. Aber mit Robert Downey jr., fantastischen Trick-Ideen und der Aussicht der Notoperation an einer gefährlichen Drachen-Lady wird es ein umwerfendes Feuerwerk aus Wort- und Bildwitz.

Die Kunst der Nächstenliebe

Frankreich 2018 (Les Bonnes Intentions) Regie: Gilles Legrand, mit Agnès Jaoui, Tim Seyfi, Alban Ivanov 103 Min. FSK ab 0

Spaß mit französischer Fremdenfeindlichkeit scheint mit dieser „Kunst der Nächstenliebe" wieder ins Kino zu fallen. Doch mit einer tollen Agnès Jaoui in der Hauptrolle wird erst überzogene Hilfsbereitschaft vorgeführt, um sich nach viel deftiger Komödie mit ihr zu versöhnen.

Die 50-jährige Isabelle (Agnès Jaou) hilft. Sie hilft Einwanderern, hilft Obdachlosen, hilft Analphabeten. Zuhause sind ihr Mann - ehemaliger Flüchtling! - und die Kinder allerdings hilflos, wenn dauernd Essen und Bekleidung für einen guten Zweck verschwindet. Isabelle ist eigentlich ein ernsthaftes Problem; für die Familie, für den wunderbar schweigsamen Leiter ihrer Erwachsenenbildung, sogar für die Hilfsbedürftigen selbst, die lieber zur deutschen Lehrerin nebenan wollen. Doch „Die Kunst der Nächstenliebe" präsentiert die zwanghafte Helferin in einer komödiantischen Tour de Force ohne Rücksicht auf Verluste. Vor allem, als Isabelle mit Sozialhilfe all ihre Schäfchen zu einem unfähigen Fahrlehrer schickt.

Die Einwanderer in Isabelles Sprachkurs sind niedlich ungeschickt und entsprechen auf satirische Weise genau den Klischees für ihre Region. Sie geben aber auch zusammen mit der alten analphabetischen Französin die typischen Rassisten-Sprüche an die Franzosen zurück. Nach den Regeln des Films ist es sehr erstaunlich, dass sich hier die Hauptfigur so gut wie gar nicht verändert: Von der anstrengenden und für ihre Umgebung kaum erträglichen Wohltäterin wird Isabelle zur von allen geliebten Wohltäterin, weil die anderen ihren Einsatz plötzlich schätzen. Das verläuft nicht ganz platt, Isabelles psychologischer Hintergrund ist - wieder deftig komisch - vorhanden, Jaouis Spiel macht die Figur sympathisch und interessant. Die gesamte Konstruktion rettet sich allerdings nur durch ein sehr schön harmonisches Ende.

19.1.20

Jojo Rabbit

Neuseeland, USA, Tschechien 2019 Regie: Taika Waititi, mit Roman Griffin Davis, Thomasin McKenzie, Scarlett Johansson, Taika Waititi, Sam Rockwell, Rebel Wilson 108 Min. FSK ab 12

Wenn die Beatles zum Vorspann „Gib mir deine Hand" auf Deutsch singen und alle mit erhobener Hand beim Hitlergruß fröhlich durch die Gegend hüpfen, ist wieder etwas Überwindung nötig. Auch „Jojo Rabbit" erzeugt mit seiner komödiantischen Bearbeitung der Nazi-Zeit ein seltsames Gefühl. Doch der neuseeländische „Thor"-Regisseur Taika Waititi zeigt mit der Thor-Geliebten Scarlett Johansson und anderer Super-Besetzung einen exzellent frechen Spaß mit Tiefgang, an dem alles stimmt.

Jojo (Roman Griffin Davis) ist ein guter deutscher Junge und begeisterter Nazi-Fan in einer kleinen idyllischen Stadt, wo der Krieg noch fern ist. Obwohl ihm sein eingebildeter Freund Adolf - Hitler mit tuntigem Habitus - gut zuredet, versagt das einfühlsame Kind im harten Drill der Hitler-Jugend. Dieses militärische Pfadfinder-Lager ist allerdings ein Festival des abgedrehten Humors. Angeführt vom einäugigen und schießwütigen Kriegsausschuss Captain Klenzendorf (irre: Sam Rockwell) als strafversetztem Leiter des kriegsgeilen Jugendlagers, wird hier auf bescheuerte Weise gerannt, gerobbt und mit Granaten geschmissen, bis Jojo von einer erwischt wird. Wieder zuhause bei seiner flotten und schlagfertigen Mutter Rosie (Scarlett Johansson) entdeckt der kleine Nazi, dass eine junge Jüdin unterm Dach versteckt ist. Jojo muss nicht nur mit der vertrackten Situation fertig werden, er findet das Mädchen (Thomasin McKenzie) auch richtig nett.

