31.3.23

Olaf Jagger

Deutschland 2022, Regie: Heike Fink, mit Olaf Schubert, Franz-Jürgen Zigelski, Ursula-Rosamaria Gottert, 100 Min., FSK: ab 6

Die Mockumentary um die Kunstfigur Olaf Schubert führt den Komiker zu der Entdeckung, dass seine Mutter eine kurze Affäre mit Mick Jagger hatte. Was bei einer DDR-Journalistin in den Sechzigern schon abenteuerlich ist. Nun ist in Museen von Rolling Stones-Fans und auch im Stasi-Unterlagen-Archiv zu klären, wie denn Mutter Schubert zu einem Stones-Konzert nach Münster in den Westen kam. Dabei wächst in Olaf Schubert der Gedanke, er könne in Wirklichkeit der Sohn von Jagger sein.

„Olaf Jagger" ist mal wieder die im Grundgesetz verankerte typische TV-Komödie, auf die jeder mittelmäßige Scherzkeks ein Recht hat. Nur diesmal fällt sie besonders wenig komisch aus. Sie erschreckt mit äußerst bescheidener Geschichte sowie lokal beschränktem Humor. Alles wirkt wie aus Fundstücken und wirren Ideen zusammengeschustert. Ein abgewrackter Ost-Sender wird besucht, Ost-Prominente und Musikgeschichte kommen ebenso kurz vor wie ein paar reale Termine des Komikers im Pullunder. Gestellte Doku-Szenen mit mäßig gespielter Aufregung („Jetzt hau ab!") erscheinen ebenso sinnlos wie die ganze Idee. Das ist sehr dünn für einen 90-Minüter.

Die Kairo Verschwörung

Schweden 2022 (Walad Min Al Janna) Regie: Tarik Saleh, mit Tawfeek Barhom, Fares Fares, Mehdi Dehbi, 121 Min., FSK: ab 12

Ein ägyptischer Fischersohn wird wegen seines eifrigen Koran-Studiums an der renommierte al-Azhar-Universität Kairos aufgenommen. Im Kampf um die Nachfolge des Großimams, des Oberhauptes der ältesten und angesehensten Institution des Islams, kommt der neue Student in Kontakt mit dem Geheimdienst. Adam (Tawfeek Barhom) soll die radikalste Gruppierung unterwandern, um letztlich einen staatshörigen Kandidaten durchzusetzen. Dabei verrät er einen Kommilitonen, um bei der Studenten-Gruppe anerkannt zu werden, vor der alle Angst haben.

Nach der recht behäbigen und wenig inspirierten Einführung legt die spannende Spionage-Geschichte „Die Kairo Verschwörung" moralische Abgründe unter den Gläubigen und zynische Machtspiele bei der Staatssicherheit bloß. Eindrucksvoll dabei der schwedische Schauspieler Fares Fares („Zero Dark Thirty", „Die Verachtung", „Chernobyl") als skrupelloser Geheimdienstler. Zwischen den Intrigen der Mächtigen auf beiden Seiten bleibt Adam ein passiver Spielball. Fast im ganzen Film ist Verwirrung sein bestimmender Gesichtsausdruck. Zunehmend verblüfft er allerdings alle Beteiligten mit einer großen Weisheit im Handeln. So gleicht er die Interessen beider Seiten aus und ist „Die Kairo Verschwörung" der wundersame Weg eines, der rein aus der ganzen Korruption herauskommt.

„Die Kairo Verschwörung" ist weniger spannender Politthriller als eine Anklage des ägyptischen Terrorregimes. Der gekonnt inszenierte Film von Tarik Saleh („The Contractor", „Die Nile Hilton Affäre", „Westworld") wurde selbstverständlich nicht in Ägypten, sondern in der Süleymaniye-Moschee in Istanbul gedreht. Er liefert Innenansichten der extrem Religiösen und der Staatspolizei eines Unterdrücker-Regimes. So eindrucksvoll geordnet die Bilder der Männer unter ihrem rotweißen Fez zwischen den Akademie-Mauern sind, so verrottet zeigt sich die Gesellschaft mit ihren Intrigen dahinter.

30.3.23

Neneh Superstar


Frankreich 2022, Regie: Ramzi Ben Sliman, mit Oumy Bruni Garrel, Maïwenn, Aïssa Maïga, 98 Min., FSK: ab 6

Schreiend vor Glück feiert die 12-jährige Neneh (Oumy Bruni Garrel) die Aufnahme an der renommierten Ballettschule der Pariser Oper. Als einziges schwarzes Mädchen aus der Banlieue unter lauter reichen weißen Kindern. Beim Vortanzen kann sie im Gegensatz zu den weißen Prinzesschen mit ihren vielen Preisen und teuren Lehrern nur das Studium von YouTube-Videos und viel Leidenschaft vorweisen.

Die Auswahl im Kreise der Lehrer ist dann eine heftige Ansammlung von Rassismen: Die dunkle Hautfarbe wäre eine Ablenkung auf der Bühne, Schwäne im Schwanensee seien doch weiß … Dazu pur rassistische Meinungen über „den schwarzen Körper". Vor allem die Direktorin des Balletts Marianne Belage (Maïwenn) erweist sich als Gegnerin Nenehs und als Intrigantin. Doch der Chef der Oper bringt mit seinem letzten Wort das Mädchen auf die Internatsschule. Was Neneh enorm glücklich macht - mitreißend gespielt von der Newcomerin Oumy Bruni Garrel, übrigens adoptierte Tochter der Schauspielstars Valeria Bruni Tedeschi und Louis Garrel.

Das sehr lebendige Mädchen lässt sich von den vielen Vorbehalten und dem ekligen Mobbing ihrer elitären Mitschülerin nicht in ihrer unerschütterlichen Begeisterung bremsen. Aber wenn sie sich gegen die fiesen Aktionen der anderen Tänzerinnen wehrt, bekommt nur sie einen Verweis. Und als sie als beste Tänzerin der Klasse trotzdem nicht die Hauptrolle des Schneewittchens tanzen darf, kommt es zum Eklat mit der Direktorin Belage.

