27.9.22

Im Westen nichts Neues (2021)


Deutschland 2021, Regie: Edward Berger, mit Felix Kammerer, Albrecht Schuch, Aaron Hilmer, 142 Min., FSK ab 16

Die Idylle einer säugenden Fuchs-Mutter in ihrem Bau wird brüsk unterbrochen durch einen brutalen Bombeneinschlag. Das ist schockierend, aber anders als „Der Soldat James Ryan", bei dem Steven Spielberg 1998 die landenden Soldaten am Normandie-Strand quasi vor der Kamera zerfetzte. Doch auch bei „Im Westen nichts Neues" wird Blut auf die Kamera spritzen. Regisseur Edward Berger („Jack") inszeniert eindrucks- und effektvoll Erich Maria Remarques Antikriegs-Roman aus dem Jahr 1930. Der Kriegsfilm „Im Westen nichts Neues" läuft ab heute bundesweit in wenigen ausgewählten Kinos und ab dem 28. Oktober weltweit auf Netflix.

Im Frühjahr 1917 kann es der 17-jährige Paul Bäumer (Felix Kammerer) nicht erwarten, mit seinen Freunden in den Krieg zu ziehen. Noch im dritten Jahr des Gemetzels wollen die naiven Schüler unbedingt „auf Paris marschieren" und fälschen sogar die Unterschrift der Eltern für die Einberufung. „Der Kaiser braucht Soldaten" – so tönen die prä-faschistischen Kriegshetzer an den Bildungsinstituten, „Auf in den Kampf für Kaiser, Gott und Vaterland!" Doch für die unvorbereiteten Jugendlichen folgt an der Westfront der Schock: Es regnet in Strömen, der Schützengraben läuft voll, ist ein einziger Morast. Schnell sind die meisten der Freunde von Paul Bäumer gestorben.

Edward Berger macht aus Remarques Roman eine satte Inszenierung, geeignet für die große Leinwand. Anfangs wirkt die Melange aus dem Grün der Uniformen und dem Grau der Landschaft mit einigen Spritzer Rot zu dekorativ, in der Farbskala zu harmonisch für dieses Thema. Doch nach dem ersten Bombenangriff vermischt sich alles zu einem grauen Brei, zu einem Chaos aus zersplitterten Baumstämmen und zerfetzten Körpern, aus Trümmern und Leichen.

Die bildgewaltige und erschütternde „Netflix"-Produktion ist wegen ihres Oscareinsatzes für ein paar Tage in ganz wenigen Kinos zu sehen. Denn um den Regeln der „Academy of Motion Picture Arts and Sciences" für die Oscars zu entsprechen, muss der Film im Kino gelaufen sein. Der Grund, weshalb das Streaming-Unternehmen diesen voraussichtlichen Publikumserfolg so zögerlich zeigt, liegt wohl an den sinkenden Abonnenten-Zahlen. Ganz anders noch als bei „The Gray Man" oder dem Oscar-Gewinner „Roma" von Alfonso Cuaron, die breiter eingesetzt wurden. Einige Kinos bedauern dies, doch eigentlich sind es nur bekannte US-amerikanische Verhältnisse: Dort wurden Oscar-Kandidaten schon immer mal kurz in drei Hollywood-Kinos runtergespielt, um den Regeln zu entsprechen.

Nach der Bekanntgabe, dass „Im Westen nichts Neues" die deutsche Oscar-Einreichung sein wird, wunderte man sich: Hatte doch noch kaum jemand den Film gesehen. Aber nun ist klar, dass nicht nur die deutschen Trumpfkarten Krieg und Völkermord blind gesetzt wurden. Bergers Verfilmung ist zutiefst erschreckend, umso mehr wegen der Aktualität des neuerlichen russischen Krieges. Wir sehen grausame Kriegsverbrechen mit abgefackelten Kriegsgefangenen, unter Panzern zerquetschte Körper. Und besonders unerträglich, den Protagonisten Paul Bäumer zusammen mit dem Franzosen, den er gerade abgestochen hat und der noch endlos röchelt, alleine in einem Granattrichter. Nach dem Tod des Gegners offenbart dessen Brieftasche den Menschen mit Familie. Was auch den Mörder schockiert. Der neue „Im Westen nichts Neues" ist jedoch trotzdem kein wirklicher Antikriegs-Film, weil wir nur auf der Seite der Deutschen stehen.

Autor Erich Maria Remarque (1898-1970) wurde selbst im November 1916 eingezogen. Bereits Ende 1917 brachten ihn Verwundungen in eine Schreibstube. Sein Anti-Kriegs-Roman „Im Westen nichts Neues" erschien 1929 und führte zur Verfolgung durch rechte Kräfte. Eine erste Verfilmung gab es schon 1930 vom US-amerikanischen Regisseur Lewis Milestone.

Im Vergleich zum Roman gibt es drei große Änderungen: Den Prolog mit der Füchsin und eine Geschichte vom anonymen Soldaten, der im Weltkrieg ums Leben kommt. Die wichtigste ist die ergänzte Ebene der „großen" Politik bis zu den Waffenstillstandsverhandlungen vom November 1918 in einem Eisenbahnwagon im Wald bei Compiègne. Die zeigt einerseits die Skrupellosigkeit der Kaiserlichen Regierung und der deutschen Heeresführung um General Friedrichs (Devid Striesow). Und als Feigenblättchen einer versagenden Politik den deutschen Unterhändler, der liberale Abgeordnete Matthias Erzberger (Daniel Brühl), der angesichts von „40.000 Toten in den letzten Wochen" den Krieg als verloren ansieht und mit dem französischen Marschall Foch einen Waffenstillstand verhandelt. Schließlich stirbt Paul Bäumer am 11. 11. 1918 um 11 Uhr, also in der Minute des Waffenstillstandes.

*****

Neben Albrecht Schuch, Daniel Brühl, Aaron Hilmer, Devid Striesow, Edin Hasanovic, Michael Wittenborn und Sebastian Hülk in größeren wie in kleineren Rollen beeindruckt der 25-jährige Wiener Felix Kammerer in der Hauptrolle des Paul Bäumer. Der Leinwandneuling ist seit 2019 Ensemblemitglied des Wiener Burgtheaters.

26.9.22

Weinprobe für Anfänger


Frankreich 2022 (La Dégustation) Regie: Ivan Calbérac, mit Isabelle Carré, Bernard Campan, Eric Viellard, 92 Min., FSK: ab 12

Liebestrunken! Kein Wort kann den Zustand der lebenslustigen Hortense (Isabelle Carré) besser beschreiben, nachdem sie bei der Eucharistie-Feier einen ganz speziellen Wein gekostet hat. Fast hätte sie ihn ignoriert, jedoch selbst der Priester stimmte in ihre Begeisterung mit ein: „Der ist aber gut!" Nach dieser Epiphanie will sie mehr vom guten Stoff. Beim nicht nur wegen der Ignoranz der meisten seiner Kunden mürrischen Weinhändler Jacques (Bernard Campan) schaut sie erst tief ins Glas, dann tief in seine Augen. Schnell ist es um die beiden im besten Reifegrad geschehen, auch wenn Jacques zurückhaltender reagiert. Denn er hat wegen zu viel Alkohol ganz andere Herzprobleme, wehrt sich aber anfangs gegen die vom befreundeten Arzt verordnete Gruppe Anonymer Alkoholiker.