Nach „Thor" ist „Jojo Rabbit" der nächste Hammer von Taika Waititi: Basierend auf dem Buch „Caging Skies" vom Christine Leunens legt er als Hitler-Darsteller und Regisseur gleich am Anfang äußerst flott und gekonnt einen Mix aus Original-Aufnahmen und Spielfilm-Momenten hin. Das hat was von „Doctor Strangelove" und Mel Brooks. Die Witze sind gekonnt, die Schauspieler klasse, der Humor frech und treffend. Kulissen und Kostüme erstklassig mit einem Touch ins Komische. Die Dialoge spritzig, witzig und geistreich. Irgendwann bleibt Jojo im Gespräch mit dem heimlichen Gast nichts anderes übrig, als den ganzen Nazi-Blödsinn in Frage zu stellen. Denn „du bist kein Nazi, Jojo, du bist nur ein Zehnjähriger, der gerne lustige Uniformen trägt und dazugehören will!"

Die Entdeckung des jüdischen Mädchens auf dem Dachboden ist eine Szene allerbesten Horrors, gefolgt von perfektem Slapstick. Der Flüchtling ist kein ängstliches Opfer, sondern eine schlagfertige, ironische und kluge Frau. Als die Gestapo mit gleich einem ganzen Haufen dunkler Gestalten auftaucht, wird es kurz spannend, aber dann direkt wieder aberwitzig komisch mit der ewigen Heil Hitlerei.

„Jojo Rabbit" ist ein großartiger Film, eine tolle Komödie mit viel Tiefgang und guten Gedanken, aber auch Tragik. Er brilliert zudem mit prominenten Darstellern: Sam Rockwell malt als schwuler Captain Klenzendorf an schillernden Fantasie-Uniformen für den Endkampf und äußert sehr sarkastische Bemerkungen zur Lage der deutschen Kriegsführung. Ebenso exzellent Scarlett Johansson als Jojos kluge Mutter, die für den Widerstand arbeitet. („Nicht jeder hat das Glück, dämlich aus zu sehen. Ich zum Beispiel bin damit verflucht, sehr gut auszusehen.") Rebel Wilson ist gewohnt prollig provokant als antisemitische Jugendführerin, die dem Führer schon 18 Kinder geboren hat. Taika Waititi als eingebildeter Hitler ist einfach bescheuert komisch. Er sagte in „The Daily Show", dass es seltsam sei, 2019 noch Menschen erklären zu müssen, keine Nazis zu sein. „Jojo Rabbit" verursacht zwar nicht die tiefe Erschütterung von Roberto Benignis „Das Leben ist schön", aber wieder kämpft das Lachen unterhaltsam gegen eine ernste Sache an.

17.1.20

Die Wütenden - Les Misérables

Frankreich 2019 Regie: Ladj Ly, mit Damien Bonnard, Alexis Manenti, Djebril Zonga, Issa Perica, 102 Min.

Vergessen Sie alles, was Sie an „Problemfilmen" aus Banlieues, Kiezen oder Ghettos gesehen haben: Regisseur Ladj Ly macht als Debütant aus zwei Tagen mit drei Polizisten im Hexenkessel der Straßen von Montfermeil eine erschütternde Film-Sensation. „Les Misérables" gewann den Preis der Jury in Cannes und ist französischer Oscar-Kandidat.

Noch hängt die französische Fahne sehr symbolträchtig auf den Schultern des jungen dunkelhäutigen Issa (Issa Perica) und dann geht es nach Paris zum Eiffelturm, um die Nationalhymne zu singen und die Nationalmannschaft zu feiern. Aber schon der nächste Tag sieht anders aus: Die Polizisten Chris (Alexis Manenti) und Gwada (Djebril Zonga) gehen mit dem Neuen, Stéphane (Damien Bonnard), um als wenn der ein Häftling wäre. Er wird grob und deftig vorgeführt, bis die Albernheiten in dramatischen Ernst umkippen.

