26.12.18

Drei Gesichter

Iran 2018 (3 Faces) Regie: Jafar Panahi, Behnaz Jafari, Marziyeh Rezaei 100 Min.

Es wäre ein grandioser Lubitsch-Witz, wenn es nicht so traurig wäre: Nachdem ihm 2010 Berufsverbot und Hausarrest auferlegt wurde, hat der iranische Filmmacher nun seinen vierten Spielfilm veröffentlicht. „Drei Gesichter" könnte auch „Drei Frauen" heißen, ist ein ruhiges Road-Movie in iranische Dörfer und eine nette Hommage an den dortigen Meisterregisseur Abbas Kiarostami (1940-2016).

„Drei Frauen" beginnt mit einem Hilferuf eines Mädchens per Handy-Video an Jafar Panahi: Man würde ihn und seine Filme kennen, deshalb hätte es Hilferufe gegeben, auf die er aber nicht reagiert hätte. Jetzt sei es zu spät. Und dann erhängt sich die junge Frau. Schockiert schauen sich Jafar Panahi (Jafar Panahi) und die berühmte Schauspielerin Behnaz Jafari (Behnaz Jafari) den Clip an. Sie sind schon auf dem Weg zum Ort des vermeintlichen Selbstmordes, zu einem Dorf im Norden des Irans. Dort werden als Prominente aber auch als desinteressierte Menschen aus der Stadt begrüßt, lernen seltsame Sitten kennen und erfahren das Geheimnis nicht nur vom Mädchen Marziyeh Rezaei (Marziyeh Rezaei) aus dem Video.

„Drei Gesichter" ist ein Road-Movie wie von Abbas Kiarostami, der mit „Der Wind wird uns tragen" oder „Und das Leben geht weiter" Erdbeben-Gebieten oder mit Juliette Binoche in „Die Liebesfälscher" historische Stätten einer alten Liebe inszenierte. Wie schon als Taxifahrer in Teheran sitzt Jafar Panahi wieder selbst am Steuer und was sich wie Notlösung anhört, wird zur äußerst raffinierten Angelegenheit, zum Plädoyer für Gleichberechtigung.

Selbstverständlich ist es nicht wirklich ein echtes Video, das Panahi zugesandt wurde. Oder doch? Der Film selbst spielt mit den Zweifeln. Und das kann er auf hohem Niveau, denn derartige Täuschungen gibt es im iranischen Film schon lange fast als eigenes Genre. Etwa wenn ein angebliches Casting für einen Kiarostami-Film (fiktiv) vor Gericht verhandelt wird. Der Wunsch, zum Film zu kommen, ist auch hier Thema für drei Frauen, die sich hinter den drei Gesichtern verbergen: Marziyeh inszenierte ihren Selbstmord, um trotz der üblichen strengen Familie an die Schauspielschule zu dürfen. Die dadurch involvierte Behnaz Jafari, die zwischen eingebildet und mitfühlend changiert, muss am nächsten Tag wieder pünktlich am Set sein. Und als magischer Fund der Reise versteckt sich die ehemals prominente, aber nun vergessene Maedeh (Maedeh Erteghaei) am Rande des Dorfes.

Auch ohne Erwähnung oder deutliches Zitat spürt die ganze Zeit Kiarostamis Erbe. Panahi war sein Assistent und nachdem „Taxi Teheran" die begrenzte Situation im Auto vom Porträtfilm „Ten" kopierte, übernimmt der Schüler nun die Reise aufs Land von Kiarostamis „Der Wind wird uns tragen" und „Und das Leben geht weiter". Und auch das weiß man vom Altmeister, selbst wenn mal nicht so viel passiert, lohnt es sich immer, auf die letzte Szene zu warten. Poetisch, nicht politisch, gehen hier die Frauen ihren eigenen Weg, während mit absurdem Theater der bewegungsunfähige alte Bulle entsorgt wird.

25.12.18

Sibel

Türkei, Frankreich, BRD Luxemburg 2018 Çağla Zencirci, Guillaume Giovanetti, mit Damla Sönmez, Erkan Kolçak Köstendil, Emin Gürsoy 95 Min.

Das Handy klingelt, aber in der Tee-Plantage an den steilen Tal-Hängen gibt es keinen Empfang. Da hilft sich man sich am Schwarzen Meer, wie auf Gomera, mit einer Pfeif-Sprache. In einem türkischen Dorf wird die seit ihrer Kindheit stumme Sibel (Damla Sönmez) von abergläubischen Nachbarinnen und dummen Mädchen ausgegrenzt. Die selbstbewusste 25-jährige Frau kann aber pfeifend sagen, dass die anderen sie mal können. Oder den Vater fragen, was sie heute kochen soll. Denn auch zu Hause pfeift sie und schmeißt den Haushalt. Im olivgrünem Hemd mit rotem Schal sieht sie rebellisch aus, wenn sie mit dem Gewehr in den Wäldern wieder mal den Wolf sucht, der sich nach einer Legende hier rumtreiben soll. Als statt des Wolfs ein Mann mit Pelzkragen aus dem Gebüsch springt, stößt Sibel den geschwind in die Falle, die sie vorher gegraben hat. Danach pflegt sie allerdings den flüchtigen Soldaten auch, der den Kriegs-Einsatz verweigert.

Die ruhig erzählte Geschichte zwischen eindringlichen Naturbildern und einer unterdrückenden Sozialstruktur wurde von Çağla Zencirci und Guillaume Giovanetti trocken ohne Filmmusik inszeniert. Dank des eindringlichen Spiels von Damla Sönmez folgt man Sibel gebannt: Ernst ist sie immer mit dem Gewehr unterwegs, in dessen Kolben ihr Name geritzt ist. Sibel, ihr Name bedeutet „Pfeifen", ist dauernd auf der Suche nach dem mythischen Wolf, ansonsten eine gehorsame Tochter. Sie bekam vom autoritären Vater und Jagd-Genossen einige Freiheiten. Die verwöhnte jüngere Schwester wird da neidisch, denn sie darf sich mit ihren Freundinnen nicht so lange treffen. Bei der dreht sich allerdings alles darum, möglichst bald verheiratet zu werden. Was traditionell eine Heiratsvermittlerin zwischen den Familien arrangiert. Der Aberglaube ist dabei so stark und brutal, das sich Sibel nicht neben eine junge Braut setzen darf - ihre Krankheit könnte ja abfärben.

„Sibel" steigert sich im letzten Drittel dramatisch, als die Frauen auf dem Feld Sibel brutal zusammenschlagen, weil diese einen „Terroristen" im Wald getroffen habe. Nach der Entdeckung ihres Lächelns muss sie nun für ihre kleinen Freiheiten und für die kleine Schwester kämpfen, denn deren Verlobung sagte die andere Familie „wegen des Skandals" ab.

Auch mit der verrückten Alten Narin, die in einer abgelegenen Hütte noch immer auf ihren Verlobten wartet, der einst von der Dorfbevölkerung erschlagen wurde, ergibt sich im still intensiven „Sibel" ein Spektrum von fein nuancierten Frauenrollen. Ein Film voller märchenhafter Motive und sehr realer Freiheitskämpfe, der sehr verdient beim Festival von Locarno 2018 den FIPRESCI- und den Preis der ökumenischen Jury gewann.

23.12.18

Shoplifters - Familienbande

Japan 2018 Regie: Hirokazu Kore-eda, mit Lily Franky, Sakura Ando, Mayu Matsuoka, Kirin Kiki 122 Min. FSK ab 12

Wenn der Vater mit dem Sohn einkaufen und klauen geht. Das ergibt zuhause in typisch japanischer Enge eine schrecklich nette, liebevolle Familie. Der Serien-Sieger von Cannes, Regisseur Hirokazu Kore-eda („Vater und Sohn", Jury-Preis 2013), schaut sich erneut mit viel Humor und Gefühl an, was Familie eigentlich bedeutet.

Vater geht mit dem Sohn zum Klauen in den Supermarkt. Die eine Tante arbeitet in einer Pepshow, die andere stiehlt auf ihrer Arbeitsstelle. Oma besorgt bei der Familie ihres verstorbenen Mannes ihre „Rente". Diese besondere Familie hat nicht viel, doch als sie in einer kalten Nacht ein kleines Mädchen frierend auf einem Balkon entdecken, nehmen sie das Kind mit und geben ihm zum Essen. Dann sehen sie die blauen Flecken und Narben bei Yuri (Miyu Sasaki). Trotzdem soll das Mädchen zurück nach Hause, aber dort hören die Retter, wie ein Mann seine Frau misshandelt...

Mit den Augen der kleinen Yuri erleben wir diese leicht verrückte, aber äußerst sympathische Familie. Und mit den Augen des „Sohns" Shota (Kairi Jyo), der allerdings Zweifel an den moralischen Richtlinien des Vaters Osamu Shibata (Lily Franky) bekommt: Aus einem Supermarkt zu klauen, mag ja in Ordnung sein, weil die Sachen dort noch niemandem gehören. Aber aus einem Auto? Ein Moment des Zweifels, der in der späteren, spannenden Entwicklung des Films noch eine ironische Fußnote bekommen wird.

Denn bei der scheinbar fast normalen Familiengeschichte, mit Neuzuwachs und dem Abschieden, ist alles ist ein klein wenig anders. Als sich der Junge Shota beim Klauen erwischen lässt und die Polizei die Familie „aushebt", zeigt sich eine andere Geschichte: Aus behördlicher Sicht wird alles, was so natürlich und harmonisch passierte, als Verbrechen angesehen. Denn biologisch haben die fünf Menschen nicht viel miteinander zu tun.

„Normalerweise kann man sich seine Eltern nicht aussuchen." Dieser stille sowie sehr, sehr anrührende und beglückende Film stellt eine ungewöhnliche aber fast heilige Familie einer biologischen Verbindung gegenüber, in der körperlich und seelisch misshandelt wird. Regisseur und Autor Hirokazu Kore-eda vermittelt ein anderes Bild von Japan, aber „Shoplifters" ist mit seiner humorvollen Leichtigkeit niemals Sozialdrama.

