30.5.23

Pearl

USA 2022, Regie: Ti West, mit Mia Goth, David Corenswet, Tandi Wright, 103 Min., FSK: ab 18

In überkandidelten Hollywood-Musicals wie „Der Zauberer von Oz" schlummerte schon immer die Saat des Wahnsinns. So ist es nur konsequent, dass Regisseur Ti West in der Vorgeschichte seines überraschend erfolgreichen Independent-Horrors „X" eine Judy Garland-Figur zum blutrünstigen Monster werden lässt. Im Texas des Jahres 1918 lebt die junge Pearl (Mia Goth) auf einer kleinen Farm mit ihren deutschstämmigen Eltern. Ihr Mann kämpft im fernen europäischen Krieg. Raus aus dem Zwang der puritanischen Mutter (mit einem furchtbar „deutschen" Dialekt) träumt Pearl sich in Rollen von Judy Garland und anderen Kinostars. Die Süßlichkeit dieser Tagträume wird allerdings heftig kontrastiert von ihren Wutausbrüchen. Zuerst wird eine Gans aufgespießt und an Pearls Lieblingskrokodil verfüttert. Später folgen Menschen, die an ihr zweifeln. Große Hoffnung legt die eigenwillige Frau in ein Tanz-Casting in der Stadt, die nicht nur wegen der Spanischen Grippe gefährlich ist. (Corona lässt mit Masken grüßen.) Ein Kinovorführer unterstützt sie, will sie mit nach Europa nehmen, schreckt aber vor Pearls Ausbrüchen zurück.

Mia Goth, die schon in Ti Wests „X" die Hauptrolle spielte, kann hervorragend eine wahnsinnige junge Frau geben. Das bewies sie erst kürzlich mit „Infinity Pool". Sie hat sich die Rolle der Pearl als Koautorin zusammen mit dem Regisseur und als ausführende Produzentin auf den Leib geschrieben. Auch wenn „Pearl" sein „FSK ab 18" mit heftigem Splatter verdient, liegt der Fokus auf einer faszinierend irren Psyche. Pearls „Gothic"-Horror ist ein erschreckendes Vergnügen, wenn die Bestandteile von „Der Zauberer von Oz", die unheimliche Vogelscheuche und die knalligen Technicolor-Farben, zu Szenen voller Sex und Gewalt kippen. Genauso fesselnd ist ein sehr langer Monolog als Geständnis und Seelen-Striptease. Hängen bleiben nicht die Gewalttaten, sondern die Gesichtsausdrücke Mia Goths von ekstatischer Freude und mörderischer Wut. Ganz gegenwärtig wird die alte Geschichte mit ihrem verzweifelten Aufschrei „No, I am a star!" – Nein, ich bin ein Star!

Das Rätsel

Frankreich, Belgien 2019 (Les Traducteurs) Regie: Régis Roinsard, mit Lambert Wilson, Olga Kurylenko, Alex Lawther, 105 Min., FSK: ab 16

Auf der Frankfurter Buchmesse kündigt Verleger Eric Angstrom (Lambert Wilson) „Daedalus" an, den letzten Teil der Erfolgstrilogie des geheimnisvollen Autors Oscar Brach. Von Cover und der Werbe-Kampagne her ein Dan Brown-Nachfolger. Im nächsten Schritt der Vermarktung werden neun Übersetzer für die wichtigsten Märkte in einem Luxus-Bunker unter einer Villa für zwei Monate ohne Internet oder sonstigen Kontakt zur Außenwelt eingeschlossen. Bewaffnete Russen kümmern sich um die „Sicherheit". Jeden Tag erhalten die Lohn-Schreiber nur zwanzig Seiten des französischen Originaltextes, um zu verhindern, dass das Buch vorzeitig veröffentlicht wird. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen wird Angstrom bald erpresst: Die ersten zehn Seiten des Werkes wurden ins Netz gestellt, nur mit Zahlung von Millionen kann er vermeiden, dass die nächsten hundert folgen. Die Situation im Bunker eskaliert unter den übergriffigen und brutalen Versuchen des eiskalten Verlegers, den Verräter zu finden. Und auch die „Traducteurs", wie sie im Originaltitel heißen, verdächtigen sich gegenseitig.