„Neneh Superstar" ist keiner der inflationären Mixfilme aus Hiphop und klassischem Ballett, auch wenn Neneh ihre starken Emotionen immer im modernen Tanz ausdrückt. Es gibt auch nicht die üblichen Drogen- und Kriminalitätsklischees aus den Banlieues, sondern einen rührend starken Rückhalt der Familie. Der ungesunde Körperwahn wird bei der regelmäßigen Vermessung der Körperteile gestreift, ansonsten isst das unbekümmerte Mädchen dauernd und ignoriert Diäten. Während die Erfolgsgeschichte von Neneh mit vorhersehbaren Konflikten verläuft, entwickelt sich ihre Gegnerin Belage zu faszinierend vielschichtigen Figur: Die extrem strenge Direktorin stammt selbst aus den Banlieues und ist nordafrikanischer Herkunft. Sie änderte ihren arabischen Namen Myriam Bel-Hadj in den französischen Marianne Belage, Kontaktlinsen machen ihre braunen Augen blau. Der gleiche Hintergrund führt aber nicht zu Solidarität. Im Gegenteil: So wie Myriam / Marianne ihre eigene Vergangenheit ausgemerzt hat, will sie auch Neneh von der Schule verschwinden lassen. Als eine Journalistin Diversität und soziologische Hintergründe an der Schule untersucht, bricht die Lüge zusammen.  

Diese beiden Schicksale geben in einem nicht überdramatischen und auch für ältere Kinder geeigneten Film eine Ahnung von der Ausgrenzung wegen Hautfarbe und Herkunft. Dank toller Darstellung der komplexen Charaktere und dank der positiven Haltung von Neneh wurde es ein Mut machender Film.

27.3.23

The Ordinaries

Deutschland 2022, Regie: Sophie Linnenbaum, mit Fine Sendel, Sira-Anna Faal, Jule Böwe, 124 Min., FSK: ab 12

Der geniale Abschluss-Film von Regisseurin Sophie Linnenbaum dringt mit einer fantastischen Geschichte ins Räderwerk der „Film-Welt" vor. Die Unterdrückung der „Herausgeschnittenen" in einer Welt aus Haupt- und Nebenfiguren erzählt von Ausgrenzung und dem Erwachsenwerden.

Paula Feinmann (Fine Sendel) steht vor einem großen Schritt in ihrem jungen Leben, bald hat sie an der „Hauptfiguren-Schule" die Prüfung zur Hauptfigur. Sie ist Klassenbeste im Klippenhängen, beherrscht Zeitlupe und panisches Schreien im Schlaf – nur das Erzeugen emotionaler Musik mit dem Herzleser an der Brust will ihr einfach nicht gelingen. Noch lebt sie unter den Nebenfiguren, die wie ihre alleinerziehende Mutter blass aussehen und bekleidet sind, nur wenige Sätze haben und ein eintöniges Leben. Ihre beste Freundin Hannah (Sira-Anna Faal) stammt hingegen aus einer Familie von Hauptfiguren. Dort ist zuhause alles farbig und voller Dialog, dauernd wird gesungen und getanzt.

Paula sucht im Archiv vergeblich nach Flashbacks des verstorbenen Vaters, der eine heldenhafte Hauptfigur gewesen und bei „dem Massaker" gestorben sein soll. Hannahs Hausmädchen Hilde (Henning Peker), als mürrischer Mann eindeutig eine „Fehlbesetzung", zeigt Paula, dass es noch ein anderes Archiv und eine andere Welt gibt: Die Zone der „Outtakes", der Herausgeschnittenen, ist ein Elendsviertel voller fehlerhafter Figuren. Bei einer Wirtin kommen die Lacher vom Band völlig deplatziert, identische Doubles trinken zusammen ein Bier, ein alter Bekannter von Paulas Vater hat einen verpixelten Mund, er wurde zur Sprachlosigkeit zensiert. Schließlich erfährt Paula, dass „das Massaker" hier als Revolution der Outtakes angesehen wird. Sie wehrt sich nun selbst gegen die unmenschliche Klassengesellschaft. Behilflich ist ihr der sympathische junge Simon (Noah Tinwa), der an Filmsprüngen leidet, also nur lückenhaft auftritt, und illegal Geräusche verkauft.

Es ist fantastisch, wie Sophie Linnenbaum in ihrem Abschlussfilm an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf aus dem Gegeneinander von Haupt- und Nebenfiguren eine eigene Welt schafft: Kostüme, Ausstattung und Bildgestaltung brauchen den Vergleich zu großen Hollywood-Produktionen nicht zu scheuen. Tatsächlich muss man immer wieder an den dystopischen „Brazil" oder die Medien-Satire „Die Truman Show" denken und vor allem an „Pleasantville – Zu schön, um wahr zu sein", mit seiner schwarzweißen Scheinwelt im Fernseher.

„The Ordinaries" wirkt dergestalt altmodisch mit Science-Fiction-Einsprengseln. Es ist ein Film voller wunderbarer Details. So trifft man Verabredungen nicht an Adressen, sondern in Szenen wie „Nummer 37, außen Nacht". Der Herzleser auf Paulas Brust macht Störgeräusche statt der üblichen Filmmusik in emotionalen Momenten. Großartig auch, wie Paulas Mutter Elisa Feinmann (Jule Böwe) mit dem einzigen ihr zur Verfügung stehenden Satz „Ich habe mir Sorgen gemacht" ein ganzes Universum der Mutterliebe ausdrückt. Die wahre Hauptfigur Fine Sendel darf mit ihrem prägnanten und nicht durchschnittlichen Gesicht als Entdeckung gelten.

In diese wunderbare Ideen- und ästhetische Vielfalt ihrer „Film-Welt" setzt Regisseurin Linnenbaum das politische Thema der Ausgrenzung durch eine rechtskonservative Elite von farbigen Hauptfiguren. Das passt und ist auf begeisternde Weise gelungen.