Der exzellente und kluge Regisseur Hirokazu Kore-eda vertauschte schon in „Vater und Sohn" (Jury-Preis in Cannes 2013) die Söhne einer wohlhabenden und einer armen Familie direkt nach der Geburt, um japanische Ideale des Erfolgs bloßzustellen. Und im legendären „Nobody Knows" (Darstellerpreis Cannes 2004) überzeugte ein Gruppe verlassener Kinder mit herzzerreißender Fürsorge abseits gesellschaftlicher Normen. Auch „Shoplifters", diese durch Inszenierung und Spiel so anrührende Geschichte, wird durch die latente Frage spannend: „Was ist richtig, was ist eine richtige Familie?" Diese ganz besondere Familienbande wurde jedenfalls bei den Filmfestspielen von Cannes 2018 mit der Goldenen Palme ausgezeichnet und ist als japanische Einreichung noch im Rennen zum Oscar in der Kategorie „Bester ausländischer Film".

21.12.18

Mary Shelley

Großbritannien, Luxemburg, USA 2017 Regie: Haifaa Al-Mansour, mit Elle Fanning, Douglas Booth, Tom Sturridge, Bel Powley 120 Min. FSK ab 12

„Die Frau, die Frankenstein erschuf" ist wohl einen biografischen Film wert, auch wenn ihre Zeit- und eventuellen Bettgenossen Percy Shelley und Lord Byron in dieser Literaturgeschichte ein Wörtchen mitreden. Elle Fanning rettet als Mary Godwin das allerdings konventionelle Gefühlsfilmchen. Dass die Emanzipationsgeschichte von einer in Saudi-Arabien geborenen Künstlerin inszeniert wurde, spürt man nicht.

Die in Saudi-Arabien geborene, aber im Westen ausgebildete Regisseurin Haifaa Al Mansour beeindruckte mit ihrem bewegenden Film „Das Mädchen Wadjda" über ein junges Mädchen, das sich in Saudi-Arabien mit dem Wunsch, Fahrrad zu fahren, emanzipiert. Es war 2012 der erste echte saudi-arabische Film. Dass sich Haifaa Al Mansour für eine berühmte Emanzipations-Geschichte eignet, wäre denkbar. Der Plan geht jedoch in „Mary Shelley" nicht wirklich auf.

Die 16-jährige Mary (Elle Fanning), Tochter des Sozialphilosophen William Godwin und der verstorbenen Schriftstellerin Mary Wollstonecraft, trifft 1814 mit dem romantischen Dichter Percy Shelley (Douglas Booth) zusammen. Ihrer Leidenschaft folgend, flieht Mary mit Shelley. Dessen Karriere und Vermögen erleben ein dauerndes Auf und Ab, Schulden lassen ein gemeinsames Kind sterben. Shelley beginnt eine Affäre mit Marys Halbschwester und zu dritt reisen sie zu Lord Byrons Villa am Genfer See, wo das miserable Wetter die Grundlage zu „Frankenstein" legt. Ein gemeinsamer Schreibwettbewerb ermutigt Mary, ihr literarisches Talent auszuleben. Selbstverständlich wird der mittlerweile 18-jährigen Frau das Werk nicht abgenommen: Nur anonym, mit Shelley als vermutetem Autor, kann es erscheinen.

Mit viel Gefühl legt „Mary Shelley" seinen Schwerpunkt auf die „arme, leidende und liebende Frau". Charakterisiert wird die berühmte Autorin vor allem durch den Tod ihrer Tochter und die Untreue ihres Partners. Das Künstlerische - sowohl bei der Autorin als auch im Film - bleibt zweitrangig.

Dunkel ist noch lange nicht „gothic", oft wirkt der Stil nur dekorativ. Wirklich im Geist des literarischen Genres war 1986 der Horror-Film „Gothic" von Ken Russell inszeniert. Gabriel Byrne spielte Lord Byron, Julian Sands Percy Shelley und Natasha Richardson Mary Shelley. Überdeutlich werden bei Haifaa Al-Mansour die Bestandteile von „Frankenstein" in die Geschichte eingestreut, das gerade populäre Wiederbeleben von toter Materie beim „Galvanisieren", die chemischen Experimente. Marys Albträume sorgen für etwas Horror, das eigentliche Grauen sind jedoch die Männer. Die Poeten Shelley und Byron hampeln hier als besoffene und kindische Idioten herum. Der lüsterne Lord wirkt in der Darstellung von Tom Sturridge eher bukolisch als diabolisch.

Spannende Momente gibt es allerdings auch: Das Gespräch mit Shelley, nachdem er zum ersten Mal Frankenstein gelesen hat. Er will die perfekte Kreatur schildern, Mary hingegen sieht nach ihren Erfahrungen und Erlebnissen das Monster als Sinnbild der Menschheit. Die Ironie, dass sowohl Mary Godwin als auch Byrons Arzt John Polidori (Ben Hardy) bei diesem Aufenthalt Geschichten über ihre jeweiligen Monster schrieben, und genau diese Männer jeweils fälschlicherweise als Autoren gehalten wurden, blitzt auch auf.

Letztlich rettet Ellen Fanning „Mary Shelley" - die nach Filmen wie „How to Talk to Girls at Parties", „Jahrhundertfrauen" oder „The Neon Demon" wieder einmal außerordentlich agierende Hauptdarstellerin macht das brave Filmchen zu etwas Besonderem. Wenn auch viele der Kostüm-Szenen gesetzt wirken, ihre Momente sind lebendig und machen neugierig auf die Autorin Mary Wollstonecraft Shelley.

19.12.18

Mary Poppins' Rückkehr

USA 2018 (Mary Poppins Returns) Regie: Rob Marshall, mit Emily Blunt, Lin-Manuel Miranda, Ben Whishaw, Emily Mortimer, Julie Walters, Colin Firth, Meryl Streep 131 Min. FSK ab 0

Charme-Update

Es ist 54 Jahre her, seit Walt Disney mit dem Kinderfilmklassiker „Mary Poppins" nach langem Kampf mit der Autorin P. L. Travers viele Herzen eroberte. Das vorsichtig modernisierte Remake „Mary Poppins' Rückkehr" schafft es tatsächlich, den alten Charme zu bewahren. Eine ganz besondere Super-Nanny, perfekt besetzt mit Emily Blunt, kann mit Schirm und Handtasche in einer Welt voller Superhelden bestehen.

Es sind im Film nur ein paar Jahrzehnte vergangen, seit Mary Poppins das erste Mal die Familie Banks rettete. Im London der 1930er Jahre sind die Kinder von damals erwachsen: Michael Banks (Ben Whishaw) arbeitet wie sein Vater für die Bank, die ihm nun sein Haus abnehmen will. Der verträumte Maler kam mit den Ratenzahlungen nicht hinterher, es ist Wirtschaftskrise. Seine Schwester Jane Banks (Emily Mortimer) kämpft derweil für die Rechte der Arbeiter. Die drei Kinder, Annabel (Pixie Davies), Georgie (Joel Dawson) und John (Nathanael Saleh), sorgen sich wieder viel zu sehr um ihr Zuhause und vermissen die verstorbene Mutter.

Da niemand besser weiß als Disney, wie viel das alte Erbe wert ist, muss um das Haus der Familie Banks gekämpft werden. Zeit für den nächsten Auftritt von Mary Poppins. Während es in den Himmeln von allen anderen Kinos nur so vor fliegenden Superhelden wimmelt, kommt das Kindermädchen wieder altmodisch an ihrem Regenschirm auf London hernieder. Ganz wie einst Julie Andrews. Doch Emily Blunt („A quiet place", „Girl on the train", „Sicario") ist genau die Richtige, um an Andrews zu erinnern und sie gleichzeitig vergessen zu lassen. Die irritierend divenhafte, besserwisserische, eitle und kapriziös strenge Nanny mit dem ganz großen Herzen für Kinder und gute Menschen ist weiterhin zeitlos aus der Zeit gefallen. Eine Superheldin aus einer stilvollen Zeit ohne Superhelden.

Der vielfältige Fachmann Rob Marshall („Into the Woods", „Chicago") hat den sehr beliebten Klassiker mit Material der sieben zusätzlichen Bücher, die P.L. Travers schrieb, die aber nie verfilmt wurden, sanft modernisiert. Noch immer gibt es eine altmodisch hand-gezeichnete Musical-Sequenz, ein echter Augenschmaus. Unter den vielen neuen Liedchen findet sich auch tatsächlich eine sehr altertümliche Ballettnummer mit den Kollegen des einstigen Schornsteinfeger-Lehrlings, der nun für die Gaslampen zuständig ist. So wie dieser Retro-Moment mit Rap-Musik und Fahrrad-Stunts in Richtung HipHop ausklingt, enden einige Szenen aber auch in echter Action. Doch insgesamt vollbringt Mary Poppins bei ihrer Rückkehr das Wunder, gleichzeitig Feiertags-Zerstreuung und Film-Museum zu sein.

Dass dies so lange dauerte, ist wohl auch der 1996 verstorbenen Frau Travers zu verdanken. Wie schwierig die Verhandlungen mit ihr waren, kann man in dem netten „Saving Mr. Banks" sehen, Tom Hanks spielt darin Disney.

Die herrlich altmodisch nachkomponierte Musik wird die Großeltern im Kino erfreuen. Eine alberne Shownummer von Meryl Streep bringt noch einen großen Namen aufs Plakat. Dabei bleibt die Disney-Geschichte auch 2018 ein Märchen: Neuerliche Erkenntnisse der Immobilien-Krise über unmoralische Banker (hier Colin Firth) werden mit märchenhaften Lösungen beantwortet. Die gewerkschaftlichen Aktivitäten von Jane sind reine Staffage ohne Folgen. „Mary Poppins' Rückkehr" lebt wie die Ur-Ahnin von Momenten, Szenen, Liedern. Heute fällt das Fehlen von Entwicklung und schlüssiger Handlung vielleicht stärker auf. Doch die Magie des zauberhaften Kindermädchens wirkt mit Spaß und Rührung auch noch heute.