Dem griechischen Kapitalismus-Kritiker Konstantinos Kedrinos (Manolis Mavromatakis) ist das ganze Verfahren zuwider. Die Russin Katarina Anisinova (Olga Kurylenko) kleidet und sieht sich als tragische Roman-Heldin Rebecca. Der junge idealistische Brite Alex Goodman (Alex Lawther) hat die beiden ersten Bände illegal übersetzt und veröffentlicht. Die Portugiesin Telma Alves (Maria Leite) sieht schon äußerlich nach Rebellin aus. Und was ist vom Italiener Dario Farelli (Riccardo Scamarcio) zu halten, der sich unkritisch und jovial bei Angstrom anbiedert. Die literaturliebende Sekretärin Rose-Marie (Sara Giraudeau) erfüllt devot die unmenschlichen Anweisungen Angstroms. Wie die Übersetzer im Gespräch untereinander, diskutiert auch der Film über Schundliteratur und den Buchmarkt. Hat „Daedalus" Anleihen bei Proust und Joyce oder ist es nur ein trivialer Krimi?

„Das Rätsel" hat ein reizvolles internationales Ensemble mit Olga Kurylenko („Black Widow", „James Bond: Ein Quantum Trost"), Lambert Wilson („Matrix Resurrections", „Benedetta"), Sidse Babett Knudsen (TV-Serie „Borgen", Dan Browns „Inferno"), Riccardo Scamarcio („John Wick 2", „Im Rausch der Sterne"), Alex Lawther („The Last Duel", „The French Dispatch") und der deutschen Schauspielerin Anna Maria Sturm („Wackersdorf", „Beste Chance").

Die „Whodunit"-Frage nach dem Verräter ist nur eine Ebene dieses Krimis mit einigen Rätseln und noch mehr Überraschungen: Auf einer Schiene erzählt Angstrom selbst aus einem Besuchszimmer im Gefängnis und wir sehen nicht, mit welchem Gegenüber er spricht. Und dann gibt es auch noch die fast schon vergessene brennende Buchhandlung der ersten Szene. Für das Publikum werden Hinweise ausgestreut. Hier eine angebrannte Kopie von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", dort eine Erwähnung von Agatha Christies „Mord im Orient-Express". So wird „Das Rätsel" zum komplexen Krimi im Stil von „Ocean's 11" mit ein wenig Hochspannung vor dem Hintergrund der Literatur-Diskussion um Kunst oder Kommerz. Der interessante Regisseur und Koautor Régis Roinsard („Mademoiselle Populaire", „Warten auf Bojangles") hat seine Geschichte so raffiniert verschachtelt, dass es manchmal unübersichtlich wird, aber immer packend bleibt.

22.5.23

Renfield

USA 2023, Regie: Chris McKay, mit Nicholas Hoult, Nicolas Cage, Awkwafina, 94 Min., FSK: ab 16

„Renfield" bringt Bram Stokers klassischen Dracula-Stoff als deftige Horrorkomödie, in der Nicolas Cage den Fürst der Finsternis mit vielen spitzen Zähnen wieder grandios trashig spielen darf. Draculas im wahrsten Sinne „abhängig" beschäftigter Diener Renfield versucht mit Hilfe einer Selbsthilfegruppe, den bissigen Boss loszuwerden.

„Dracula" erzählt aus der Perspektive von dessen Diener und Essens-Lieferant Renfield, der im New Orleans von heute eine Selbsthilfegruppe für abhängige Beziehungen aufsucht. Während die anderen berichten, wie sie die Partner, die sie aussaugen, nicht loswerden, verklausuliert Renfield seine „toxic relationship" mit dem Herrscher der Dunkelheit. Ein erster positiver Effekt, quasi ein Beifang der Sitzungen, sind die narzisstischen Übeltäter, von denen er hier hört. Renfield liefert sie als Frisch-Fleisch und -Blut bei seinem Chef ab und löst gleichzeitig einige Beziehungsprobleme. Derweil lungert dieser als lebendige Leiche in sehr schlechtem Zustand in einer Bruchbude rum. Die letzte Begegnung mit dem Vampir-Jäger Van Helsing und zu viel Sonnenlicht sind ihm schlecht bekommen.

Es ist herrlich komisch, wie die Beschreibungen der ungleichen Beziehungen auf das jahrhundertelange ungute Verhältnis zwischen Renfield und dem Über-Narzissten Dracula zutreffen. Richtig überzeugt, endlich für sich selbst einzustehen, wird Renfield erst, als er auf die ruppige Streifenpolizistin Rebecca (Awkwafina) trifft. Mitten in einem Drogenkrieg, den er mit seiner Mahlzeit-Wahl lostrat, kämpft sie als einziger unbestechlicher Cop auf der gleichen Seite. Sie will endlich den Drogenboss und Mörder ihres Vaters der Gerechtigkeit zuführen. Das führt zu flott inszenierter und recht heftiger Action, bei der Gliedmaßen und Köpfe abgerissen werden sowie reichlich Blut spritzt. Denn Renfield ist dank Dracula nicht nur auch unsterblich, er hat immer, wenn er Käfer isst, selbst ein paar Vampir-Superkräfte.