Ein Zigeuner genannte Zirkustruppe aus lauter Muskelschränken baut sich vor den Schwarzen um den „Bürgermeister" auf, weil Johnny entführt wurde. Das Aufeinandertreffen von viel zu viel Steroiden und Adrenalin explodiert fast, ohne dass die eine Gruppe überhaupt weiß, wer dieser Johnny ist, von denen die andern so wütend reden. Es stellt sich heraus, dass ein Löwenbaby geklaut wurde und der sogenannte Bürgermeister bekommt eine Frist von 24 Stunden, das Tier zu finden.

Die drei Polizisten stecken mitten drin in diesem drohenden Kleinkrieg und entdecken bald, dass Issa den kleinen Löwen geklaut hat. Beim Versuch den Jungen festzunehmen, müssen sich die Ordnungshüter einer ganzen Schar wütender Jugendlicher erwehren. Ein Schuss mit Gummigeschoss verletzt Issa schwer und eine Drohne hat alles aufgezeichnet.

Viktor Hugos siedelte im Handlungsort Montfermeil seinen Roman „Les misérables" (Die Elenden) an, Regisseur Ladj Ly wuchs dort auf und hier begannen auch 2005 schwere Bevölkerungsunruhen, die sich im nahen Paris fortsetzten. Während die Drohnen-Aufnahmen im wahrsten Sinne des Wortes einen Überblick des Problem-Viertels verschaffen, zeigt die Handlung dramatische Sozialstrukturen. Muslimische Seelenfänger kümmern sich um die vom guten Weg abgewichene Jugend, kriminelle Organisationen sorgen selbst für ihre eigene Ordnung.

Das interessante Trio aus übergriffigem weißen Rassisten („Rosa Schwein" genannt), einem zurückhaltenden Nordafrikaner und dem Neuling, der noch weiß, wie die Gesetze eigentlich lauten, zeigt dank sehr, sehr guter Schauspieler vielschichtige Figuren. Ladj Ly zaubert in seinem Spielfilmdebüt direkt einen enormen einnehmender Wechsel zwischen extrem spannenden und intensiven ruhigen Szenen.

Das Bild dieses Viertels ist erschreckend wie „Gomorrha" und „Paranza", die italienischen Filme über extrem brutale jugendliche Gangster. Aber im Geist des Films steckt auch das mahnende Moment des Victor Hugo-Zitates vom Abspann: „Merkt Euch, Freunde! Es gibt weder Unkraut noch schlechte Menschen. Es gibt bloß schlechte Gärtner."

12.1.20

Crescendo

BRD 2019 Regie: Dror Zahavi, mit Peter Simonischek, Bibiana Beglau, Daniel Donskoy, Sabrina Amali, Mehdi Meskar 112 Min. FSK ab 6

Musik zur Völkerverständigung ist immer eine schöne Idee, nur in diesem Film funktioniert das gar nicht - wie fast alles andere. Ob Palästinenser oder Israeli, darauf dass „Crescendo" nicht sehenswert ist, wird man sich gut einigen können.

Der geschätzte Dirigent Eduard Sporck (Peter Simonischek) soll zur Begleitung von Nahost-Friedensverhandlungen in Südtirol ein Orchester aus jungen Palästinenser und Israelis zusammenführen. Die Violinistin Layla und der Klarinettist Omar, eine eigenwillige Tochter und ein unselbstständiger Sohn aus der Westbank, symbolisieren die guten jungen Menschen: Sie üben, während die anderen auf den Straßen demonstrieren. Bis das Tränengas in die Wohnung kommt. Auch die Schikanen durch herrschsüchtige Menschen am israelischen Kontrollpunkt dürfen nicht fehlen. Man hat also alles schon mal gesehen, aber es wird zur Sicherheit noch einmal gesagt: „Sie kommen mit Panzern und sie spielt Geige." Ebenso ermüdend wie die Leer- und Lehrsätze sind Vorspielen und Casting.

