31.3.21

Calls / Apple TV+ ****


„The Call – Leg nicht auf!" Diese Aufforderung war schon oft Grundidee von Thrillern. Bei „Calls" hält Spannung die Verbindung aufrecht, obwohl die neueste Produktion von Apple TV+ eigentlich ein Hörspiel ist. Sam wollte seine Fernbeziehung per Fernsprecher trennen, aber plötzlich knarzt es in der Leitung und bei allen Beteiligten tauchen unerklärliche Gestalten auf. Mark erfährt, dass seine Frau Rose überraschend schwanger ist und fährt irritiert mit dem Wagen in die Wüste. Als er das erste Mal wieder zum Telefon greift, gab es eine Zeitverschiebung: Bei ihm sind Stunden vergangen, bei Rose Tage, seine Tage sind zuhause Monate und schließlich muss er mit seinem erwachsenen Sohn sprechen. In diesen sehr kurzen Episoden von „Calls" gibt es viele Obsessionen, vor allem scheint die Serie obsessiv Beziehungen zerstören zu wollen. Auf raffiniert erzählende Weise.

Der uruguayische Filmemacher Fede Alvarez („Don't Breathe") mischt übernatürliche Geschichten im Stile von „Twilight Zone" mit einfachen Computer-Grafiken in Regenbogenfarben. Aber „Calls" funktioniert in Tradition von Orson Welles` berühmten „War of the Worlds" auch ohne Bilder. Dabei kann man sich vorstellen, wie die schließlich zusammenhängenden Ereignisse ein fantastischer Film in der Art von J.J. Abrams' „Cloverfield"-Serie gewesen wäre. So ist „Calls" ohne Film-Sets und Kontakte eine typische Pandemie-Erscheinung.

„Calls" (USA/Fr 2021), Regie: Fede Alvarez, neun Folgen von 12-22 Min., FSK: ab 6/12

23.3.21

The Falcon and the Winter Soldier / Disney+


Superhelden beim Bügeln – wollen wir das sehen? „The Falcon and The Winter Soldier", die nächste Serie rund um Marvels Action-Figürchen, gibt einen melancholischen Ton der Tatenlosigkeit vor. Nach großem Action-Spektakel selbstverständlich. Bei guten Bildern und Darstellern, bei viel verfilmten Dollars weiß man nach einer Folge überhaupt nicht, wo es hingehen soll mit zwei orientierungslosen Nebendarstellern der bisherigen „Captain America"-Filme.

Wie gesagt: Bügeln! Nein, dies ist nicht „WandaVision", keine überdrehte Spielerei mit bekannten Superhelden. Hier geht bei der Hausarbeit ein wehmütiger Blick zurück auf altes Heldentum, verkörpert von Captain Americas Vibranium-Schild, der tatenlos herum liegt. Sam Wilson (Anthony Mackie), im Helden-Job „The Falcon" genannt, war durch die Ereignisse in „Avengers: Infinity War" (2018) und „Avengers: Endgame" (2019) fünf Jahre lang verschwunden - wie die Hälfte der Menschheit. Ein paar Monate später hat er jetzt Probleme, sich wieder zurechtzufinden. Zwar gibt es noch Aufträge der US-Army, aber einen Kredit für das Fischerei-Unternehmen der Schwester bekommt Sam Wilson als Schwarzer „ohne Einkünfte in den letzten Jahren" nicht. So absurd die Begründung ist, eine Bank kann sich derartige Logik erlauben. Auch ein prominenter Superheld muss keinen Kredit bekommen - eine nett zynische Note zum Realitätsgehalt dieser ganzen Filmchen.

Bucky Barnes (Sebastian Stan), der berüchtigte „The Winter Soldier", muss verarbeiten, dass er über 100 Jahre alt ist und im Zustand einer Gehirnwäsche für Hydra viele Menschen umgebracht hat. Die verfolgen ihn noch in seinen Träumen. Die staatlich auferlegte Therapie hilft dem auf Bewährung frei Rumlaufenden nicht. Also kein großer Spaß in der Unterabteilung „Gebrochene Superhelden-Nebenfiguren".

Derweil starten im fernen Europa irgendwelche Unruhen, mit denen dann wohl bald Daniel Brühl als Baron Zemo zu tun haben wird. Die Presse weiß diesmal nicht mehr als das Publikum. Hat Disney+ Angst vor schlechten Kritiken? Wir warten also auf den großen Auftritt von Daniel Brühl als Zemo, während der deutsche Star diesen in seinem eigenen (Berlinale-) Film „Nebenan" längst großartig auf die Schippe genommen hat.

Zwar darf Sam Wilson nun wie im richtigen Film Action mit atemberaubender Flugshow hinlegen, doch danach wird der Captain America-Schild im Museum an den Nagel gehangen. Diese Flugeinlage zum Auftakt ist die übliche rasant-spektakuläre Action, bei welcher der anfangs so technisch überlegene und höher ausgerüstete Falcon sich letztlich wieder rumkloppen muss. (Regisseur Kari Skogland verantwortete vorher Netflixs „The Punisher"). Es gibt die unausweichlichen Felsschluchten und nur einmal dürfen Sie raten, wo die Raketen, die Falcon jagen, letztlich einschlagen? Bei Freund oder Feind? Falcon bekommt als Begleiter eine Mini-Drohne, das alles sieht sehr nach „Iron Man" aus. Nur der interessante Charakter in der Rüstung fehlt. Wobei Anthony Mackie („Detroit", „The Hate U Give") mit Charme und Leidensfähigkeit kein schlechter Schauspieler ist.

Das also beschert uns das so größenwahnsinnig verkündete „Marvel Cinematic Universe" (MCU) in der zweiten neuen Serie nach „WandaVision". Niemand weiß so richtig, was die „Phasen" vom MCU bedeuten, aber mit diesen beiden Serien fängt die vierte und bislang letzte „Phase" an. Aufhören soll sie im Jahr 2022 mit dem Kinofilm „Thor: Love and Thunder". Wenn es dann noch Kinos gibt. Die erste Folge von „The Falcon and The Winter Soldier" lässt einen ratlos und enttäuscht zurück. Es ist Marvel und den Fans zu wünschen, dass sich diese Superhelden-Düsternis in den folgenden wöchentlichen Folgen aufklärt.

„The Falcon and the Winter Soldier" (USA 2021), Regie: Kari Skogland, mit Anthony Mackie, Sebastian Stan, Desmond Chiam, sechs Teile à ca 45 Min., Altersfreigabe: 12+


22.3.21

Invincible / Amazon


Ein kleines Mädchen als Hulk-Variante ... Wenn Ihnen solch junge Superhelden bekannt vorkommen, liegen Sie nur halb richtig: Der Teenager Invincible und seine super begabten Freunde sind Kopien von Marvel- und DC-Helden eines anderen Unternehmens (Image Comics). Billiger gezeichnet und erstaunlicherweise trotz Variation kaum originell, retten sie mal wieder die Welt. Da Teenager, haben sie aber auch Probleme mit dem dominanten Vater, sprich Super-Superheld.

