30.1.23

Ein Mann namens Otto

USA, Schweden 2022 (A Man called Otto) Regie: Marc Forster, mit Tom Hanks, Mariana Treviño, Rachel Keller, 127 Min., FSK: ab 12

„Ein Mann namens Otto" ist das harmlosere Remake des schwedischen, schwarzhumorigen Griesgram-Films „Ein Mann namens Ove" aus dem Jahr 2015. Dank Tom Hanks und anderer hochwertiger Ausstattung gerät die Kopie der Tragikomik trotzdem rührend und sehenswert.

Es ist schon sehr makabrer Humor, wenn Otto Anderson (Tom Hanks) immer gerade, als er sich umbringen will, von Leuten gestört wird, die irgendwas von ihm wollen. Dabei gibt er sich als nerviger Blockwart und kleinkarierter Aufpasser alle Mühe, in seinem Wohnviertel unbeliebt zu sein. Jeden Morgen kontrolliert er die Genehmigungen der parkenden Autos und die korrekte Mülltrennung der Nachbarn. Immer auf Suche nach Ärgernissen schimpft er dem Zeitungsjungen hinterher und legt sich mit Verkäufern im Baumarkt an, weil er für ein Seil zu viel zahlen soll. Das Seil, mit dem er sich aufhängen will, wohlgemerkt.

Aber das alles weiß die neue Nachbarin Marisol (grandios: Mariana Treviño) nicht, als er das Einparken ihres Mannes bemäkelt und grummelig selbst das Steuer übernimmt. Die hochschwangere Mexikanerin hält das für Freundlichkeit und überschüttet Otto fortan mit ihrer offenen Großherzigkeit. So misslingt es dem Lebensmüden weiterhin, sich umzubringen: Selbst als er vor einem Zug springen will, fällt jemand anderes kurz vorher unglücklich auf die Gleise und es wird wieder Otto sein, der ihn rettet. Beim Inhalieren der Autogase in der Garage stört man ihn, weil die Nachbarn sich gerade jetzt etwas Handwerkszeug ausleihen wollen.

Während man Tom Hanks sowieso nichts übelnehmen kann, bekommt auch seine Figur Otto eine herzzerreißende Vorgeschichte, welche Lebensmüdigkeit und Griesgram erklärt. Ist doch erst kürzlich seine große Liebe verstorben. Beim liebenswert ungeschickten Kennenlernen des Paares vor Jahrzehnten spielt Hanks Sohn Truman die Rolle des jungen Otto. Regisseur Marc Forster („Wenn Träume fliegen lernen") bringt aus dem originelleren Original und der literarischen Vorlage „Ein Mann namens Ove" von Fredrik Backman auch die Geschichte vom einstigen besten Freund und Nachbarn, mit dem sich Otto zerstritt und der nun vom Schlaganfall gelähmt ist, in den Film. In dem dramatisch perfekten Drehbuch von David Magee („Life of Pi: Schiffbruch mit Tiger", „Wenn Träume fliegen lernen") zeigt sich Otto nicht allein als nur scheinbar widerspenstiger Helfer, er wird sogar zum Retter der Nachbarschaft, als er mit Hilfe seiner Pingeligkeit und von Social Media die Gemeinschaft rettet. Sodass am Ende in der ganzen Siedlung Harmonie herrscht ... fast.

Auch wenn der Original-Otto namens Ove mit seiner raueren Kratzbürstigkeit der schwierigere und deshalb interessantere Charakter war, gewinnt der Hanks-Otto letztlich die Herzen. Die Parabel vom vermeintlichen Menschenfeind, der sich unter einer Lawine von Freundlichkeit und leckeren Rezepten öffnen muss, funktioniert hervorragend bei Hervorkitzeln von Lachen und Rührung. Tom Hanks füllt seine Paraderolle dankbar aus und empfiehlt nun einem noch größeren Teil der Kino-Welt, Kleinigkeiten zu übersehen und besserer Mensch zu werden.

Wann kommst du meine Wunden küssen?


Deutschland 2022, Regie: Hanna Doose, mit Bibiana Beglau, Gina Henkel, Katarina Schröter, 115 Min., FSK: ab16

Es ist eine Menge los auf der Alm: Die eine Schwester ist schwer krebskrank, die andere arbeitslos und kann ihre Miete nicht mehr zahlen. Die Pächterin hat ein Verhältnis, aber trotzdem Angst vor der Nebenbuhlerin. Regisseurin und Autorin Hanna Doose komprimiert Spannungen und Verwerfungen in einer Gruppe von Stadtflüchtlingen.

Einst war das Berliner Künstler- und Nachtleben Heimat für die hedonistische Regisseurin Maria (Bibiana Beglau), ihren Freund, den DJ Jan (Alexander Fehling), und die Jungschauspielerin Laura (Gina Henkel). Dann spannte Laura ihrer Regisseurin Jan aus. Nach zehn Jahren Funkstille kommt Maria mitten im Winter mit dem Motorrad und einem Täschchen voller Drogen zum abgelegenen Hof im Schwarzwald, wo Laura jetzt Ziegenkäse macht und Jan in einer Scheune komponiert. Es ist der Hof von Maria und Laura, aber die egozentrische Regisseurin kehrt nicht zurück, weil ihre Schwester bald sterben wird. Wenig einfühlsam gibt die Exzentrische, die mit Designerschühchen im Winterwald rumrutscht, den Elefant in der Beziehungskiste und bricht in ein paar Stunden auf, was sich über Jahre arrangiert hat.