Erst in Südtirol (selbst auch umkämpft, aber das erwähnt der Film nicht) schreien die Gegner ihre Wut hinaus und erzählen dann ihre Geschichten. Das erste Mal, dass dieser Film interessiert. Sporck geht es weniger um Musik, als um eine Gruppentherapie. Dass er seine Probleme als Kind von Nazi-Eltern als völlig unpassendes Beispiel für mögliche Versöhnung anführt, ist der Start in ein Finale, in dem alles nur noch schlimmer wird.

Nicht erst beim völlig unnötigen Unfall am Ende erkennt man, „Crescendo" ist von vorne bis hinten erschreckend schlecht konstruiert. Alice Brauner setzt mit dem Film ehrenwert das Erbe ihres legendären Vaters Artur Brauner fort. Doch bei der Regie des jungen Routiniers Dror Zahavi gilt: „Gut gemeint reicht nicht".

1917

USA, Großbritannien 2019 Regie: Sam Mendes, mit George MacKay, Dean-Charles Chapman, Mark Strong, Colin Firth und Benedict Cumberbatch 119 Min.

Eine lange Plansequenz durch die britischen Laufgräben des 1. Weltkrieges macht nicht so sehr die Grauen des bewaffneten Kampfes klar, als vielmehr die Ambitionen dieses filmischen Großangriffs: Sam Mendes („American Beauty", „James Bond Skyfall" und „James Bond Spectre") erweckt über fast zwei Stunden Kriegsfilm den Eindruck, der Überlebenskampfes eines friedliebenden Soldaten wäre an einem Stück aufgenommen worden. Kann man so machen, bringt als einzigen Mehrwert aber höchstens ein paar Oscars.

Die beiden britischen Soldaten Schofield (George Mackay) und Blake (Dean-Charles Chapman) sollen ziemlich unsinnig allein durch von den Deutschen verlassene Kampflinien ziehen, um eine andere Truppe vor einem Hinterhalt zu warnen. Klar, die bösen Gegner haben die Telefonleitungen zerstört! Blake ist besonders motiviert, denn sein Bruder würde am nächsten Tag zu den Soldaten gehören, die mit dem üblichen Geschrei in eine Falle der hinterhältigen Deutschen stürmen. So geht es raus aus den eigenen Laufgräben, über das Schlachtfeld mit den vielen Leichen und Pferde-Kadavern, durch Stacheldraht und Bombenkrater. Die deutschen Stellungen sind tatsächlich verlassen, aber eine Sprengfalle erweist sich als ebenso bösartig wie später die Heckenschützen.

Ja, es ist sehr spannend mit dieser Falle in den Gängen. Und eklig mit den verwesten und zerfetzten Leichen, den Aasvögel und Ratten. Dann stürzt auf freiem Feld nach Luftkampf ein Roter Baron besonders spektakulär ab. Und als später der Überlebende des Duos durch eine völlig zerstörte Stadt rennt, sind diese nächtlichen Szenarien albtraumhaft. Dabei werden immer wieder Schönheit und Grauen konfrontiert: Während Kirschblüten in den Fluss schneien, muss der einsame Soldat über reihenweise aufgeblähte Wasserleichen klettern. Auch in diesem Gegeneinander liegt wieder ein V-Effekt, die Ver- und Entfremdung von den eigentlich erschütternden Handlungen durch ästhetischen Schnickschnack.

Sam Mendes und sein Kameramann Roger Deakins schufen eindrucksvolle und erschütternde Bilder von Grauen und Zerstörung - bei denen man sich immer wieder fragt: „Wie haben die das gemacht?". Die Plansequenz ohne Schnitt war schon immer eine besondere Herausforderung für Filmemacher. Orson Welles machte es in „Touch of Evil", Hitchcock bei „Cocktail für eine Leiche". Ironischerweise erzeugt bei 1917 gerade die Kunstfertigkeit eines Film ohne Schnitt (oder nur mit kaschiertem) weniger Realismus: Denn anstatt die Handlungsorte als real wahrzunehmen, fragt man sich immer, wie diese angeblich ununterbrochenen Szenen hintereinander gesetzt wurden und wo der unsichtbare Schnitt versteckt liegt.