Mark Grayson hat lange gewartet, aber jetzt bringt ihm die Pubertät endlich auch die Superkräfte des Vaters Omni-Man, der von einem anderen Planeten stammt. Das Fliegen verläuft noch holperig, die Landung ist meist eine Katastrophe. Doch zu schnell geht es zum Einsatz, da jemand die ganze Superhelden-Clique „Guardians of the Globe" umgebracht hat und die Flaxans, seltsame Wesen aus einer anderen Dimension, immer wieder mörderische Attacken starten. Dass ausgerechnet Omni-Man selbst die Helden-Kollegen umgebracht hat, was nur die Zuschauer wissen, soll für Spannung über die üblichen Heldentaten-Folgen mit den üblichen wahnsinnigen Kriminellen sorgen. Da sich das Ganze trotz wenig jugendfreier Splatter-Einlagen an Teenager richtet, muss sich Mark bei der ersten Liebe zwischen zwei Frauen orientieren. „Invincible" könnte mit Zutaten wie dem dämonischen Detektiv Damien Darkblood, der Papa Omni-Man durchschaut, annehmbar gestreckte Serien-Unterhaltung sein. Doch wie das gar nicht super Outfit des jungen Helden ist die ganze Animation derart simpel geraten, dass man sich bei so viel mangelnder Mühe als Zuschauer geradezu beleidigt fühlt. Und da lässt sich auch bei bestem Willen keine „ligne claire" (franz.: „klare Linie"), also Comic-Kunst hineinlesen.

„Invincible" (USA 2021), Regie: Jeff Allen, acht Folgen à 50 Min., FSK: keine Angabe

Mighty Ducks: Gamechanger / Disney+ *


Irgendwo im Handelsabkommen zwischen den USA und Kanada muss es einen Paragraphen geben, der Hollywood zu mindestens zwei Eishockey-Filmen pro Jahr zwingt. Dementsprechend uninspiriert fallen diese aus. „The Mighty Ducks", eine Serie ungeeignet für die ganze Familie, ist ein weniger als lauwarmer Aufguss der drei gleichnamigen Kino-Filme aus den 90er Jahren. Der 12-jährige Eishockey-Fan Evan Morrow (Brady Noon) wird als zu klein aus dem leistungsorientierten Ducks-Team geworfen. Es war auch extrem spaßbefreit, dass einige Eltern 1000 Dollar für ein Trainingslager ausgaben und gleich zwei private Trainer engagierten. Dagegen startet Evans überfürsorgliche Mutter Alex (Lauren Graham) ein eigenes Team von Außenseitern, das vor allem Spaß haben soll. Aber dafür müssen bis zum nächsten Freitag sechs Spielerinnen oder Spieler zusammenkommen und angemeldet werden. Die Handlung basiert auf dem grundsätzlich unlogischen Prinzip, das seit Jahrzehnten niemanden stört: Da fliegen die Verlierer aus dem knallharten Siegerteam, wollen mit Außenseitern etwas ganz anderes anfangen, aber letztlich doch nur wieder gewinnen. Was ihnen auch im nicht wirklich spannenden, immer gleichen Finale gelingt. Emilio Estevez ist in dieser unnötigen Serie als anfangs unwilliger Hockey-Trainer Gordon Bombay das Relikt aus den alten Filmen. Der Rest ist dann so unglaublich lahm und vorhersehbar, dass man sein Disney-Abo direkt kündigen will. Doch es gibt ja noch Marvel-Filme.

PS: Lieber Verleiher, „Gamechanger" ist falsch geschrieben, quasi Rummenigge-Englisch („Am Ende des Tages..."). Der Originaltitel könnte es verraten: „The Mighty Ducks: Game Changers". Aber bei drei Worten im Titel, kann man ja schon mal falsches Englisch verbreiten, so von wegen Bildung der Kinder ...

„Mighty Ducks: Gamechanger" („The Mighty Ducks: Game Changers", USA 2021), Regie: James Griffiths, Michael Spiller, Jay Karas, mit Emilio Estevez, Lauren Graham, Brady Noon, zehn Folgen à 50 Min., FSK: ohne Angabe

18.3.21

Sky Rojo / Netflix


Der ekelhafte Zuhälter Romeo (Asier Etxeandia) macht die Rechnung auf: 2327 Euro für Kondome, ein paar Tausend mehr für Gleitgel. Diese zynisch kapitalistische Begründung für Zwangs-Prostitution und moderne Sklaverei ist zu viel für die junge Kubanerin Gina (Yany Prado), die endlich ihren Pass zurück möchte. Sie schlägt den Sklavinnen-Halter und Bordell-Chef, der durchlöchert sie darauf extrem mit einem Bleistift. Auch die Prostituierten Coral (Verónica Sánchez) und Wendy (Lali Espósito), die zur Hilfe eilen, hätte er umgebracht, doch Coral schlägt richtig zu. Im Glauben, den Verbrecher umgebracht zu haben, fliehen die drei Frauen.

„Sky Rojo" sollte Nachfolger des spanischen Serien-Erfolges „Haus des Geldes" von Álex Pina und Esther Martínez Lobato werden. Die Gewalt-Orgie sieht aber nur oberflächlich glänzend aus. Flache Figuren in der Action-Handlung stoßen fast so sehr ab, wie die Drastik in der Darstellung. Ist man schockiert vom Leid der Frauen oder einfach durch die durchgehende Brutalität zu flotter Musik? Unübersehbar auf jeden Fall, dass die Frauen mehr nackte Haut als charakterliche Komplexität zeigen, während sie von zwei Goldkettchen-Brutalos im Auftrag Romeos verfolgt werden. „Thelma und Louise", jetzt in eindimensional. „From Dusk Till Dawn", erkennbar schon bei der ersten Außenaufnahme des „Clubs" von Romeo. Also inhaltsleere Imitation von Quentin Tarantino und Robert Rodriguez. Zwar betont Romeo, wie groß Spanier in der Prostitution sind, aber „Sky Rojo" ist alles andere als eine Anklage. Obwohl dauernd zurückgeschlagen und -geschossen wird, ist dies geballte Frauenverachtung. Das einzig Positive dabei die Länge der Folgen: Nach 25 Minuten ist die Sauerei vorbei.