Dass die (Literatur-) Verfilmung der ursprünglichen, mit dem französischen Theaterpreis Prix Molière ausgezeichneten Boulevardkomödie, zur romantischen Verwirrung statt zur Erfüllung führt, wirkt in diesem Fall nicht aufgesetzt. Es ist schon ein Vergnügen, beiden recht einsamen Menschen beim Alltag zuzusehen: Hortense verbringt die Freizeit allein mit ihrer Katze, während Jacques auch allein abends noch ein Glas kippt. Die tägliche Menge an Wein misst er bei den Anonymen Alkoholikern nicht in Gläsern, sondern in Flaschen! 

Die anders weinselige Single-Frau veranstaltet derweil mit den Obdachlosen, die sie für ihre Kirche betreut, witzige Weinproben. In großer Erwartung der echten Dégustation vom plötzlich enthaltsamen Fachmann. Da die Filmemacher dem spritzig aufspielenden Paar wohl nicht ganz getraut haben, kommt noch Jacques' Praktikant hinzu. Der arabischstämmige Jugendliche Steve (Mounir Amamra) am Rande der Kriminalität oder das obligatorische Trauma aus der verheimlichten Vergangenheit liefern ein paar zu gewöhnliche Klischees. Dabei erfreut die „Weinprobe für Anfänger" eigentlich mit ungewöhnlich kritischen und spöttischen Blicken auf den elitären Kultus des sich mit auserlesenem Vokabular Betrinkens. Komisch ist auch wie treffend der ansonsten völlig ungehobelte Steve exakt Fruchtnoten und sonstigen Firlefanz aus den Weinproben herausschmeckt und benennt.

In solchen, besten Momenten und in der Lässigkeit von Jacques erinnert die französische Liebeskomödie an „Sideways" von Alexander Payne. Neben kurzen bildlichen Perlen, wenn etwa Da Vincis „Das Abendmahl" mit den trinkenden Obdachlosen zitiert wird, zeigt vor allem der Dialog, weswegen hier Theaterpreise eingeheimst wurden. Nach seinem Erfolg „Frühstück bei Monsieur Henri" gelingt Regisseur Ivan Calbérac diesmal eine richtig runde Komödie. Hortense und Jacques wirken sehr normal, zeigen ein natürliches Misstrauen mit ganz alltäglichen Missverständnissen. Das macht eine sympathische Komödie aus, selbst wenn ab und zu mal ein paar Umdrehungen zu viel in Richtung Slapstick und Zote gehen. Wenn der gute Doktor Jacques nach dem Herzinfarkt ein Stethoskop schenkt und meint: „Hören Sie mal öfter auf ihr Herz!", dann ist man nachhaltig versöhnt.

Mutter (2022)

 
Deutschland 2022, Regie: Carolin Schmitz, 88 Min., FSK: ab 0
 
Anke Engelke auf den Spuren von Tilda Swinton in einem Experimentalfilm über die gesellschaftliche Position und persönliche Befindlichkeit von „Mutter" – das ist überraschend, irritierend und faszinierend gleichzeitig. Zuerst sitzt die begnadete Komödiantin, Schauspielerin und Moderatorin schaumbedeckt im Bad und erzählt. Doch ihre Stimme ist zu tief, aber gute Akteure kriegen so was ja hin. Bei der zweiten von insgesamt acht Frauen-Rollen, die alle von dem deutschen Star verkörpert werden, kommt ein Dialekt hinzu und es wird klar: Engelke bewegt die Lippen unglaublich synchron und lässt es später auch mal sein – in Form einer „Kunstpause". Sie gibt so acht Originalstimmen von Frauen wieder, die ein vielschichtiges Bild von Mutterschaft schildern. Diese nach anfänglichem Staunen Raum gewinnenden Inhalte, erhalten durch ein unterkühltes Spiel umso mehr Bedeutung. Die problematischen Geschichten von gescheiterten Beziehungen, routinierter Erziehung bis zur unangekündigten Entfernung der Gebärmutter zeichnen ein breites, durch die zugrunde liegenden Interviews dokumentarisches Spektrum des Mutter-Seins.

20.9.22

Verabredung mit einem Dichter - Michael Krüger


Deutschland 2022, Regie: Frank Wierke, 91 Min., FSK: ab 0

Michael Krüger war über Jahrzehnte lang Lektor und Geschäftsführer des Carl Hanser Verlags – und nebenbei Dichter, was zu einer Fülle von eigenen Veröffentlichungen führte. Die Dokumentation von Frank Wierke über Michael Krüger ist ein unglaublicher und eigentlich unmöglicher Film: Ein alter - und auch noch weißer - Mann steht vor nicht besonders sicherer Kamera und erzählt. Auf Auflockerung gibt es nur mit Zwischentiteln und Texte auf grauen Hintergrund. Dabei ist jeder Satz bemerkenswert, schon das Philosophieren über den Baum vor seinem Büro ist faszinierender als ganze Filmreihen. Dazu die Details in seinem Büro, der Berg von Brillen, die kleinen Kunstwerke und selbstverständlich der Blick über die unendlichen Regale mit seinen Büchern und Publikationen. Zwischendurch seine Gedichte, begleitet von assoziativen Aufnahmen aus dem Garten, selbst da produziert Krüger aus dem Stehgreif verschmitzte Betrachtungen mit eingestreuten Lebensweisheiten. Mit Witz und Offenheit, ohne jegliche Eitelkeit. Und selbstverständlich gibt es während der „Verabredungen" über einen Zeitraum von zehn Jahren zunehmend Gedanken über das Altern und das Sterben. Ein unmöglicher, ein wunderbarer Film zu einem erstaunlichen Menschen.