18.12.18

Die Poesie der Liebe

Frankreich 2017 (M. & Mme. Adelman) Regie: Nicolas Bedos, Doria Tillier, Nicolas Bedos, Denis Podalydès 120 Min. FSK ab 12

Die Herren Roth, Auster und Houellebecq müssen jetzt ganz stark sein: Es kommt die Ära der Autorinnen. Zumindest im Kino. „Die Poesie der Liebe" ist die erste von gleich drei Geschichten, in denen sich die Frau als wahre Autorin erweist. In „Colette" spielt Keira Knightley die gleichnamige (reale) französische Schriftstellerin. Auch ab dem 3. Januar wird Glenn Close „Die Frau des Nobelpreisträgers" sein.

In „Die Poesie der Liebe" spielt die Ko-Autorin (und Partnerin des Regisseurs Nicolas Bedos) Doria Tillier, Sarah Adelman. Die Frau des Prix Goncourt-Gewinners Victor Adelman (Nicolas Bedos). Nach dessen Beerdigung mit Staatsakt, bekommt ein Journalist ein Interview mit der Witwe. Und die Erzählerin betont direkt, dass dies eine Geschichte sein soll, die sich gut verkauft!

Mit viel Humor erzählt Sarah vom ersten Treffen und der ersten Nacht, die Victor komplett verschläft, während sie seinen Text korrigiert. Ungewünscht. Es läuft überhaupt nicht zwischen ihnen, während sie ihm hinterher läuft. Sarah bedrängt ihn, indem sie die Freundin eines Freundes und sogar seines Bruders wird. Dies ist keine übliche Romanze. Sie ist ironisch, oft auch zynisch, witzig und interessant, weil die beiden Sichtweisen auf das Geschehen so unterschiedlich sind. Er wird immer alles seinem Psychiater beichten, bis der stirbt, um endlich Ruhe zu haben.

Durch die Jahrzehnte französischer Geschichte folgen komische und dramatische Episoden einer 45-jährigen Beziehung. Die vermeintliche Hauptfigur Victor ist ein eingebildeter Jungautor, ein literarischer Spinner, ein Möchtegern-Jude, ein Ekel, ein Liebender. Die Kapitel zeigen seine Erfolge, seine Frustrationen, die Eifersucht, die Frauenverachtung und schließlich seine Demenz mit einem Schlussakkord ganz großer Liebe. Das Leben von Monsieur und Madame Adelman - so der bessere Originaltitel - bietet eine exzellent gespielte und ausgestattete Mischung von Gefühls- und Erzähltönen. Mit dem besonderen Reiz der weiblichen Perspektive, die der offiziellen Geschichte einiges hinzufügen kann.

Bumblebee

USA 2018 Regie: Travis Knight, mit Hailee Steinfeld, John Cena, Megyn Price 114 Min.

Ja, auch Spielzeug-Figürchen haben eine Vorgeschichte! Eigentlich nicht erstaunlich in einer Zeit, die aus einem Stück billigem Plastik eine „Saga" macht, erzählt „Bumblebee" extrem einfallslos noch eine „Transformers"-Geschichte. Aber immerhin eine Geschichte ...

Im Jahr 1987 geht es weiter wie gehabt in bislang fünf „Transformers"-Filmen: Die riesigen Maschinen-Wesen Autobots kämpfen mit ihren bösen Artgenossen Decepticons auf einem fernen Planeten und verstecken sich nach der Niederlage auf der Erde. Getarnt als Autos! Bumblebee ist jetzt der erste Flüchtling, der in der Gestalt eines alten, gelben VW Käfers auf einem kalifornischen Schrottplatz von der 18-jährigen Charlie (Hailee Steinfeld) entdeckt wird.

Und hier beginnt ganz überraschend tatsächlich eine menschliche Geschichte! Denn den Anfang von „Bumblebee", das Finale und zu viel zwischendurch muss man sich die Handlung wie von einem Fünfjährigen ausgedacht vorstellen, der mit seinen Plastikfiguren Krieg spielt. Wenn dieses Kind nun Jahrzehnte ohne weitere Entwicklung aufwächst und zig Millionen für seine Spiele bekommt, dann heißt das „Transformers". Ein tolles Vergnügen für die anderen Kinder im Kino.

Wobei die Geschichte des rebellischen Teenagers Charlie eher an Spielbergs Jugendgeschichten erinnert, viel mehr von „E.T." hat, als das übliche Kriegsspiel. Das eigenwillige Mädchen Charlie vermisst immer noch ihren verstorbenen Vater. Zum Geburtstag bekommt es völlig unverstanden einen peinlichen Moped-Helm und vom dämlichen Stiefvater einen Ratgeber, mehr zu lächeln. Mit Hilfe des alten Schrottautos, das sich bald als Bumblebee zu erkennen gibt, gewinnt Charlie Selbstbewusstsein und vor allem Durchsetzungsvermögen. Obwohl das Stimmen-Modul des Roboters defekt ist, verstehen sich die beiden jungen Wesen mit gleichen Verlustgeschichten. Bumblebee redet dabei mit Hilfe von Sprachfetzen und Songs aus dem Autoradio.

Selbstverständlich macht das aus dem sechsten „Transformer" noch keine niedliche „Herbie"-Geschichte. Hier wird sehr brutal gekämpft und abgeschlachtet. Dass kein Blut sondern Motorenöl fließt, macht die Sache nicht besser. Angeführt vom Militär Burns (John Cena) gilt auch bei Außerirdische das us-amerikanische Grundgesetz: „Erst mal schießen!"

Aber der bisherige „Transformers"-Regisseur Michael Bay („Bad Boys", „Armageddon", „Pearl Harbor") hält sich als Produzent zeitweise zurück und lässt den jüngeren Travis Knight machen, der bei Filmen wie „Die Boxtrolls" und „Coraline" etwas über Fantasie und echte Menschen gelernt hat. So gilt bei der exzellenten Musikauswahl Charlies der erste Song, „Big mouth strikes again" von „The Smiths", nicht ganz: Das filmische Großmaul Michael Bay lässt auch andere Töne zu.

17.12.18

Westwood

Großbritannien 2018 (Westwood: Punk, Icon, Activist) Regie: Lorna Tucker 84 Min. FSK ab 0

Noch eine Starke-Frauen-Doku! Nach der Richterin Ginsberg als „Notorious RBG" macht nun die legendäre Designerin Vivian Westwood noch mehr Eindruck. Auch wenn ihre Welt der Mode nicht so wichtig ist, wie der Kampf um Gleichberechtigung - denkt der unmodische Kritiker.

„Sie fragen besser nichts, lassen Sie mich einfach reden. Ich bin völlig gelangweilt von dem alten Kram, aber wenn sie es unbedingt brauchen..." So beginnt Vivian Westwood den Dokumentarfilm über ihr Leben. Sie wirkt mit 77 Jahren immer noch jung und dynamisch, ist weiterhin auf dem Fahrrad in London unterwegs, auch wenn ihre Fashion-Stores rund um die Welt eröffnet werden. Sie flucht und meckert, macht ihre Mitarbeiter runter, während der viel jüngere Ehemann schweigt. Doch wenn der Stress der neuen Kollektion vorbei ist, zeigt sie mehr Punk als Alters-Starrsinn.

Vivienne Westwood hat schon früh selbst nachgedacht und zog aus einfachen Familienverhältnissen im Alter von 17 Jahren nach London, mitten hinein in die Swinging Sixties der 60er Jahre. Ihr Leben änderte sich abrupt, als sie den Sex Pistols-Manager und Impresario Malcolm McLaren traf und ihr gemeinsamer Shop an der Kings Road die Popkultur revolutionierte. Ihr T-Shirt für Johnny Rotten liegt mittlerweile im Victoria and Albert Museum. Westwood gilt als Grande Dame des Punks.

Dies war jedoch nur die erste Karriere einer Frau, die schon als Enfant Terrible der britischen Modewelt mit Preisen überhäuft wurde. Die Dokumentation verfolgt das, was als „Karriere" eigentlich viel zu holperig verlief, ist bei aktuellen Kollektionen und Konzern-Entscheidungen ganz dicht dabei und lässt vor allem die Westwood erzählen.

Es macht Spaß, ihr zuzuhören bei dieser super spannenden Zeitgeschichte. Selbstkritisch reflektiert wird von der momentan engagierten Greenpeace-Kämpferin die gesellschaftliche Funktion ihrer ganz wilden Zeit: „Wir haben das Establishment nicht angegriffen, wir waren Teil der Unterhaltung, wir wurden vermarktet." Die gleichen Gedanken erfährt ihre Mode nicht, aber die spricht auch für sich selbst. Denn die adelige Dame Viviane trägt immer noch tolle eigene Entwürfe. Regisseurin Lorna Tucker überzeugt mit persönlichen und netten Geschichten ihrer Heldin und begeisterter Personen auf dem Umfeld.

Der Film startet am 20. Dezember im Kino. Ab dem 15. Januar 2019 wird er als digitaler Download und ab dem 31. Januar 2019 als DVD & Video-on-Demand erhältlich sein.

Die Schneiderin der Träume

Indien, Frankreich 2018 (Sir) Regie: Rohena Gera, mit Tillotama Shome, Vivek Gomber, Geetanjali Kulkarni 99 Min. FSK ab 0

Mit stiller Schönheit, die niemals prahlt, begeistern sowohl „Die Schneiderin der Träume" als auch die damit gemeinte junge Witwe Ratna in Mumbai. Ein angenehm leiser und bewegender Film über Träume, die (Standes-) Grenzen überwinden.