26.3.23

Maigret

Frankreich, Belgien 2022, Regie: Patrice Leconte, mit Gérard Depardieu, Jade Labeste, Mélanie Bernier, 88 Min., FSK: ab 12

Eine junge Frau wird erstochen aufgefunden und Kommissar Maigret (Gérard Depardieu) macht es sich zur Obsession, die Identität des namenlosen Mädchens aufzuklären. Während sich kaum jemand an sie erinnert, wird die Suche zu einer soziologischen Studie des frühen 20. Jahrhunderts: Die mittellose Frau kam aus der Provinz in die Stadt, wo sie sich wie viele andere junge Mädchen Freiheit erhofft. Es reicht aber gerade für ein kleines Zimmer und einen Job als Nebendarstellerin beim Film.

Während der gemächlichen Ermittlungen Maigret lässt sich mehr beobachten, wie es in ihm arbeitet, als dass er selbst aktiv ist. Maigret ist ein alter Kommissar im Verfall. Er isst kaum noch und hat sich ein Rauchverbot auferlegt. Obwohl er sich „ohne Pfeife nackt" fühlt, während alle um ihn herum rauchen. Der Kriminalist müht seinen massiven Körper andauernd Treppen hoch, kann seine schwermütige Phase nicht verbergen. Seine Kommentare zeigen eine große Anteilnahme am Schicksal der Unbekannten. Und auch eine herrlich lakonische Einstellung: „Es gibt Fälle, da trinke ich Wein, andere da trinke ich Bier." Dieses Opfer verlangt nach viel Wein. Wie beim Dürrenmatt-Krimi „Das Versprechen" - verfilmt mit Heinz Rühmann (1958) und Jack Nicholson (2001, Regie: Sean Penn) - platziert Maigret einen Lockvogel für die verdächtige Angestellte des Filmstudios.

Der Reiz dieser ruhigen Verfilmung von Georges Simenons Roman „Maigret und die junge Tote" liegt im exzellent zurückhaltenden Spiel Depardieus und der meisterlich feinen Inszenierung Patrice Lecontes. Bekannt wurde der Franzose mit der Simenon-Verfilmung „Die Verlobung des Monsieur Hire" (1989), direkt darauf folgte das Meisterwerk „Der Mann der Friseuse" (1990), ein paar Jahre später wurde „Ridicule - Von der Lächerlichkeit des Scheins" (1996) bejubelt. Mit dem dunklen „Maigret" zieht der 75-Jährige noch einmal die Register seines Könnens und begeistert mit einer auf unaufgeregte Weise enorm intensivem Kriminalfilm.

Sisi & Ich

Deutschland, Österreich, Schweiz 2023, Regie: Frauke Finsterwalder, mit Sandra Hüller, Susanne Wolff, Stefan Kurt, 132 Min., FSK: ab 12

Es hat etwas von Sisi-phos, dieses aktuelles Abarbeiten am Sisi-Mythos: Nach einer Flut von Sisi-Filmen und -Serien zeigt „Sisi & Ich" noch eine „moderne" Kaiserin mit Emanzipationsbestrebungen. Die Perspektive ist diesmal allerdings die der adeligen Kammerzofe Irma Gräfin von Sztáray und ihrer Befreiung vom Gefühlsregime Elisabeths. Sandra Hüller verkörpert Irma mit ihrem eigentümlichen Spiel als zeitlose Figur.

Regisseurin und Ko-Autorin Frauke Finsterwalder wusste während der Arbeit an „Sisi & Ich" nichts von der parallel entwickelten RTL-Serie „Die Kaiserin" und dem anderen Kino-Film „Corsage" von Marie Kreutzer. Doch beginnt ihr ahistorischer Film exakt gleich mit so einer Corsage, die in den Zeiten von Kaiserin Elisabeth von Österreich (1837-1898) einschnürten, bis die Frauen nicht mehr atmen konnten - symbolisch und ganz konkret. Dazu singt Beth Gibbons von Portishead „Wondering Star". Zurechtgemacht für den öffentlichen Auftritt wird hier Irma Gräfin von Sztáray (Sandra Hüller). Die Tauglichkeitsprüfung für den Job der Kammerzofe Elisabeths ähnelt dann gar einer Viehbeschau mit Abtasten des Körpers und Inspektion des Gebisses. Später kommen ein paar Sprints unter griechischer Sonne als Fitness-Test hinzu.

Dabei lebt Elisabeth von Österreich-Ungarn (Susanne Wolff) zu dieser Zeit gerade maximal ungebunden auf der griechischen Insel Korfu. Das bauschige Gewand Irmas wird direkt verbrannt, schlicht geschnittene Kleider und Wanderschuhe sind hier gefragt. „Dicke Menschen und Männer" dagegen nicht erwünscht, so gebietet die bulimische Herrscherin. Bei einer extremen Diät dünner Suppen und Kokain-Tropfen ist auch Langeweile verboten. So erlebt Irma lange Wanderungen, befreiende Klippen-Sprünge ins Meer, den exzentrischen, schwulen Bruder (Georg Friedrich) von Kaiser Franz (Markus Schleinzer) und einen vom Hasch benebelten Ausflug nach Algier. Bis die Kaiserin wieder an den Hof zurückgerufen und schließlich in Genf erstochen wird.

Mit auffallend moderner Kleidung (Kostüme: Tanja Hausner) und heutigen Popsongs betonen Regisseurin Frauke Finsterwalder und ihr (Schreib-) Partner, der Schriftsteller Christian Kracht („Eurotrash", „Faserland", „Imperium"), die Zeitlosigkeit der Emanzipation von Frauenrollen. Im Gegensatz zu „Corsage" mit Vicky Kriebs als Elisabeth stehen nicht die Freiheitsbestrebungen der Kaiserin zentral. Sie lernen wir zu einem Zeitpunkt größtmöglicher Entfernung vom Hofe kennen. Unter ihrem Diktat leiden jedoch Irma und die eifersüchtigen androgynen Zofen Fritzi (Sophie Hutter) und Marie (Maresi Riegner). Bei „Sisi & Ich" entwickelt sich das erzählende „Ich" Irma von einer erwachsenen Frau, die noch unter der Fuchtel der Mutter steht, zu einer Unabhängigen, die sich jeder Kontrolle entledigt, wie eine gewagte Uminterpretation von Elisabeths Tod zeigt. Das ist auch dank des Spiels von Sandra Hüller („Toni Erdmann") immer wieder komisch und in einigen starken Momenten so besonders atmosphärisch wie die Episoden in Finsterwalders Debüt „Finsterworld" aus dem Jahr 2013. Aber in der Hitparade der emanzipatorischen Sisi-Filme bleibt der verspielte „Sisi & Ich" in Schauspiel und gewagten Bildern deutlich hinter Marie Kreutzers „Corsage" zurück.