Unsere Herzen, ein Klang


Deutschland 2022, Regie: Torsten Striegnitz, Simone Dobmeier, 113 Min., FSK: ab 0

Die Mischung aus Musik- und Dokumentarfilm „Unsere Herzen, ein Klang" begleitet zwei Chorleiterinnen und einen Chorleiter, wie sie aus einer Gruppe sing-begeisterter Laien, Chöre entstehen lassen. Simon Halsey gilt als Weltstar unter den Dirigenten. Er arbeitet seit über 40 Jahren als Chordirigent. Sein Wissen gibt er an den Nachwuchs weiter und rekrutiert durch seine Meisterklassen immer wieder neue Chorleiter und Chorleiterinnen, die ihn bei seinen Großprojekten unterstützen. Sein lang geplantes Vorhaben, ein gigantisches Mitsingkonzert in New York City mit mehr als tausend Sängern und Sängerinnen, löst sich im März 2020 plötzlich in Staub auf. „Unsere Herzen, ein Klang" folgt Halsey von der großen Euphorie während der ersten Vorbereitungen bis hin zum plötzlichen Stopp. Daneben erforscht der Film die Motivationen und Qualitäten der Chordirigentinnen Hyunju Kwon und Judith Kamphues. Dabei packt die Schönheit der Gesänge ebenso wie die Begeisterung der Singenden.

Mittagsstunde


Deutschland 2022, Regie: Lars Jessen, Charly Hübner, Peter Franke, Hildegard Schmahl, 97 Min., FSK: ab 12

Ingwer, 47-jähriger Archäologie-Dozent an der Kieler Uni, kehrt in sein Heimatdorf Brinkebüll im nordfriesischen Nirgendwo zurück, um seine Großeltern Sönke und Ella Feddersen zu pflegen. Die Oma ist dement und auch der Opa braucht neuerdings Betreuung. Das Sabbatical schockt erst seine WG, wo er eine schwierige Dreierbeziehung führt. Dann ihn selbst, weil es doch nicht so einfach ist, wenn Oma immer wegläuft und der Alte alles andere als dankbar ist. Zu der Besonderheit, dass mal ein Mann die Älteren pflegt, kommen auch Verwerfungen in der Familiengeschichte: Rückblenden zeigen den jungen Ingwer vor allem zusammen mit Marret. Die geistig behinderte Tochter der Feddersens liebt das Singen in der Dorfkneipe der Familie, streunt herum und nimmt irgendwann die Phrasen der Zeugen Jehovas vom Ende der Welt ernst. Immer öfter sieht sie in der Natur dafür Zeichen und reagiert panisch.

Etwas vom Ende der Welt muss auch der erwachsene Ingwer bei seiner Wiederkehr feststellen: Das (fiktive) Dorf Brinkebüll, in das Mitte der Sechzigerjahre die Landvermesser kamen und Unheil säten, um die große Flurbereinigung vorzubereiten, ist in der Jetzt-Zeit eine bequem mit dem Auto zu erreichende Schlafstätte für Zugezogene. Während Sönke energisch und stolz die Vorbereitungen für die „Gnadenhochzeit", den 70. Hochzeitstag, vorantreibt, will ein alter Kumpel die Gaststätte mit Tanzsaal kaufen und zur einer Western-Kneipe umwandeln.

Der aus Norddeutschland stammende Regisseur von Lars Jessen („Am Tag als Bobby Ewing starb", „Dorfpunks", „Fraktus") erzählt nach einem Drehbuch von Catharina Junk („Die dunkle Seite des Mondes") eine rührende Familiengeschichte und voll leiser Melancholie vom Verfall der Dorfkultur. Die psychologischen Feinheiten wirken äußerst stimmig, etwa wenn der Vater meinte, er muss mit dem Selbstmord der Tochter für seine Kriegsverbrechen zahlen. Rührend sind die Erinnerungen vor allem an die Schwester Ingwers, die eigentlich seine Mutter ist, die mit frühem Kind überfordert war. All diese Geschichte und das Gefühl dabei, erleben wir über das geniale Spiel Charly Hübners („3 Tage in Quiberon", „Lindenberg! Mach Dein Ding"), der hier noch besser als sonst schon aktiert. Sein Ingwer, der nach der Flucht vor der Dorfexistenz nie so richtig wusste, was und wie, muss plötzlich Entscheidungen treffen. Allerdings nimmt das Schicksal ihm einige ab.

Auch die anderen Rollen sind durchgehend erstklassig besetzt: Sönke und Ella Feddersen werden von in ihren jüngeren Jahren von Rainer Bock („Das weiße Band", „Der Fall Collini") und Gabriela Maria Schmeide („Systemsprenger") verkörpert. Gro Swantje Kohlhof („Wir sind jung. Wir sind stark") hätte als Marret auch die Hauptrolle tragen können. Eine rundum stimmige Inszenierung mit einem Cast auf höchstem Niveau und in Bestform machen „Mittagsstunde" ganz ohne Sensationen zum sensationell guten Film.


Don't worry Darling


USA 2022, Regie: Olivia Wilde, mit Florence Pugh, Harry Styles, Olivia Wilde, 122 Min., FSK: ab 12

Der grandiose und kluge feministische Film von Schauspielerin und Regisseurin Olivia Wilde beginnt mit dem Styling von Tim Burton, erschreckt zwischendurch mit einer Menge David Lynch und entzaubert die heile Welt der 50er am Ende mit etwas ganz Eigenem. Wildes Partner, die aktuelle Musik-, Mode- und Film-Ikone Harry Styles („Dunkirk"), sieht auf der Fassade gut aus, spielt aber letztendlich nur eine Nebenrolle als Film-Gatte der eindrucksvollen Florence Pugh („Black Widow", „Little Women").

Die utopische Gemeinde Victory amüsiert und beeindruckt in den Bildern vom zweifach Oscar-nominierten Kameramann Matthew Libatique („A Star Is Born", „Black Swan") als kunterbunte Mustervorstadt, in der morgens sogar die Männer wie im Ballett die Ausfahrt verlassen, um zu irgendeiner geheimnisvollen Tätigkeit zu fahren. Die happy Housewives bleiben zurück und ergeben sich ihrer täglichen Routine aus Putzen, Essen vorbereiten und Tanzkursen, bevor sie die Männer abends wieder mit wildem Sex begrüßen.

Hört sich traumhaft an. Die Frage ist nur, für wen und wessen Traum das ist. Boss der ganzen Unternehmung ist der charismatische Führer Frank (Chris Pine). Er lädt in „seine große Familie" ein, motiviert und befördert. Alles ist ausschweifend glücklich und euphorisch. Bis sich Irritationen in Alicens Wahrnehmung und ins Bild einschleichen. Die sich bis zu subtil horrenden Situationen im Stil von David Lynch steigern. Aber auch ganz konkret zerquetscht eine Wand mit Fotos glücklicher Paarszenen Alice beim Putzen der gegenüberliegenden Glasscheibe. Und sie ist nicht die einzige Frau, die sich fragt, was die Männer eigentlich den ganzen Tag in dem verbotenen Bereich mitten in der Wüste machen. Auch nicht die einzige mit Problemen im Paradies: Die Freundin Margaret (KiKi Layne), der „hysterische" Spinnerei nachgesagt wird, ruft sie um Hilfe, und bringt sich kurz darauf vor ihren Augen um. Allerdings behauptet jeder, Margaret sei wohlauf und werde in einer Klinik behandelt. Da wird Alice letztendlich auch landen, nachdem sie sich bei einem Abendessen zur Beförderung ihres Ehemannes Jack Chambers (Harry Styles) wundert, dass sich alle Paar fast identisch kennengelernt haben und auch die Hochzeitsreisen sich wie ein Ei dem anderen gleichen. Alice ahnt nicht nur allein etwas, es gibt auch Nachbarin und Freundin Bunny, die alles weiß. Mit viel Hintersinn gespielt von Regisseurin und Autorin Olivia Wilde.