Eine Vegetarierin hat als Hausmädchen und Köchin in Mumbai eigentlich einen schweren Stand. Doch sehr harmonisch und ohne große Aufregung geht es im Haushalt des junge Dienstmädchens Ratna und ihres Chefs Ashwin her. Selbst als dessen Hochzeit in letzter Minute abgesagt wird. Leise erzählt Ratna dem Frustrierten ihre eigene Geschichte. Wie sie in ihrem Dorf „günstig" ohne Aussteuer an einen Mann verheiratet wurde, der sich aber als „Mogelpackung" erwies, weil er schon todkrank war. Als Witwe in einem indischen Dorf sei das Leben eigentlich vorbei, doch Ratna ist zufrieden mit dem Job in der freieren Stadt. Sie finanziert damit auch noch das Studium ihrer Schwester. Das Studium, von dem sie selbst träumte.

Nun bekommt sie aber problemlos zwei Stunden pro Tag frei, um beim Schneider zu lernen. Auch Ashwin musste wegen der Familie auf einen Traum verzichten. Er war schon Journalist in den USA, doch als sein Bruder starb, sprang er als Nachfolger für die Baufirma des Vaters ein.

Die Hauptdarstellerin Tillotama Shome macht es leicht, mitzufiebern und -zufühlen. Neben der irritierenden Selbstverständlichkeit, dass hier menschliche Arbeit noch so billig ist, dass sich der Unternehmers-Sohn eine Hausangestellte leisten kann, machen den Film spannende (Ein-) Sichten der gigantischen Metropole Mumbai interessant.

Der Liebesfilm „Die Schneiderin der Träume" hat keine besonders raffinierte Erzählung und eher unauffällige Inszenierungs-Ideen. Er funktioniert vor allem durch Sorgfalt: Ohne viele Erklärungen verstehen wir, wie es Ratna und Ashwin geht. Beide sind stille Charaktere und dass der Film sich Zeit lässt, entspricht ihnen auf sehr reizvolle Weise. So überschreiten sie nur zögerlich Standes-Grenzen, die für diese Arbeitsverhältnisse gelten. Dabei fühlen sie sich in der jeweiligen Rolle sehr unwohl, würden gerne einfach von Mensch zu Mensch miteinander reden. Diese schöne Annäherung ist wichtiger als das übliche, hier klein gehaltene Drama um unmenschliche Klassen-Unterschiede.

Aquaman

USA 2018 Regie: James Wan, mit Jason Momoa, Amber Heard, Willem Dafoe, Patrick Wilson 144 Min. FSK ab 12

Eine fantastische Welt unter Wasser mit ganz anderen Wesen. Faszinierend in ihrer Andersartigkeit, schillernd in den Farben, irre in den Figuren. Und alle interessiert mal was ganz anderes: Nämlich sich die ganze Zeit so prügeln. „Aquaman" ist wieder einer dieser gewaltigen Produktions-Aufwände für Comic-Verfilmungen mit lächerlich hohlem Ergebnis.

Am Anfang macht dieser x-te Superheld noch etwas Hoffnung: Das Kind eines Fischers und einer Königin von Atlantis (peinlich geglättet: Nicole Kidman) entwickelt sich prächtig daneben als Säufer und Party-König. Zwischendurch rettet Arthur Curry (Jason Momoa) ein U-Boot vor dem Piraten Black Manta (Yahya Abdul-Mateen II), der für viele weitere Folgen zum Todfeind wird. Doch irgendwann holt der kämpferische Rot-Schopf Mera (Amber Heard) den Aquaman zurück in sein Königreich. Dort versucht nämlich Halbbruder Orm (Patrick Wilson), der atlantische König, einen großen Krieg gegen die Menschen anzuzetteln. Mal wieder Zeit, die Welt zu retten.

Wie die Völker von Atlantis den Müll und die Kriegsschiffe der Menschheit zurück an Land spülen, hat großen Öko-Stil. Ansonsten zeigt große Inhaltsleere, dass „Aquaman" vor allem wieder so ein Vehikel der Konzern-Strategie von DC-Comics ist: Nach dem Kurzauftritt in „Justice League" bekommt er ein bis drei eigene Filmchen, um dann wieder in der nächsten Massen-Prügelei teilzunehmen, die von den Konzern-Menschen als filmischer Meilenstein verkauft wird.

Die ganzen Kloppereien, die gefühlt achtzig Prozent der Handlung einnehmen, erinnern an den Klamauk von Bud Spencer und Terence Hill. Ziemlich banal für noch einen dieser Filme, die furchtbar laut mit Welten überwältigen wollen, die man noch nie so gesehen hat. Ziemlich eindrucksvoll, aber nie spürt man diese Welt, nie erlebt man sie wirklich. Zwischendurch etwas Schnitzeljagd im Stile von James Bond. Die Soldaten von Atlantis sehen aus wie Storm Troopers, und wenn man denkt, das Elend hat bald ein Ende, kommt noch so eine dieser finalen Schlachten („Herr der Ringe", „Harry Potter" ...). Raumschiffe und Seemonster wirbeln wild durcheinander. Dass sich hier statt Orks Haifische balgen, macht den ganzen Blödsinn nur noch abstruser. Kindisch wirkt auch, dass es zwischen Arthur und Mera keine Chemie, sondern nur müde Scherze gibt. Und jederzeit weiß man, dass den Helden nichts passieren wird, denn es muss ja noch viele Fortsetzungen für die Kinokasse geben.

Trouble (2017)

USA 2017 Regie: Theresa Rebeck, mit Anjelica Huston, Bill Pullman, David Morse 100 Min.

Huston, wir haben ein Problem! Ein ganz großes! Eigentlich tolle Schauspieler aus ehrenwerten Familien blamieren sich in einer grausamen Komödie, die alle Chancen auf viele Negativ-Preise hat. Mit Pyjama und Cowboyhut stürmt Anjelica Huston („Addams Family", „Die Ehre der Prizzis", „Hexen, Hexen") in die Szene. Sie spielt Maggie Kramer, die alleine auf ihrer großen Farm mitten in den Bergen von Vermont lebt. Doch ihr Bruder Ben (Bill Pullman), der einst sein Erbe ausgezahlt bekam, meint mit der Sturheit eines Vollidioten, er hätte noch Anrecht auf das wertvolle Land. Schüsse fallen und treffen ebenso daneben wie die kläglichen Scherze oder das unendlich elende Drama.

Maggie und Ben streiten wie kleine Kinder und gehen dem Publikum dementsprechend auf die Nerven. Die Handlung ist ein konfuses Hin und Her, ohne dass man die Figuren überhaupt kennenlernt. Bill Pullman kann gut wahnsinnig in die Gegend blicken, das weiß man seit besseren Tagen in Lynchs „Lost Highway". Julia Stiles („Die Bourne Identität", „O") gibt dem Dummchen vom Amt kein Format . Das Schlimmste aber bleibt Anjelica Houston mit komischer Stimme in peinlicher Rolle.

12.12.18

Die Erscheinung

Frankreich, Belgien, Jordanien 2018 (L'apparition) Regie: Xavier Giannoli, mit Vincent Lindon, Galautéa Bellugi, Patrick d'Assumçao 144 Min.

Ein besonderes fertig aussehender Vincent Lindon spielt den Journalisten Jacques Mayano, der mit dem Sarg seines Kollegen aus dem Irak zurückkehrt. Schwer traumatisiert und mit einem Hörschaden belastet, versteckt er sich hinter verklebten Fenstern, bis ihn ein wundersamer Auftrag in eine andere Welt bringt: In Rom trifft er einen skeptischen Monseignore des Vatikan - Beauftragter für Wunder, die nicht von diesem Verein allein vermarktet werden. Mit ungläubigem Blick hört Mayano von einer Marien-Erscheinung im Süden Frankreichs. Nun soll er mit einem Team die Sache durchleuchten. Ein Exorzist ist auch schon auf dem Weg. In einem Dorf, das gut vom Pilger-Geschäft lebt, dreht sich alles um das zurückhaltende Mädchen Anna inmitten von Menschen im religiösen Wahn.

Der eher seltsame als wundersame Film von Xavier Giannoli („Madame Maguerite", „Chanson d'Amour") nähert sich sehr langsam und ohne große Zweifel diesem doppelten Aberglauben an. Journalistischen Ehrgeiz legt der verstörte Mayano nicht an den Tag. Man wartet geduldig auf ein Geheimnis, es gibt auch einen Mord und anders Ungeklärtes. Letztlich bleibt nur die Erklärung, dass dies alles den Protagonisten verändert hat. Wie der Vatikan mit dem heilig ausgeflippten Dorf verfährt, wird zweitrangig. Positiv erwähnenswert wäre, dass sich der Film den Menschen jenseits des Wunderglaubens zuwendet, also vor allem an der Person Annas interessiert ist. Die Hauptdarstellerin Galautéa Bellugi hat eine dieser besonders intensiven Leinwand-Präsenzen. Vincent Lindon grummelt sich durch die seltsame Welt des einträglichen Aberglaubens.

RBG - Ein Leben für die Gerechtigkeit

USA 2018 (RBG) Regie: Betsy West, Julie Cohen 98 Min. FSK ab 0

Notorious RBG - eine zierliche, introvertierte Richterin über 80, deren Spitzname so klingt, wie der eines Rappers. Der Dokumentarfilm über die im hohen Alter enorm populär gewordene Supreme Court-Richterin Ruth Bader Ginsburg beginnt mit Beschimpfungen wie „Hexe", „Zombie" oder „kein Respekt vor der Verfassung". Dabei wird sie als Superheldin gezeichnet, bekommt freundliche Persiflagen in „Saturday Night Live" und findet ihr Gesicht auf T-Shirts wieder.