Die Helferin Laura, die esoterische Kathi und die egozentrische Maria bilden eine emotional sehr komplexe und komplizierte Konstellation. Und alle haben scheinbar ein Händchen, ihr Unglück noch zu vermehren. Dabei passiert viel, aber das meiste bleibt am Ende offen. Regisseurin Hanna Doose überlädt ihre psychologische Winterszenerie hemmungslos. Doch das hervorragende Ensemble rettet den Film: Theaterschauspielerin Katarina Schröter lässt ihre schwerkranke Kathi als Amazonas-Schamanin über den Dingen stehen. Ein scheinbarer Ruhepol in den Gefühlswirren, doch die Angst vor dem Tod kann Kathi nicht überspielen. Bibiana Beglau („Die Stille nach dem Schuss", „Bis wir tot sind oder frei") wird sich als hedonistische Maria öffnen und sich ihre verfahrene Situation eingestehen. Gina Henkel hat mit Laura den interessantesten Charakter, der erst als Opfer erscheint und später einige Abgründe zeigt. Nur Alexander Fehling („Goethe!", „Gut gegen Nordwind") ist als blasser Mitläufer unterfordert.

26.1.23

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B/N/F 2022 // R: Lukas Dhont
Start: 26.1. | 105 Minuten | FSK 12

Die 13-jährigen Léo und Rémi haben eine so enge Freundschaft, dass die Mädchen in der Schule fragen, ob sie zusammen seien. Denn sie wären sich immer so nah – „close" auf English. Während die beiden zuhause alles gemeinsam machen, distanziert sich Léo draußen und beginnt, mit den anderen betont maskulin Fußball und Eishockey zu spielen. Mit tragischen Folgen... Der belgische Regisseur Lukas Dhont zeigt im Nachfolger seines starken „Girl" mit viel Einfühlungsvermögen das Drama einer ungewöhnlichen Beziehung, die öffentlichem Druck nicht gewachsen ist. Die Jungen Eden Dambrine (Léo) und Gustav de Waele (Rémi) spielen erstaunlich natürlich. Dhont setzt seine Mittel sehr fein ein und vermeidet grobe Gefühlsmomente. Dadurch sind die genau beobachteten Regungen umso eindrucksvoller. Trauer, Schmerz, Einsamkeit zeigen sich reizvoll in noch kindlich unschuldiger Form.

23.1.23

Till - Kampf um die Wahrheit


USA 2022 (Till) Regie: Chinonye Chukwu, mit Danielle Deadwyler, Jalyn Hall, Frankie Faison, 132 Min., FSK: ab 12

Auf wahren Ereignissen basierend, lässt „Till - Kampf um die Wahrheit" aus einem furchtbaren Verbrechen einen frühen Akt des Widerstands gegen Rassismus in den USA erwachsen: Mamie Till (Danielle Deadwyler) lebt mit ihrem Sohn Emmett (Jalyn Hall) in Chicago, hat einen guten Bürojob. Als einzige Schwarze in der Firma, wie sie später betonen wird. Im Sommer 1955 reist der Bo genannte Sohn zu Verwandten nach Mississippi und verlacht in seiner sorglosen Art die Warnungen vor einer anderen Welt für Afroamerikaner da unten. Als der 14-Jährige scherzhaft mit einer weißen Ladenbesitzerin flirtet, wird er in der folgenden Nacht abgeholt, brutal gefoltert und gelyncht.

Die schon vorher ungemein liebevolle Mutter Mamie Till reagiert unfassbar stark auf die unfassbar grausame Tat. Sie zeigt den misshandelten Körper, der noch dazu im Wasser gelegen hat, im offenen Sarg und sorgt damit im ganzen Land für Aufsehen. Der Film hält sich mit Bildern der Leiche zurück, aber das Entsetzen in den Gesichtern der Trauernden spricht Bände. Unterstützt von der Bürgerrechtsorganisation „National Association for the Advancement of Colored People" (NAACP) fährt Mamie sogar zum Prozess gegen die Mörder nach Mississippi – ohne Hoffnung, dass die beiden Täter von einer Jury aus zwölf weißen Männern verteilt werden. Trotz des niederschmetternden Fehlurteils einer rassistischen Justiz kämpft Mamie weiter gegen das Unrecht, engagiert sich in landesweiten Vorträgen für die NAACP und wird zu einer frühen Ikone der Bürgerrechtsbewegung.

„Ich habe ihn 14 Jahre mit Liebe erzogen, auf den Hass in Mississippi war er nicht genügend vorbereitet," meint Mamie im Film. Den Unterschied zwischen entwickeltem Norden und rassistischem Süden zeigt „Till - Kampf um die Wahrheit" eklatant. Das berührende Drama ist darüber hinaus vor allem die Geschichte einer eindrucksvoll starken Frau. Für die Interpretation des Leidens und des Kampfes wurde Hauptdarstellerin Danielle Deadwyler („Station Eleven") auf Festivals gefeiert und ausgezeichnet. Regisseurin und Ko-Autorin Chinonye Chukwu („Clemency") gewann als erste Afroamerikanerin den Grand Jury Prize beim Sundance Film Festival.

The Son

USA, Frankreich, Großbritannien 2022, Regie: Florian Zeller, mit Hugh Jackman, Vanessa Kirby, Zen McGrath, 124 Min.

Florian Zeller ist ein sehr erfolgreicher Theater-Autor, der im Jahr 2020 selbst sein Stück „The Father" mit Anthony Hopkins als sensationellen Film über Demenz inszenierte. Nun verfilmt der französische Schriftsteller mithilfe des legendären Drehbuch-Autors Christopher Hampton („Gefährliche Liebschaften") sein Bühnen-Baby „The Son" zum Thema Depression.