„Sky Rojo" (Spanien 2021), Regie: Jesús Colmenar, Óscar Pedraza, David Victori, Albert Pintó, Javier Quintas, Eduardo Chapero-Jackson, mit Verónica Sánchez, Lali Espósito, Yany Prado, Asier Etxeandia, acht Folgen à 25 Min., FSK: ohne Angabe

17.3.21

Beforeigners - Mörderische Zeiten / ARD-Mediathek


Ein Lichtblitz im Wasser, Störungen im Stromnetz. Kurz darauf tauchen Menschen auf. Verstört und in Panik versuchen sie ans Ufer zu kommen. Menschen, die vor dem Opernhaus in Oslo helfen, sind genauso irritiert: Die fast ertrunkenen stammen aus der Steinzeit, der Wikinger-Epoche oder dem 19. Jahrhundert. Die norwegische Miniserie „Beforeigners - Mörderische Zeiten" trumpft mit einer genialen Idee auf: Die Welt wird von Flüchtlingen überschwemmt - doch die stammen nicht von anderen Ländern, sondern aus anderen Zeiten. Der Krimi spiegelt unsere moderne Gesellschaft satirisch und sozial.

Im Zentrum der Ereignisse steht Kommissar Lars Haaland (Nicolai Cleve Broch), der den ersten Zeit-Flüchtling aus dem Hafenbecken rettete. Gerade hatte er mit seiner Frau eine Wohnung gekauft, die Maklerin meinte, eine sichere Investition. Jahre später ist der Wohnkomplex von Einwanderern runtergewohnt, die gerne rohen Fisch trocknen oder Fleisch am offenen Feuer braten. Im Aufzug haust eine Ziege. Auch mit der Ehe des Kommissars ging es bergab. Seine Frau verließ ihn für einen formvollendeten Pfeifenraucher aus dem 19. Jahrhundert. So ist Lars nicht in bester Form und abhängig von illegalen Augentropfen, als am Strand eine Zeit-Migrantin mit steinzeitlichen Tätowierungen tot aufgefunden wird. Diese Spur führt ihn schließlich nach Geilenkirchen. Eine Verdächtige steuerte dort für die NATO Killerdrohnen, ihre Freundin war Teil einer technikfeindlichen Gruppierung in Aachen!

Als Partnerin wird Lars ausgerechnet Alfhildr Enginnsdottir (Krista Kosonen) zugeteilt, eine Wikingerfrau, die aus PR-Gründen bei der Polizei mitmachen darf. Denn die Flüchtlinge landen meist in Unterschichten der Gesellschaft, leben in prekären Verhältnissen. Beteiligung und Diversität muss her. Doch Alfhildr war tatsächlich eine große Kriegerin, die Schildmeid des Anführers Tore, der einst einen berüchtigten Missionar besiegte. So spricht sie nicht nur das Altnordisch der Wikinger, sie hat Fähigkeiten, die den Polizeidienst übersteigen und überfordern.

Soweit, so Genre mit einem heruntergekommenen Cop und einem problematischen gemischt-temporalen Ermittlerduo. Doch „Beforeigners - Mörderische Zeiten" kommt interessanter als typische US-Serien und ihre europäischen Kopien daher. Ebenso raffiniert wie die Grundidee setzt sich der Titel aus den Worten „before" (vorher) und „foreigners" (Ausländer) zusammen. Die Ausstattung schwelgt reizvoll in einer multikulturellen Gesellschaft, wo Sedway und Hochrad nebeneinander fahren. Wenn auch die Einwanderer mies behandelt werden, wie wir am Beispiel der gemobbten Alfhildr erleben, geht der Spott meist auf Kosten der „modernen" Menschen. Lars' Bemerkung „Ich vertrage kein Gluten" lässt Alfhildr lachen: Sie sei rückständig, aber er glaube an einen Geist namens Gluten im Brot! Die Satire mit feinem Spot bringt auch „transtemporale" Menschen in die Handlung, die sich in der falschen Zeit geboren fühlen und „umoperiert" werden wollen.

Die komplexe Krimihandlung um Zwangs-Prostitution von Steinzeit-Frauen, um Technik-Verweigerer und Hightech-Diebe läuft mutig vor einer hochgradig politisierten Folie ab. Flüchtlinge aus dem Meer. Leichen am Strand. Da muss man ziemlich Nachrichten-resistent sein, um nicht ans Mittelmeer mit den dort ertrinkenden Menschen zu denken. Die Brüche in der Gesellschaft machen sich allerdings nicht nur an platten Sprüchen wie „Norwegen für Norweger" fest. Einer der Übeltäter, der immer provokant nackte Steinzeitmensch Navn Ukjent (Oddgeir Thune), sagt stolz, er hätte dieses Land schon zur Eiszeit beherrscht. Navn Ukjent bedeutet übersetzt übrigens „Name unbekannt" - so heißen viele Flüchtlinge.

„Beforeigners - Mörderische Zeiten" setzt Fremdenfeindlichkeit in ungewöhnliches Umfeld, ähnlich wie „District 9", der südafrikanische Science Fiction um illegale Aliens.

Die vielschichtige Mini-Serie mit ihren genialen Cliffhangern war 2019 die erste norwegische Produktion bei HBO und lief nun nachts im deutschen Free-TV. Die sehr sehenswerte Krimi-Variante der Showrunner Anne Bjørnstad und Eilif Skodvin ist noch 30 Tage in der ARD-Mediathek zu sehen und ab dem 13. April wieder seriell auf ONE. Die zweite Staffel ist schon in Auftrag, es bleibt einiges Mysteriöses ungeklärt und auch der religiöse Konflikt gärt weiter.

 (ARD-Mediathek, ab 13. April bei ONE)

"Beforeigners - Mörderische Zeiten" (NOR 2019), Regie: Jens Lien, mit Nicolai Cleve Broch, Krista Kosonen, Ágústa Eva Erlendsdóttir, sechs Folgen à 50 Min., FSK: ab 12

16.3.21

Waffel und Mochi / Netflix


Sie stammen aus der unwirtlichen Welt der Tiefkühlkost, kochen nur mit Eis und haben trotzdem eine Leidenschaft für gutes Essen: Waffel und Mochi – zwei Puppen in Tradition der Muppets – fliehen eines Tages auf einem Fastfood-Transporter und landen im alternativen Supermarkt der Mrs. Obama (Michelle Obama). Gerne wollen Waffel und Mochi mithelfen, doch schon die erste Aufgabe ist knifflig. Sie sollen die frischen Tomaten vom Dachgarten in die richtigen Regale unten einräumen. Aber ist die Tomate eine Frucht oder ein Gemüse? Dieses durchaus philosophische Problem klären die beiden Freunde auf einer fantastischen Reise mit dem fliegenden Einkaufswagen Magicart. Eine Gärtnerin, ein Pizza-Restaurant und ein Meisterkoch werden besucht. Und zum Schluss gibt es für eine ausgefallene Lösung die Auszeichnung von Frau Obama!