Ginsburg, die 1983 erst als zweite Frau in den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten berufen wurde, ist das Kind eines jüdischen Flüchtlings. Früh dachte sie selbständig, wurde politisch bewusst in der Zeit von McCarthys und Nixons Hexenjagd gegen Linke. Die vorherrschende Meinung in den Zeiten ihrer ersten Fälle als Anwältin war: „Nette Frauen widersprechen nicht, nette Frauen stellen keine Forderungen." Ginsberg verfolgte ihre Karriere mit einer Strategie ausgesuchter Fällen, das Unrecht gegenüber Frauen bewusst zu machen und aus den Gesetzen herauszuholen. Mit 85 Jahren hat sie immer noch den Schalk im Gesicht bei ihren klugen Vorträgen, verweigerte es, ihren Richtersitz abzugeben und ist weiterhin Vorkämpferin für Gleichberechtigung und Frauenrechte. Nun studiert ihre Enkelin auch Jura. Erstmals sind an ihrer Universität gleich viele Männer und Frauen in einem Jahrgang.

Die Biografie zu „RBG" ist teilweise witzig montiert, wenn die alte Dame mit ihrer großen Disziplin auch bei Gymnastik-Übungen gezeigt wird. Flott und unterhaltsam wird hier Werbung für Verfassungstreue und Gleichberechtigung gemacht: Man kann auch cool sein, wenn man klug engagiert ist. Es gibt „hippe" Sequenzen, dazwischen die konventionellen „Talking Heads", die Interviews mit alten Freundinnen und anderen Zeitzeugen wie Bill Clinton. Auch wenn „RBG" eine gute Geschichts-Lektion ist, der spannende Verlauf ihrer Kämpfe vor Gericht geht nicht in die Tiefe. Dafür menschelt es recht nett in dieser Biografie einer enorm eindrucksvollen Frau, die nie viel von Smalltalk hielt und immer direkt zum Kern der Sache kam. Heute bleibt sie eine Stimme der Gerechtigkeit und der Vernunft in einem Supreme Court, der vermehrt von Partei-Interessen bestimmt wird.

Ruth Bader Ginsburgs Privatleben ist bestimmt von einer Hymne für ihren Ehemann Marty, der sich ihrer Karriere nicht in den Weg stellte, was damals ungewöhnlich war. Viele teilweise unglaublich erscheinende Geschichten beschreiben die Ausnahmeposition dieser Juristin und einer Frau auf diesem Weg. Die sehenswerte Dokumentation ist von Betsy West und Julie Cohen mit enormer Begeisterung und positiv inszeniert.

9.12.18

Gegen den Strom (2018)

Island, Frankreich, Ukraine 2018 (Kona fer í stríð / Woman at war) Regie: Benedikt Erlingsson, mit Halldóra Geirharðsdóttir, Jóhann Sigurðarson, Juan Camillo Roman Estrada, Jörundur Ragnarsson 101 Min. FSK ab 6

Gerade hat Halla wie Robin Hood mit Pfeil und Bogen die Hochspannungsleitung zum Aluminiumwerk kurzgeschlossen und flieht über die karg schöne Berglandschaft Islands. Da rennt sie an der dreiköpfigen Band vorbei, welche die Szene auf der Wiese mit witzig klingender Tuba musikalisch begleitet. „Gegen den Strom" ist auf ganz eigene Weise spannend, bewegend und komisch gleichzeitig. Es ist ja auch der neue Film des isländischen Regisseurs Benedikt Erlingsson nach dem skurrilen Spaß „Von Menschen und Pferden".

Schon fünf Mal hat Halla (Halldóra Geirharðsdóttir) die Stromversorgung lahmgelegt. Diesmal hilft ihr ein alter Schäfer, sich vor den Hubschraubern der Polizei zu verstecken. Aufrecht, ehrenwert, und engagiert ist ihr Plädoyer. Etwas hilft vielleicht, dass der Schäfer nach einigem Nachdenken ein entfernter Cousin sein könnte. Nach dieser mutigen Aktion schlüpft Halla wieder in ihre Rolle als beliebte und geschätzte Chorleiterin. Ihr Komplize arbeitet bei der Regierung, warnt sie vor Satellitenüberwachung und Infrarot-Kameras, vor Agenten aus den USA. Doch das würde die „Frau vom Berg" nicht bremsen. Schon eher die Nachricht, dass ihr Adoptions-Antrag nach vier Jahren angenommen wurde. Halla darf ein vom Krieg verstörtes Waisenkind aus der Ukraine holen.

Was nach einer üblichen Dosis Sentiment klingt, wird von Regisseur Benedikt Erlingsson in diesem sagenhaft tollen Film erstaunlich kunst- und humorvoll als ein großes zusammenhängendes Ganzes erzählt: TV-Nachrichten im Hintergrund von Unwettern, Überschwemmungen und Hunger-Katastrophen machen ohne lange Erklärungen klar, wieso Halla gegen die energie-fressende Aluminium-Industrie kämpft. Die großen Poster von Nelson Mandela und Ghandi stehen für ihren Weg des Widerstands. Wie jedoch die Propaganda-Maschinerie von Industrie, Regierung und Geheimdiensten der Bevölkerung daraus ein Märchen von Terror und Extremismus verkauft, zeigt der Film wortwörtlich beiläufig: Während Halla, selbstverständlich mit dem Fahrrad, durch die Straßen Reykjaviks geht, vorbei an den Fenstern der Menschen und Medien. Das ist nicht nur ungemein witzig, das ist auch mit sehr, sehr raffinierter Kameraarbeit (Bergsteinn Björgúlfsson) genial inszeniert!

Der Humor ist nordisch trocken und bei allem gilt der Kommentar des hilfreichen Schäfers, der seinen Hund „Frau" ruft: „Wir reden hier nicht viel darüber." Stattdessen spricht immer wieder die Musik, die wie selbstverständlich in den Szenen anwesend ist. Diesen Spaß begreift man schnell und wartet bei der Kreisbewegung um Halla im Park auf den ukrainischen Frauenchor. Die Öko-Kriegerin gibt selbst den wütenden Einsatz vor ihrem nächsten Sabotageakt. Dass dabei immer wieder ein harmloser spanisch-sprechender Weltreisender auf dem Fahrrad verhaftet wird, gehört zu den besten Running Gags der jüngeren Filmgeschichte.

Halldóra Geirharðsdóttir spielt ergreifend gut Halla und ihre esoterische Zwillingsschwester Ása. Die Yoga-Lehrerin ist Ratgeberin, verkörpert aber mit ihrem Weg nach Innen eine Alternative zum aktiven Widerstand. Wie hier der Ring der mächtigen Politiker die Versammlung der alten Wikinger und auch Tolkiens Ring-Geister überlagert, macht die Ideen-Dichte des anscheinend so leichten Films klar. Eine tradierte Achtsamkeit gegenüber der Natur, Hallas ganz innige Berührungen der Mose und Flechten, werden vorgeführt in ihrem Manifest gegen die umweltschädlichen Industrien. Das ist witzig, spannend und macht Mut, für wichtige Sachen zu kämpfen.

Mortal Engines: Krieg der Städte

Neuseeland, USA 2018 (Mortal Engines) Regie: Christian Rivers, mit Hugo Weaving, Hera Hilmar, Robert Sheehan, Jihae, Ronan Raftery, Leila George, Patrick Malahide, Stephen Lang 128 Min.

Der Auftakt ist gigantisch fantastisch: Ein riesiges Schlachtschiff mit einer ganze Stadt auf seinem Deck fährt auf Panzerketten über verwüstete Steppen, jagt kleine Städte, die mit ihren Dampfmaschinen der gefräßigen Schrottpresse zu entkommen suchen. Wie ein britischer Seefahrt-Admiral steht Hugo Weaving als Kapitän Thaddeus Valentine auf der Brücke. Die Rebellin Hester Shaw (Hera Hilmar) versteckt sich noch hinter ihrem roten Schal in der langsam auseinanderfallenden Beute.

Das ist gewaltiger Cyberpunk, eine Art von „Mad Max" für die Jugend, Zukunft vermischt mit Retro-Touch. Die vierteilige Jugend-Romanserie von Philip Reeve „Mortal Engines" spielt hunderte Jahre nach einem vernichtenden Krieg. Kriegstreiber und mörderische Eroberer fahren über die Ödnis auf der Suche nach noch mehr Ressourcen. Passend zur Kolonialgeschichte Großbritanniens ist London hier der große, böse Todesstern auf Panzer-Fahrgestell. Oben auf dem Monstrum thront die St. Paul's Cathedral, das Riesenrad „London Eye" wurde als neues Beförderungssystem recycelt.

Wenn man alles Wissen über die Gesetze der Physik an der Kinokasse abgegeben hat, macht „Mortal Engines" mächtig Eindruck. In den besten Momenten fantastisch wie „Das wandelnde Schloss" von Hayao Miyazaki. Ansonsten mit der digitalen Material-Menge erschlagend. Denn Regisseur ist der oscar-prämierte Spezialeffekte-Künstler Christian Rivers, der für Ko-Produzent und -Autor Peter Jackson bei „King Kong" und „Herr der Ringe" im Einsatz war. Wie das Kinder-Spiel mit Matchbox-Autos, wie das in die Luft jagen von Play Mobil-Figuren mit Lady Krachern oder das Plattmachen von Puppenstuben hat dieser Film spürbar Lust an der ganz großen Zerstörung.

Bevor die Handlung mit den (arche-) typischen Vater- und Rebellen-Figuren im Stil von „Star Wars" und Co. so richtig langweilt, hat man dabei auch Spaß: Der junge, unscheinbare Tom Natsworthy (Robert Sheehan) ist Archivar wie Thaddeus Valentine (Hugo Weaving), wird sich aber bald gegen sein Idol stellen. Zu den Artefakten seines Museum gehören tatsächlich Minion-Figuren und selbstverständlich auch ein iPhone. Gesucht sind aber vor allem Steuerteile eines gefährlichen Reaktors. Alles dreht sich um knappe Energie-Ressourcen, für die sich fahrende Riesenstädte kannibalisieren. Alte Erfindungen wie Sonnen- oder Windenergie geraten in den nächsten 100 Jahren wohl in Vergessenheit. Trotzdem gibt es immer wieder viel zu staunen in diesen wirklich noch mal fantastischen Welten. Bis zum viel zu langen Finale, das wie ein geerdeter Star Wars-Kampf um den Todesstern daher kommt.

