29.11.18

Das krumme Haus

USA 2018 (Crooked House) Regie: Gilles Paquet-Brenner, mit Gillian Anderson, Max Irons, Glenn Close 115 Min.

Krimis von Agatha Christie sind nicht skandinavisch und regional höchstens altertümlich gedacht. Also ziemlich verstaubter Kram, der unverständlicherweise immer wieder verfilmt wird. „Das krumme Haus" ist so eine verschnarchte Kostümparty zum Abgewöhnen.

Es gibt im Schloss der sehr reichen englischen Familie Leonides gleich mehrere Verdächtige für den Giftmord am ungeliebten Patriarchen. Privatdetektiv Charles Hayward (Max Irons) ermittelt und die ersten 30 Minuten sind ein einziges Rankarren semi-prominenter Darsteller samt Vorstellung der Klischees, die sie ausfüllen sollen. Den Detektiv und die Auftraggeberin aus der Familie verbinden eine Affäre im dekorativen Kairo, die Leidenschaft brennt weiter mit der Temperatur eines Tiefkühlgerätes.

Interessanter als der junge Detektiv ist Glen Close in der Rolle einer cleveren Schlossherrin, die mit Flinte Maulwürfe jagt. Auch Terence Stamp als Chef von Scotland Yard macht was her, seine dramatische Funktion ist eher ein Witz in der humorlosen Angelegenheit. Überhaupt fühlen sich bei diesen gepflegten Verbrechen in reich ausgestatteter Umgebung viele Szenen wie schlechtes Theater an. Mit theater-mäßigem, penetrant störendem Eindringen im die Privatgemächer der Verdächtigen.

Das ist wie „Orient Express" ohne Räder. Und ohne Zug oder moderne Geschwindigkeit. Also ein alter Stoff und die passende, altbackene Inszenierung.

28.11.18

The House that Jack built

Dänemark, BRD, Frankreich, Schweden 2018 Regie: Lars von Trier, mit Matt Dillon, Bruno Ganz, Uma Thurman 153 Min. FSK ab 18

Nachdem der begnadete Regisseur und Cannes-Sieger Lars von Trier zuletzt in „Nymphomaniac" mit reichlich weiblicher Sexualität provozierte, versucht er es nun mit extremer Gewalt in der Beichte eines Serien-Mörders. Dabei bleibt der ganze, nicht jugendfreie serielle Gewalt-Akt von „The House that Jack built" letztlich blutleer. Zumindest inhaltlich.

Die gleiche Konstruktion wie bei der Sex-Provokation wendet von Trier nun beim Serienkiller-Schocker an: Die Hauptfigur legt eine ausführliche Beichte gegenüber dem älteren Gesprächpartner ab. Hier erzählt Jack (Matt Dillon) dem mysteriösen Verge (Bruno Ganz) von seiner Karriere als obsessiver Mörder. Der Splatter-Thriller spielt in der 70er Jahren und erzählt zu ausführlich in fünf Kapiteln plus Epilog willkürliche Beispiele aus der „Karriere" eines psychopathischen Killers. Dillon („There's Something About Mary", „Wild Things") gibt den Psychopathen mit Ordnungs- und Putzwahn auf beeindruckende Weise uncharismatisch.

Zuerst erwischt es Uma Thurman: Ihre Figur drängt sich nach Wagenpanne direkt als Opfer auf. Die gemeine Inszenierung sorgt dafür, dass die geschwätzige Naive bekommt, was man erwartet. Sie wird von Jack mit dem Wagenheber (engl: Jack) erschlagen. Das ist typisch für Horror-Filme, aber von Trier verweigert die übliche charismatische Überhöhung des Mörders. Jack ist nicht besonders raffiniert, überzeugend oder eindrucksvoll. Ein uninteressanter Normalo, der sich selbst zu wichtig nimmt und meint, er sei clever. Noch dümmer stellt sich allerdings die Polizei an. Eine kilometerlange eklige Blutspur führt zu einem völlig zerfetzten Gesicht, einer der schwer erträglichen Splatter-Momente, die für das FSK ab 18 sorgen.