21.3.23

Sick of Myself

Norwegen, Schweden 2022 (Syk Pike) Regie: Kristoffer Borgli, mit Kristine Kujath Thorp, Eirik Sæther, 98 Min., FSK: ab 12

Signe (Kristine Kujath Thorp) und Thomas (Eirik Saether) sind krasse Narzissten aus Oslo und führen eine sehr ungesunde Beziehung. Er feiert ihren Geburtstag in einem teuren Restaurant, aber inszeniert sich dabei vor allem selbst auf ziemlich unsympathische Weise. Bei einer Vernissage seiner Kunst aus geklauten Möbeln steht sie nur unbemerkt am Rande. Keiner weiß, dass sie seine Freundin ist. Spontan erfindet Signe da eine Erdnuss-Allergie, um interessanter zu sein. Der Wettkampf um Aufmerksamkeit unter Freunden und untereinander nimmt absurd komische Züge an. Richtig ungesund wird er, als Signe haufenweise dubiose russische Pillen mit heftigen Nebenwirkungen schluckt. Kein Arzt kann die mysteriöse Krankheit einordnen. Mit völlig blutigem und monströs aufgedunsenem Gesicht ist die ungewohnte Sorge von Thomas sogar erotisierend für die junge Frau. Doch der Wettstreit geht weiter: In einer abstrusen Therapiegruppe gibt es Streit, wer die schlimmere Krankheit hat. So wirft das noch nicht genug bemitleidete Opfer mehr der gelben Pillen ein. Glücklich ist sie erst, als ihr entstelltes Gesicht auf der Titelseite eines Boulevard-Blättchens landet.

„Sick of Myself", diese Satire um eine verzweifelte Sucht nach Aufmerksamkeit bis zur Selbstzerstörung, zeigt einen Wahnsinn, der gut zu unserer Zeit passt. Nicht zufällig ähneln Signe und Thomas dem Influencer-Pärchen aus Ruben Östlunds „Triangle of sadness". Signe landet nach immer stärkerem Krankheitserscheinungen schließlich sogar einen Model-Job bei einer speziellen Agentur für Menschen mit Handicaps. Die drastische, aber eindimensionale Steigerung ist eher schwarzhumorig komisch als erschreckend, trotz eines horrenden Verfalls des Körpers. Das ist gut gespielt und flott inszeniert. Auch wenn selten jemand so weit ging für seine 15 Minuten Ruhm gemäß Andy Warhol, es sind schon weiterdenkende Filme zu dem Thema gemacht worden. Ein treffendes Update für die Instagram-Zeit ist „Sick of Myself" auf jeden Fall.

20.3.23

Seneca - Oder: Über die Geburt von Erdbeben

Deutschland, Marokko, Frankreich 2023, Regie: Robert Schwentke, mit John Malkovich, Tom Xander, Geraldine Chaplin, 112 Min., FSK: ab 16

Es ist der beste Witz dieses Films, dass der berühmte römische Philosoph und Tragödiendichter Lucius Annaeus Seneca immer wieder gesagt bekommt, er solle doch endlich mal seinen Mund halten. Ein ironischer Twist für einen, der in der Geschichte als wortgewandter Rhetoriker legendär geworden ist.

Zu Beginn lehrt der Staats-Philosoph Seneca (John Malkovich) dem jungen Nero (Tom Xander) bei einer rhetorischen Übung unwissentlich, wie dieser ihn irgendwann einmal aus der Gesellschaft rausschmeißen und ihm das Todesurteil ausstellen wird. Diese Szene könnte vom Setting in karger Landschaft und antiken Ruinen eine Reminiszenz an das Filmpaar Danièle Huillet und Jean-Marie Straub sein, die immer Originallandschaften in extrem dröge Inszenierungen alter Texte einfließen ließen. Doch der vielseitige deutsche Regisseur Robert Schwentke („Der Hauptmann", „R.I.P.D.") verlässt sehr schnell diesen Pfad zu einer postmodernen, ahistorischen Darstellung mit einem mit „Mom" tätowierten Nero, mit E-Gitarre und Sonnenbrille, Steuerbescheid und Streetart mit Panzern.

Während der grausame Mörder Nero, ein Monster mit rundlich weichen Gesicht, seine Frau und viele andere umbringen lässt, macht Seneca mit monströsen Masken Theater im Theater, geschrieben und vor dekadentem Publikum inszeniert vom Denker selbst. Im Stück werden die Verbrechen Neros nachgespielt, echte Sklavenkinder ermordet und zerstückelt. Das verläuft stellenweise schockierend grausam, wobei beim Spiel im Spiel (-Film) auch gleich der Sinn von Gewalt in der Kunst thematisiert wird. Senecas Freundin und Zuschauerin Lucia (Geraldine Chaplin) meinte zuvor, „Ich hoffe, es wird nicht wieder politisch!" Tödlich wird es, als Nero des Moralisierens seines alten Lehrers überdrüssig ist und einen brutalen Killer zu dessen Land-Villa schickt. Bis zum nächsten Morgen habe Seneca, um sich selbst umzubringen, ansonsten würde es hässlich werden.

Was macht nun ein stoischer Philosoph mit seinen letzten Stunden? Er doziert vor den anwesenden Gästen, bis die letzten von ihnen abhauen und selbst der dienstbare junge Schreiber Lucius, der jedes Wort notierte, meint: „Du hast genug geredet!" Trotz erkennbarer Eheprobleme, die sich jetzt auf keinen Fall mehr lösen lassen, bietet Seneca seiner sehr jungen Frau Paulina (Lilith Stangenberg) einen Doppelselbstmord als „starken Abgang" an. Nach noch ein paar Reden lässt er sich lange Schnitte in jeden Arm applizieren. Während das Blut bei Paulina heftig fließt, tröpfelt es beim alten Mann nicht mal. Der Schierling, das Gift fürs Vorbild Sokrates, führt nur zu wilden Visionen.