Der New Yorker Anwalt Peter (Hugh Jackman) ist erfolgreich und glücklich in seiner frischen Ehe mit seiner jüngeren Partnerin Beth (Vanessa Kirby). Bis seine Ex-Frau Kate (Laura Dern) vor der Tür steht und von den Problemen ihres gemeinsamen Sohns Nicholas (Zen McGrath) erzählt, der wochenlang nicht mehr in der Schule war, verstört und wie ausgewechselt
ist. Er will auch nicht mehr länger bei seiner Mutter leben. Peter lässt schließlich den 17-Jährigen bei sich in dem arg grau designten Appartement wohnen. Anfangs ist Nicholas verbittert gegenüber der Frau, welche die Ehe der Eltern auseinandergebracht hat. Dann scheint sich alles zu bessern, es gibt eine fröhliche Tanzszene zu Tom Jones' „It's not unusual". Der Soundtrack antwortet aber direkt mit einem melancholischen Liedchen, nach kurzer Euphorie verfällt der Sohn wieder seiner Traurigkeit. Nach einem Selbstmordversuch will die Klinik Nicholas unter Beobachtung bei sich behalten. Angesichts der weinenden Kindes stehen die Eltern vor der schweren Entscheidung, dem Arzt oder dem Sohn zu glauben.

Es ist relativ schnell klar, dass Nicholas an einer schweren Depression leidet. Allein die Erwachsenen im Film kriegen das scheinbar nicht mit oder wollen es nicht sehen. Das verwundert vor allem im Gegensatz zu dem in jeder Hinsicht stimmigen „The Father". Nur am Rand geht es um die Schwierigkeiten einer jungen Mutter, plötzlich einen Teenager im Haus zu haben. „The Son" leidet vor allem aus der Perspektive des Vaters Peter mit. Der ist allerdings auch Sohn, wie eine kurze Szene mit Anthony Hopkins als (Groß-) Vater mit zynischer Kälte fühlbar macht. Peter ist in dieser Familienaufstellung der Vater, der seine eigene vaterlose Kindheit nicht reproduzieren will. Obwohl ihn ein Senator unbedingt als finanziellen Berater will, verzichtet er auf den tollen, neuen Job in Washington, um mehr Zeit für seinen problematischen Sohn zu haben. Die Vernachlässigung der neuen Familie wird selbstverständlich zur Belastung für Partnerin Beth.

Während bei „The Father" Demenz in verschiedenen Ebenen auftauchte, gibt es bei „The Son" exakt eine Überraschung. Es ist im Prinzip ein Kammerspiel mit kurzen Ausflügen in die Außenwelt. Florian Zeller kümmert sich aufwändig um sein Bühnenkind „The Son" mit hervorragender Kamera (Ben Smithard), emotionalem Soundtrack (Hans Zimmer) und vor allem exzellentem Schauspiel von „Wolverine" Hugh Jackman („Les Misérables", „Logan"). Trotzdem fällt der neue „Film-Apfel" zu weit vom Stamm: Nach dem überall gefeierten „The Father" fällt „The Son" ab und ist trotzdem noch ein sehenswerter Film.

The Son (2022)

The Son

USA, Frankreich, Großbritannien 2022, Regie: Florian Zeller, mit Hugh Jackman, Vanessa Kirby, Zen McGrath, 124 Min.

Florian Zeller ist ein sehr erfolgreicher Theater-Autor, der im Jahr 2020 selbst sein Stück „The Father" mit Anthony Hopkins als sensationellen Film über Demenz inszenierte. Nun verfilmt der französische Schriftsteller mithilfe des legendären Drehbuch-Autors Christopher Hampton („Gefährliche Liebschaften") sein Bühnen-Baby „The Son" zum Thema Depression.

Der New Yorker Anwalt Peter (Hugh Jackman) ist erfolgreich und glücklich in seiner frischen Ehe mit seiner jüngeren Partnerin Beth (Vanessa Kirby). Bis seine Ex-Frau Kate (Laura Dern) vor der Tür steht und von den Problemen ihres gemeinsamen Sohns Nicholas (Zen McGrath) erzählt, der wochenlang nicht mehr in der Schule war, verstört und wie ausgewechselt
ist. Er will auch nicht mehr länger bei seiner Mutter leben. Peter lässt schließlich den 17-Jährigen bei sich in dem arg grau designten Appartement wohnen. Anfangs ist Nicholas verbittert gegenüber der Frau, welche die Ehe der Eltern auseinandergebracht hat. Dann scheint sich alles zu bessern, es gibt eine fröhliche Tanzszene zu Tom Jones' „It's not unusual". Der Soundtrack antwortet aber direkt mit einem melancholischen Liedchen, nach kurzer Euphorie verfällt der Sohn wieder seiner Traurigkeit. Nach einem Selbstmordversuch will die Klinik Nicholas unter Beobachtung bei sich behalten. Angesichts der weinenden Kindes stehen die Eltern vor der schweren Entscheidung, dem Arzt oder dem Sohn zu glauben.

Es ist relativ schnell klar, dass Nicholas an einer schweren Depression leidet. Allein die Erwachsenen im Film kriegen das scheinbar nicht mit oder wollen es nicht sehen. Das verwundert vor allem im Gegensatz zu dem in jeder Hinsicht stimmigen „The Father". Nur am Rand geht es um die Schwierigkeiten einer jungen Mutter, plötzlich einen Teenager im Haus zu haben. „The Son" leidet vor allem aus der Perspektive des Vaters Peter mit. Der ist allerdings auch Sohn, wie eine kurze Szene mit Anthony Hopkins als (Groß-) Vater mit zynischer Kälte fühlbar macht. Peter ist in dieser Familienaufstellung der Vater, der seine eigene vaterlose Kindheit nicht reproduzieren will. Obwohl ihn ein Senator unbedingt als finanziellen Berater will, verzichtet er auf den tollen, neuen Job in Washington, um mehr Zeit für seinen problematischen Sohn zu haben. Die Vernachlässigung der neuen Familie wird selbstverständlich zur Belastung für Partnerin Beth.