Wobei die Fans des Blutrünstigen wiederum schockiert sein werden von den wild zwischen die Morde montierten kulturellen Einsprengseln. Es ist ernüchternd, dass ausgerechnet die langen essayistischen Teile über die Frage, ob Verfall und Zerstörung Kunst erzeugen können, die interessantesten sind. Die Montage von fremdem Bildmaterial enthält als Höhepunkt Szenen von Lars von Triers eigenen Filmen. Und prophylaktisch ein Mimimi-Kommentar zu #meetoo noch eines armen, immer schuldigen Mannes. Dabei muss auch Verge, der Verteidiger der konstruktiven Liebe, in seinen spöttischen Beiträgen fragen, wieso die Frauen immer so dumm seien bei Jack. Eine Antwort gibt es nicht, auch nicht zum „Warum" dieses Films, der auch stilistisch einer der schwächsten des Dänen ist.

27.11.18

Der Grinch (2018)

USA, China 2018 (Dr. Seuss' How the Grinch stole Christmas) Regie: Scott Mosier, Yarrow Cheney 90 Min. FSK ab 0

Willkommen in den Jim Carrey-Gedächtniswochen! Gleich drei Filme sind Varianten von Erfolgen, die er einst dominierte, doch man vermisst ihn weder bei den beiden Versionen der Weihnachtsgeschichte nach Dickens, noch bei der digitalen Neufassung von Dr. Seuss' „Der Grinch". Die ist nämlich viel lustiger ohne ihn.

Der alte, grüne Weihnachtshasser Grinch hat wieder mal aus Langeweile alle Vorräte verschlungen und muss ausgerechnet zur Weihnachtszeit in der Stadt einkaufen. In dieser Zuckerbäcker-Stadt Whoville voller Lieblichkeit und überfreundlichen Menschen. Dazu die schrecklichen US-Weihnachts-Chöre. Aber wie herrlich stinkt der Grinch mit seinen Gemeinheiten und der unversiegbaren schlechten Laune dagegen an!

Nun weiß man selbstverständlich, dass in einem großen Weihnachtsfilm von Universal Pictures auch der Grinch niemals grimmig bleiben darf. Diesmal rennt ihn etwas zu schnell die naive Weihnachtsfreude der kleinen Cindy-Lou über den Haufen. Unverfälscht von Konsum- oder Religionskritik glaubt sie niedlich noch an den Weihnachtsmann. Und will ihn unbedingt vor dem Kamin abpassen, damit er ihrer überarbeiteten, alleinerziehenden Mutter hilft. Während Grinch plant, in der entscheidenden Nacht das komplette Weihnachtsfest zu stehlen.

„Der Grinch" ist immer wieder eher ein Spaß vom, bei uns noch zu wenig entdeckten Autor Dr. Seuss, als noch ein Weihnachtsfilm. Und dessen verrückte Ideen lassen sich in Animationen viel besser umsetzen als im Realfilm. Angefangen bei einer irren Kaffeemaschine und der aberwitzigen Morgentoilette des grünen Griesgrams, samt Schimmelgeruch als Deo!

Einige verrückte Erfindungen erinnern an „Wallace & Gromit". Aber hier gibt es nicht nur den treuen Hund als Sidekick, gemeinsam ins enge Bett des Grinchs kommt auch ein sehr gut genährtes und ähnlich anhängiges Rentier. Alles ist detailverliebt in Fiesig- und Süßigkeit. Animation und Montage sind besonders bei dem großen Diebeszug in der Weihnachtsnacht atemberaubend flott und witzig. Auch ohne die oblaten, äh: obligaten Achterbahn-Einlagen geht hier dauernd die Weihnachtspost ab. Von wegen besinnlich. Dafür ziemlich lustig zu den netten Reime des Dr. Seuss und ausgesucht passenden, modernen Songs. Was den Filmemachern zu danken ist! Produzent Christopher Meledandri, mit dem Animationsstudio Illumination auch für „Ich – Einfach unverbesserlich" verantwortlich, war ebenfalls an den Dr. Seuss-Verfilmungen „Horton hört ein Hu!" und „Der Lorax" beteiligt.

Das ganze Spaß-Paket stimmt: Der Grinch wird im Original herrlich heimtückisch von Benedict Cumberbatch gesprochen, in der deutschen Fassung überraschend gut von Otto Waalkes. Die Filmmusik stammt von Danny Elfman, falls die Geschichte nicht schon genug an „Tim Burtons Nightmare before Christmas" erinnert. So kann selbst der zynische Kritiker Tannennadeln im Kino ertragen.