„Don't worry, darling" begeistert anfangs mit herrlichem Styling: Top Shots sowohl auf das alltägliche perfekte Frühstück, als auch auf Alices Version der Tanzfiguren von Busby Berkeley. Das grandiose Styling bleibt von den anfänglichen Alltagsszenen in einer Traumwelt bis zum sehr spannenden Finale. Wilde ist bekannt als Dr. Remy „Dreizehn" Hadley aus der Serie „Dr. House", als Quorra im Film „Tron: Legacy", als die weibliche Hauptrolle im Science-Fiction-Western „Cowboys & Aliens" neben Daniel Craig und Harrison Ford oder Rachel Salas und die Film-Mutter von Justin Timberlake im Science-Fiction-Thriller „In Time – Deine Zeit läuft". Demnächst wird sie in „Babylon" zu sehen sein. Bei „Don't worry, darling" führte sie Regie nach einem Drehbuch, das aus der Feder der „Booksmart"-Autorin Katie Silberman stammt. Schon Wildes erste Regie „Booksmart", die letzte Schulzeit-Nacht von zwei zu strebsamen Teenie-Mädchen, war bemerkenswert in der Ernsthaftigkeit und den unerwarteten Variationen des ausgelutschten Genres.

„Don't worry, darling" ist ähnlich gelagert, wie die Fünfziger-Traumwelten aus der Marvel-Serie „WandaVision" – eine vor allem im Denken vieler US-Amerikaner heile und bessere Welt, in der sich mit den Mitteln von Film und Fernsehen irritierende Störungen zeigen. Das „Damals, wo alles viel besser war" erweist sich am Ende als traurige und ziemlich aktuelle Wirklichkeit jämmerlicher Männer, die nichts tun (können), und denen nichts anderes einfällt, als ihre Frauen mit Gewalt zu Hause zu halten. Das ging ja auch vielleicht in den Fünfzigern alles viel einfacher. Oder in Ländern wie Afghanistan und Iran.

Der momentane Teenie-Star Harry Styles spielt eigentlich nur eine Nebenfigur, die sich wichtig fühlt und auf schön macht, aber in Wirklichkeit ein ganz anderes Gesicht hat. Tatsächlich eindrucksvoll dagegen Florence Pugh, die mit ihrer Figur Alice sowohl die Einfalt des Traumlebens als auch den verzweifelten Kampf um die Wirklichkeit glaubhaft macht. Beim exzellent inszenierten Film sind vielleicht Hinweise wie „morgen die (ganze) Welt" und das „Wunderland"-Gespann aus Alice und dem Kaninchen (Bunny) überzogen. Doch insgesamt reißt der Film nachhaltig einige Schleier der Täuschung ein.

Peter von Kant


Frankreich 2022, Regie: François Ozon, mit Denis Ménochet, Isabelle Adjani, Khalil Gharbia, Hanna Schygulla, 86 Min., FSK: ab 16

Peter von Kant (Denis Ménochet) ist Rainer Werner Fassbinder. Der massive Körper, die brutale Härte gegenüber seinem extrem devoten Assistenten Karl (Stéfan Crépon), eindeutig! Meisterregisseur François Ozon variiert nicht nur das Kammerspiel „Die bitteren Tränen der Petra von Kant" der deutschen Regielegende, er spielt die vorhandenen autobiografischen Andeutungen voll zu einer Teil-Biografie eines liebeskranken Monsters aus. Wir sehen, nachdem ein Vorhang raffiniert die Szene von Kants Wohnung freigibt, den großen Regisseur in einer Krise. Weniger die Suche nach einem neuen Stoff, als der Verlust des letzten Liebhabers bringt ihn runter. Das Arbeitstier, das sich selbst und seine Umgebung verschlang, lebt erst wieder auf, als seine geschwätzige Muse, Star Sidonie (Isabelle Adjani), einen jungen Araber anschleppt. Amir (Khalil Gharbia) wird routiniert verführt, die intimen Probeaufnahmen sind Teil des Spiels. Neun Monate später hat der gemeinsame Film das Tageslicht gesehen, „Der Tod ist kälter als die Liebe" ist ein Erfolg in Cannes und Amir wird zum zickigen Star. Zu lange Nächte ohne den schönen jungen Mann machen Kant eifersüchtig und immer unleidlicher. Nach erbärmlicher Selbst-Erniedrigung muss er erleben, wie Amir wieder zu seiner Frau zurückkehrt.

Ozon, der sich mit seinen frühen „Tropfen auf heiße Steine" (2000) als Fassbinder-Fan outete, nimmt die Konstellation von „Die bitteren Tränen der Petra von Kant", wandelt die Modemacherin in einen Regisseur und webt unübersehbare Hinweise zu Fassbinders Biografie ein. So setzt sich die Figur Amir aus dem tragisch entgleisten Schauspieler El Hedi Ben Salem („Angst essen Seele auf", 1974) und dem langjährigen Partner Armin Meier („Deutschland im Herbst", 1978) zusammen. Das größte Zitat ist der Auftritt von Fassbinders Muse Hanna Schygulla als bemüht liebevolle „Mutti". Mit den knalligen Farben und der Ausstattung des Melodrams gibt „Peter von Kant" Hommage und leidenschaftliches Liebesdrama, ist aber als Biografie weit entfernt von der Intensität und dem Gesamtblick von Oskar Roehlers „Enfant Terrible" mit dem grandiosen Oliver Masucci.

13.9.22

Die Küchenbrigade


Frankreich 2022 (La Brigarde) Regie: Louis-Julien Petit, mit Audrey Lamy, François Cluzet, Chantal Neuwirth, 97 Min., FSK: ab 0

„Ratatouille" als Sozial- und Flüchtlingsdrama, dazu ein Schuss Medienkritik. Ganz schön viel packt Louis-Julien Petit sich in „Die Küchenbrigade" auf seine Gabel, doch ohne die üblichen Weichspüler und Dümmlichkeiten der meisten französischen Komödien gelingt ein abgerundetes Wohlfühl-Menü mit viel Substanz.