Während bei „The Father" Demenz in verschiedenen Ebenen auftauchte, gibt es bei „The Son" exakt eine Überraschung. Es ist im Prinzip ein Kammerspiel mit kurzen Ausflügen in die Außenwelt. Florian Zeller kümmert sich aufwändig um sein Bühnenkind „The Son" mit hervorragender Kamera (Ben Smithard), emotionalem Soundtrack (Hans Zimmer) und vor allem exzellentem Schauspiel von „Wolverine" Hugh Jackman („Les Misérables", „Logan"). Trotzdem fällt der neue „Film-Apfel" zu weit vom Stamm: Nach dem überall gefeierten „The Father" fällt „The Son" ab und ist trotzdem noch ein sehenswerter Film.

17.1.23

Maria träumt - Oder: Die Kunst des Neuanfangs


Frankreich 2022 (Maria Rêve) Regie: Lauriane Escaffre, Yvo Muller, mit Karin Viard, Grégory Gadebois, Philippe Uchan, 92 Min., FSK: ab 6

Bei ihrem neuen Job hat die einfältige und liebenswürdige Maria (Karin Viard), die bisher eine alte Dame gepflegt hat, plötzlich mit Kunst zu tun. Sie fängt als Reinigungskraft in der Pariser Académie des Beaux-Arts an. Da sie auch noch bekannterweise tollpatschig ist, wischt sie zuerst als etwas abgestandener Beuys-Witz das Objekt „Schmelzende Butter" in die Tonne. Mit frischer Butter aus der Mensa rettete sie das „Mammut" der Akademie, Hausmeister Hubert (Grégory Gadebois), der diese Stellung von der Mutter erbte. Als die beiden Angestellten einer Studentin bei deren Vulva-Kunstwerk helfen, wird die Putzfrau nach einer weiteren Peinlichkeit sogar Teil der Installation. Aber vor allem macht ihr das Helfen zusammen mit dem gutmütigen Kerl, der heimlich Rock ‚n' Roll-Tanz lernt, viel Spaß. Da der arbeitslose und melancholische portugiesische Ehemann zuhause nicht mehr viel hermacht, verliebt sich Maria in Hubert.

Neben treffenden Witzen über Kunst und abgehobene Künstler gefällt die sympathische französische Liebeskomödie „Maria träumt" mit dem Aufblühen seiner grundpositiven Heldin. Ganz weit weg von selbstverliebten Kunst-Ideen gibt ihr das kreative Arbeiten um sie herum Mut und neue Träume. Sie kommt heraus aus ihrer Haut und als Akt-Model sogar aus ihren Kleidern. Verschmitzt öffnet sie dabei den Vorhang zum Gang, damit Hubert sie sehen kann.

Die leise und bodenständige Liebesgeschichte erfreut mit schönen Bildideen, etwa wenn eine Neon–Installation in Regenbogenfarben kommentiert „We are poems" - „wir sind Gedichte". Im Moment des ersten Kusses machen zufällig herumstehende Kamera und Leinwand die innige Umarmung zur Lichtinstallation. Kleine Styropor-Perlen, die Maria stilsicher verstreute, folgen den Liebenden als wertvolle Erinnerungen in die nächsten Szenen. Vor allem die feine Schauspielkunst der Karin Viard („Verstehen sie die Béliers?") trägt in ihrer Rolle als schüchterne Maria das Langfilmdebüt der Regisseure Lauriane Escaffre und Yvonnick Muller.

16.1.23

Rache auf Texanisch


USA 2022 (Vengeance) Regie: B.J. Novak, mit B.J. Novak, Boyd Holbrook, J Smith-Cameron, 107 Min., FSK: 12

Abby war nur eine flüchtige Bettgeschichte für den leichtlebigen New Yorker Journalisten Ben (B.J. Novak), sodass er sich kaum erinnert, als er vom Tod der Frau hört. Abbys Bruder Ty (Boyd Holbrook) überredet ihn trotzdem zum Begräbnis in ein abgelegenes Kaff nach West Texas zu kommen. „Rache auf Texanisch" beginnt komödiantisch mit der Grabrede auf eine angebliche Freundin, die Ben nie wirklich kannte. Als er dann Abbys Familie kennenlernt, will er einen True-Crime-Podcast aufnehmen und vor allem die Hinterwäldler vorführen. Denn Ty glaubt nicht, dass eine Überdosis Opioid während einer Party die Schwester umgebracht hat. Obwohl sich der Undercover-Reporter zu seinem neuen Aufnahmegerät auch ein Holzfällerhemd kauft, läuft er mit seinen Vorurteilen überall auf. Beim Rodeo jubelt er für das falsche Team und bei der Begegnung mit dem Musikproduzenten Quentin Sellers (Ashton Kutcher), staunt er über lange, zusammenhängende Sätze. Dass sich von vier Polizeibehörden keine einzige zuständig fühlt, entspricht hingegen wieder voll den Klischees.

B.J. Novak, als Schauspieler bekannt von „Inglourious Basterds" und „The Office", inszeniert sich in seinem Regiedebüt selbst als der Großstadt-Schnösel, der den Wert herzlicher Provinz kennenlernt. Vielleicht – denn die frische Komödie „Rache auf Texanisch" ist zumindest im zweiten Teil überraschend. Ein anderer Hauptdarsteller hätte der sympathischen Idee jedoch mehr Ausdruck geben können.