26.11.18

Die unglaubliche Reise des Fakirs, der in einem Kleiderschrank feststeckte

Frankreich, Indien, Belgien 2018 (The Extraordinary Journey of the Fakir) Ken Scott, mit Dhanush, Bérénice Bejo, Erin Moriarty, Gérard Jugnot, Barkhad Abdi, 100 Min. FSK ab 6

Wie in den anderen beliebten indischen Aus- und Aufsteiger-Geschichten „Slumdog Millionär" oder „Schiffbruch mit Tiger" erzählt auch hier ein schelmischer Protagonist von seinen märchenhaften Erlebnissen. Ajatashatru Lavash Patel (Dhanush) schlug sich schon mit jungen Jahren in den Straßen Mumbais als falscher Fakir und mit Gaunertricks durch. Nach dem Tod seiner Mutter reist er nach Paris, um seinen unbekannten Vater zu finden. Die erste Attraktion in der Stadt der Liebe für ihn ist ... Ikea, das in diesem humorvollen Film Bergman- und Bogärt-Möbel anbietet. Sofort entdeckt Aja hier die Liebe seines Lebens und lernt mit wundervollem Flirten in all den Musterzimmern einer gemeinsamen Zukunft die Amerikanerin Marie kennen. Zum Date am nächsten Tag schafft es Aja jedoch nicht, weil er in einem Ikea-Schrank einschläft und am nächsten Tag mit ihm in England aufwacht.

Eine wunderbare Idee für den Anfang einer Liebes-Odyssee, etwas geklaut aus „Pax" (wie der Schrank), dem Abschlussfilm an der HFF München von Michael Chauvistré. Doch da Aja auch ein sympathischer Gauner ist, sei es dem Film verziehen. Nur diesmal teleportiert der Schrank nicht magisch, sondern ungeschickt mit Transporter und mit vielen anderen Flüchtlingen. Die folgende absurde Sanges-Szene bei den britischen Zoll-Beamten könnte aus dem „Little Britain"-Nachfolger „Come Fly with Me" stammen und befördert Aja mit zig anderen Flüchtlingen im unsinnigen Abschiebeflug nach Spanien.

Es ist eine aberwitzige Reise, von der Aja, gespielt vom indischen Star Dhanush, erzählt. Aberwitzig unterhaltsam und nett. Die Kommentare etwa über die Stadt der Liebe lassen schmunzeln, die Idee, die Asche der Mutter in einer Ikea-Vase zwischenzulagern und sie nach der Odyssee auch noch wiederzufinden, ist klasse. Dazu gibt es ein paar einfache Gedanken zur Gerechtigkeit auf dieser Welt - vom Trickbetrüger, der stetig an seinem guten Karma arbeitet. So öffnet sich bei den kuriosen Wendungen immer wieder eine neue Tür zu einer weiteren Geschichte. Vom Flughafen Barcelonas geht es nach langem Aufenthalt als Staatenloser im Gepäck des Filmstars Nelly (Bérénice Bejo) nach Rom. Ajas mit einer weiteren Geschichte beschriebenes Hemd interessiert einen Filmproduzenten, denn der ehemalige Straßenjunge ist vor allem gewitzter Geschichtenerzähler. Und der ganze Film ist schließlich seine Geschichte, erzählt bei der Polizei, um ein paar junge Kriminelle auf einen besseren Weg zu bringen. Wie wahrscheinlich ein paar magische Momente, wie das Treffen mit einem blinden Bettler im Gefängnis, sind, kann man wieder schmunzelnd in Frage stellen.

Ken Scott, Regisseur mit sehr guten („Starbuck") und schlechten Filmen („Lieferheld", „Big Business"), macht aus dem Roman von Romain Puértolas mit dem indischen Kinostar Dhanush ein nettes, unterhaltsames Stück Kino. Da malerisches Flüchtlings-Leid ebenso hinein wie eine kleine Bollywood-Tanzeinlage. Mal in den nächsten Jahren schauen, was das Kharma bei Scott und Dhanush dazu sagt.

Peppermint - Angel of Vengeance

USA, Hongkong 2018 Regie: Pierre Morel, mit Jennifer Garner, Method Man, John Ortiz, John Gallagher Jr., 102 Min. FSK ab 16

Der Begriff Rache-Engel ist post-biblisch ein krasser Gegensatz, denn wie engelhaft mitfühlend kann jemand sein, der gnadenlos Rache ausübt? Jennifer Garner alias Serienkillerin Riley North und Pierre Morel („96 Hours"), Regie-Spezialist fürs Knallharte, führen einen eintönigen, lauten und blutigen Film lang vor, dass Rache und Trauer schwer in eine limitierte Figur passen.