Die kurzen Folgen dieser neuen Kinderserie verbinden netten Spaß für die Kleinen mit reizvollen Informationen über Nahrungsmittel. Und das ist für jedes Alter interessant. Der fliegende Einkaufswagen bringt die niedlichen Figürchen zu Küchen, Restaurants, Bauernhöfe und Familien auf der ganzen Welt. Es geht um Kartoffeln aus den peruanischen Anden, Gewürze in Italien oder Miso in Japan. Beim Salz spielen animierte Geschmacksknospen eine ähnliche Rolle wie die bunten Gefühle in „Inside Out". Die sehr gelungene Kombination aus Puppen-, Trick- und Realfilm würde auch ohne die Ex-Präsidentin überzeugen, aber etwas Werbung kann nie schaden.

„Waffel und Mochi" (USA 2021), Regie: Jeremy Konner, Alex Braverman, mit Michelle Obama, zehn Folgen à 20 Min., FSK: ohne Angabe

9.3.21

Bombay Rose / Netflix


Eine zum Scheitern verdammte Liebe auf den Straßen Bombays wird in dem liebevoll handgezeichneten indischen Animationsfilm „Bombay Rose" ungewöhnlich präsentiert: Kamala bindet in einem Viertel kleiner Händler und Handwerker Blütenblätter zu Kränzen. Schon die Geschichte ihrer Verheiratung an einen alten reichen Mann ist ein kleines Melodram. Nun ist sie hier mit dem Großvater, der sie rettete, und der kleinen Schwester Tara gestrandet. Mit der Aushilfskraft Salim entwickelt sich eine zarte Romanze, aber er ist aus dem Kaschmir und Muslim. Außerdem bedroht der fiese Arbeitsvermittler und Zuhälter Mike das Glück. Derweil kümmert sich die kluge Tara um einen taubstummen Jungen, der als Tellerwäscher fast verhaftet wurde.

Kinderarbeit und -Verhaftungen, Sklaverei in Dubai als ersehnte letzte Ausflucht, Korruption und Religionskrieg. „Bombay Rose" ist ganz schön gegenwärtig, trotz des für Bollywood typischen Kitsches mit viel Musikeinsatz. Dazu begeistern die Zeichnungen, wenn aus bunten Federn Farbflecken werden und dann Körbe voller Blütenblätter. Kamalas Träumereien erinnern an alte indische Wandmalereien, im verspielten Wechsel der Szenen färbt sich die Straße schwarzweiß mit den Erinnerungen von Taras greiser Lehrerin Miss Souza. Der mehrfach preisgekrönte Zeichentrick von Gitanjali Rao hat bei der Animation keine Disney-Power, weniger und einfacherer Bilder. Was jedoch zusammen mit liebevollen Details begeistert.

„Bombay Rose" (Indien, Frankreich, Großbritannien, Katar 2019) Regie: Gitanjali Rao, 93 Min., FSK: keine Angaben

We Are Who We Are / Amazon Starzplay


Bei der Ankunft am Flughafen Venedigs braucht der 14-jährige Fraser (Jack Dylan Grazer) aus New York erst einmal einen Schnaps, um seine heftig pubertäre Aufregung zu bremsen. Denn - große Katastrophe - seine Koffer sind verschwunden! Nicht nur der blondierte Junge mit den grellen Klamotten ist auffällig, auch seine Mütter sind besonders. Übernimmt doch die leibliche, Colonel Sarah Wilson (Chloë Sevigny), das Kommando eines US-Stützpunktes an der Küste. Am ersten Tag streunt das „Kind vom neuen Kommandanten" durch die abgeschlossene Garnison und versucht, möglichst viele Regeln zu brechen. Angetrieben von Musik auf den Kopfhörern und später vom Alkohol folgt Frazer ein paar Jugendlichen der Militär-Schule, starrt am Strand vor sich hin und verliert sich einem Fischerdorf. Bis seine eher kumpelhafte Mutter Maggie Wilson (Alice Braga) ihn findet und direkt bei ihrem neuen Job als Army-Krankenschwester verarztet.

Nach dieser aufgeladenen und gleichzeitig fließenden ersten Folge lernen wir Caitlin Poythress (Jordan Kristine Seamón) kennen, von der Fraser fasziniert ist. Die Tochter einer nigerianischen Mutter und eines Militärs testet die Geschlechtergrenzen aus. Sie hat einen Freund, flirtet aber in der Dorfkneipe mit Mädchen und kleidet sich wie ein Junge. Mit dem Vater boxt sie und erzählt auch ihm und nicht der Mutter von der ersten Monatsblutung. Caitlin und Fraser werden das Herz der acht Folgen sein. Daneben kämpft Sarah um Autorität auf der US-Basis, junge Soldaten werden schlecht ausgebildet nach Afghanistan geschickt.

Der italienische Regisseur Luca Guadagnino ist mit Filmen wie „Call Me by Your Name", „A Bigger Splash", „Ich bin die Liebe" einer der besten und spannendsten unserer Zeit. Als ihm nach dem Erfolg des wunderbaren Coming Out-Dramas „Call Me By Your Name" vorgeschlagen wurde, eine Serie in einem typisch amerikanischen Vorort zu drehen, war er von diesem Stereotyp wenig begeistert. Bis ihm die Kindheit der Schauspielerin Amy Adams einfiel, die als Tochter eines amerikanischen Soldaten auf einem Militärkomplex im italienischen Vicenza geboren wurde. So ist für die Coming-of-Age-Serie „We Are Who We Are" von Guadagnino die Kaserne ein US-amerikanischer Mikrokosmos. In ihm wird in großen und offenen Szenen mit viel Lebenslust das Thema Gender-Fluidität erlebt.

Die Kamera folgt Fraser dicht auf dem Fuß, diesem Jungen, der nicht nur für die anderen erstaunlich wirkt. Er schlägt seine Mutter heftig und kriecht dann nachts in ihr Bett. Kurz: Der perfekte Gegenpol zum Militärgehabe um ihn herum. Colonel Sarah Wilson, die Mutter dieser Diva, gibt sich als harte Kommandantin, ist aber zuhause weinerlich und schwach. Caitlin dagegen verfolgt ihren Weg, den sie noch gar nicht kennt, mit erstaunlicher Dickköpfigkeit. Eine frühe Verabredung zwischen Fraser und Caitlin, sich nie zu küssen, beendet schnell etwaige Hoffnungen auf eine romantische Geschichte.