15.1.23

Shotgun Wedding (2022)


USA 2022, Regie: Jason Moore, mit Jennifer Lopez, Josh Duhamel, Lenny Kravitz, 101 Min., FSK: ab 12

Traumhochzeit, die Billigversion: Nicht auf Bali, sondern am philippinischen Strand wollen Darcy (Jennifer Lopez) und Tom (Josh Duhamel) aufwändig heiraten. Klassisch gibt es Zweifel kurz vor dem Ja-Wort, doch noch bevor die Aussprache zu Ende ist, überfallen Piraten die Hochzeitsgesellschaft und wollen Millionen vom Vater der Braut. Nun wird beim Raufen, Schießen und Flüchten zuerst das Hochzeitskleid genüsslich zerlegt. Dabei kommt sich das Paar nicht nur wegen der Handschellen näher und gewinnt Gefallen am mörderischen Feuern statt Feiern.

Ein Filmkonzept, von dem drei auf einen Bierdeckel passen und der ehemalige Superstar Jennifer Lopez („Hustlers", „Manhattan Love Story") sollten für eine routinierte Action-Komödie mit Hauch Romantik reichen. Allerdings geht bei diesem Film noch mehr schief als bei der Hochzeit. Die maskierten Geiselnehmer würden selbst bei Kinder-Halloween niemandem Angst machen. Spürbare Chemie stellt sich bei Paar auch nach gegenseitiger Lebensrettung nicht ein. Und die familiären Streitereien reichten auf dem Boulevard-Theater nicht mal für ein ganzes Stück. Dass Darcys Ex Sean (Lenny Kravitz) anfangs für Eifersucht sorgt und später den wenig charismatischen Schurken gibt, steht für eine durchweg misslungene Besetzung. In Sachen Action, Romantik und Humor sind nur Platzpatronen und Rohrkrepierer mit an den exotischen Strand gebracht worden. Regisseur Jason Moore („Sisters", „Pitch Perfect") erfüllt nicht mal die Erwartungen an einen unterhaltsamen Genrefilm.

Die amerikanische Sängerin und Schauspielerin Jennifer Lopez, die nie wieder so gut spielte, wie 1998 in Steven Soderberghs „Out of Sight", versuchte sich zuletzt mit leicht biografischen und emanzipierten Frauenrollen. In „Manhattan Queen" ging es um Aufstieg aus einfachen Verhältnissen, in „Marry Me" um die romantischen Probleme eines Superstars. Hier macht sie leider nur auf dümmliche und schießwütige Ulknudel.

9.1.23

Acht Berge


Italien, Belgien, Frankreich 2022 (Le otto montagne) Regie: Felix Van Groeningen, Charlotte Vandermeersch, mit Luca Marinelli, Alessandro Borghi, Filippo Timi, 148 Min., FSK: ab 6

Felix Van Groeningen („The Broken Circle") verfilmt die lange Männerfreundschaft aus dem gleichnamigen Roman „Acht Berge" von Paolo Cognetti in einem langen, ruhig atmenden Werk. Die Frage nach dem richtigen Leben begleitet zwei Freunde über schweigsame Jahrzehnte in dem Jurypreis-Sieger von Cannes.

Der junge Pietro aus Turin freundet sich bei der Sommerfrische im norditalienischen Bergdorf Grana schnell mit Bruno an, dem einzigen Kind des weitgehend verlassenen Ortes. Sie entdecken zusammen die Natur und gehen mit Pietros Vater auf Bergtouren. Bis Bruno für eine Maurerlehre zu seinem bislang abwesenden Vater nach Österreich und in die Schweiz muss. Während der Bergbursche weiß, dass er eigentlich in seinem Dorf leben will, hat der jugendliche Pietro keine Vorstellung von seiner Zukunft, was zur Entzweiung mit dem Vater führt. Dessen plötzlicher Tod führt dann die erwachsenen Pietro (Luca Marinelli) und Bruno (Alessandro Borghi) wieder zusammen: Der Vater hatte Pietro eine verfallene Berghütte vererbt, welche die Freunde in einsamer Höhe zusammen reparieren. Von nun an kommt der Orientierungslose jeden Sommer zum Verwurzelten. Passend zu einer Männerfreundschaft wird dabei hinter dichtem Bart nicht viel gesprochen.

Felix Van Groeningen („The Broken Circle") hat ein besonderes Händchen für auf ruhige Weise, tief berührende Gefühle. Das beweist er auch bei der Romanverfilmung „Acht Berge", die er zusammen mit seiner Partnerin Charlotte Vandermeersch geschrieben und inszeniert hat. Beim Tod von Pietros Vater, beim einsamen Abgehen von dessen Touren vor atemberaubenden Bergpanoramen. Die lange Freundschaftsgeschichte ist ein stiller Film, der einen nichtsdestotrotz in sich hineinzieht. 

Das hat bei den Sommern auf der Hütte und auch bei Pietros Reisen in Himalaja etwas von der Zivilisationsflucht im Stile von „Into the wild". Obwohl Bruno die Begeisterung der Stadtmenschen in der Hütte verlacht: „Im Winter liegt hier meterhoch Schnee", meint er prophetisch. Dass die Bildung, die ihm Pietros Eltern ermöglichten, ihm allerdings auch die Fähigkeit gaben, diese Welt mit mehr als einfachsten Worten zu beschreiben, ist die andere Seite der Medaille. Zwei unterschiedliche Wege des Lebens, von den Freunden begangen und immer kurz besprochen.