Eine Frau muss miterleben, wie Mann und Kind ermordet werden. Das könnte das unvermeidliche US-Remake von Fatih Akins spannendem NSU-Film „Aus dem Nichts" werden. Doch „Peppermint" schafft es, die gleiche Ausgangssituation mit wesentlich weniger Inhalt und vor allem - vermeintlich - ohne Politik versanden zu lassen. Dafür knallt es kräftig. Direkt zu Anfang, wenn Riley North (Jennifer Garner) als knallharte Kämpferin einen Mann im Auto-Nahkampf erschießt. Die einfallslose Rückblende macht klar warum, erklärt eher offensichtlich als Spannung erzeugend, wie Mann und Tochter von einem Drogenkartell hingerichtet wurden. Eine kurzdenkend konstruierte Fehljustiz mit sehr seltsamer Vorstellung von Gerichtsverfahren lässt die dank Gesichtstattoos lächerlich einfach zu identifizierenden Täter ungestraft. Die Bankangestellte Riley North, die nicht mal gegen Überstunden protestierte, nimmt sich nun fünf Jahre Auszeit und kehrt als Kampfmaschine zurück. Unglaublich clever, aber so doof, sich beim Waffen-Arsenal klauen filmen zu lassen. So ist nun auch das FBI hinter ihr her.

Was „Peppermint" nicht viel spannender macht, weil Riley ohne Widerstand jeden umbringt, der irgendwie mal gemein war. Selbst die spießige Oberzicken-Mutter von der Schule der Tochter bekommt die Strafe für ihre Fiesigkeit. Vielleicht etwas zu viel Strafe, im eigenen Haus lebendig zu verbrennen... Vorher wurde schon ihr Richter ohne Beweis gefoltert und in die Luft gejagt.

Das ist nicht nur eine unverschämte Glorifizierung von Selbstjustiz. „Peppermint" tut zudem auch so, als wenn ein Mensch nach zig kaltblütigen Morden unverändert ein paar Tränchen für die Tochter zerdrücken kann. Von Jennifer Garner („Alias") mäßig gespielt, aber vor allem reichlich naiv und geschmacklos. Dass der Ehemann, der doch irgendwelche Verbindungen zum organisierten Verbrechen hatte, bald vergessen ist, gehört zu den Schlampigkeiten in der Rache- und Gewalt-Orgie. Das Schlimmste ist allerdings die Schlussszene, die eine Fortsetzung geradezu androht.

21.11.18

Charles Dickens: Der Mann, der Weihnachten erfand

Irland, Kanada 2017 (The Man Who Invented Christmas) Regie: Bharat Nalluri mit Dan Stevens, Christopher Plummer, Jonathan Pryce 104 Min. FSK ab 6

Der lange Titel „Charles Dickens: Der Mann, der Weihnachten erfand" klingt nach verstaubtem Bio-Pic, bietet aber einen kurzweiligen und komischen Kostümfilm über eine Schaffens- und Finanzkrise des berühmten Charles Dickens, aus der schließlich seine weltberühmte Weihnachtsgeschichte entstand.

Heute ist Charles Dickens (1812-1870) ein großer Name der Literatur-Geschichte und mit „Hits" wie „Oliver Twist" oder „A Christmas Carol" auch sicherer Lieferant für brave Verfilmungen. Doch Dickens (Dan Stevens), der einst selbst die englischen Kinder-Fabriken aus „Oliver Twist" erlebte, kämpfte zwei Jahre nach seinem Erfolg mit finanziellen Problemen. Und mit einer bösen Schreibblockade. Dann kommt auch noch der nervige Vater (Jonathan Pryce) mit seinen ewigen Geldsorgen vorbei. Dabei muss Dickens selbst bei den Kerzen sparen. Bis er vom neuen irischen Kindermädchen die Idee zur Weihnachtsgeschichte klaut.