Nein, das geht gar nicht, die Eigenkreation „Hibiskus-Orgel" mit Balsamico-Sauce zu versauen! Da muss natürlich die passende Kräutermischung dran! Deutlich zu hören, wir befinden uns hier im Schnellkochtopf ausgebildeter Egos. Und als es Cathy Marie (Audrey Lamy) endlich reicht, wie ihre Schöpfung von einer TV- und Starköchin verhunzt wird, muss sich die ebenso besonders aus- wie eingebildete Sous-Chefin wieder auf dem Boden der Realität zurechtfinden. Und diese Realität sieht ziemlich heruntergekommen aus, denn Lorenzo (François Cluzet), Leiter eines Heims für unbegleitete Flüchtlinge, hat sie mit einer geschönten Anzeige in seine Kantine gelockt. Als Unterkunft bekommt sie einen eigenen Schlafsaal, komplett mit Jugendherbergs-Charme. Auf Flüsterentfernung lebt die übergewichtige, komische Kollegin Sabine (Chantal Neuwirth), die ausgerechnet Fan von Cathy Maries verhasster Ex-Chefin und deren Fernseh-Show ist.

Statt eigenem Restaurant gibt es Dosenravioli, Mikrowelle und eine ungeschickte Küchenbrigade aus männlichen Heimbewohnern, teilweise mit falschem Machostolz und generell eher an Fußball interessiert. Cathy ist in die kulinarische Hölle geraten. Doch mit der Disziplin von Küchenarbeit kann sie auch die Jungs zu Talenten am Sparschäler und der Menükarte erziehen. Die Ablehnung der unerwarteten Umgebung weicht auch auf, weil sie sich an ihre eigene Kindheit im Waisenheim erinnert. Mit der Begeisterung vor allem eines kleinen Kochfans kapern Cathy und ihre Gehilfen die Koch-Show, um auf das Schicksal abgeschobener Flüchtlinge hinzuweisen.

„Ich wollte eine Sozialkomödie drehen, ein Genre, dass ich für eines der besten halte, um schwierige gesellschaftliche Themen anzusprechen. Die Herausforderung bestand darin, die Problematik der minderjährigen Migranten realistisch zu behandeln und gleichzeitig einen Teil Komik und Optimismus zu bewahren," sagt Regisseur und Koautor Louis-Julien Petit. Schon in „Der Glanz der Unsichtbaren" stellte er mit wunderbaren Figuren und obdachlosen Frauen, die sich selbst spielen, der neoliberalen Kälte von „Fordern und Fördern" ein herzerwärmendes, fröhliches und berührendes Sozial-Märchen entgegen. Auch dabei spielte Audrey Lamy eine Hauptrolle. In „Die Küchenbrigade" löst sich die widerspenstige Rauheit ihrer Figur immer mehr auf, das Interesse an den Jungs und deren Schicksal sind herzzerreißend.

Das teilweise Happy End – einige der Jungs wurden doch abgeschoben – ist nicht nur filmische Fantasie: Vorbild für Cathy ist die Köchin Catherine Grosjean, die am Lycée Hôtelier in Treignac eine Berufsschulklasse betreut und eine Küchenbrigade aus minderjährigen Migranten leitet. Louis-Julien Petit hat längst den Meisterbrief darin, brennende Themen unterhaltsam zu erzählen, ohne seine Figuren oder das Publikum zu verdummen.

Lieber Kurt


Deutschland 2022, Regie: Til Schweiger, mit Til Schweiger, Franziska Machens, Levi Wolter, 136 Min., FSK: ab 12

Es sieht direkt aus wie ein Werbespot für irgendein Lebensgefühl, als Kurt (Til Schweiger) und Lena (Franziska Machens) in ein altes, renovierungsbedürftiges Haus im Brandenburger Umfeld Berlins ziehen. Das „Einbumsen" aller Räume wird unterbrochen, als der sechsjährige Sohn Kurt (Levi Wolter) des Werbefuzzis Kurt aus seiner früheren Beziehung mit der Agentur-Chefin Jana (Jasmin Gerat) von dieser abgeliefert wird. Lena hat ein wunderbares Verhältnis mit dem Stiefsohn, auch wenn sie noch nicht so genau weiß, ob er ihren nackten Hintern sehen soll. Klar ist allerdings schon, dass er mit auf der Matratze der Großen schlafen darf, weil ein Gespenst unter seinem Bett ist. Das Patchwork-Familienglück funktioniert auch sonst spaßig locker, wenn der gewitzte Kleine die gefundenen Kondome nachzählt und fragt, weshalb es weniger geworden sind. Ganz plötzlich stirbt dann der kleine Kurt und lässt zwei Verliebte zurück, die ganz unterschiedlich mit dem gleichen Verlust umgehen.

Das Originaldrehbuch zu „Lieber Kurt" entstand in Zusammenarbeit von Til Schweiger und Vanessa Walder und basiert auf dem Bestseller-Roman „Kurt" von Sarah Kuttner. Der klare und trauererfahrene Nachbar Gauger (Heiner Lauterbach) kommt darin direkt zur Sache: „Wenn's vorbei ist, merkt man erst, was man verloren hat!" Til Schweiger traut seinem eigenen Gejammere jedoch nicht und baut eine Menge Rückblenden ein, in denen Kurtchen noch lebt. „Als ich Sarah das Buch zum Lesen gab, war ich sehr nervös, denn wir haben die Struktur des Buches etwas variiert und einige Rückblenden über den kleinen Kurt eingebaut. Die Tragödie passiert relativ zeitig, aber ich wollte zeigen, wie das Kind zu Lebzeiten war." Und kräftig auf die Gefühlsdrüse drücken, weil das dem Hauptdarsteller nicht richtig gut gelingt. Über zwei Stunden Jammern über den Verlust des Kindes, das ist wirklich zu viel für den Film, das Publikum und vor allen Dingen für die Partnerin. Und hier fängt der Film dann an, interessant zu werden. Denn Lena muss, gefangen zwischen ihrer eigenen Trauer und dem Wunsch Kurt zu trösten, ihre Rolle in dieser nicht mehr existenten Familie und in dem noch ganz nicht bezogenen Haus finden.

Sarah Kuttner erklärte: „Ich bin ein großer Fan von Schmerzen, einfach weil ich mich gut mit ihnen auskenne. Mir ist es wichtig, den Schmerz zu verstehen und zu wissen, warum er so weh tut. Im Grunde beschäftigen sich alle meine Bücher mit hartem Tobak, da der seelische Schmerz viele Facetten besitzt". Aber auch die bekannten frechen Dialoge der TV- und Podcast Persönlichkeit Kuttner sind immer wieder von Kurts viel jüngeren Partnerin zu hören. Man denkt anfangs immer, hier sollte die Kuttner selber spielen. Doch Franziska Machens, seit 2013 festes Ensemblemitglied am Deutschen Theater Berlin und auf der Leinwand noch nicht so bekannt, überzeugt mit jeder Szene und vor allem jeder Großaufnahme mehr. Denn während der große Kurt sich völlig zurückzieht, klassisch im Job versagt und den Schmerz bis zu einer blutigen Kneipenschlägerei mit Seewolf-Gedächtnisbart ersäuft, kann Lena ihre eigene Trauer nicht rauslassen. Denn die sei ja so viel weniger wert.