Gedreht im Piemont und im Aosta-Tal beeindruckt der ruhig intensive Film optisch und mit der – bei Van Groeningen immer – besonderen Musik. Nach der Wiederentdeckung des Bluegrass für „The Broken Circle" treten jetzt die Klänge des Schweden Daniel Norgren ins Scheinwerferlicht. Der Soundtrack scheint immer wieder aus der kraftvollen Natur hervorzuquellen und vollendet kongenial diesen sehr schönen Film.

8.1.23

Holy Spider


Dänemark, Deutschland, Schweden, Frankreich 2022, Regie: Ali Abbasi, mit Zar Amir Ebrahimi, Mehdi Bajestani, Arash Ashtiani, 119 Min., FSK: ab 16

„Holy Spider" ist Film der Woche. Ein hochspannender Thriller um einen realen Serienmörder vor sehr aktuellem Hintergrund von religiösem und institutionellem Frauenhass im Iran. Bei den Filmfestspielen in Cannes wurde Hauptdarstellerin Zar Amir Ebrahimi in der Rolle einer mutigen Journalistin auf der Spur des Täters als „Beste Schauspielerin" ausgezeichnet.

Zur Einführung erleben wir einen Mord aus der Perspektive des Opfers, einer Prostituierten. Wie sie sich grob schminkt, von der schlafenden Tochter verabschiedet, von einem Freier brutal behandelt wird und schließlich zu einem Mann auf ein Motorrad steigt. Im Gegensatz zu Klassikern wie „Zodiac – Die Spur des Killers" von David Fincher ist „Holy Spider" kein „Whodunit". Wir wissen bald, wer der Täter ist, und lernen Saeed (Mehdi Bajestani) in seinem Doppelleben als Familienvater mit zwei Töchtern kennen. Nur immer wieder Donnerstag, wenn Frau und Kinder bei den Schwiegereltern sind, dreht er mit dem Motorrad seine Runden im Rotlichtbezirk, nimmt eine Frau mit nach Hause, um sie dort zu erwürgen und die Leiche später am Rand der Stadt abzulegen. Über den Fundort informiert er immer einen Journalisten der lokalen Zeitung. Dass diese Gespräche nicht bei der Polizei protokoliert wurden, muss die Journalistin Rahimi (Zar Amir Ebrahimi) zu ihrem Entsetzen bald nach der Ankunft erfahren. Ihr großes Interesse gilt nicht nur dem Fall, sondern auch dem mangelnden Einsatz der Institutionen. Sie beschwert sich nicht nur immer wieder über den immanenten Frauenhass dieser Taten, sondern auch über die Missachtung der elenden gesellschaftlichen Situation der Opfer, die nicht nur vom Täter als minderwertig angesehen werden. 

Schon bei ihrer Ankunft im Hotel der Pilgerstadt Maschhad muss Rahimi ihren Presseausweis zücken, um als unbegleitete Frau überhaupt ein Zimmer zu bekommen. Im schikanösen Hinweis, sie solle ihre Haare verbergen, echot die Ursache der aktuellen Unruhen im Iran. Auch die weitere Recherche ist von geringschätzenden Bemerkungen begleitet - wieso sie sich überhaupt um die Sache kümmern würde, beispielsweise. Dabei erweist sich der bisherige Einsatz der Behörden zur Aufklärung der Verbrechen als sehr mangelhaft. Nachdem auch eine schwangere Frau, die sie im Rotlicht-Bezirk interviewte, ermordet wurde, verkleidet sich Rahimi als Prostituierte, um den Täter zu überführen.

„Holy Spider", heilige Spinne auf Deutsch, referiert auf den Stadtplan, in dessen Spinnennetz ein Frauenmörder sein Unwesen treibt. Nach dem Melodram der Mordnacht zu Beginn taucht der Film sozialkritisch ins Milieu und den Alltag von Journalistin und Täter. Die latente Frauenfeindlichkeit tritt nach Festnahme von Saeed erschreckend hervor. Statt eines Sieges der Gerechtigkeit erlauben alle beteiligten Männer die Verunglimpfung der Opfer. Im gleichen Wahn vom „Taxi Driver" glaubt der Mörder, die Gesellschaft und die heilige Stadt mit seinen Taten „gereinigt" zu haben. Proteste und vor allem ein noch fanatischerer Sohn nehmen das hässlich verzerrte Weltbild auf. In einer besonders harten Schlussszene spielen der Junge und seine kleine Schwester die Morde nach - auf andere Art erschütternder als die realen Taten.

Der iranisch stämmige Regisseur Ali Abbasi („Border") lebt in Dänemark und verfolgte noch im Iran den erschütternden Kriminalfall des „Spinnenmörders" Saeed Hanaei, der zu Beginn der 2000er-Jahre der Heiligen Stadt Maschhad 16 Prostituierte ermordete. „Holy Spider" wurde selbstverständlich nicht im Iran gedreht, wo gefeierte Filmemacher wie Jafar Panahi („Taxi Teheran") oder die Schauspielerin Taraneh Alidoosti („The Salesman") im Gefängnis sind oder waren, sondern im Libanon. Ali Abbasi schafft es, im Genre des Serienmörders ein ebenso spannendes wie hochpolitisches Bild der heutigen Irans und vor allem persischer Frauen zu zeigen.