Das liefert „Renfield" eine gute Dosis deftiger Kampfszenen, wobei der Humor immer die Oberhand behält. Auch Nicolas Cage („Leaving Las Vegas", „Ghost Rider"), an dessen unterschiedlich schlechten Zuständen seines Dracula sich die Maske ausgiebig auslebt, gibt einen eindrucksvollen Fürst der Finsternis, der in der Übertreibung immer wieder mal zur Witzfigur kippen kann. Renfield ist dagegen der einfältige Underdog mit dem Herzen am richtigen Fleck, der von der Polizistin Rebecca lernt, für sich selbst und andere einzustehen. Rebecca selbst, mit hoher Stimme wild schreiend und fluchend, wird mit dem komödiantisch großartigen Einsatz von Schauspielerin und Musikerin Awkwafina („Shang-Chi and the Legend of the Ten Rings", „The Farewell") zur dritten Hauptfigur.

Regisseur Chris McKay („The Lego Batman Movie", „The Tomorrow War") gelingt ein blutiger Spaß mit einer Menge herrlich alberner Wendungen in der Handlung. Dazu viel Spielfreude und fertig ist die sehr unterhaltsame Perle unter vielen schrottigen Remake-Konzepten.

16.5.23

Living - Einmal wirklich leben

Großbritannien, Japan, Schweden 2022, Regie: Oliver Hermanus, mit Bill Nighy, Aimee Lou Wood, Alex Sharp, 103 Min., FSK: ab 6

Bill Nighy brilliert in einer Paraderolle als englischer Gentleman, der sich angesichts des nahen Todes für das Leben öffnet. Frei nach Akira Kurosawas Filmklassiker „Ikiru" schrieb der japanisch-britische Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro („Was vom Tage übrig blieb", „Alles, was wir geben mussten") das Drehbuch für diese zutiefst bewegende Geschichte.

Mit dem Neuling Peter Wakeling (Alex Sharp) nähern wir uns einem extrem verstaubten und steifen Schreibbüro. Den enormen Respekt vor dessen Vorsitzendem Mister Williams (Bill Nighy) erfahren wir schon im morgendlichen Pendlerzug: Die Mitarbeiter fahren zusammen, aber sprechen den abgesonderten Chef niemals an. Im Großbritannien der 1950er-Jahre treten alle uniformiert in Streifenanzug und Melone auf. Auch im engen Amtszimmer wagt niemand ohne Aufforderung von Mister Williams zu sprechen. Doch heute verlässt die Respektsperson seinen erhöhten Platz überraschend vorzeitig. Er sagt keinem, dass er zum Arzt muss, wo er erfährt, dass er nur noch wenige Monate zu leben hat.

Zuhause, wo die Schwiegertochter ihn nicht leiden kann und den Sohn dauernd rumkommandiert, erzählt der alte Mann niemandem von seinem bevorstehenden Tod. Am nächsten Morgen reist er zum Seebad Bournemouth und stürzt sich in dessen hedonistische Vergnügungen der Bars und Spielhallen. Erstmals deutet er sein Schicksal einem Fremden an, dem er die Schlaftabletten gibt, mit denen er sich eigentlich umbringen wollte. Der ehemals stocksteife Mister Williams geht aus sich heraus, betrunken singt er ein schottisches Lied im Angedenken seiner verstorbenen Frau. Doch auch sein lebenslustiger Begleiter (Tom Burke) gewinnt großen Respekt, als er am blutigen Taschentuch sieht, wie ernst es mit dem bevorstehenden Tod ist. Die Strip-Party wird zum schalen Hintergrund.

Zurück in London trifft Rodney Williams zufällig die junge, ehemalige Mitarbeiterin Margaret Harris (Aimee Lou Wood), lädt sie schick zum Essen ein und lacht erstmals. Am nächsten Tag geht er wieder zur Arbeit und wirbelt die Bürokratie auf, um den ewig verschleppten Vorgang eines Kinderspielplatzes in einem sozialen Brennpunkt endlich umzusetzen.