Aber vor allem täuscht die Trickserei drüber hinweg, dass „1917" im Jahr 2020 kein Antikriegs-Film ist, sondern ein einseitiges Abenteuerfilmchen vor Kriegskulisse. Zwar hat auch Mendes einen großen Moment vom Wahnsinn des Krieges, im Gegensatz zu Spielbergs „Saving Privat Ryan" nicht am Anfang, sondern am Ende. Doch das hier ist wieder das uralte, furchtbare Heldentum für „gute" Seite des Krieges und nicht für die Menschlichkeit. Obwohl hier kurioserweise ein Soldat durch den ganzen Film läuft und Wohltäter ist. Die mörderischen Soldaten gibt es nur auf der Seite der Gegner. Da kann man nur Peter Jacksons Dokumentation zum 1. Weltkrieg „They Shall Not Grow Old" oder Peter Weirs „Gallipoli" über das wahre Abschlachten empfehlen.

Lindenberg! Mach dein Ding

BRD 2019 Regie: Hermine Huntgeburth, mit Jan Bülow, Max von der Groeben, Charly Hübner, Julia Jentsch, Detlev Buck 135 Min. FSK ab 12

Erstaunlich gut imitiert Jan Bülow den jungen Lindenberg mit kleinem Schmollmund und linkischen Bewegungen. Muss er auch, denn „Lindenberg! Mach dein Ding" ist nicht die übliche Erfolgs-Biografie zum Mitschunkeln der Hits - der Film hört mit dem ersten Erfolg auf. Und beginnt in den Fünfzigern in Gronau mit einem ganz kleinen Udo, der seinen besoffenen Vater (großartig tragisch: Charly Hübner) trommelnd auf dem Metalleimer begleitet. Trotz Familientradition wird aus diesem Lindenberg kein Klempner, sondern Schlagzeuger mit Engagement in einem Hamburger Sex Club. Der Film wird immer wieder in herrliches Reeperbahn-Retro rum um die heute legendäre „Onkel Pö's Carnegie Hall" eintauchen.

Auf der Reeperbahn verliebt sich Udo in eine Prostituierte und macht ungelenk auf Zuhälter. Beim LSD-Trip lässt ihn die Animation Sternchen und Bötchen sehen. Die Kellner-Lehre 1963 in Düsseldorf wird für das Nacht- und Musikerleben schnell geschmissen. Raffiniert trinkt Udo einen Jazz-Trommler unterm Tisch und übernimmt seinen Posten. Doch statt Jazz gibt es dann Rock für US-Soldaten in Libyen. Bis er mit „Funny Valentine" ganz ins Rampenlicht tritt und eine Auffrischung des Kindheitstrauma erlebt. Denn bei viel Spaß und Anekdötchen kommt die Karriere nur langsam in die Gänge. Auch weil der saufende Vater einst meinte, „Lindenbergs werden Klempner und sonst nix". (Dass Lindenberg auf der von Klaus Doldinger komponierten Titelmusik zum „Tatort" Schlagzeug spielte, wird nicht erwähnt.)

Nein, diese Filmbiografie über die Jugend und ersten Jahre des 1946 geborenen Musikers Udo Lindenberg liefert kein „Greatest Hits". Glen Millers „Chattanooga Choo Choo" deutet mal den späteren „Sonderzug nach Pankow" an, aber erst einmal war in Deutschland nur Platz für englischen Rock oder Schlager. In den dauernden witzigen Treffen mit dem Musik-Produzenten Mattheisen, sagenhaft gut von Detlev Buck gespielt, entwickelt sich die Idee, mal was anderes zu machen, eher komisch und beiläufig. Vor allem lebt der schüchtern wirkende Udo seine Verrücktheiten aus. Und ein paar Liebesgeschichten, die später als „Cello" und „Mädchen aus Ost-Berlin" zu Hits wurden, sind auch noch zu erzählen.

„Lindenberg" erzählt nur exakt bis zum ersten großen Konzert anlässlich der Veröffentlichung der ersten LP Andrea Doria. Udo kämpft immer noch mit Lampenfieber und mangelndem Selbstbewusstsein. Die im ganzen Film mitlaufende Sauferei macht den Auftritt auch nicht leichter. Mit diesem Höhepunkt sorgt die exzellente Regisseurin Hermine Huntgeburth („Tom Sawyer" 2011, „Die weiße Massai" 2005) für etwas Spannung. Spoiler: Udo wird es schaffen! Ansonsten ist Udo Lindenberg kein Freddy Mercury - bei allen deutlich sichtbaren Qualitäten, den klasse Darstellern, den tollen Kulissen und den Fabulier-Fähigkeiten der Biografen geriet das lange, überraschend aufregende Leben von Udo Lindenberg in diesem Film dann doch zu lang.