Regisseur Robert Schwentke kann gut in Hollywoods Action-Liga mitspielen, wie er mit „Flight Plan", „R.E.D.", „R.I.P.D.", „Die Bestimmung" und zuletzt bei „Snake Eyes: G.I. Joe Origins" bewies. Er kann aber auch politisch und historisch relevante Stoffe wie das Weltkriegsdrama „Der Hauptmann" sehr gut inszenieren. Nun setzt er in „Seneca" einen antiken Philosophen in irre Kulissen, Settings und Szenen. Die Frage, ob der enorm reiche Seneca ein Opportunist, Heuchler und Kollaborateur war oder, seinem Selbstbild entsprechend, ein moralisch aufrechter, weiser Mensch, der dem Tod ohne Angst ins Antlitz schaut, beantwortet er mit viel Komik. Das historische Spiel ist dabei ganz Gegenwart, wenn gefragt wird, ob es sein könne, dass unsere Generation den Kollaps der Erde verdient hat, und Nero immer „Mr. President" heißt.

Die Fast-Solonummer Malkovichs ist eine eindrucksvolle Show, die „Seneca" allein sehenswert macht. Nett dazu die Auftritte deutscher Darsteller: Erstaunlich und eigen Lilith Stangenberg mit ihrer rauen Stimme als junge Frau Pompeia Paulina. Alexander Fehling gibt einen snobistischen Gast und Samuel Finzi den Major Domus Statius.

Wenn zuletzt Senecas Leiche von Baggern verscharrt und der Niedergang Roms angesichts einer heutigen Müllhalde festgestellt wird, wirkt das Ende der Kultur nicht sonderlich tragisch. Was daran liegt, dass sie sich in Person Senecas selbst lächerlich gemacht hat.

Lars Eidinger - Sein oder Nichtsein

Deutschland 2022 Regie: Reiner Holzemer, 92 Min., FSK: ab 6

Der Schauspieler Lars Eidinger ist ein Phänomen. Auch über seine grandiosen Auftritte auf der Bühne und im Film hinaus. Dieser Dokumentarfilm von Reiner Holzemer folgt Eidinger bei großen Inszenierungen und nähert sich der eindrucksvollen Selbstdarstellung Eidingers ohne private Einblicke zu erhalten.

Lars Eidinger ist ein außergewöhnlicher Schauspieler. Seine Neuinterpretationen von „Hamlet" und „Richard III" zusammen mit Regisseur Thomas Ostermeier an der Schaubühne am Lehniner Platz haben Theatergeschichte geschrieben. Zudem hat er seit seinem Kinodebüt in „Alle Anderen" von Maren Ade mit internationalen Filmstars wie Juliette Binoche, Isabelle Huppert und Adam Driver gespielt. Seine Rolle in „Babylon Berlin" machte ihn noch populärer. Als DJ sorgt er ebenso für Aufsehen wie als Gelegenheitsfotograf. Seine Kunstaktion, mit einer selbstdesignten Aldi-Tasche vor Obdachlosen zu posieren, wird immer noch konträr diskutiert.

Regisseur Reiner Holzemer porträtierte bisher die Modedesigner Martin Margiela und Dries Van Noten sowie den Filmemacher Anton Corbijn. Nun begleitete er den Schauspieler Lars Eidinger neun Monate mit der Kamera. „Lars Eidinger - Sein oder Nichtsein" ist dabei in großen Teilen ein interessantes „Making of" der Salzburger „Jedermann"-Aufführung des Jahres 2021. Von den ersten Pressefotos, bei denen Eidinger charmant darauf besteht, nur von links gezeigt zu werden, über die Kostümwahl, die schon den Charakter jedermanns formt, bis zu Premiere folgen wir der künstlerischen Entwicklung des Stücks sehr nah. Eine dicke Wampe, hohe Stiefeletten und Boxhandschuhe geben der traditionellen Figur einen „Eidinger-Touch". Mit den üblichen Lobpreisungen der Kolleginnen und Kollegen, sowie einem Wutausbruch im Kinski-Stil. Die „Diva" (Eidinger) beschwert sich, weil der Regisseur bei den Proben abgelenkt war, während der Star ein tränenreiches Beispiel seiner großen Emotionalität auf der (Probe-) Bühne gab.

Die Bühnenkarriere wird pflichtschuldig mit einem Besuch an der Schauspielschule Ernst Busch in Eidingers Geburtsstadt Berlin nachgezeichnet. Er war im bemerkenswerten 99er-Jahrgang mit Devid Striesow, Fritzi Haberlandt und Nina Hoss. Ausschnitte von „Hamlet" und „Richard III" mit Eidingers Kommentaren zu diesen Inszenierungen sind wie die Gedanken zu „Jedermann" der interessante Kern dieser Dokumentation. Hochreflektiert wirft er mit seinen Ideen klassische Aufführungspraktiken über den Haufen, so wie er mit großem emotionalen und körperlichen Einsatz das Bühnen-Dekor demontiert. Eine Episode von der Schauspielschule, wo er mit enormer Expressivität minutenlang nur ein Bonbon lutschte, beweist das Können auch leiser Töne. Im Gegensatz gibt es auch das „Zuviel", das Eidinger zu einem provokanten Charakter macht, wenn er mit viel zu warmer Wollmütze beim Tennisspiel von seinem riesigen Ehrgeiz erzählt.

Während die „missverstandene" Aktion mit der Aldi-Tüte immer wieder hinterfragt wird, ohne erklärt zu werden, gibt es nur Sekunden eines DJ-Auftritts. Auch die bemerkenswerte Film-Karriere kommt zu kurz. Eine längere Szene zeigt Eidinger bei den Dreharbeiten zu der Serie „Irma Vep" von Olivier Assayas in Paris, wo er eine kleine Gartenparty in Stücke schlagen darf, während er über die wahre Kunst monologisiert. Im Selbstverständnis seines Tuns ist denn auch dieses Porträt am nächsten an Lars Eidinger dran – an der faszinierenden Kunst-Figur Eidinger.