Mister Williams ist der typische Engländer, den der Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro als Kind bestaunt hatte, als er von Japan kommend nach Großbritannien zog. Immer formvollendet, aber nicht wirklich lebendig. Von der jungen Mitarbeiterin erfährt der Bürovorsitzende schmerzlich seinen Spitznamen: Mister Zombie. Ishiguro wandelt die Geschichte des japanischen Kommunalbeamten aus „Ikiru" leicht ab, sehenswert bleibt das Porträt eines stillen Mannes, der seinem Leben spät einen neuen Sinn gibt. Ebenso zurückhaltend wie die sehr sorgfältige Inszenierung der historischen Bilder und der kitsch-freie Umgang mit Emotionen spielt Bill Nighy seine dankenswerte Rolle, mit der er für einen Oscar nominiert wurde. Er verkörpert die stilvolle Noblesse vergangener Zeiten, die strenge Regel, eigene Befindlichkeiten nicht wichtig zu nehmen. Auch der Ausbruch, die Veränderung kommen mit einem dezenten Lächeln aus und berühren so umso mehr.

Die Linie

Schweiz, Frankreich, Belgien 2022 (La Ligne) Regie: Ursula Meier, mit Stéphanie Blanchoud, Valeria Bruni Tedeschi, Elli Spagnolo, 103 Min., FSK: ab 12

Ein heftiger Wutausbruch bestimmt die ersten Minuten in Zeitlupe zu stiller klassischer Musik: Die 35-jährige Margaret (Stéphanie Blanchoud) attackiert ihre Mutter Christina (Valeria Bruni Tedeschi), kann erst von drei Männern gebändigt und aus dem rausgeschmissen werden. Ein Richter verhängt ein Kontaktverbot für drei Monate. Margaret darf nicht näher als hundert Meter ans Haus ihrer Mutter. Um an der Grenze weiterhin von der Exilierten Gesangsunterricht zu erhalten, markiert die zwölfjährige Schwester Marion (Elli Spagnolo) daraufhin mit blauer Farbe den Bannkreis. Das hundert Meter lange Band wird dabei von der Mutter gehalten - eine verlängerte Nabelschnur.

Margaret bleibt selbst mit einer tiefen Wunde im Gesicht weiterhin aggressiv und übergriffig, verständnislos für die Folgen ihrer Taten. Scheinbar war sie in der Vergangenheit schon öfter gewalttätig und hat Narben von Prügeleien. Doch auch die Mutter ist nicht ohne: Sie mäkelt ständig an der jüngsten Tochter herum und lässt sie für ein paar Tage allein, um mit einem neuen, jungen Lover Urlaub zu machen. Im Verlauf des Films erweist sich Christina als die Unerträgliche. Die ehemals erfolgreiche Pianistin wirft ihren Töchtern theatralisch vor, sie hätte für sie die Karriere opfern müssen. Und jetzt hätte ihr Margaret mit dem Gewaltausbruch auch noch das Gehör zerstört. Bei jeder Gelegenheit muss die unreife Frau im Zentrum stehen.

Die Schweizer Regisseurin Ursula Meier gelingt es wieder, heftige Emotionen in eine klar definierte Raumordnung zu bringen. In „Home" durchschnitt eine Autobahn das Familienleben, in „Winterdieb" trennte ein Skilift arm und reich. Die geniale Idee der Linie bringt nun die emotionale Distanz dieser Familie konkret und sinnbildlich in den Raum. Jeden Tag taucht Margaret an einem Kieshügel außerhalb des Bannkreises auf. Marion setzt die Gesangstunden mit der ausgestoßenen Schwester in der Kälte des Winters fort, obwohl diese an Asthma leidet. Die Kleine ist eigentlicher Dreh- und Angelpunkt, sie sucht Vermittlung zwischen den beiden extremen Charakteren und schließlich verzweifelt Zuflucht im Gottesglauben. Zu Weihnachten treffen sich die Schwestern an der Grenze, aber später wird Blut auf die Linie tropfen. Nur Christina beobachtet alles aus sicherer Entfernung. Dann nähert sich das Ende des Kontaktverbots ...

„Die Linie" ist ein packendes, intensiv gespieltes Familiendrama, das einfache Erklärungen ausspart. Das Dysfunktionale dieser Mutter-Tochter-Beziehung zeigt sich in den getrennten Porträts der beiden Frauen. Der Star Valeria Bruni Tedeschi glänzt als überspannte Egomanin. Stéphanie Blanchoud, die Darstellerin der Margaret, schrieb nicht nur das Drehbuch zusammen mit der Regisseurin. Auch die Musik komponierte sie, unter anderem mit dem bekannten Chansonier Benjamin Biolay, der im Film Margarets Ex-Partner spielt.