Die Suche nach dem richtigen Namen für die Figur des Scrooge (Christopher Plummer), die dann postwendend erscheint, ist ebenso komisch inszeniert wie die anderen Alltagsprobleme im zu repräsentativen Londoner Haus mit den zu vielen Kindern. In der etwas vorhersehbaren, aber nett ausgespielten Konstruktion tauchen nach Scrooge auch noch die eigenen Geister von Dickens und seiner Vergangenheit auf. Vor allem die Erinnerung an den Weihnachtsabend, an dem sein verschuldeter Vater abgeholt wurde, quält.

Aber „Charles Dickens: Der Mann, der Weihnachten erfand" ist vor allem ein leicht erzählter Spaß: Schnell erkennt man im Kellner, im Totengräber und anderen Figuren des Alltags die Vorlagen für Scrooge und die Geister der Weihnacht. Tiny Tim mit seiner Krücke war eigentlich ein Neffe von Dickens, und es ist besonders komisch, wenn Christopher Plummer als Scrooge eine eigene Passage schreiben will. Dickens läutert beim Schreiben der Geschichte seine persönliche Scrooge-Haftigkeit, seine Grimmigkeit gegenüber den dauernden Störungen durch die eigene Familie und die Härte gegen den anstrengenden Vater.

Diese Nacherzählung aus der Schreibstube des Autors (nach dem gleichnamigen Roman von Les Standiford) hat nicht die Grimmigkeit der letzten Disney-Verfilmung. Sie erzählt von einer gesegneten Zeit, in der Verleger Weihnachten gerade nicht als geeignete Zeit für kommerzielle Erfolge ansahen.

Letztendlich ist der sorgfältig gemachte und prominent besetzte Film etwas überfüllt mit Referenzen um die Durchdringung von Werk und Schaffensprozess. Aber am Ende stellt sich wohl kalkuliert die dicke Dickens-Rührung ein.

20.11.18

Cold War

Polen, GB, Frankreich 2018 (Zimna Wojna) Regie: Pawel Pawlikowski, mit Joanna Kulig, Tomasz Kot 88 Min. FSK ab 12

Heißer Oscar-Kandidat und Amour Fou auf Polnisch: Nach „Ida" bringt der aus Polen stammende und in England ausgebildete Pawel Pawlikowski erneut ein stilistisches Meisterwerk auf die Leinwand. „Cold War", die Geschichte seine Eltern ist eine sehr bewegte Liebe dies- und jenseits der Grenzen des Kalten Krieges.

Das Liebesdrama beginnt mit der aus „Gadjo Dilo" und vielen anderen Filmen bekannten Suche nach authentischer Musik der Landbevölkerung. Was Wiktor (Tomasz Kot) kurz nach Kriegsende beim Vorsingen schließlich findet, ist eine bewegte Liebe. Der Dirigent wählt die blonde Schönheit Zula (Joanna Kulig) ins Ensemble, obwohl sie die Noten nicht immer trifft. Aber die polnische Volkstanztruppe wird ein Erfolg und ein Propaganda-Hit zu Ehren Stalins. Man stelle sich die Charme-Truppen aus Nordkorea bei der letzten Winter-Olympiade vor, nur mit besserer Musik. Wiktor und Zula werden auf der Tournee ein Paar, aber er will bei Auftritt Ostberlin mit ihr in den Westen. Sie versetzt ihn, vom eisigen Berlin führt der Schnitt zu heißen Rhythmen in einem Pariser Jazz-Keller.

Der harte Bruch von hübsch aufpolierter Volksmusik zu Propaganda-Zwecken in Ost-Berlin zum Jazz in Paris wird nicht der einzige brüske Schnitt in dieser wahrlich wechselhaften Liebes-Geschichte bleiben. Dabei bleibt Regisseur Pawel Pawlikowski mit dem gleichen Team seiner Schwarz-Weiß-Ästhetik im 4:3-Format treu. Aber mit dem Paar ändert sich auch der Stil im klassischen Kader: Die Pariser Episoden könnten Nouvelle Vague sein, in Polen sieht man Tarkowskij-Stil und soll sich genau an diese Film-Epochen erinnern. Und man genießt erneut eine breite Palette von Musikstilen, das Titellied wird sogar durch Zeiten, Systeme und Stile konjugiert.