Guadagnino zeigt in seinem „Film in acht Akten" wieder viel Lebensgefühl unter strahlender Sonne und auch die tief berührende Sensibilität von „Call Me by Your Name". Im Stil ließ sich der Italiener von Maurice Pialats breiten Personen-Ensembles und „Die Sonne Satans" inspirieren, der 1987 eine Goldene Palme in Cannes erhielt. Treiben lassen kann man sich auch als Zuschauer (in den vier Folgen, die es nur für die deutsche Presse gab). Dazwischen wieder sehr offene, ehrliche Gespräche um große Lebensthemen. Tatsächlich schafft es dieser Ausnahmeregisseur, seine Qualitäten auch auf die Serie zu übertragen.

„We Are Who We Are" (Italien/USA 2020), Regie: Luca Guadagnino, mit Jack Dylan Grazer, Jordan Kristine Seamón, Chloë Sevigny, Alice Braga, acht Folgen von 50-58 Min. FSK: ohne Angabe



8.3.21

The Map of Tiny Perfect Things / Amazon

Was macht man mit unendlich viel Zeit? Wir reden jetzt nicht über Lockdown, sondern über „Und ewig grüßt das Murmeltier". Diesmal ist der locker-lässige US-Teenager Mark (Kyle Allen) in einer Endlosschleife gefangen und durchlebt immer wieder den gleichen Tag. Das macht ihm und uns viel Spaß, wenn er in langen und trickreichen Kamerasequenzen die Kenntnis aller tausendfach erlebten Ereignisse seiner Kleinstadt auslebt: Schon beim Frühstück verhindert er ein Unglück, auf dem Weg zu Schule ist er an allen Ecken auf die Sekunde hilfreich und danach fährt er mit riesigem Radlader zur Bibliothek. Das Verführen eines Mädchens funktioniert auch beim x-ten Versuch nicht, was Mark beim Computerspiel-Kumpel auf der Couch bespricht. Jeden Tag! Bis ihm in einer exakt eingeübten Szene Margaret (Kathryn Newton) über den Weg läuft. Im Gegensatz zu den anderen Statisten des immergleichen Tages kann auch sie sich frei bewegen. Doch sie geht mit dieser verfluchten Gabe anders um, ist ernster im Vergleich zum verspielten Mark.

Die Teenie-Romanze mit Fantasy-Einschlag „The Map of Tiny Perfect Things" erfindet jetzt nicht den Murmeltier-Tag neu, aber stattet ihn flott geschnitten mit netten Ideen und Reifeprozess aus. Auch wenn Sisyphos oder Terry Gilliams „Time Bandits" eingestreut werden, geht es nicht wirklich um Philosophie oder den Sinn des Lebens („Auf den anderen achten!"). Der emotionale und romantische Ausstieg aus der Zeitschleife bleibt enttäuschend einfach. Vielleicht morgen noch mal anders probieren.

„The Map of Tiny Perfect Things / Sechzehn Stunden Ewigkeit", (USA 2021), Regie: Ian Samuels, mit Kathryn Newton, Kyle Allen, Jermaine Harris, 98 Min., FSK: ab 12

Hillbilly Elegy / Netflix

Die erste Kamera-Fahrt entlang heruntergekommener Hütten, begleitet von alten Familienfotos zeigt die Heimat von J.D. Vance (Gabriel Basso). Der angehende Jurist aus den hügeligen Appalachen in Kentucky, wo die verachteten „Hillbillys" (Hinterwäldler) wohnen. Diese Herkunft bedeutet für ihn drei Generationen schwieriger Familiengeschichte mit Gewalt und Drogen. Bei der Großfamilie, die nach außen immer zusammenhält, fällt direkt die unvorteilhafte Kleidung auf. Und das riesige Kassengestell von Oma Mamaw (Glenn Close), das über Jahrzehnte gleich eindrucksvoll im Bild bleibt. Der Revolver in der Handtasche wird nicht gebraucht, das scharfe Mundwerk ist ihre beste Waffe.

Jetzt ist J.D. Vance (Gabriel Basso) nach einer Militär-Karriere Jurastudent im elitären Yale. Ein Aus- und Bildungsweg, der trotz Stipendien mehr als 20.000 Dollar pro Jahr kostet. Mit der Unterstützung seiner aus Indien stammenden Freundin hat er bei einem exklusiven Dinner die Chance auf einen Studienjob bei einer Anwaltskanzlei. Während der „Hinterwäldler" mit der Wein-Wahl, den vielen Messern und Gabeln schon überfordert ist, erreicht ihn ein Anruf von zuhause: Seine suchtkranke Mutter Bev (Amy Adams) liegt nach einer Überdosis im Krankenhaus. Bei der nächtlichen Fahrt erinnert J.D. sich an eine haltlose Kindheit zwischen unzuverlässiger Mutter, die ihn schon mal umbringen wollte, und verrückter Oma, die einst ihren gewalttätigen Ehemann anzündete.

Dramatisch baut „Hillbilly Elegy" auf eine persönliche Geschichte von immer wieder heftigen Schicksalsschlägen. Bis zur finalen Entscheidung: Bleibt J.D. bei der Mutter, die ihn so oft enttäuscht hat, die keine Klinik zum Entzug findet und sich bei erster Gelegenheit direkt einen Schuss setzt? Oder fährt er wieder zehn Stunden zurück zum nicht verschiebbaren Vorstellungstermin am nächsten Morgen? J.D., der nette Junge, der eine angefahrene Schildkröte rettet, um daraufhin von anderen Hillbillys verprügelt zu werden, bekommt alle Sympathien, man wünscht ihm nur das Beste.

J.D. Vances Biografie „Hillbilly-Elegie: Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft" wurde vor vier Jahren als Trump-Erklärbuch rumgereicht: Intellektuelle versuchten beim Lesen zu verstehen, was das denn für Leute sind, die diesen Vollidioten wählen. Dass der Weg von J.D. aus den Wäldern und dem sozialen Elend als Erfolg eines Einzelkämpfers ein neoliberales Märchen darstellt, fiel nur am Rande auf. Die Verfilmung von Oscar-Preisträger Ron Howard verstärkt allerdings diesen unangenehmen Grundton: Der Film „Hillbilly Elegy" konzentriert sich auf die vielen persönlichen Dramen und stellt das Gesellschaftliche in den Hintergrund. Zu wenig Pflegeeinrichtungen, unterbesetzte Krankenhäuser, privatisiertes Gesundheitswesen, Bildung nur für Reiche. Das sind die Dinge, die auch dieser Familie das Leben schwer machen. Ein Film könnte zu politischem Engagement für die Schwächeren motivieren. Dieser tut es nicht.

Das durchgehende Bangen, ob der „gute Junge" seine Wut bezwingen und seine Chance wahrnehmen kann, wurde von Ron Howard handwerklich überzeugend und ansehnlich in der fließenden Montage aus Erinnerungen und Gefühlen inszeniert. Die drei Generationen von Versagen und Schuld sind mit Glenn Close und Amy Adams eindrucksvoll gespielt. Manchmal macht sich „Hillbilly Elegy" sogar einen Spaß aus dem Elend und Verschrobenheit, vor allem mit der Oma-Rolle von Close. Doch der Ärger über eine eingeschränkte neoliberale Weltsicht überwiegt bei Sehen.