Mission Ulja Funk

 
Deutschland, Luxemburg, Polen 2021, Regie: Barbara Kronenberg, mit Romy Lou Janinhoff, Jonas Oeßel, Hildegard Schroedter, 93 Min., FSK: ab 6
 
Ein „besonderer Kinderfilm" ist einer, der nicht auf altbekannte Vorlagen, sondern auf zeitgemäße Originalstoffe baut – also eindeutig „Mission Ulja Funk"! Mit Hilfe der Initiative „Der besondere Kinderfilm" erzählt Autorin und Regisseurin Barbara Kronenberg in ihrem Debüt einfallsreich, originell und umwerfend komisch von der cleveren jungen Astrologin Ulja (Romy Lou Janinhoff): Die zwölfjährige Schülerin hat gerade ihren ersten eigenen Meteoriten entdeckt und will unbedingt dessen Einschlag in Belarus, kurz hinter der polnischen Grenze, erleben. Doch Ulja ist mit ihrer russlanddeutschen Familie bei der streng religiösen Oma Olga (Hildegard Schroedter) untergekommen, die jegliche ketzerische Wissenschaft sabotiert. So macht sich das Mädchen mit dem Leichenwagen von Mamas Job auf einen besonderen Road Trip. Ihr Chauffeur ist der ältere, mehrfach sitzengebliebene Mitschüler Henk (Jonas Oeßel), der „nichts anderes kann, als Autofahren" (Ulja). Da Henk aber auch die Marienfigur vom mehr gierig als geistigen Pastor (Luc Feit) geklaut hat, die voll veruntreutem Geld steckt, verändert der die Reiseroute des Gemeindeausfluges kurzfristig. So folgen Oma Olga und der Rest der Familie, der Pastor und die halbe Gemeinde im klapprigen Bus den Spuren von Ulja und ihrem Meteoriten VR-24-17-20.
 
Gewitzt im Sinnen von raffiniert und witzig verfolgt Ulja ihr Ziel. Dass ein Mädchen, das sich mit Hausaufgaben für andere finanziert, dabei nicht nur eigenwillig, sondern auch nerdig daherkommt, macht „Mission Ulja Funk" nur glaubwürdiger und interessanter. Denn nicht nur werden Mitschüler, Eltern und andere Erwachsene kapieren, was in dem stillen Teenager steckt, auch Ulja selbst muss lernen, auf ihre Mitmenschen Rücksicht zu nehmen. Diese Botschaften werden in einer enormen Flut herrlich skurriler Einfälle transportiert. Die Flucht ist flott inszeniert, mit viel Charakter, Ecken und Kanten gespielt, sowie mit nettem Witz ausgestattet. Ein ganz besonderer und sehenswerter Kinderfilm.


2.1.23

Belle & Sebastian - Ein Sommer voller Abenteuer


Frankreich 2022 (Belle et Sébastien: Nouvelle génération) Regie: Pierre Coré, mit Robinson Mensah Rouanet, Michèle Laroque, Alice David, 97 Min. FSK: ab 6

Der zehnjährige Sébastien wird wegen seiner Streiche von Paris zur Oma in die Berge verschickt. Auch die kletternde Tante gehört zu einem Clan von Einzelgängern, zugänglich zeigt sich nur irgendwann die Pyrenäenberghündin Belle, obwohl Stadtkind Sébastien anfangs keine Tiere mag. Nun muss der zottelige Hund vor seinem tierquälenden Herrchen gerettet werden, bevor er den guten Sébastien retten wird.

„Belle und Sebastien" nach dem Roman der Jugendbuchautorin Cécile Aubry startet die Geschichte von Junge und Hund nach einer ersten Trilogie von 2013-2017 nun neu – auf nicht mehr als nette Weise. Denn der Stoff ist schon sehr französisierte „Lassie", modernisiert mit ein paar Öko-Gedanken bei der Diskussion um eine wasserverschwendende Beschneiungsmaschine. Wie man auch von Lassie weiß, leben diese Tiere ja ewig und brauchen in jeder Generation wieder neue menschliche Begleiter... Mit blutigen Attacken von Wölfen ist diese Version allerdings nichts für kleinere Kinder, unerfreulich ist beim Jugendabenteuer auch ein zu unglaublicher Stunt im Finale.

The Banshees of Inisherin


Irland, Großbritannien, USA 2022, Regie: Martin McDonagh, mit Colin Farrell, Brendan Gleeson, Kerry Condon, 115 Min., FSK: ab 16

Während der irische Bürgerkrieg auf dem Festland wütet, entzweien sich zwei alte, kauzige Freunde auf der vergessenen Insel Inisherin. Martin McDonagh, Regisseur von „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri" und „Brügge sehen... und sterben?", begeistert mit einer besonders schönen Erzählung von besonders bitterer männlicher Grausamkeit.

Es ist Routine oder gar Tradition, dass Pádraic Súilleabháin (Colin Farrell) seinen alten Freund Colm Doherty (Brendan Gleeson) um zwei Uhr abholt, um gemeinsam in den Pub des Dorfes zu gehen. Dass Colm diesmal nicht auf das Klopfen reagiert, wird nicht allzu ernst genommen. Seltsames Verhalten scheint hier normal zu sein. Doch als sich die beiden schließlich im Pub begegnen und Colm mit seinem Bier konsequent an einen anderen Tisch geht, ist ein unerhörtes Ereignis auf der Insel.