Dazu ist Zula dann die perfekte Femme Fatale. Wiktor kommt entspannt überall zurecht, sie ist nirgendwo glücklich. Provoziert Eifersucht auf allen Seiten, meckert und mäkelt in Bilderbuch-Umgebung. Selbst das wunderbar bittersüße Schlussbild des Films muss sie in einer ironischen Wendung kaputtmachen: Lass uns auf die andere Seite gehen, sagt sie. Und schon sind sie aus dem Bild. Diese trotzdem liebevolle Betrachtung hat ihre Wurzeln im persönlichen Ursprung der Gesichte - es die von Pawel Pawlikowskis Eltern.

Ein wenig schwebend wie Wong Kar-wais „In the Mood for Love", nur in polnisch und mit doch relativ vielen Worten. Das große Drama der Welt-Geschichte läuft im Hintergrund ab, es ist nicht der Kern wie bei „Ida". Wenn man jedoch so eine Amour Fou, so eine verrückte Liebe mag, ist es ein perfekter, großartiger Film, ein weiteres Meisterwerk.

Jupiter's Moon

Ungarn, BRD, Frankreich 2017 (Jupiter holdja) Regie: Kornél Mundruczó, mit Merab Ninidze, Zsombor Jéger, György Cserhalmi 129 Min. FSK ab 12

Das Wunderkind des ungarischen Films sorgte in Cannes wieder für Aufregung, weil sein neuer Film völlig und fantastisch abhebt: Kornél Mundruczós „Jupiter's Moon" lässt eine Wunder- und Glaubensgeschichte durch osteuropäisches Flüchtlingsdrama schweben. Ein atemberaubendes und einzigartiges realistisches Kinomärchen.

Schon der Vorspann gibt sich bedeutungsschwanger: Unter den vielen Jupiter-Monden ist einer, auf dem könnte es Leben geben - Europa! Wie es in Europa tatsächlich aussieht, zeigen die nächsten hektischen, atemlosen Szenen. Flüchtlinge versuchen in der Nacht über einen Fluss von Serbien nach Ungarn zu kommen. Wie Hühner im Käfig werden sie rangekarrt, die ungarischen Polizisten schießen zur Begrüßung in Europa direkt auf sie. Es trifft den jungen Syrer Aryan (Zsombor Jéger) in die Brust. Doch statt zu fallen, steigen erst seine Schnürsenkel, dann Blutstropfen in die Höhe. Bald schwebt Aryan hoch über dem Chaos aus Flüchtenden und Jägern. Die fliegende Kamera wirbelt um ihn und ein abgehobener Kinorausch entsteht.

Auch im weiteren Verlauf von Aryans ungarischem Abenteuer wechseln harsche Realitäten mit atemberaubend wunderbaren, traumhaften Bilder. Der Junge wird vom Arzt Gabor Stern (Merab Ninidze) aus dem Flüchtlingslager gerettet. Nachdem einer seiner Patienten starb, verdient dieser sich mit Bestechungsgeldern auch von Flüchtlingen Bündel von Scheinen. Das Geld soll ihm bei den Verwandten des Opfers Vergebung und letztlich seinen alten Job im Krankenhaus erkaufen. Als guter Kapitalist macht sich Stern sofort an die Verwertung des Wunders Aryan, lässt sich für die vermeintlich wunderheilende Flugnummer viel zahlen. Dem Jungen verspricht er die Flucht aus Ungarn und dessen Vater zu finden.

Stern ist kein schlechter Kerl, die Verzweiflung macht ihn zum schwitzenden, korrupten Opportunisten. Ansonsten zeigt er sich als stolzer Mann mit Prinzipen. Selbst wenn er sich bestechen lässt. Arrogant sei er und unbeliebt. Glaubt an nicht viel, an Gott schon mal gar nicht. Der Ungläubige muss nun ein Wunderkind miterleben, einen Heiler. Wie schon 2005 in „Johanna" seinem ersten in einer Reihe wunderbarer Filme arbeitet der geniale Kornél Mundruczó mit diesem gelblichen, frühen Lars von Trier-Licht. Damals wurden die Wunder Johanna grausamen heimgezahlt, ebenso wie das Liebes-Glück im „Delta" (2008) der Donau von barbarischen Bauern zerstört wurde. Nach „Tender Son: Das Frankenstein Projekt" (2010) behandelte zuletzt „Underdog" (2014) das Bestialische im Menschen und war umstritten.