Zum Glück sagt hier ein wieder dämonischer Hugo „Mr. Smith" Weaving ziemlich schnell „Ich bin dein Vater" zur Gegnerin Hester. (Seinen Hit „Matrix" muss er auch erwähnen.) Die isländische Hauptdarstellerin Hera Hilmar („Der Eid") macht ihre Figur, die auch noch einen Zombie-Roboter als Stiefvater hat, interessant. Der gefühlvollste Moment ist tatsächlich das Wiedersehen mit dem Maschinen-Monster, das Rebellin Hester großgezogen hat. Was symptomatisch ist für einen tricktechnisch-aufwändigen Film, dem erzählerisch Herz und Seele fehlen.

6.12.18

Spider-Man: A New Universe

USA 2018 (Spider-Man: Into the Spider-Verse) Regie: Bob Persichetti, Peter Ramsey, Rodney Rothman 117 Min. FSK ab 6

Dieser Spider-Man ist anders. Nicht die nächste kurzatmige Neuauflage mit großem Etat und großen Stars. In vielen Dimensionen berauscht „Spider-Man: A New Universe" als ein großartiger Zeichentrick für kleine und große Fans.

Schon die Galionsfigur der Columbia-Produktion im Vorspann zittert und verwischt wie bei TV-Bildstörungen. Dabei ist doch eigentlich alles einfach: Peter Parker wird von einer Spinne gebissen, bekommt Superkräfte, rettet die Stadt, verliebt sich und verliert einen geliebten Menschen. So erzählt es auch dieser gezeichnete Peter Parker. Während wir den typischen Teenager Miles Morales kennenlernen. Sein Vater versteht ihn nicht, die neue Schule ist doof, nur der Onkel Aaron teilt die Leidenschaft für Graffiti und Street Art. Beim Sprayen eines grandiosen Wandgemäldes im Untergrund geht es wieder los: Die Spinne beißt Miles und die Geschichte wird so richtig zum Comic. Sprechblasen und Split-Screens tauchen auf.

Doch vieles ist anders: Die Werbung in New York preist „Koka Soda" an, der neue Spider-Man Miles ist schwarz und vorerst bleiben nur die Street Art-Sticker bei ihm kleben. Da der große Schurke Kingpin mit einer gewaltigen Maschine seine Familie aus einem Parallel-Universum zurückholen will, tauchen aus verschiedenen Dimensionen noch andere Spider-Leute auf. Spaßig, was da alles aus dem bunten Chaos kommt: Ein ganz dunkler Spider-Man aus einem (Film-) Noir-Comic. Das Spider-Schweinchen Porky Parker, das schon mal den Spruch „That's all Folks" von seinem Warner-Kollegen Porky Pig klaut. Neben dem extrem coolen Spider-Girl Gwen, die einen eigenen Film verdient, hilft auch die japanische Variante aus: Peni Parker hat sich mit ihrer Spinne angefreundet, die jetzt in ihrem riesigen Roboter-Kumpel lebt.

Ein zweiter Peter Parker ist nach Scheidung und wenig diszipliniertem Leben ziemlich runtergekommen. Jeder macht Witze über sein Bäuchlein und die Jogginghose. Ausgerechnet er, der keine Kinder haben wollte, wird zum älteren Buddy für Miles. Bringt ihm das Fliegen am Spinnenfaden bei und auch die üblichen Superhelden-Sprüche.

Actionreich spielt dieser andere „Spider-Man" mit Dimensionen und Stilen, stellt Brooklyn auf den Kopf, veralbert im Zitat die vorherigen Verwertungen. Dabei ist vor allem die Action zeichnerisch sensationell. Dieses neue Universum ist ein junger Film, der seinen jungen Zuschauer etwas zutraut und traditionelle Zuschauer überfordern könnte. Für alte Fans gibt es nicht nur das übliche Stan Lee-Cameo, sondern viele, viele nette Hinweise. Auf einer Anrufliste versteckt sich beispielsweise der erste Spiderman-Zeichner Steve Ditko, die futuristische Kleiderkammer von Peters Tante May zeigt legendäres Latex. Die ganz große Musik ist besonders bei den Szenen mit dem düsteren Onkel Aaron spannend. Dazu gibt es eine gute Portion Küchen-Psychologie und die rührende Annäherung zwischen zu strengem Vater und Teenie-Sohn. Die Regisseure Bob Persichetti, Peter Ramsey und Rodney Rothman schufen zusammen mit Drehbuch-Autor Phil Lord („The Lego Movie", „21 Jump Street") ein sehenswertes Parallel-Universum jenseits der üblichen Marvel-Langeweile.

5.12.18

Netflix-Film "Roma" im Kino

Revolution in der Filmwelt

Der Venedig-Sieger „Roma" vom hervorragenden Regisseur Alfonso Cuarón startet heute in den deutschen Kinos (Aachen: Apollo). Eigentlich selbstverständlich für einen ausgezeichneten Film. Doch dass die Netflix-Produktion vor dem Streaming-Start am 14.12. überhaupt das Licht des Kinos sieht, ist für die Filmwelt eine sensationelle Rolle rückwärts und hat viel mit den Oscars zu tun.

Klärung tut Not, denn „Roma" liegt hier nicht in Italien, sondern ist ein Viertel in Mexiko-Stadt. Und es ist auch kein Film, sondern ein Netflix-Film. Der Marktführer für das Film-Streaming, der mit seinem neuen Konzept das Sehverhalten revolutioniert und von der Straße nach Hause geholt hat, zeigt seine Schätzchen üblicherweise nicht im Kino. Weshalb er als Totengräber der Filmtheater dämonisiert wird.

„Roma" ist das bisher persönlichste Projekt des Oscar-prämierten Regisseurs und Drehbuchautors Alfonso Cuarón („Gravity", „Children of Men", „Harry Potter und der Gefangene von Askaban", „Y Tu Mama Tambien"). Der Film handelt von Cleo, einer jungen Hausangestellten, die für eine Familie im mittelständischen Viertel Roma arbeitet. Basierend auf seiner eigenen Kindheit erschafft Cuarón ein emotionales Werk über häuslichen Streit und soziale Hierarchien inmitten der politischen Unruhen der 1970er Jahre und kreiert damit einen kunstvollen Liebesbrief an die Frauen, die ihn großgezogen haben. Im September gewann „Roma" unter großem Beifall den Goldenen Löwen von Venedig.

Aber „Roma" ist nicht nur sehr sehenswert, er stellt auch eine Kehrtwende der Film- sehens dar. Ein Revolution der Revolution, quasi eine Rolle rückwärts. Denn bislang waren Netflix und Kino trotz enormer Begeisterung der Filmemacher für größere Freiheiten beim neuen Produzenten wie Feuer und Wasser. Bei den großen Festivals hatte Cannes ein paar Netflix-Filme im Programm, beschränkte aber im Frühjahr den Wettbewerb auf Beiträge, die auch in französischen Kinos zu sehen sein werden. Quasi eine Anti-Netflix-Regel. Venedig zeigte sich offener.

Der Start von „Roma" weltweit in den Kinos soll nun die Chancen auf den ersten Oscar für eine Netflix-Produktion erhöhen. In USA werden auch die nette Western-Kurzfilmsammlung „The Ballad of Buster Scruggs" von Joel und Ethan Coen sowie Susanne Biers „Bird Box" mit Sandra Bullock einen begrenzten Kinostart haben. Cuarón selbst zeigte sich erfreut, weil man „Roma" bevorzugt im Kino sehen solle. Denn er sei - fast altmodisch - im 65mm-Format gefilmt und mit einem sehr komplexen Atmos-Sound abgemischt, dem aktuell besten Soundsystem in Kinos.

Amerikanische Kinoketten schließen Netflix weiterhin aus und wollen ein „Auswertungs-Fenster" von mehreren Wochen vor dem Netflix-Start eines Films haben. Auch 300 deutsche Kinos riefen zuerst zum Boykott auf, bestehen auf das hiesige Fenster von 90 Tagen. Die deutsche Verleihagentur von „Roma" äußert sich zur Kehrtwende nicht. All das erinnert entfernt an frühere Grabenkämpfe des Kinos mit TV-Koproduktionen. Jedoch warf man denen vor, bei Bild-Qualität und Erzählformat eingeschränkt zu sein. Bei Netflix trifft das nicht zu.

Für 2019 hat Netflix wieder viel Prominenz angekündigt: Martin Scorseses „The Irishman" mit Robert De Niro, Steven Soderberghs „The Laundromat" mit Gary Oldman, Meryl Streep und Antonio Banderas oder „The Last Thing He Wanted" mit Willem Dafoe, Ben Affleck und Anne Hathaway. Spannender als die meisten Filme wird dabei die Frage sein, wo wir in Zukunft gute Filme sehen.

4.12.18

Under the Silver Lake

USA 2018 Regie: David Robert Mitchell, mit Andrew Garfield, Riley Keough, Topher Grace 139 Min. FSK ab 16

Welche Geheimnisse verbergen sich unter der Sonne des eleganten alten Hollywoods? Jenseits von Genres und berechenbaren Wiederholungen überrascht dieses bestens gefilmte und wahnsinnige Bilderrätsel mit sensationell anderer Unterhaltung.