7.5.23

Adiós Buenos Aires

Deutschland, Argentinien 2023, Regie: German Kral, mit Diego Cremonesi, Marina Bellati, Manuel Vicente, 93 Min., FSK: ab 12

2001 werden die argentinische Wirtschaftskrise und das politische Chaos unerträglich für Julio Färber (Diego Cremonesi). Der Besitzer eines kleinen Schuhladens in Buenos Aires will nach Deutschland, dem Geburtsland seiner Mutter, auswandern; die Pässe sind schon da. Julio ist noch leidenschaftlicher Bandoneon-Spieler in einem Tangoorchester, doch als Bezahlung gibt es nur mal Empanadas und im Schuhgeschäft holt der Lieferant unbezahlte Ware ab. Die Freunde von der Band wissen nichts von seinen Plänen und komplettieren ihre Truppe mit dem berühmten Sänger Ricardo Tortorella (Mario Alarcón) aus dem Altersheim. Als Julio schließlich seinen Laden verkauft sowie die Wohnung gekündigt hat, werden plötzlich die Bankguthaben eingefroren. Wie soll er nun die Flugtickets für seine Mutter Dorote (Regina Lamm) und die 14-jährige Tochter Paula (Violeta Narvay) bezahlen? Dabei will der frisch verliebte Teenager gar nicht mit und bei ihrer Mutter bleiben. Gleichzeitig zweifelt Julio, ob er das chaotische Leben in Buenos Aires für wirtschaftliche Stabilität in Europa aufgeben soll.

„Adiós Buenos Aires" erzählt rund um den stillen Helden Julio viele kleine Geschichten, stimmungsvoll durch die Tango-Lieder begleitet. Der Pianist wettet, obwohl er arbeitslos ist, und fliegt deswegen zuhause raus. Der Bassist will Julios Auto reparieren, verkauft aber erstmal die Einzelteile. Und dann der Autounfall mit der temperamentvollen wie unversicherten Taxifahrerin Mariela (Marina Bellati). Die alleinerziehende Mutter des gehörlosen Jungen Pablito hat auch kein Geld. Deshalb kutschiert sie fortan Julio mit der Band und findet dabei Gefallen an ihm.

„Adiós Buenos Aires" ist das Spielfilmdebüt des argentinischen Regisseurs German Kral, der seit mehr 30 Jahren in Deutschland lebt. Sein herzergreifender Kinodokumentarfilm „Ein letzter Tango" über das Leben des berühmtesten Tangotanzpaars der Geschichte, begeisterte 2016 in den deutschen Kinos. Nun gelingen ihm wieder berührende Szenen, wenn der taube Pablito das Bandoneon über die Vibrationen „hört" oder wenn ein Tango mit einem Besen getanzt wird, während der aus dem Altersheim geworfene Maestro Tortorella in einen Nebenraum der Autowerkstatt einzieht. Solche Momente solidarischer Hilfe unter guten Menschen mischt der Regisseur mit Original-Aufnahmen von Unruhen und Gewalt in Folge der Kontensperrung. Und während die ganze Stadt protestiert, spielt Julio für einen korrupten Politiker.

Aus den Geschichten, der traurigen Mimik des Julio-Darstellers Diego Cremonesi und den melancholischen Tangos entsteht das glaubhafte Stimmungsbild einer Gesellschaft in der Krise. Wir erleben die Probleme mit, fühlen den Zwiespalt um die mögliche Auswanderung. Ein sehr schönes, von der Musik beflügeltes Drama, in dem die langjährige Verbundenheit von German Kral mit dem Tango spürbar ist.

1.5.23

Spoiler Alarm

USA 2023, Regie: Michael Showalter, mit Jim Parsons, Ben Aldridge, Josh Pais, 113 Min., FSK: ab 12

Der Spoiler ist erlaubt: Es geht nicht gut aus! Wie es die autobiografische Vorlage „Spoiler Alert: The Hero Dies" (Spoiler Warnung: Der Held stirbt) von Michael Ausiello schon aufs Cover schrieb, sagt es Michael (Jim Parsons) in der ersten Szene: Mein Freund Kit (Ben Aldridge) wird sterben. Um sich dann an das Treffen in einer Schwulen-Bar zu erinnern, an das Flirten, Dates und großes Glück miteinander. Zur Mitte des Films wird ein aggressiver Krebs bei Kit diagnostiziert. Dabei haben sie nach Jahren des Zusammenseins gerade eine Auszeit mit getrennten Wohnungen genommen.