Kuttner sagte dazu: „Eine Situation, in der die Kraftressourcen ungleich verteilt sind oder niemand weiß, was er sagen oder tun darf. Daran können Menschen zerbrechen oder vielleicht auch gestärkt herausgehen. Wie funktioniert Trauer? Wann darf wieder gelacht werden? Wie lange muss Traurigkeit präsent sein? Diese Fragen wollte ich ergründen – und daraus ist der Roman entstanden." Das taucht in den besten Momenten des Films wieder auf, die meisten von ihnen finden ohne Schweiger statt. Immer ist aber Franziska Machens dabei. Ihre Lena mal mit Kurts Film-Vater Peter Simonischek („Toni Erdmann") mal mit dem geerdeten Nachbarn. Beide Gegenpole zum jämmerlichen Kurt.

Dazu aber auch viele peinliche und kindische Montage Sequenzen, die Glück darstellen sollen, aber in jeder anständigen Werbeagentur für einen Rauswurf sorgen würden. Die unangenehmen Gespräche auf beim Job mit erwartbaren Phrasen auf beiden Seiten langweilen ebenso. So wünscht man sich nicht mehr unbedingt Kuttner selbst in der Hauptrolle, aber vielleicht doch auf dem Regiestuhl.

Alice Schwarzer


Deutschland, Österreich 2022, Regie: Sabine Derflinger, 135 Min., FSK: ab 12

Der Dokumentarfilm über die neuerdings aus neuen Gründen umstrittene Feministin und „Emma"-Herausgeberin Alice Schwarzer erzählt die Karriere Journalistin, Autorin und Verlegerin in Interviews und Archivmaterial von den 1970er-Jahren bis heute. Von der „Streberin", wie sie sich selbst bezeichnet, die Polizeiberichte wie noch nie zuvor bearbeitete, bis zur fordernden Chefin, die allerdings auch meint, das nächste Heft kommt bestimmt und die „Emma" sei keine Bibel. Nett ist, hinter all den öffentlichen Klischees immer noch die blitzenden Augen, den gewitzten Menschen zu sehen, den klugen Kopf mitzuerleben. Die Bedeutung von Alice Schwarzer ist trotz aktuell heftig diskutierter Positionen unter anderem zum Islamismus unbestritten. Historisch ist die Sammlung von Gegnern und Weggefährtinnen wie Peter Merseburger, Jenny Erpenbeck, Jasmin Tabatabai, Franziska Becker, Bettina Flitner, Henri Nannen, Rudolf Augstein, Margarete Mitscherlich, Simone de Beauvoir und Jean Paul Sartre faszinierend, der ganze Umfang ihres Wirkens beeindruckt. Kritisch ist diese Huldigung allerdings seltenst.

 

Ticket ins Paradies


USA 2022 (Ticket to Paradise) Regie: Ol Parker, mit George Clooney, Julia Roberts, Kaitlin Dever, 104 Min., FSK: ab 6

George Clooney und Julia Roberts spielen nach „Ocean's 11" wieder zusammen und diesmal – wenigstens anfangs – ein herrlich verhasstes Paar: Die Liebe auf den ersten Blick führte bei Georgia und David (Roberts, Clooney) zu fünf Jahren Ehe und 19 weiteren, die sie vorzugsweise „in einer anderen Zeitzone" als der ehemalige Partner verbracht haben. Was wegen der gemeinsamen Tochter Lily (Kaitlyn Dever) problematisch war, wie deren Hochschulabschluss zeigt, in dem sich die beiden Erwachsenen äußerst kindisch mit Begeisterung überbieten müssen – vor Publikum! Nun endet Lilys Belohnungs-Reise nach Bali mit einer Heiratsankündigung, weswegen die geschiedenen Eltern gemeinsam den Plan schmieden, Lily vor dem Fehler zu bewahren, den sie selbst vor 25 Jahren gemacht haben. Genauer gesagt: Jeder meint, es ist sein/ihr eigener Plan und die/der andere habe gefälligst mitzumachen. 

Ist „Ticket ins Paradies" das bessere Remake von „Der Vater der Braut"? Die Zutaten sind jedenfalls da, doch schnell erweist sich der Schwiegersohn in spe als klüger und schmeißt David vor die Delphine, weil er weiß, dass Georgia und David bei ihren Sabotage-Aktionen einem kleinen Mädchen die Hochzeitsringe geklaut haben. Doch auf dem harten Weg über „Bier Ping-Pong" mit wunderbaren Retro-Tanzeinlagen entdecken sie ihre eigene Jugend und Verliebtheit wieder. Ein paar endlich ausgesprochene Wahrheiten machen den Weg frei für ein doppeltes Happy End. Regisseur Ol Parker, der bei der Fortsetzung „Mamma Mia! Here We Go Again" handwerkliche Qualitäten bewies, legt mit „Ticket ins Paradies" dank zwei toller Schauspieler eine nette Genre-Variante hin. Selbst wenn dieser David als einer der schwächeren Clooney-Typen daherkommt, ist er immer noch ganz erfreulich anzusehen. Ansonsten gibt es keine großen Lebensweisheiten, dafür viele schöne Strände. Achtung: Es liegt allerdings tropische Aneignung vor – gedreht wurde in Australien, nicht auf Bali!

12.9.22

Alle reden übers Wetter


Deutschland 2022, Regie: Annika Pinske, mit Anne Schäfer, Anne-Kathrin Gummich, Judith Hofmann, 89 Min., FSK: ab 12

Clara (Annika Pinske) lebt unabhängig als Philosophie-Dozentin in Berlin. Ihr Assistent ist auch ihr Liebhaber, darf aber nicht zu viel erwarten. Vorbild ist die harte und einsame Doktormutter Margot (Judith Hofmann), gemeinsam lästern sie über das männliche Bildungsestablishment und die weiblichen Anhängsel im Vorzimmer und Zuhause. Doch immer wieder lassen kleine Erschütterungen Clara an ihrem Powerkurs zweifeln. Ein Moment des Heimwehs, wenn die Mama nach dem Video-Chat vergisst, das Telefon auszuschalten. Zuvor haben sie vor allem über das Wetter geredet. Deren Jubiläumsfeier in der ostdeutschen Heimat in ganz einfachen, ländlichen Verhältnissen lassen dann den heftigen Bruch in der Biografie der jungen Frau erkennen. Dazu hat sie eine sich entfremdende Tochter, die beim Vater aufwächst. Es gibt in „Alle reden übers Wetter" keinen Konflikt, der gelöst werden muss, keine Entwicklung hin zu einer Befreiung oder Ähnliches. Der Film beschreibt einen Zustand sehr gut nachvollziehbar, sowohl emotional als auch intellektuell. Regisseurin Annika Pinske stammt aus dem Produktionsumfeld von Maren Ade („Toni Erdmann").