Sie sind zwei grundsätzlich unterschiedliche Charaktere: Pádraic einfältig, ohne Bildung, aber ein guter Kerl. Er nimmt sein geliebtes kleines Maultier, das alle verspotten, am liebsten mit in die Wohnung, die er mit seiner Schwester Siobhan Súilleabháin (Kerry Condon) teilt. Colm hingegen, der jedes Gespräch freundlich, aber bestimmt ablehnt, ist Violinspieler und Komponist, immer wieder kommen Schüler zu ihm. Er wolle die letzten Jahre seines Lebens nicht vertrödeln, erklärt er. Das Geschwätz mit Padraic würde ihn nicht weiterbringen, da würde er lieber lesen und komponieren. „Ab heute mag ich dich nicht mehr." Der anfangs nachvollziehbare, aber auf dieser Insel deplatzierte Hochmut bekommt Flecken, wenn Colm Mozart für seine Argumentation anführt: An den erinnere man sich - nicht, weil er ein guter Kerl war, sondern wegen seiner Musik. Das Argument hat allerdings den kleinen Fehler, dass er Mozart fälschlich im 17. Jahrhundert platziert, wie Pádraics kluge Schwester Siobhan hervorhebt. Sie ist unter all den kuriosen Figuren die Einzige mit Herz und Verstand. Sie wird später Colms verrückte Idee zurechtstutzen: Ihr seid alle langweilig hier.

Trotzdem eskaliert die Situation zwischen den beiden Männern, als Colm ankündigt, er werde sich für jedes Mal, dass Pádraic ihn anspricht, mit seiner rostigen Gartenschere einen Finger abschneiden. Und diese Drohung mit erschreckender Konsequenz wahr macht. Der Streit wird bald grausamer als der Krieg auf dem Festland. Ein Streit, den Colm ohne große Bitterkeit durchzieht. Als jedoch einer seiner Finger den Tod von Pádraics Maultier verursacht, gibt es kein Verzeihen mehr.

Martin McDonagh entwirft vor herrlich irischer Kulisse (Kamera: Ben Davis) ein Panorama männlicher Dummheit mit lächerlicher Eitelkeit, verletzten Gefühlen und böser Sturheit. Der Bürgerkrieg, dessen Schüsse herüberklingen, ist Referenz in Sachen Grausamkeit. Sensationell spielen Colin Farrell und Brendan Gleeson die verfeindeten Freunde. Das Duo, das vor 15 Jahren zwei irische Auftragsmörder in „Brügge sehen... und sterben?" spielte, feiert grandios Wiedersehen. Schon damals hieß es „Colin Farrell, der noch nie so gut war" und erneut kitzelt Martin McDonagh das Beste aus seinen Darstellern heraus. Das gilt für die ganze Riege kantiger und hochinteressanter Figuren: Eine alte Frau kommentiert wie eine Hexe aus Polanskis „Macbeth" das Geschehen und ein erstes Opfer bringt der von seinem Vater, einem brutalen Dorfpolizisten, misshandelte junge „Idiot" des Dorfes. McDonagh entwirft mit großem Können und bitterem Witz ein faszinierendes und erschreckendes Menschheitsbild. Für seine herausragende schauspielerische Leistung wurde Colin Farrell bei den Internationalen Filmfestspielen Venedig als Bester Schauspieler geehrt. Martin McDonagh erhielt den Preis für das Beste Drehbuch.

Passagiere der Nacht


Frankreich 2022 (Les passagers de la nuit) Regie: Mikhaël Hers, mit Charlotte Gainsbourg, Quito Rayon-Richter, Noée Abita, 111 Min., FSK: ab 12

Während 1981 auf den Straßen von Paris der Wahlsieg Mitterands ausbündig gefeiert wird, gibt es für Élisabeth (Charlotte Gainsbourg) eine andere Zeitenwende: Ihr Mann hat sie verlassen und nun muss sie allein ihre beiden Kinder im Teenageralter durchbringen. Dabei hätte sie noch nie gearbeitet, wie sie ihrem Vater weinend erzählt. Im Laufe der Zeit findet Élisabeth den richtigen Job bei der legendären Late-Night-Radiosendung „Les passagers de la nuit" (Passagiere der Nacht) der bekannten Moderatorin Vanda Dorval (Emmanuelle Béart). Dort trifft die Mutter auf Talulah (Noée Abita), einen heimatlosen Teenager, den sie zu sich nach Hause einlädt und in einer Mansardenwohnung schlafen lässt. Was besonders für den Sohn Matthias (Quito Rayon-Richter) aufregend ist, der sich bald in die wilde Fremde verliebt. Bei der unsicheren Élisabeth sind eigene, vorsichtige Schritte in Sachen Liebe nach Krebserkrankung und einer Brustamputation schwieriger. Ihre Kinder gehen selbstverständlich ihren Weg, während Zögern und Staunen die Blicke der reifen Frau bestimmen.

Der französische Regisseur Mikhaël Hers zeigte schon in „Mein Leben mit Amanda" (2018) und „Dieses Sommergefühl" (2015) einen besonders schönen und einfühlsamen Umgang mit großen Umwälzungen des Lebens. Beide Filme behandelten in alltäglichen Szenen, wie es nach unerwartetem Tod weitergeht. In „Passagiere der Nacht", dieser kleinen Perle aus dem Genre der Radio-Filme, fängt Hers gleichzeitig das optimistische Gefühl einer Generation im Frankreich der 80er-Jahre ein. Immer wieder schneidet er dokumentarische Alltagsszenen ein, der Rest ist wunderbarer Ausstattungs-Augenschmaus vor futuristischen Hochhauskulissen.

Kongenial füllt die großartige Charlotte Gainsbourg mit subtiler Mimik diese feinen Gefühle aus. Die Tochter des legendären Musikers und Großmauls Serge Gainsbourg wirkt immer wie ein verletzliches Reh und trifft damit genau den Zustand einer verlassenen Frau, die sich komplett neu zurechtfinden muss. Das verläuft allerdings nicht als zwanghaftes Drama, sondern spielerisch milde wie bei Eric Rohmer, dessen „Vollmondnächte" die drei Teenager sich bei einem erschlichenen Kinobesuch ansehen.