Das schnelle Aufflammen der Liebe und der lange Abschied in „Spoiler Alert" leben von der angreifenden Geschichte und der sympathischen Ausstrahlung des Hauptdarstellers: Jim Parsons ist bekannt als nerdiger Naturwissenschaftler aus der Serie „The Big Bang Theory" und gibt nun wieder einen schüchternen, unsicheren und spleenigen Typen, dessen Wohnung voller Schlumpf-Figuren ist. In der Rolle des TV-Kritikers Michael Ausiello träumt er sich in den schmerzlichsten Szenen weg zu einer Soap mit ihm als dicken Jungen neben seiner Mutter. Denn der drohende Verlust des Geliebten ist besonders schwer für ihn, weil bereits seine Mutter früh verstarb.

Wie angekündigt hat „Spoiler Alert" kein happy, sondern ein trauriges Ende, aber auch eines voller Harmonie und Liebe. Zusammen mit Kits Eltern wird ein letzter gemeinsamer Urlaub am Meer genossen und der vorsichtige Cola Light-Trinker Michael kifft endlich zusammen mit dem lebensmutigeren Kit. Der darf jetzt offiziell Marihuana gegen seine Schmerzen rauchen. Das Drama lässt eine herzzerreißende Liebesgeschichte in schwierigen und schönen Momenten miterleben. Dabei wirkt das Gefühl nicht abgeschmackt nach Hollywood-Art ausgewalzt, sondern sehr intim und leise. Damit schließt Regisseur Michael Showalter nahtlos an den einfühlsamen Stimmungs-Glücksgriff seiner Romantische Komödie „The Big Sick" (2017) an. Damals musste ein Komiker mit einer Freundin im Koma zurechtkommen.

Oink

Niederlande 2022 (Knor) Regie: Mascha Halberstad, 73 Min., FSK: ab 0

Der enorm erfolgreiche Animationsspaß „Oink" aus den Niederlanden ist jetzt auch in Deutschland zu erleben: Die 8-jährige Babs wünscht sich zum Geburtstag unbedingt einen Hund, doch Papas Allergie macht das unmöglich. So ist sie überglücklich, als Opa Tuitjes ihr ein Ferkel schenkt. Der kehrte kurz vor dem Geburtstag nach Jahren der Abwesenheit aus Amerika zurück und wird nicht nur von Babs bestem Freund Tijn misstrauisch beäugt. Mutter Margreet will Opa Tuitjes lieber nicht im Haus haben und Großtante Christine traut ihm alles Schlechte zu. Doch Babs ist vernarrt in das Oink genannte Schweinchen, baut ihm einen Stall und geht mit ihm zur Hundeschule, damit es Manieren lernt. Aber immer wieder beweist Oink, dass es ein Schwein und nicht stubenrein bleibt. Vor allem eine Feier im Wohnzimmer gerät zur großen Sauerei. Und wie hängt Opas plötzliche Rückkehr mit dem Wurstwettbewerb zusammen, bei dem er schon vor 25 Jahren für einen Skandal sorgte? In einem Koffer versteckt er eine Wurstmaschine...

„Oink" ist besonders schöner Animationsfilm, der im Stop-Motion-Verfahren entstanden ist. Mühsam wurden die Miniatur-Figuren mit ihren Charakterköpfen und die Hintergründe von Hand bewegt und mehrmals pro Film-Sekunde aufgenommen, damit sich ein lebendiger Fluss ergibt. So zeigt sich eine einfache, nicht fantastische Welt der bekannten kleinbürgerlichen Niederlande mit Reihenhäuschen, Gemüsegärtchen und Bauernhöfen. Die ist sagenhaft gut animiert, wenn Haare und Fell dauernd im Wind wehen, wenn Fahrräder und Autos dynamisch schleudern. Dazu besonders liebevoll in den Details der Einrichtung und des Örtchens.

Die übersichtliche Handlung erzählt von Vegetarismus der Mutter Margreet, von enttäuschtem Vertrauen und von der Sauerei, die das kleine Schwein immer hinter sich lässt. So gibt es Schweinereien beim Metzger, im Garten und Wohnzimmer. Eigentlich dauernd, das ist eine auffällige Fixierung des netten Kinderfilms, allerdings eine auch dramaturgisch wichtige. Nach einer mehr witzigen als spannenden Verfolgungsjagd werden vegetarische Würstchen den Sieg erringen.