14.3.23

Das Blau des Kaftans


Frankreich 2022 (Le Bleu du Caftan) Regie: Maryam Touzani, mit Saleh Bakri, Ayoub Messioui, Lubna Azabal, 118 Min., FSK: keine Angaben

Halim und Mina (Saleh Bakri, Lubna Azabal) betreiben als Ehepaar eine altmodische Schneiderei in der Medina von Salé, einer der ursprünglichsten Orte in Marokko. Zwar haben die Kundinnen kaum Geduld für die aufwändige Handarbeit, doch die Nachfrage nach traditionellen Gewändern ist groß. Deshalb heuern Halim und Mina einen engagierten jungen Mann namens Youssef (Ayoub Messioui) als Helfer an. Endlich ein guter Lehrling, bis Mina beim Umziehen der Aushilfe den begehrlichen Blick ihres Mannes bemerkt...

Die Eheleute Halim und Mina leben ihr stilles Glück und lachen viel miteinander. Es ist ein sinnliches Vergnügen, wie das Paar seine Mandarinen genießt und nach etwas Drängen nimmt Halim sogar seine Frau zum Fußballspiel mit ins Café. Er geht aber immer wieder in den Hamam, das öffentliche Bad, um seine Sexualität mit fremden Männern auszuleben, in einem Land, in dem Homosexualität noch immer eine Straftat ist. Als sich allerdings Minas Krankheit verschlimmert und sie nicht mehr in die Schneiderei kommt, stößt Halim die Annäherungen von Youssef zurück.

Über die Entstehungszeit eines besonders schönen blauen Kaftans erzählt der Film von den Emotionen einer ungewöhnlichen Dreiecksbeziehung. Halim und Youssef verzieren das Gewand dabei mit kunstvollen Stickereien. Auch sonst sorgen Kamera und Inszenierung für viel Augenschmaus mit intensiven Farben und edlen Stoffen. Ruhig aber sehr gefühlsintensiv zeigt „Das Blau des Kaftans" das Leiden der unheilbar Kranken und anfangs unglücklichen Frau. Doch je mehr sich Youssef um das Geschäft kümmert und dem Ehepaar hilft, ändert sich Minas Blick. Bis zu einer Tanzszene zu dritt, einer bewegenden Gemeinschaft ohne Geheimnisse oder Missgunst. Es ist herzzerreißend, wie sie ihnen ein anderes Glück zu zweit gönnt. So genießt der wunderbare Film „Das Blau des Kaftans" die kleinen Wünsche und Sehnsüchte seiner Menschen.

Der Spielfilm der marokkanischen Regisseurin Maryam Touzani, die bereits 2019 mit ihrem Debütfilm „Adam" auf sich aufmerksam machte, wurde auf dem Filmfestival in Cannes in der Sektion „Un certain regard" mit dem Fipresci-Preis ausgezeichnet. Die beeindruckende Hauptdarstellerin Loubna Azabal ist in Deutschland unter anderem durch ihre anspruchsvollen Hauptrollen in „Die Frau die singt" und „Adam" bekannt.

13.3.23

Broker

Südkorea 2022, Regie: Hirokazu Kore-eda, mit Song Kang-ho, Dong-Won Gang, Lee Ji-Eun, 129 Min., FSK: ab 12

Es ist herzzerreißend, wie sich die junge Mutter vor der Babyklappe von ihrem Neugeborenen verabschiedet. Und dann wird es in Hirokazu Kore-edas („Shoplifters - Familienbande") neuem Meisterwerk „Broker" direkt ungewöhnlich spannend, zu sehen, wer vor und hinter der Klappe noch beteiligt ist. Denn die Szene wird von zwei Polizistinnen beobachtet, weil zwei Mitarbeiter der Kirchengemeinde wohl die Babys aus der Klappe für viel Geld an kinderlose Paare verkaufen. Das System, Babys für einen privaten Menschenhandel zu nutzen, gerät in Gefahr, als die junge Prostituierte So-young (Lee Ji-eun) wirklich zurückkehrt, wie sie es auf einem Zettel ankündigte. Sie entdeckt das Geschäftsmodell der nicht besonders cleveren Sang-hyun (Song Kang-ho) und Dong-soo (Gang Dong-won). Diese verkaufen verlassene Babys an wohlhabende Paare, wenn diese das Herz am rechten Fleck haben. Dort winkt ihnen schließlich eine viel bessere Zukunft als im Waisenhaus! So einigen sich die drei, gemeinsam zu den möglichen Adoptiveltern zu fahren. Doch beim Verkauf gibt es unerwartete Wendungen. Und ihnen auf den Fersen sind die Polizistinnen, die unbedingt einen Fahndungserfolg brauchen.

Der japanische Filmemacher Hirokazu Kore-eda erzählt nach „Nobody Knows" (2004) und „Shoplifters - Familienbande" (2018) erneut von unerhörten Familien-Schicksalen und -Fragmenten. Immer wieder lässt er aus dem Zusammenbruch klassischer Familien tief berührende neue Konstellationen entstehen, wie bei der Gruppe von Waisenkindern aus „Nobody Knows", die versucht, auf sich gestellt zu überleben. Nach dem französischen Star-Vehikel „La Vérité - Leben und lügen lassen" (2019) fühlt sich Kore-eda bei seiner koreanischen Geschichte nun sichtbar wohler.