Wahrscheinlich weiß Sam (Ex-Spiderman Andrew Garfield) selbst nicht, in welchem Jahrzehnt er sich befindet: Das typische Hollywood-Apartment mit Pool hat sicher schon einige Legenden und Dramen erlebt. Der Stil dieser sonderbaren Welt voller spannender, verrückter Menschen und mysteriösen Party-Locations ist immer ausgewählt. Aber es ist ein modernes L.A. voller Retro-Fans und banaler Probleme wie die lang ausstehende Miete. Doch die nervigen Fragen, was er eigentlich arbeite ignoriert Sam. Lieber schaut er der älteren Oben Ohne-Nachbarin mit ihren Vögeln zu und der jungen blonden Sarah (Riley Keough) im Pool. Als die mit ihm einen TV-Abend verbringt, könnte Sam im Himmel Hollywoods sein. Es gab selbstverständlich einen Klassiker - „How to marry a millionaire". Doch am nächsten Tag ist die Wohnung der Nachbarin komplett leer geräumt und in den Nachrichten wird von ihrem Tod im ausgebrannten Wagen eines Millionärs berichtet.

Sam folgt tatsächlich wie ein typischer Detektiv einem weißen Kaninchen in Form eines VW Rabbit (so hieß der Golf in den USA, also: Kaninchen), um das Verschwinden Sarahs zu erforschen. Nebenbei lässt er die Schallplatten eines angesagten, teuflischen Sängers rückwärts laufen und entziffert Pop-Texte und Quizsendungen auf der Suche nach geheimen Botschaften, während das Streich-Orchester auf der Tonspur mysteriös klingt wie altes Hollywood-Drama.

Sie ist doppelt und dreifach geheimnisvoll und sieht vor allem extrem gut aus, die Welt von Sam, der aussieht wie der junge Anthony Perkins. Frauen umschwirren ihn, auch wenn er zwischendurch anhaltend müffelnd von einem Stinktier angesprüht wurde. Es gibt einen Underground-Comic um einen Dog Killer, geheime unterirdische Gänge, einen Open Air-Film am Grab von Alfred Hitchcock, Szenen an Drehorten von Hitchcock-Filmen und noch zig mehr Verweise.

Das entschlüsselt sich zwischen wirr und höchst interessant nicht schlüssig, ist aber von Newcomer David Robert Mitchell („It follows") auf jeden Fall mit einer klugen Leidenschaft für das alte Hollywood grandios inszeniert.

Widows

Widows

USA, Großbritannien 2018 Regie: Steve McQueen, mit Viola Davis, Elizabeth Debicki, Michelle Rodriguez, Cynthia Erivo, Carrie Coon, Liam Neeson, Colin Farrell, Robert Duvall 130 Min. FSK ab 16

Vier Frauen vollenden den Raubzug ihrer verunglückten Männer - das könnte „Oceans 8 1/2" sein, in dem Frauen für einen Männerfilm einspringen. Doch unter der Regie von Steve McQueen („Hunger", „Shame", „12 Years a Slave") gelang ein vielfältig spannender und außerordentlicher Film über Politiker, andere Gangster, Rassismus, Emanzipation und Liebe.

Sehr intensiv und reizvoll montiert, startet „Widows" ohne Vorgeplänkel: Die jeweils letzten Momente der Frauen mit ihren Männern und das katastrophale Ende von deren Raubzug. Das knallt derartig, dass keinerlei Hoffnung bleibt, irgendwer könnte das wundersamerweise überleben. Unglaublich auch dabei, dass Action-Superstar Liam Neeson als Banden-Boss Harry Rawlings nach wenigen Minuten abtritt. Ab jetzt haben die Frauen das Sagen, jedoch nicht so einfach, wie sich das schreibt: Veronica Rawlings (Viola Davis), die Frau von Harry, bekommt unangenehmst drohenden Besuch. Denn die Männer haben Gangster-Boss und Stadtrat-Kandidat Jamal Manning ausgeraubt, die Millionen sind mit den Räubern verbrannt. Der alles andere als zimperliche Manning will sein Geld zurück - von Veronica. Die kultivierte Frau kann nicht mit dieser seltsamen Verbrecherlogik umgehen, aber Harry hat sein Notizbuch mit detaillierten Anweisungen zu einigen weiteren möglichen Coups hinterlassen. So ruft Veronica die anderen drei Witwen zusammen, damit sie mit einer Gaunerei ihr aller Leben retten.

Wie die Frauen, die sich vorher nicht kannten und die aus ganz unterschiedlichen Milieus stammen, sich zusammenraufen, ist so anders als in den Steroid-Männerfilmen des Genres. „Widows" ist aber auch keiner der Filmchen, bei denen sich Frauen in Männerrollen ganz lustig - hahaha - dämlich anstellen. Die zurückhaltende, elegante Veronica, die polnische Immigrantin Alice (Elizabeth Debicki), die als Escort arbeiten muss, Linda (Michelle Rodriguez) aus Lateinamerika, deren Laden gepfändet wird und die Friseurin Belle (Cynthia Erivo) stehen mitten im echten Leben, funktionieren nicht nur als Rädchen für die Spannung. Die so sorgfältig unterfüttert jedoch umso mehr packt. Und wenn die Witwen nicht sowieso schon ungefragt Waffen und Fluchtfahrzeugen besorgen und bedienen können, wird die Sache noch spannender.

Der britische Ausnahmeregisseur Steve McQueen beleuchtet mit faszinierender handwerklicher Brillanz dabei erstaunlich viele Themen, ohne jemals thesenhaft zu argumentieren. Der Rassismus bricht aus Mulligans Vater, widerlich gespielt von Robert Duvall, hervor. Und dann wieder war die gemischte Ehe zwischen Veronica und Harry so selbstverständlich. Ja, „Widows" ist durch Veronicas Erinnerungen an gemeinsame Zeiten auch emotional. Der schmierig korrupte Politiker Jack Mulligan (Colin Farrell) lebt nicht in dem Viertel Chicagos, für das er kandidiert, er besitzt es, erbte es von seinem Vater. Mit zynischen Sprüchen („Nepotismus ist nicht illegal") macht er eine Karriere, die ihn eigentlich anwidert. Die blonde, langbeinige Alice könnte das zu schöne Dummchen sein, doch auch sie bekommt einen vollständigen Charakter und Entwicklung mit auf den Weg.

Das alles und mehr präsentiert Steve McQueen in durchgehend exzellenter Inszenierung, mit einer Kameraarbeit (Sean Bobbitt), die genauso packt wie die Handlung. Und einer deftigen Überraschung. Erinnern wird man sich noch lange an die unheimlich starke Frau Veronica und wie sie ihre schweren Verluste überwindet.

Astrid

Schweden, BRD, Dänemark 2018 (Unga Astrid) Regie: Pernille Fischer Christensen, mit Alba August, Maria Bonnevie, Trine Dyrholm, Henrik Rafaelsen 123 Min. FSK ab 6

Was für eine tolle, quicklebendige junge Frau, diese Astrid Ericsson (Alba August)! Sie lacht über die Protestanten-Predigt mit den vielen Drohungen. Ist zu klug, zu geistreich und gelangweilt von der Rolle eines braven Mädchens im ländlichen Schweden der Zwanziger Jahre. Die Eltern sind nicht von ihrer wilden Art begeistert, auch die Jungs am Tanzabend nicht. Dann tanzt sie halt allein! Während die Mutter das herzlose Regime der Kirche zuhause fortführt, besorgt ihr der verständnisvolle Vater einen Job bei der Zeitung des Dorfes. Genau das richtige, würde sich Astrid nicht in den Chef Blomberg (Henrik Rafaelsen) verlieben. Sie wird schwanger und die Kirche verhindert, dass Astrids eigene Familie das Kind aufnehmen könnte. Der Liebhaber muss die Ehefrau und das Gesetz fürchten, so zieht Astrid zu einer Sekretärinnen-Ausbildung nach Stockholm und bringt das Kind im fortschrittlicheren Dänemark zur Welt. Dort muss Lasse aber wegen Kirche und Gesetz auch bleiben, was Astrid kaum ertragen kann.

Nun nimmt herzzerreißende Entfremdung vom eigenen Kind einen großen Teil ein, Lasse wächst schnell, viel Zeit vergeht, Astrid besucht ihn und die Ersatz-Mutter Marie (Trine Dyrholm) gelegentlich. Dabei hört man Briefe von jungen Lesern, die das Gezeigte sehr deutlich mit vielen bekannten Geschichten und Figuren verbinden. Die Traurigkeit von „Mio, mein Mio" oder „Die Brüder Löwenherz" entstammt also dieser Lebensphase der Kinderbuch-Autorin.

„Astrid" erzählt einen Teil des Lebens von Astrid Lindgren, der Autorin von „Pippi Langstrumpf", „Ronja Räubertochter" und „Michel aus Lönneberga". Zu selten blitzt im weiteren Verlauf die kecke Pippi hervor, der Film reduziert Astrid auf die unglückliche Mutter. Nur eine, wenn auch sehr dramatisch dargestellte Phase aus dem auch ansonsten bewegten Leben der außerordentlichen Frau. Wäre es pure Fiktion, hätte man dem Drehbuchautor das Rührstück so nicht durchgehen lassen. Überhaupt hätte „Astrid" sicher etwas mehr Lindgren vertragen, auch die Kriegszeiten und die Tragik mit weiteren Todesfällen um sie herum, geben packende Geschichten her.

Die Konzentration auf die Hauptfigur belohnt der Film mit einer großen Entdeckung: Hauptdarstellerin Alba August (Netflix: „The Rain", Shooting Start der Berlinale 2018) lässt die Freude aufs Leben, auf neue Herausforderungen, die Sehnsucht nach dem eigenen Kind Lasse in Dänemark, die Enttäuschung durch den Liebhaber intensiv mitfühlen. Das mit den Gefühlen kann auch Regisseurin Pernille Fischer Christensen hervorragend: Ihr tief erschütterndes Meisterwerk „Eine Familie" (2010) über den selbst gewählten Tod eines Familienvaters blieb nachhaltig haften. Hier inszenierte sie allerdings eher brav und unauffällig - Pippi Langstrumpf und die junge Astrid hätten sich gelangweilt.