„Hillbilly Elegy" (USA 2020), Regie: Ron Howard, mit Amy Adams, Glenn Close, Gabriel Basso, 116 Min., FSK: ab 16

Die Ausgrabung / Netflix ab 29. Januar

Auf Streaming-Kanälen findet sich durch Corona-Produktionsprobleme vermehrt ausgegrabener Kram, quasi Zombies der Filmproduktion, die Tageslicht scheuen sollten. Der großartige Spielfilm „Die Ausgrabung" um die historische Entdeckung eines Bootsgrabes der Anglosachsen in Sutton Hoo ist hingegen ein bildgewaltiges und erzählerisch feinfühliges Meisterwerk, das eigentlich eine größtmögliche Leinwand verdient.

Trauer um die Gefallenen des letzten Krieges liegt noch schwer auf den Menschen, da kündigt sich schon der nächste an. 1939 bittet die wohlhabende Witwe Edith Pretty (Carey Mulligan) den Amateurarchäologen Basil Brown (Ralph Fiennes), sich die deutlich sichtbaren Grabhügel auf ihrem Landgut in der Nähe von Ipswich zu untersuchen. Es dauert etwas, bis sie sich über korrekte Bezahlung und den besten Hügel zum Anfangen einigen, denn beide sind eigenwillige Charaktere. Die alleinerziehende Mutter Edith Pretty lässt sich zurückgezogen auf ihrem traumhaften Landgut von Diener und Köchin bewirten. Eine Krankheit macht sie noch verschlossener. Ursprünglich wollte sie schon mit ihrem Ehemann das Geheimnis der Grabhügel aufdecken. Dann ist dieser als Offizier gestorben.

Der alte Basil Brown fristet sein Leben als unterbezahlte und wenig anerkannte Hilfskraft für Profi-Archäologen. Doch kenntnisreich dringt er zum Geheimnis des größten Hügels vor. Während über ihnen immer mehr Kriegsflugzeuge zum Kanal fliegen, kämpfen sie gegen Erdrutsche und Überschwemmungen mit der knappen Zeit, die ihnen vor drohendem Kriegsausbruch bleibt.

Zeit ist immer Thema, wenn Archäologie im Spiel ist. Die nationalistische Begeisterung für den historisch sensationellen Fund der anglosächsischen Grabstätte von Sutton Hoo weicht einer universalen Faszination über Rituale und das Leben im 7. Jahrhundert. So alt ist die mit Schmuck und Waffen reich ausgestattete Grabkammer in dem Schiff, das aufwändig an Land geschleppt wurde.

Vorsichtig legt der Film nach John Prestons Roman persönliche Geschichten mit Bezug zum historischen Bootsgrab frei: Dieses bedeutet für jeden der Beteiligten etwas Besonderes. Basil bekommt endlich die Chance einer Anerkennung seiner Fähigkeiten, weiß aber, dass „wir alle scheitern werden". Der mit der Krankheit der Mutter überforderte kleine Sohn von Mrs. Pretty, träumt sich in einem Raum-Schiff in die Zukunft. Peggy Preston (Lily James), die das erste Stück Gold entdeckte, landete zuerst nur als Anhängsel ihres heimlich schwulen Ehemannes bei der Ausgrabung. Sie wird generell als (zu) leicht empfunden. Vom arroganten späteren Leiter der Arbeiten, Charles Phillips vom British Museum, wird sie nicht wegen ihrer archäologischen Forschungen, sondern nur wegen ihres geringen Gewichts auf die empfindliche Grabstätte gelassen. Wie sie das emotionale Drama mit einem lieblosen Mann, der in Sotton Hoo seinen eigenen Schatz entdecken wird, meistert, zeigt bewegende menschliche Größe. Stille Größe ist eine verbreitete Eigenschaft in dieser Geschichte – bei Haupt- und Nebenfiguren.

„Die Ausgrabung" ist eine Feier des richtigen Lebens im Angesicht von Tod und des Mahnmals der Vergänglichkeit. Das in jeder Hinsicht gelungene Drama erzählt nebenbei über Kriege und Krieger aus unterschiedlichen Epochen. Der berührende Film fasziniert vor allem mit wunderbarer Kameraarbeit (Mike Eley) - die Wiesen und Felder rund um Sutton Hoo erinnern stark an die Ästhetik Terrence Malicks („The Tree of Life", „Ein verborgenes Leben"). Passend dazu die Musik, die oft als Montage-Klammer den Originalton überlagert und zurückhaltend von Gefühlen erzählt.

Carey Mulligan („Suffragette - Taten statt Worte", „Der große Gatsby") spielt ebenso unprätentiös wie Ralph Fiennes, dem der Charakter des lange vergessenen Basil Browns wichtiger erscheint als das Wiedererkennen des Stars aus „Der englische Patient", „Spectre" oder „Grand Budapest Hotel".

Erstaunlich an dieser Entdeckung: Keiner der Beteiligten, die hinter der Kamera so exzellent gearbeitet haben, war bisher groß bekannt. Weder Regisseur Simon Stone, noch Komponist Stefan Gregory, dessen Musik den Violinen Raum gibt und symphonisches Geschepper vermeidet. Nur Autorin Moira Buffini, die das Drehbuch zusammen mit dem Romanautor schrieb, hat mit „Der Stern von Indien" (2017, Regie: Gurinder Chadha), „Jane Eyre" (2011, Cary Joji Fukunaga) und „Immer Drama um Tamara" (2010, Stephen Frears) bemerkenswerte Filme mitentwickelt.

„Die Ausgrabung" (The Dig, GB 2020), Regie: Simon Stone, mit Carey Mulligan, Ralph Fiennes, Lily James, Johnny Flynn, Ben Chaplin, 122 Min., FSK: keine Angabe

Berlinale 2021 Kommentar

Des Kaisers neue Kleider

Einmal „Berlinale ohne alles", nach Haus geliefert. Die virtuelle Notausgabe des Festivals war kein Fest. Ob sie ihren Werbe-Zweck erfüllte, wird sich im Sommer und im Kino zeigen. Dabei sahen die Auserwählten von Film-Industrie und -Presse in ihren Heimkinos, was ohne Roten Teppich, Promi-Auftrieb und geballtem Wichtigtun bei den Filmen übrig bleibt. „Aber er hat ja gar nichts an" musste zum Glück nicht gerufen werden.