Das Kunststück von Kore-edas „Broker" liegt darin, dass auf den ersten Blick wenig positive Beweggründe beim Kennenlernen verständlich werden. So wachsen einem die Figuren sehr ans Herz. Sang-hyun, der im klapprigen Mini-Van seiner Reinigung die kleine Gemeinschaft durch Südkorea kutschiert, erweist sich als liebevoller Vater und Pfleger. Aber er braucht das Geld, weil er von der Mafia erpresst wird. Der jüngere Broker Dong-soo ist selbst Waisenkind, seine Mutter kam nie zurück. Heute ist er in seinem alten Kinderheim unter den Kleinen sehr beliebt. So sehr, dass sich der achtjährige Hae-jin (Seung-soo Im) heimlich im Auto versteckt und fortan die Reisegruppe vervollständigt. Das ist keine Familie, aber eine tolle Truppe, die durch den Neuzugang vollendet wird: Der gewitzte und freche Junge sorgt für viel Spaß und zeigt den Erwachsenen öfters, wo es langgeht. Dazu gibt es in der raffinierten Handlung noch einen Mord und einige weitere Überraschungen.

Heile Familie gibt es in „Broker" nur als Inszenierung mit zwei Statisten, die unter Polizeiaufsicht eine fingierte Baby-Übergabe durchführen sollen. Nicht nur im Lieferwagen finden sich lauter Lügner. Trotzdem ist es wundervoll, wie sich alle sorgen und kümmern. Die Babyhändler - Broker - bilden für einen Moment eine wunderschöne Gemeinschaft, die sich gegenseitig mit „Danke, dass du geboren bist!" anerkennen. „Broker" ist in jeder Szene Tragikomödie, mit komödiantischer Leichtigkeit immer wieder berührend.

In der Hauptrolle spielt der mit „Parasite" bekannt gewordene Song Kang-ho brillant auf und wurde in Cannes dafür mit der Goldenen Palme als Bester Hauptdarsteller ausgezeichnet.

12.3.23

Der Pfau

Deutschland, Belgien 2023, Regie: Lutz Heineking Jr., mit Lavinia Wilson, Tom Schilling, David Kross, Jürgen Vogel, 105 Min., FSK: ab 12

Das Team-Building einer deutschen Bank im fernen Schottland wird in „Der Pfau" mörderisch – und zeitweise umwerfend komisch. Lutz Heineking Jr. verfilmte den gleichnamigen Roman von Isabel Bogdan mit einem bemerkenswert prominenten Ensemble aus Lavinia Wilson, Serkan Kaya, Tom Schilling, David Kross und Jürgen Vogel.

Es geht für ein Wochenende auf dem Landsitz von Lord und Lady McIntosh und das Team-Building dort hat die Truppe von Investmentbankerin Linda Bachmann (Lavinia Wilson) auch dringend nötig: Offen und fies aggressiv können die Kollegen ihre Missgunst untereinander nicht verbergen. Eine Buslandung von Unsympathen, wobei nur der jüngste, David (David Kross), Mitleid verdient. Alle eint die Angst vor der Überprüfung ihrer Abteilung durch einen Compliance-Mitarbeiter.

Der erste Schock ist das Herrenhaus von Lord Hamish und Lady Fiona McIntosh (Philip Jackson und Victoria Carling) ohne Mobilfunkabdeckung. Dazu Etagenbetten und Gemeinschaftsbad, zugige Fenster und eine Heizung, die mitten im Winter den Geist aufgibt. Ersatz-Coach Vincent Rebecca (Svenja Jung) steigert mit ihren Psycho-Spielchen nur die Animositäten. Auch gemeinsam eine Laubhütte im Wald zu bauen, begeistert niemanden. Derweil soll David für seine Chefin Linda heimlich den frisch erlegten Pfau verschwinden lassen, den ihr Hund apportiert hat. Ausgerechnet das Lieblingstier von Lord Hamish und Haushälterin Aileen (Linda Reitinger).

Erzählt aus der Perspektive der Catering-Köchin Helen (Annette Frier) sind die vielen exaltierten Typen im starken Ensemble das Pfund von „Der Pfau": Tom Schilling spielt den smarten Andreas, der alles besser weiß und nichts mitmacht. Jürgen Vogels Jim hat als Einziger den Anzug zuhause gelassen und scheint auch sonst alles zu meistern – in einem Maße, das alle nervt. Chefin Linda liebt das Kommandieren, bis ihr die Stimme wegbleibt. Selbstverständlich mischt ein alkoholgeschwängerter Abend diese charakterstarken Knallköpfe noch einmal auf. Ein Stromausfall und dann das Eingeschneit-Sein steigern die Stimmung.

„Der Pfau" ist die bewegte Sitcom einer lächerlichen Truppe sich selbst überschätzender Banker. Die Schottland-Scharade hat etwas von veredeltem Boulevard-Theater, vor allem durch die aberwitzigen Wege eines direkt durchgeknallten Pfaus, der alles, was blau ist, attackierte. Die Sätze aus dem Drehbuch von Lutz Heineking Jr., Sönke Andresen und Christoph Mathieu sitzen und landen viele humorige Treffer. Lutz Heineking Jr. wurde mit der funk-Serie „World of Wolfram" (2016) bekannt, für die er als „Bester Regisseur" und „Best Web Series" bei den Los Angeles Film Awards Auszeichnungen erhielt. Während der Corona-Pandemie 2020 zeigte ZDFneo seine aus Video-Calls bestehende Comedy-Serie „Drinnen – Im Internet sind alle gleich", die 2021 den Grimme-Preis erhielt. Dazu realisierte er die Serien „KBV - Keine besonderen Vorkommnisse" (2021) und „Das Institut - Oase des Scheiterns" (2017-2019).

5.3.23

Gletschergrab

Island, Deutschland 2022 (Operation Napoleon) Regie: Oskar Thor Axelsson, mit Wotan Wilke Möhring, Iain Glen, Jack Fox, 112 Min., FSK: ab 12

Ohne Umschweife schmeißt „Gletschergrab" die junge, resolute isländische Bankangestellte Kristin (Vivian Ólafsdóttir) in eine lebensgefährliche Verfolgungsjagd: Der kaltblütige deutsche Killer Simon (Wotan Wilke Möhring) ist hinter ihr her, weil nur wenige Stunden vorher Kristins Bruder ein Nazi-Flugzeugwrack im isländischen Eis entdeckt hat. Ein CIA-Boss fliegt mit atemberaubender Geschwindigkeit seine Truppen ein, jagt den Bruder und Kristin, weil die ein Video mit dem alten Flieger gesehen hat. Ab da kämpfen die Geschwister um ihr Überleben.