Vom Gießen des Zitronenbaums

Frankreich, Katar, BRD, Kanada, Türkei, Palästina 2019 (It must be Heaven) Regie: Elia Suleiman, mit Elia Suleiman, Gael García Bernal, Ali Suliman 97 Min. FSK ab 0

Wer aus Nazareth kommt, muss sich angesichts der wundersamen Vergangenheit dieser Stadt eigentlich über nichts mehr wundern. Doch einer der Nazarener wundert sich derart klug und komisch, dass seine Filme auf internationalen Festivals geliebt werden: Elia Suleiman „Göttliche Intervention" wurde 2002 im Rahmen des Europäischen Filmpreises ausgezeichnet. „Vom Gießen des Zitronenbaums" erhielt in Cannes eine lobende Erwähnung der internationalen Wettbewerbsjury und wurde mit dem FIPRESCI-Preis für den Besten Spielfilm ausgezeichnet.

Elia Suleiman beginnt seine Sammlung skurriler Szenen mit irgendeiner christlichen Zeremonie in Nazareth, wo der Priester prügelnd nachhelfen muss, um die Kirchtüren zu öffnen. Zuhause klaut der Nachbar Elia Suleiman (gespielt von Elia Suleiman) die Zitronen vom Baum und meint, er hätte ja vorher geklopft. In einem ansonsten meist menschenleeren Paris laufen einen Nina Simone-Song lang nur Models auf den Straßen herum. Die Polizisten fahren auf Sedgeways oder Skates in Formation. Die Glascontainer sind überfüllt, die Armen haben Hunger. Aber der Rettungsdienst macht einen Hausbesuch bei einem Obdachlosen und liefern ein komplettes allergenfreies Menü. Zwei dunkelhäutige Straßenkehrer spielen Gold mit Getränkedosen. In New York trägt jeder ein schweres Maschinengewehr mit sich rum, aber für einen Engel mit palästinensischer Flagge rückt die Polizei zu Leonard Cohens „Darkness" groß aus.

Wenn man unbedingt „Handlung" will, dient die Reise dem Besuch von Produzenten für sein neues Filmprojekt. Die sagen ihm allerdings, es sei „nicht palästinensisch genug". Was durchaus für „Vom Gießen des Zitronenbaums" gelten kann. Der gnadenlose Kampf um die Sitzmöbel an einem Pariser Brunnen nimmt mehr Raum ein als der Kampf um die Zweistaaten-Lösung. Erst das Ende mit der ganz einfachen Szenen einer Frau im Olivenhain und feiernden Menschen in einer Disco ruft berührende Heimatliebe auf. Das allerdings nicht mit dem heute gebräuchlichen Lautsprecher-Stil - es gibt keine filmischen Großbuchstaben und Ausrufeze1chen.

Dafür reichlich dieser amüsanten Momente, die man von Suleimans skurrilem Meisterwerk „Göttliche Intervention" kennt. Er lässt lachen und staunen, dieser wunderbare Kommentar auf gesellschaftliche Zustände, die sich als erstaunlich universal erweisen. Überall gibt es grundaggressive, bedrohliche Typen, die ihn dauernd anstarren. Er starrt zurück. Suleimans Suleiman sagt ansonsten so gut wie nie etwas und schaut regungslos. Nur im Flugzeug taucht ein Hauch von Panik auf und die Rettung eines verirrten Spatzen entlockt ihm ein Lächeln. Elia Suleiman ist ein Flaneur, ein „perfekter Fremder", manchmal ein palästinensischer Jacques Tati. Unter Strohhut der leicht erstaunte Beobachter einer deutlich verrückten Welt. Mit einem Blick in die Kamera, der fragt „Was haltet ihr davon?"