Außer beim Siegerfilm: Der übliche Skandalfilm bekommt diesmal den Goldenen Bären: „Bad Luck Banging or Loony Porn" mit ein paar Minuten Porno zum Anfang. Ein mal surreales, mal dokumentarisches Triptychon zur gesellschaftlichen Lage Rumäniens heute. Was soll's, Jurys kann man nie verstehen. Dabei hat der Regisseur Radu Jude vorher mit „Aferim!" und „Scarred Hearts – Vernarbte Herzen" richtig gute (historische) Filme gemacht. Der Berliner Wettbewerb, der generell einen schweren Stand hat, begeisterte stellenweise, vor allem mit „Petite maman" von Céline Sciamma („Porträt einer jungen Frau in Flammen") oder auch mit „Albatros" von Xavier Beauvois. Und strengte selbst bei nur 15 Filmen an, etwa mit Hong Sangsoos „Inteurodeoksyeon" aus Korea. Das ist nicht neu.

Peter Kurth als der neidische Nachbar von Daniel Brühls „Nebenan" hätte wie Tom Schilling aus und als „Fabian" einen Darstellerpreis verdient, wenn nicht aus Gründen der Gleichberechtigung diesmal nur zwei Frauen diese Preise bekamen. Es bleibt kompliziert. Dass Dominik Grafs Meisterwerk „Fabian oder Der Gang vor die Hunde" ohne Preis blieb, ist der wahre Skandal, aber auch das interessiert nicht wirklich. Denn die Berlinale war 2021 eine interne Veranstaltung, bei der wir, die Presse, das Publikum, Sie, für die nächste Kinoöffnung neugierig machen sollen. Wenn bei „Berlinale im Home Office" vor allem der Austausch über interessante Filme direkt nach der Vorstellung, über die „Buschtrommel" beim Kaffee zwischendurch oder in der Warteschlange vor dem nächsten Film fehlt, gibt es ein einfaches Wort für eine große Sache, die wir brauchen: Öffentlichkeit. Zwar hat sich dieser Kritiker hier einige der Filme, die man nur sehen muss, weil sie bald ins Kino kommen, gespart. Doch die bange Frage bei all den potemkinschen Festivals bleibt: Kommen die Filme überhaupt noch mal in mein Kino?

Das Hausboot / Netflix


Für Fans des Musikers Olli Schulz oder des Bastel-Influencers Fynn Kliemann war es schon fast ein Mythos: Das Hausboot, an dem sie seit zwei Jahren herumbauen und verzweifeln: Olli Schulz fand eine Zeitungsanzeige über den Verkauf des legendären schwimmenden Heims von Gunter Gabriel und stand sofort unter Dampf. Bei einer Kneipennacht holte er Fynn Kliemann ins Boot. Das sich im Laufe der nächsten Monate als Schrottimmobilie herausstellte. Der Traum einer coolen Location und eines schwimmenden Aufnahmestudios samt Schlafplatz für Bands war lange weit entfernt.

Olli Schulz und Fynn Kliemann geben in der vierteiligen Netflix-Doku über einen fast kompletten Hausboot-Neubau ein Komiker-Duo, das sich immer mehr anfeindet, ja tiefer Laune und Kontostand sinken. „Olli ist mein Anker, der mich runterzieht". Zwar gibt es die Verabredung „Dienstag ist Boottag" (auch für die Ausstrahlung), aber anpacken tun die beiden Promis immer weniger. Sie schweißen mal kurz für die Kamera (Kliemann), womit sie die wahren Arbeiter und den eigentlichen Projektleiter Max nur noch nerven. Koch Tim Melzer schaut vorbei und schüttelt den Kopf auf dem dicken Stiernacken – seine Millionen werden hier nicht versenkt. Selbst „Tatortreiniger" und Komiker Bjarne Mädel, ein Kumpel von Schulz, kann angesichts der Lage kein einziges Mal lachen. Und Jan Böhmermann, Ollis Podcast-Partner bei „Fest & flauschig", sagt nur: „Mein Geld kriegt ihr nicht!"

Das erzeugt dank des originellen Typen Olli Schulz und des hyperaktiven, erstaunlichen Selbstüberschätzers Fynn Kliemann eine Weile lang schmunzelndes Wundern über eine sehr verrückte Aktion. Mehr ist nicht und es ist zu lang. Aber schön, dass Netflix auch für so was etwas (Geld) übrighat.

„Das Hausboot" (BRD 2021), Regie: Regina Schlatter, mit Olli Schulz, Fynn Kliemann, vier Folgen à 40 Min., FSK: ohne Angabe

3.3.21

Raya und der letzte Drache / Disney+ mit VIP-Zugang, Start 5. März


Der 59. Disney-Animationsfilm ist vor allem wegen der Umstände seines Erscheinens bemerkenswert: Fürs Kino geplant, ist er nach dem Umdenken beim Mickey Mouse-Konzern ab dem 5. März auf zahlungspflichtigen Kanal Disney+ gegen eine zusätzliche Gebühr („VIP-Zugang") von 21,99 Euro zu sehen. Den Abenteuern der jungen Heldin Raya in einem fantastischen Südost-Asien zu folgen, ist eine teure Angelegenheit. Oder es spart das Kino, wenn mehrere Kids auf der Couch mit Popcorn versorgt werden.

Die einsame Reiterin Raya rollt durch einen Wilden Osten Asiens. Auf ihrem Freund Tuk Tuk, einer Riesen-Assel, sucht sie im Reich Kumandra nach dem letzten Drachen. Das Land ist in die fünf zerstrittenen Provinzen Herz, Zahn, Kamm, Klaue und Schweif aufgeteilt, nachdem ein magischer Kristall zerbrochen wurde. Schon Jahrhunderte vorher verschwanden die Drachen, die den Menschen im Kampf gegen finstere Monster, den Druun, beistanden. Damals wurde jeder, den die dunklen Wolken der Druun einfingen, versteinert.

Raya selbst ist nicht unschuldig daran, dass die labile Harmonie der fünf Völker zerbrach. Auf einer Feier ihres Vaters, des Wächters des Drachenjuwels, freundete sich die kleine Kämpferin vom Herz-Volk mit Namaari an, der Tochter der Zahn-Herrscherin. Beide Mädchen sind Fans des legendären letzten Drachen Sisudatu. Im Überschwang einer neuen Freundschaft zeigt Raya Namaari das Versteck des Kristalls, was diese im Auftrag ihrer Mutter zum Verrat benutzt. Im folgenden Kampf zerbricht der Drachenjuwel, die Druun kommen zurück, versteinern auch Rayas Vater. Kumandra ist fortan zerstritten und zerschnitten.