6.9.22

Das Leben ein Tanz


Frankreich, Belgien 2022 (En corps) Regie: Cédric Klapisch, mit Marion Barbeau, Hofesh Shechter, Denis Podalydès, 118 Min. FSK: ab 12

Ein Fehltritt kann das Leben verändern - besonders beim klassischen Tanz. In Cédric Klapischs sympathischen und menschlich warmen Tanzfilm „Das Leben ein Tanz" ist dies mit mehrfacher Bedeutung aufgeladen: Die 26-jährige Balletttänzerin Elise (Marion Barbeau) sieht vor ihrem großen Auftritt in einer Hauptrolle, wie ihr Freund und Tanzpartner eine Kollegin intim küsst. Die Aufregung nach seinem Fehltritt bringt sie zu einem Fehltritt auf offener Bühne. Mit einem Schmerzensschrei bricht sie zusammen. Ende der Vorstellung. Und auch der Karriere?

Die Ärztin sagt ihr, sie müsse diesen nächsten Bänderriss nun gründlich ausheilen lassen und dürfte ein bis zwei Jahre nicht tanzen. Der befreundete Therapeut will hingegen Schulmedizin ignorieren und drängt mit esoterischem Geschwafel vom Trennungs-Trauma zum Weitermachen. Er hat sich allerdings sowieso längst disqualifiziert. Zwar ist es tatsächlich heftig, dass seine Freundin ihn mit dem Freund von Elise betrogen hat. Doch dass diese den heulenden Hanswurst am Ende massiert, ist dann eine nette Lachnummer. Die sehr schön den Ton von Klepischs keineswegs dramatisch nachgezeichneter Lebenswende festlegt. Wer „Black Swan 2" erwartet, wird enttäuscht.

In „Das Leben ein Tanz" geht es nicht so sehr um dunkle Rivalitäten wie in „Black Swan" von Darren Aronofsky. Klepisch sagte dazu: „Ich gebe zu, dass mich Black Swan nicht überzeugt hat. Besonders störte mich, dass Natalie Portman in den meisten Tanzszenen von einer Tänzerin gedoubelt wurde, so wie man das in Actionfilmen mit Stuntleuten macht. Ich halte es in einem Film über den Tanz für notwendig, dass alle, die spielen, auch tanzen. Wer vom Tanzen erzählen will, muss vom Körper der Tänzer ausgehen. Die Darsteller die mitspielen, müssen auch proben und tanzen." Was bei Hauptdarstellerin Marion Barbeau in ihrem ersten Spielfilm gegeben ist: Sie begann bereits im Alter von sechs Jahren mit dem Tanzen. An der Pariser Oper nahm man sie 2008 als Balletttänzerin und 2016 gab ihr neben Benjamin Millepied die Rolle der Heldin in Dmitri Tcherniakovs „Diptychon Iolanta - Der Nussknacker". Seit 2018 ist sie Erste Tänzerin des Balletts der Opéra national de Paris.

So schickt Klepisch, der Entdecker großer Schauspieltalente wie Romain Duris, Garance Clavel, Madame Renée oder Marine Vacth nun Marion Barbeau als Elise auf eine eher neugierige als verzweifelte Neuentdeckungs-Tour ihrer selbst. Der Regisseur erzählt mit der für ihn typischen Leichtigkeit, an die man sich im übrigen Kino-Umfeld erst wieder gewöhnen muss. Leicht geknickt sieht Elise erst begeistert die Tanztruppe von Hofesh Shechter bei einer Art Street Dance. Dann reist sie mit Freunden zu einem Künstler-Resort in der Bretagne; die Freunde kochen, sie hilft aus. Nach Sängern und Musikern taucht schließlich ausgerechnet die Truppe von Shechter auf, der sie voller Bewunderung mitmachen lässt. Und ganz erstaunlich erweist sich dieser andere, lockerere Tanz wie Balsam für Seele und Körper Elises, die seit ihre Kindheit nichts anderes als die harte Schule des Balletts kannte: Diese Bewegung hat „mehr Bezug zur Erde und Wirklichkeit. Jetzt suchen meine Füße den Kontakt zum Boden zur Erde, statt ihr zu fliehen. Es ist ursprünglicher, mehr animalisch, ich liebe das!"

Bei aller Leichtigkeit im Spiel geht es immerhin um eine große Frage: Wie gibt man seine Träume auf und findet andere Ziele? Ein zweites Leben, ein anderes Leben. Was für Elise besonders schwer ist. In einem sehr interessanten Gespräch mit der Gastgeberin, die, weil selbst ohne Talent, gern kreative Menschen um sich versammelt, meint diese: „Du hattest immer Glück, du hattest Talent und einen einfachen Weg. Vielleicht ist es gut, dass du's mal nicht einfach hast." Nebenbei lässt „Das Leben ein Tanz" nach einem diskriminierenden Fotoshooting in Hochzeitskleidern über Frauenrollen im klassischen Ballett nachdenken.

Cédric Klapisch, geboren 1961 in Neuilly, erzählt in seinen Filmen immer wieder vom Wandel, von der Öffnung einer Person und zeigt wie jemand glücklich in einer Gruppe aufgeht. So in seinem ersten Erfolg seiner bisherigen 14 Spielfilme, „...und jeder sucht sein Kätzchen" (Chacun cherche son chat, 1996). Ganz besonders selbstverständlich im bekanntesten, dem „Erasmus-Film" „L'Auberge Espagnole - Barcelona für ein Jahr" (2002) mit Romain Duris. „Das Leben ein Tanz" ist nun ein weiterer großer Publikumserfolg mit über 1,3 Millionen Zuschauern bisher in Frankreich.

 

Atlantide


Italien, Frankreich, USA, Katar, Mexiko, Spanien 2021, Regie: Yuri Ancarani, mit Daniele Barison,  Maila Dabalà, Bianka Berényi, 100 Min., FSK: ab 16

Während der 24-jährige Daniele auf Sant'Erasmo, einer Insel am Rande der Lagune von Venedig, mit seinem Vater die wertvolle Artischocke Violetto di Sant'Erasmo erntet, interessiert ihn nur, was im Kanal nebenan passiert. Ein Altersgenosse „spielt" auf dem Wasser mit seinem „Barchino", dreht Kreise, lässt den Motor des Bootes aufheulen. Auch wenn „Atlantide" immer wieder die schönsten Venedig-Bilder zeigen wird, diese Boote haben nichts mit den berühmten Gondeln der Stadt zu tun, auch nichts mit den Wassertaxis. Sie sind kleine Versionen der Rennboote aus Miami (Vice), aufgepimpt mit LED-Licht und schweren Bassboxen. Damit liefern sich die jungen Männern der Lagune testosterongetriebene Wettrennen und jagen Geschwindigkeitsrekorden hinterher. So ein konkurrenzfähiges „Barchino" ist der Traum Danieles, er will dazugehören zu den ganz Schnellen, aber auch zum Zentrum, zu Venedig. Nicht einer von den Inseln am Rande sein.