Knackige Action auf und um dem größten Gletscher Europas, ein paar skurrile Gestalten auf beiden Seiten und nichts Nebensächliches. (Man vermutet es nicht, aber große Teil der Innenaufnahmen wurden in den Kölner MMC-Studios gedreht.) „Gletschergrab" hält sein Tempo bei und verzichtet auf überbordende Effekte, was alles etwas realistischer macht. Das ist lange glaubwürdig und vor allem durchgehend spannend. Eine übertriebene Verschwörungs-Geschichte um Nazi-Gold wird erst im Epilog nachgeschoben. Der macht auch noch Werbung für eine Fortsetzung im Indiana Jones-Stil.

Die Fabelmans

USA 2022 (The Fabelmans) Regie: Steven Spielberg, mit Michelle Williams, Paul Dano, Seth Rogen, 151 Min., FSK: ab 12

Steven Spielberg, Regisseur von zahlreichen epochalen Erfolgen von „Schindlers Liste" bis „Jurassic Park", von „E.T." bis zu „Der Weiße Hai", blickt in „Die Fabelmans" zum ersten Mal in seiner Karriere filmisch zurück auf sein Leben. Er erinnert sich in einer großen Erzählung an eine turbulente Familiengeschichte und an seine filmische Werdung vom ersten Kinobesuch bis zur Bewerbung im Filmstudio beim großen John Ford.

Der sechsjährige Sam sieht beim ersten Kinobesuch Cecil B. DeMilles „Die größte Schau der Welt" (1952) und ist überwältigt. So sehr, dass er mit seinem neuen Chanukka-Geschenk einer Spielzeugeisenbahn das berühmte gigantische Zugunglück nachspielen muss. Heimlich dreht er mit der kunstbegeisterten Mutter Mitzi (Michelle Williams) auf Vaters Kamera seinen ersten Film, um den Schrecken des Kinobesuches zu bewältigen. Dann kommen mit Toilettenpapier umwickelte Mumien vor die Linse und das Ziehen eines Zahns wird effektvoll mit Ketchup nachgespielt.

Was der kleine Sam vom Ingenieurs-Vater Burt (Paul Dano) und was er von der lebenshungrigen, kunstliebenden Mutter Mitzi geerbt hat, wird klar, als diese mit ihren Kindern in einen Wirbelsturm rast. Es ist ein großer Spaß, dieser Entwicklung des Filmemachens von Sam Fabelman (Gabriel LaBelle) zuzusehen. Bald folgt ein erster Cowboy-Film schon mit Spezialeffekten. Erst als ein verrückter Zirkus-Onkel der Mutter zu Besuch kommt und dem Jungen erzählt, dass die Kunst ihn von der Familie fortreißen und einsam machen wird, bekommt die Spielerei Tiefe. Es folgen immer größere Filme auf Super-8 mit immer mehr Freunden, raffinierten Tricks und hohem Produktionsaufwand, in denen sich schon früh das Drama der eigenen Familie widerspiegelt.

Die filmischen Autobiografien bekannter Regisseure haben immer wieder Meisterwerke hervorgebracht: „Achteinhalb" (1963) basiert auf Federico Fellinis eigener kreativer Krise und dreht sich um einen Filmemacher namens Guido Anselmi, der von Marcello Mastroianni gespielt wird. „Die amerikanische Nacht" (1973) von François Truffaut zeigt die Dreharbeiten zu einem fiktiven Film namens „Je vous présente Pamela" und Truffauts eigene Erfahrungen als Regisseur. „Herbstsonate" (1978) von Ingmar Bergman basiert teilweise auf Bergmans Leben mit seiner Mutter. Vor allem „Cinema Paradiso" (1988) von Giuseppe Tornatore enthält persönliche Aspekte des sizilianischen Regisseurs und erzählt ganz groß eine allgemeine Biografie des Films.

Während andere Regisseure in ihren autobiografischen Filmen gerade besonders emotional werden - siehe „Cinema Paradiso" - bleibt Spielberg relativ nüchtern. Vor allem angesichts der gewaltigen filmischen Mittel, die ihm ja bekanntlich zur Verfügung stehen und die immer wieder gefeiert werden, ist „Die Fabelmans" zurückhaltend und distanziert. Vielleicht ist es ja das Erbe des Vaters Burt, der vor dem ersten Kinobesuch eine rein technische Erklärung dessen, was Film ist, liefert.

Das große emotionale Thema von „Die Fabelmans" ist die Ehe der Eltern mit dem immer anwesenden besten Freund Bennie Loewy (Seth Rogen). Später entdeckt Sam dessen Verhältnis mit der Mutter im Hintergrund der Aufnahmen vom Camping-Urlaub. Es ist das Leiden einer Frau, die sich nicht ausleben kann, und das Drama eines Mannes, der eine Frau liebt, die nicht ohne einen anderen leben will. Durch einen Umzug nach Nordkalifornien, wo Vater Burt den Personal Computer entwickeln wird, muss Sam nun das typische Mobbing an der Schule, gemischt mit Antisemitismus durchmachen. Monica, eine christliche Fanatikerin seiner Klasse, versucht sich in Bekehrung, was er für das folgende Knutschen gerne über sich ergehen lässt. Der Höhepunkt des nicht übertrieben dramatischen „Die Fabelmans" ist die Schulvorführung eines Films vom Strandausflug der Klasse. Sams Montage des Treibens hat eine faszinierende und unerwartete Wirkung auf den mobbenden Schulhelden. Der bricht angesichts seiner gloriosen Überhöhung bei Sam zusammen. Statt der erwarteten Prügel gibt es Staunen über die Macht seines Talents. Von da ist es nicht mehr weit bis zur Begegnung des nun 15-Jährigen mit seinem Idol, dem legendären Regisseur John Ford – gespielt von David Lynch! Das Schlussbild mit einem euphorischen jungen Mann auf dem Weg in eine große Zukunft korrigiert die Kamera nur kurz, wenn sie den Horizont von der Mitte an den unteren Rand verschiebt. So wie Ford es ihm als einzige Lehre mitgegeben hat.