3.12.18

Unknown User 2: Dark Web

Unknown User 2: Dark Web

USA 2018 (Unfriended: Dark Web) Regie: Stephen Susco, mit Colin Woodell, Stephanie Nogueras, Betty Gabriel 93 Min. FSK ab 16

Ein Film, der nur aus einem - ziemlich vollen - Computerbildschirm besteht, das war das Alleinstellungsmerkmal von „Unknown User". Und allein das machte das schwache Horrorfilmchen interessant. Nun plöppt die Masche als Thriller erneut auf - anfänglich wirr bis interessant, später nur noch tödlich.

Der Test einer neuen Software, Ab- und Anmelden bei Facebook, bei Skype, ein Chat hier, eine Videokonferenz im nächsten Fenster. Das passiert alles auf dem Bildschirm von Matias während eines Online-Spieleabends mit Freunden, bei dem man sich gegenseitig mit raffinierten Geschichten reinlegt. Matias hat dabei die aufregendste Geschichte und sie ist wahr: Auf dem frisch geklau ... äh, gekauften Laptop laufen noch die Accounts des Vorbesitzers. Ein geheimer Ordner enthält Unmengen Videos von Überwachungskameras, einige Filme zeigen sadistische Morde. Und ein unbekanntes Programm verbindet mit dem Dark Net. Nebenbei - Multitasking ist hier sehr gefragt - will Matias seine Beziehung zu der taubstummen Amaya mit neuer Software und Rechenpower retten. Doch ausgerechnet in deren Zimmer taucht eine am Bildschirm unkenntlich gemachte Gestalt auf und entführt Amayas Mitbewohnerin.

Um das übervolle Vorgeplänkel abzukürzen: Matias hat das Laptop eines Mörders geklaut, der für Millionen Videos seiner besonders grausamen Verbrechen verkauft. Nun erpresst ihn der Vorbesitzer, aber auch die Kunden kommen wie dunkle Geister aus dem Dark Net über die Freunde, die - jeder an seinem Bildschirm - einen harmlosen Erzählabend verbringen wollten.

Da verwirren eine ganze Menge Themen auf dem Bildschirm, abgesehen von dem logischen Problem, dass der Täter und Super-Hacker doch auch eigentlich gleich zu Matias hätte kommen können. Und überhaupt stürzen Mac-Rechner so gut wie nie ab, nicht alle paar Minuten, wie in dieser Fiktion. Ein wenig warnt der Film wie Böhmermanns „Prism is a dancer" vor leichtfertigem Umgang mit seinen digitalen Spuren, dann wird das Dark Net mystisch mit Charon, Styx und einer ganz simplen Animation. Beim wilden Hin und Her-Schneiden, bleiben schauspielerisch begrenzte Anforderungen für die jungen Darsteller.

Man sieht nebenbei, wie man schiesswütige Sondereinheiten der Polizei für einen Mord einsetzen kann. Das Runterzählen der restlichen Überlebenden verläuft zwar spannend, aber letztendlich ist „Unknown User 2: Dark Web" doch nur eines dieser sadistischen Mordspiele, die das Kino verseuchen. Und ein realitätsfremdes Ammenmärchen über das Dark Net.

2.12.18

Tabaluga - Der Film

BRD 2018 Regie: Sven Unterwaldt jr. 90 Min. FSK ab 0

Die 35 Jahre sieht man dem kleinen Drachen Tabaluga nicht an: Proper und knallgrün mit Farben frisch aus dem digitalen Malkasten kommt die Figur von Deutschrocker Peter Maffay, Kinderliedermacher Rolf Zuckowski und Illustrator Helme Heine ins Kino.

Sehr bunt und rund animiert wird „Tabaluga" nach Musikalben, Show und TV-Formaten nun Kinostar. Eine Verwechslung mit „Der kleine Drache Kokosnuss", fantasiereicher animiert und Kinostart in 14 Tagen, besteht so nicht. „Tabaluga" kann in der Animation jedoch mit internationaler Konkurrenz mithalten. Das Grünland ist übersättigt mit farbigen Pflanzen und Tieren. Das befeindete Eisland beeindruckt mit kantigen Eis-Formationen in Schneelandschaft. Die Schwarz-Weiß-Geschichte kommt allerdings mit Krieg und Kampf, Polarisierung und Vorurteilen sehr vorhersehbar daher. Da weiß nicht nur Glückskäfer Bully schon vorher, was alles passieren wird.

Waisen-Drache Tabaluga, kann nicht fliegen oder Feuer spucken. Er wird so sehr in Grünland verspottet, dass er zusammen mit Bully durch die dunkle Wolke ins Eisland zieht, um ausgerechnet dort sein Feuer zu finden. Hier trifft er schnell auf die jaulende Eis-Prinzessin Lilli, gesprochen und gesungen von Yvonne Catterfeld, sowie den lustig einfältigen Eisbär Limbo. Die oft behäbige und zu übersichtliche Geschichte bekommt erst durch den Oberschurken, den bösen Herrscher Arktos etwas Charakter. Der klasse von Heinz Hoenigs Stimme ausgefüllte, fette Schneemann mit Zylinder hat auch noch einen herrlich wahnsinnigem Assistenten, der sich verhält und anhört wie Scrat aus „Ice Age".

Aber ansonsten sind die Musical-Einlagen („drei Lieder von Maffay"!) so lächerlich, dass den Figuren jeder Charakter aus den Gliedern fährt. Auch die Achterbahn-Fahrt im Eiskanal sieht gut aus, ist dabei aber überhaupt nicht eindrucksvoll, weil eiskalt berechnet. So gibt es einen krassen Gegensatz zwischen optischem und akustischem Aufwand, zwischen vollen Bildern und leerem Inhalt. Regisseur Sven Unterwaldt („7 Zwerge", „Hilfe, ich hab meine Lehrerin geschrumpft") dacht wohl, dass „populär" ausreicht. Da braucht man keine weitere Idee zur Verfilmung.

Geister der Weihnacht - Augsburger Puppenkiste ***

BRD 2018 Regie: Julian Köberer 64 Min. FSK ab 0

Noch einmal die Weihnachtsgeschichte nach Dickens, aber diesmal ganz im Stil der Augsburger Puppenkiste. Altmodisch wie analoge Fotoapparate oder schwere Lederjacken. Nach 70 Jahren dieser traditionsreichen Einrichtung kann man immer noch staunen, wie das gemacht ist: Mit ungelenken Gliederpuppen, die Münder der Holzköpfe bewegen sich nicht. Hände und Körper hängen an deutlich sichtbaren Fäden. Diese Produktion extra fürs Kino ist dazu wirklich mal kindgerecht kurz, der dicke Dickens-Band wird in einer Stunde erzählt. Keine Effekte, starre Kamera. Ja, tatsächlich: Dies ist eine Produktion von 2018!

Dabei bleibt in der Reduktion der Geist der Geschichte erhalten: Der Griesgram und Geldverleiher Scrooge wirft seine nette Nichte raus und schikaniert mit Geiz den freundlichen Buchhalter. Mit einfachen Ideen tauchen die Geister der Weihnacht auf und am Ende sind alle selig abgefüllt. Unter anderem auch mit einem Lied, das den Kindern das Blut in den Gehörgängen erfrieren lässt. Das eigentliche Wunder jedoch ist, dass sich auch so, ohne 3D, Computer-Animation oder Millionen-Aufwand gut erzählen lässt.

Anna und die Apokalypse

USA 2018 (Anna and the Apocalypse) Regie: John McPhail, mit Ella Hunt, Malcolm Cumming, Sarah Swire 98 Min. FSK ab 16

Für alle, die mit gleichen Gefühlen dem Weihnachtsfest und der Zombie-Apokalypse entgegensehen, gibt es jetzt endlich „den" Film: „Anna und die Apokalypse" ist das erste - und hoffentlich auch letzte - romantische Zombie-Weihnachts-Musical! Genial in der Anlage, träge wie ein Zombie in der Ausführung.

Für Anna (Ella Hunt) bietet das Leben in der Kleinstadt Little Haven nur schlechtere Möglichkeiten: Lieber macht die Halbwaise ihren miesen Job in der Bowlingbahn, statt an der Weihnachtsfeier ihrer Highschool teilzunehmen. Sie hat John (Malcolm Cumming), den Idioten mit dem furchtbarsten Weihnachtspullover als Freund. Der größte Kotzbrocken ist Konrektor und Regisseur der Weihnachts-Show. Also so ein Film-Einstieg mit ein paar Standard-Problemen, sodass man sich die Zombies schnell herbei sehnt. Aber dann - wird gesungen!!!! Flotte Uptone-Liedchen vom Verlangen auszubrechen. Dabei sind Anna und John so sehr in ihre eigenen Probleme verstrickt, dass bei der großen „La La Land"-Nummer mit Finale auf dem Friedhof die wandelnden Toten gar nicht bemerken. Er als sie ein Schneemann attackiert, dem schon das Blut aus dem Mund läuft, wird es ernsthaft lustig.

Man besingt noch den neuen Tag, während die blutige Zombie-Apokalypse schon losbricht. Das ist eine nette Idee in sehr mäßiger Ausführung. Zu viel Geplänkel zwischen billigem Splatter und Action aus dem Schulkurs. Aber „Anna und die Apokalypse" ist trotzdem nicht so schlecht, dass es wieder gut wäre. Die Genre-Parodie, die bei weitem nicht gegen „Shaun of the Dead" anstinken kann, wurde einfach und ohne Kapriolen inszeniert. Was bei sympathischen Figuren seinen Reiz hat. Mitgefühl für die Zombies gibt es hier ebenso wenig wie gesellschaftspolitische Interpretations-Angebote. Das Genre ist da seit Jahrzehnten weiter. Im mühsamen Countdown wird auch den noch lebendigen Figuren keine Entwicklung gegönnt. Aber immerhin ist dies die beste Romantische Zombie-Musical-Komödie der bisherigen Filmgeschichte!