Weathering with You

Japan 2019 (Tenki no ko) Regie: Makoto Shinkai 113 Min. FSK ab 6

Nach dem sagenhaften Welterfolg der Fantasy-Romantik von „Your Name" führt der japanische Regisseur Makoto Shinkai nun das Konzept einer hochwertigen und ideenreichen Animation für Teenager und Erwachsene fort. Diesmal flieht der 15 jährige Schüler Hodaka von seiner Insel. Bald in Tokyos Dauerregen ohne Geld und Dach überm Kopf, nimmt ihn ein verrückter Kerl auf und lässt ihn für sein Okkultismus-Magazin arbeiten. Als Hodaka auf Hina trifft, geht die Sonne auf. Tatsächlich, denn das Mädchen kann mit einem Gebet den Himmel aufklären lassen. Während es nur regnete, seit er in der Stadt ist, sorgt sie auf Bestellung lokales für gutes Wetter. Bald bieten die Teenager diesen Service gegen Geld für Straßenfeste, Geburtstage und andere Events an. Ein großer Erfolg, der aber bei „Sunshine Girl" Hina Spuren hinterlässt.

„Weathering with You" ist erneut eine ganz große Fantasy-Geschichte, aufwändig gezeichnet und mit tollen Figuren ausgestattet. Die Aufträge für Hina geben einen Querschnitt der Menschen in Tokyo und dessen, was sie bewegt. Zwar zeigt die Teenager-Geschichte, die Romantik und Fantastisches gut ausbalanciert, ab und zu die übertriebenen Gesten und Grimassen des Manga. Dann aber auch einfühlsame Figurenzeichnungen und ganz alltägliche Probleme. Ein sehr dramatisches Finale hebt mit wunderbaren Bildern wortwörtlich ab und lässt Tokyo überflutet zurück. Das ist schon so herrlich fantastisch, dass dies allein den Film lohnt.

7.1.20

Queen & Slim

USA, Kanada 2019 Regie: Melina Matsoukas, mit Daniel Kaluuya, Jodie Turner-Smith 132 Min. FSK ab 12

Das erste Date von Queen (Jodie Turner-Smith) und Slim (Daniel Kaluuya) wird durch die brutale Schikane eines schiesswütigen Polizisten jäh beendet. Das Auto mit dem dunkelhäutigen Paar hatte eine weiße Linie touchiert und wird nun kontrolliert, als ob ein Mordverdacht vorliegt. Als der weiße Polizist dann seine Waffe zieht und auf Queen schießt, wird der Rassist im folgenden Gerangel durch seine eigene Waffe getötet. Die klügere Anwältin weiß, dass beide in den USA keine Gerechtigkeit erwarten können und ihnen Flucht als einziger Ausweg bleibt. Es beginnt ein abenteuerlicher Road-Trip in Richtung Kuba mit Polizei und Medien auf ihren Fersen.

Nach diesem Schock zu Anfang des Films findet „Queen & Slim" wieder zurück zu einem ruhigen, aber doch fesselnden Rhythmus. Das Kennenlernen des Paares, das sich über eine Dating-App verabredet hatte, bekommt viel Zeit. Queen erweist sich als resolute und wütende Frau, die Ungerechtigkeiten nicht leiden kann. Slim, als etwas hilfloser und naiver Kerl, der vor allem wieder zu seiner Familie will. Auch wenn „Queen & Slim" als „schwarze Bonnie und Clyde" gefeiert werden, sind die beiden keine coolen Gangster. Sie machen viel Blödsinn im netten und gefährlichen Sinne. Währenddessen stellt sich heraus, dass der Polizist schon vorher einen Schwarzen umgebracht hatte. Teile der Bevölkerung glorifiziert die Fliehenden als „Black Panther", es gibt Solidarität und wegen eines hohen Kopfgeldes auch Verrat.

Auch wenn immer wieder durchaus brenzlige Details hinzukommen, gerät der hervorragend gespielte und inszenierte „Queen & Slim" von Regisseurin Melina Matsoukas und Drehbuchautorin Lena Waithe nie zum gehetzten Action-Spektakel. Die Reise verwandelt beide, nicht nur äußerlich. Es werden zwischendurch alte, bewegende Familiengeschichten in Ordnung gebracht und auch für einen atmosphärisch starken Blues-Abend im Süden der USA mit poetischer Liebes-Szene bleibt Zeit. Die zweifache Grammy-Gewinnerin Melina Matsoukas (Master of None) macht aus ihrem gelungenen Kinoregiedebüt eine berührende menschliche Geschichte und eine starke Anklage des mörderischen Rassismus in den USA.