Der weltweit bekannte italienische bildende Künstler und Regisseur Yuri Ancarani zeigt die Geschichte des jungen Rebellen auf höchst ungewöhnliche Weise wie ein nie gesehenes Bilderbuch der Lagune. Der Anfang ist ein Badeausflug an einer abgelegenen Wasserbus-Haltestelle. Dann ein Rave am Ufer während riesige Kreuzfahrtschiffe bildfüllend vorüberziehen. Die Matadore der Rennboote relaxen derweil in einem kleinen Kanal neben der Insel San Francesco del Deserto, Heimat einer Handvoll alter Mönche. Die Jungen sonnen sich, schlafen mit ihren Freundinnen, deren Namen auf die Barchini geklebt sind, sich aber auch schnell wieder abknibbeln lassen. Dieser unfassbar spannende Gegensatz aus Weltabgewandtheit und unstillbarer Lebenslust gehört zu den vielen Höhepunkten von „Atlantide".

Um beim Rennen und Rasen mitmachen zu können, besorgt sich Daniele einen neuen Motor. (Selbst das Benzinleck im alten sorgte im Wasser für faszinierende Bilder!) Eine Schiffsschraube muss er sich von einem Konkurrenten klauen, was eine harte Strafe zur Folge hat. Wie Yuri Ancarani selbst diesen möglichen dramatischen Moment umgeht, ist enorm mutig. Er zeigt nur die Folgen einer Schlägerei. Auch Rennen im Stil von „Miami Vice" bleiben im gänzlich entschleunigten Werk völlig aus. Selbst „der" tragische Moment wird derart lakonisch inszeniert, dass es schon komisch ist. Gemäß des Sackes Reis, der in China umfällt, kippt noch einer der morschen Pfähle, der die Wasserstraßen Venedigs begrenzt, langsam und unbemerkt in die Lagune. Mit tödlichen Folgen.

„Atlantide" ist ein einziges, sich immerfort steigerndes Staunen: Typen wie Daniele mit ihren lauten Motoren und Musikanlagen sind für Venedig eindeutig eine Pest, wie es übermotorisierte und unter-intelligente Audi-Fahrer in Städten sind. Trotzdem folgt man diesem Film fasziniert, den endlosen meditativen Fahrten durch Lagune und Kanäle, hypnotisch durch die geniale Musik von Sick Luke.

5.9.22

Hive


Kosovo, Schweiz, Mazedonien, Albanien 2020, Regie: Blerta Basholli, mit Yllka Gashi, Çun Lajçi, Aurita Agushi, 84 Min., FSK: ab 12

Wenn eine Frau bedroht wird, weil sie den Führerschein gemacht hat und Auto fährt, muss das nicht Saudi-Arabien sein. Auch in Europa gibt es solch furchtbar rückständige Männer, wie diese bewegende, aber nicht spekulative Geschichte über eine mutige Frau aus dem Kosovo zeigt.

Die Männer sind weg und wo sie sind, ob sie noch leben, ist quälend ungewiss. Jahre nach einem serbischen Überfall, bei dem hunderte Männer deportiert und wahrscheinlich umgebracht wurden, versucht Fahrije (Yllka Gashi) nach einem Leichenfund wieder einmal, ihren Mann unter den verwesten Körpern zu entdecken. Ein verzweifelter Ausbruch im harten Alltag der Frau, die mit ein paar Bienenstöcken Kinder und den Schwiegervater im Rollstuhl kaum ernähren kann, den Haushalt macht, einkauft und auch noch Wasserleitungen repariert. Und trotzdem keine Rechte hat. Dem Vorschlag einer Fraueninitiative, den Führerschein zu machen, folgt sie als einzige. So kann sie den selbstgemachten Ajvar, die Balkanspezialität aus Paprika und Auberginen, in die Stadt zum Supermarkt fahren und das Einkommen gleich mehrerer Frauen und Familien sichern. Doch die Männer, die den ganzen Tag im Café rumsitzen, schmeißen Fahrije die Autoscheibe ein, bezeichnen sie als Hure. Nachdem sie auch das Frauenzentrum demoliert haben, wehrt sich die mutige Frau und wirft auch einen Stein in die Kneipe der faulen Machos.

Regisseurin Blerta Basholli ist im Kosovo geboren und aufgewachsen. Mit 16 Jahren flüchtete sie mit einem Teil ihrer Familie nach Deutschland. 2011 kehrte sie an ihren Geburtsort zurück. Auch die packende Geschichte der Fahrije ist authentisch, heute führen die Kinder der Frau das Unternehmen weiter. Selbst wenn einige Szenen frei erfunden wurden, sucht „Hive" nicht möglichst dramatische Momente und Erschütterung des Publikums, sondern Wahrhaftigkeit in den gewöhnlichen Emotionen, im alltäglichen Kampf. Das gelingt dermaßen, dass der stille und doch kraftvolle Film auf dem Sundance-Filmfestival 2021 gleich mit drei Preisen ausgezeichnet wurde.

Alle für Ella


Deutschland 2022, Regie: Teresa Fritzi Hoerl, Lina Larissa Strahl, Safira Robens, 110 Min., FSK: ab 6

Ella träumt mit ihren besten Freundinnen und der Band Virginia Woolfpack vom Erfolg im Musikwettbewerb. Doch ausgerechnet ihre eigene Stimme macht ihr Konkurrenz: Der arrogante Rapper alfaMK, bei dem Ellas Mutter putzt, hat dem Teenager den Gesang gegen eine Gitarre abgekauft. Aber Leon (Gustav Schmidt), wie er hinter der harten Fassade heißt, ist gar nicht so übel. Bald sind beide ineinander verliebt und es gibt genügend andere Schwierigkeiten bis zum Happy End.

Der Teenager-Film um die Liebemädchen-Band kann weder mit mäßigen Musikvideos noch mit origineller Handlung überzeugen. Er mischt ein bisschen was Soziales in den bekannten Ablauf, bis zu Dreadlocks ist auch alles schön divers. Lina Larissa Strahl, die Bibi Blocksberg der neuen „Bibi & Tina"-Filme mag man hier keine große Karriere vorhersagen. Doch vor allem trifft „Alle für Ella" bei allen großen und kleinen Problemchen lieber den richtigen Ton, als eine laute Show abzuziehen. Das wiegt einiges auf.