Die fantastische Saga von „Raya und der letzte Drache" wirkt auf den ersten Blick groß und komplex, doch die Geschichte der Disney-Animation bleibt bei überwältigend gezeichneten Welten übersichtlich. Es geht um Vertrauen, einen nötigen Vertrauensvorschuss, um das Gegeneinander von Völkern oder Kontinenten aufzuheben. Dabei wird auf dem Weg zur Verständigung selbstverständlich kräftig gekämpft. Teilweise mit einer atemberaubenden Akrobatik im Stile des Realfilm-Klassikers „Tiger and Dragon". Raya ist mit ihrem spiegelnden Schwert eine kleine Schwester der chinesischen Heldin „Mulan", wobei bei solchen Vergleichen und vor allem Filmprojekten aufgepasst werden muss: Hoffen wir, dass hier jede Synchro-Sprecherin den richtigen Hautton hat, sonst gibt es wieder einen Shitstorm wegen „kultureller Aneignung". Denn sehr nett bedienen sich die grandiosen Farbspektakel vom Eastern mit Cowgirl „Raya und der letzte Drache" bei Details thailändischer Kultur: Vom extrem scharfen Essen über den Nachtmarkt am Fluss bis zum Tuk Tuk. Hier kein knatterndes Taxi-Moped, sondern der rollende und leicht abzulenkende tierische Sidekick Rayas.

Auf ihrem Weg zu den Bruchstücken des Kristalls in einem zerbrochenen Land findet Raya nicht nur den grell kolorierten weiblichen Drachen Sisu, der nicht imposant, sondern albern und naiv ist. Die wachsende Reisegesellschaft stellt sich aus den fünf Völkern zusammen und am Ende gibt es wieder den Kampf mit Namaari, jetzt wegen ihrer Frisur „Prinzessin Undercut" genannt. Wie gesagt, alles recht übersichtlich, dies ist ein Disney- und kein Pixar-Film. Spaß und Unterhaltung satt. Die Gesichter sind sehr lebendig und realistisch, aber immer noch mit einem plastikhaften Touch. Umgebung und Ausstattung dagegen faszinierend detailliert. Hier stellt sich wieder die Frage, weswegen Disney nicht gleich real filmt, wenn die Animation so realistisch wird. Aber man kann ja noch einen Realfilm nachschieben, wenn die Sache ein Erfolg wird. Siehe „Mulan", „Dschungelbuch" und viele andere. Zuerst muss jedoch das bewegende Finale von „Raya" daran arbeiten, dass die Vermarktung an den Kinos vorbei funktioniert.

„Raya und der letzte Drache" (USA 2021), Regie: Don Hall, Carlos López Estrada, Paul Briggs, John Ripa 114 Min., FSK: ab 0

Wiener Dog / Mubi


Ein Junge, bei dem gerade der Krebs geheilt wurde, liebt seinen Dackel, doch ein Müsli-Riegel samt ausführlich dokumentierter Verdauungsstörung beim Hund lässt die Wohnung und die Geduld der aberwitzig unsensiblen Eltern überlaufen. Die junge, naive Tierarzt-Assistentin Dawn Wiener (Greta Gerwig) entführt den Hund vor dem Einschläfern und begibt sich mit einem Junkie (Kieran Culkin) auf einen scheinbar hoffnungslosen Road-Trip.

In seinem bewegenden Auftritt schlüpft Danny DeVito („Der Rosenkrieg") in die Haut des Regisseurs Todd Solondz: Er wolle doch nur etwas Wahres zeigen, auch wenn es schmerzt, sagt der Drehbuch-Professor Dave Schmerz (DeVito). Dieser Routinier der traurigen Gestalt ist eine der Figuren in den vier Episoden von „Wiener Dog", in denen sich alles und nichts um die Wurst dreht. Die Wurst mit vier Beinen, die wir Dackel und die Nord-Amerikaner nach dem Wiener Würstchen „Wiener Dog" nennen.

Wie schon in Solondz' bekanntesten und schockierendsten Film „Happiness" (1998) bleibt einem das Lachen oft im Halse stecken, weil Situationen völlig unverschämt und gleichzeitig faszinierend sind. Das Haustier Wiener Dog ist hier nur Begleiter am Rande, der gnadenlos klare Blick von Solondz („Palindrome", „Storytelling", „Willkommen im Tollhaus") liegt auf dem Menschen in nicht schmeichelnden Zuständen. Das sieht man dank einer bemerkenswerten Reihe von Stars, einer sicheren, unglaublich klaren Inszenierung und dem sympathisch makabren Humor von Solondz immer wieder gerne.

„Wiener Dog" (USA 2016), Regie: Todd Solondz mit Julie Delpy, Greta Gerwig, Kieran Culkin, Danny DeVito, Ellen Burstyn 88 Min. FSK: ab 12

Black Narcissus / Disney+


Ist das „Haus der Frauen", ein ehemaliges Bordell, in dem sich eine Frau in den Tod gestürzt hat, der ideale Ort für eine Nonnen-Schule? Im Himalaya-Dorf Mopu landen 1934 die jungen Nonnen von St. Faith mit Naivität und auch eitlem Ehrgeiz. Die Schwestern wollen in der abgelegenen, armen Gegend jungen Frauen Bildung bringen und ihren Glauben verkaufen. Die leitende Schwester Clodagh (Gemma Arterton) sieht den Einsatz als Karriereschritt und übersieht, dass kürzlich schon ein deutscher Orden an diesem Ort und der Aufsicht des mächtigen Generals Toda Rai gescheitert ist. Bald erscheint die Selbstmörderin den Nonnen in Spiegeln und reichlich un-nonnenhafte Gelüste tauchen auf. Konkurrenz wird zur Eifersucht, die blutige Selbstkasteiung versagt. Düsterer Wahnsinn bricht mit bei Mordversuch aus.

„Black Narcissus" ist das auf drei Folgen und Stunden gestreckte Remake eines auch mit Oscar gefeierten Films von Michael Powell und Emeric Pressburger aus dem Jahr 1947. Die erneute Adaptation des gleichnamigen Romans von Rumer Godden setzt die Erscheinung der Verstorbenen nicht zum Erschrecken ein. Es gibt diese Art des Horrors nicht, doch der Rest ist keineswegs subtil. Zum aus der Zeit gefallenen Thema der Mission gibt es altmodischen Stil mit dramatisch übertrieben schwülstigem Licht. Das setzten auch Powell und Pressburger ein, aber nur zur Steigerung im Finale. Das Remake verwendet diese heftigen Farben direkt und immer wieder. Weil die Mini-Serie ebenso wie die kolonialen Missionarinnen dem wahren Leben fern bleibt, wirkt das ganze Konstrukt trotz Gemma Arterton in der Haupt- und Diana Rigg in ihrer letzten Rolle eher trivial als interessant.

„Black Narcissus" (USA 2020), Regie: Charlotte Bruus Christensen, mit Gemma Arterton, Alessandro Nivola, Aisling Franciosi, drei Folgen à 60 Min., FSK: keine Angabe