Genau wie „Jupiter's Moon" 2017 in Cannes. Dabei ist er ungeheuer spannend in mehrfacher Hinsicht. Der Flucht-Thriller wirft uns mitten in chaotische Zustände des Flüchtlingslagers, immer ruhelos durch die sehr agile Handkamera. Wir bekommen erschreckende Einsichten in den Umgang und die Geschäfte mit furchtbar behandelten Flüchtlingen. In Lügengeschichten der Regierungen müssen die Opfer fälschlicherweise sogar als Attentäter herhalten.

Das deutliche Statement zur aktuellen Politik in osteuropäischen Ländern (wobei der Osten schon in Österreich anfängt), erhält durch die wundersame Fähigkeit Aryans ein weitere Dimension. Es ist tricktechnisch eigentlich simpel gelöst, aber in der Wirkung gigantisch, wie er die Welt eines Faschisten samt dessen Wohnung buchstäblich auf den Kopf stellt. Nebenbei ist das Schweben ganz praktisch für eine Flucht vor der Polizei aus dem Hochhaus. Doch nicht nur weil „Jupiter's Moon" am Ende in einem Schwebezustand verharrt, liefert Mundruczó keine Antworten, keine „Aussage". Dafür einen unvergleichlichen Film, ein einzigartiges Kinoerlebnis.

19.11.18

So viel Zeit

BRD 2018 Regie: Philipp Kadelbach, mit Jan Josef Liefers, Jürgen Vogel, Matthias Bundschuh, Richy Müller, Armin Rohde, André M. Hennicke 101 Min.

Jan Josef Liefers haut wieder dürftig bekleidet aus dem Krankenhaus ab. Kurz vor dem Ende noch mal richtig was erleben, war schon 1997 der Antrieb in Thomas Jahns genialem „Knockin' on Heaven's Door". Und nun, zwanzig Jahre später, spielt Liefers im Goosen-Film „So viel Zeit" endlich mal wieder gut - einen Todkranken, der es mit seiner alten Band noch mal so richtig krachen lässt.

Schon die erste Nummer der Roman-Verfilmung nach Frank Goosen ist klasse: Als Vorgruppe sollte der Auftritt im Rockpalast für „Bochums Steine" ein Höhepunkt werden. Das übliche Egotrip-Solo des Sängers und Gitarristen führt allerdings zu dessen flammendem Absturz. Dass Bandleader Rainer (Jan Josef Liefers), nachdem er vor 20 Jahren Ole (Jürgen Vogel) von der Bühne gestoßen hat, wieder bei den Bochumer Kumpels auftaucht, stößt auf wenig Begeisterung. Die ehemaligen Bandkollegen Bulle (Armin Rohde), Konni (Matthias Bundschuh) und Thomas (Richy Müller) treffen sich seit Jahren zum gemeinsamen Saufen, das Proben ist nur Alibi. Wie vor allem der nicht besonders feinfühlige Zahnarzt Bulle angesichts von Rainer die versprochene Prügel kaum zurückhalten kann, hat großen Schauspiel-Stil. Doch die Aussicht, bei einem Rockpalast-Revival doch noch mal groß aufzuspielen sowie ein paar Notlügen Rainers überzeugen schließlich. Denn diese alten Herren sind alle nicht wirklich glücklich mit ihrem Leben.

Viel herrliches Gezicke und wenige großartig verhunzte Proben später sind die vier auf einem richtigen Road-Trip zu Ole in Berlin. Mit Rock'n'Roll, Prügeleien, jugendlicher Verliebtheit und mit Rainers Sohn. Denn außer einem Gehirntumor zwackt den lustlosen Musiklehrer das Versagen als Vater. Aber - so viel ist nach wenig Zeit klar - die Band bringt wieder das Beste aus den Jungs heraus.

Filme nach Frank Goosen sollte man sich nie entgehen lassen. Nach „Liegen lernen" (2003), „Radio Heimat" (2016) und „Sommerfest" (2017) begeistert auch „So viel Zeit" mit bodenständigen Ruhrpott-Typen und ihrem einzigartigen Humor. Auch schauspielerisch ist „So viel Zeit" eine große Nummer. In Armin Rohde sieht man plötzlich Potential zu einem reifen Charakterdarsteller für prominente internationale Rollen. Liefers bekommt der Wechsel vom Arztkittel zum Patienten-Hemd mit „hinten-ohne" ausgesprochen gut. Jürgen Vogel darf sich mal zurückhalten. Nicht vergessen darf man die Frauen an ihrer Seite: Ohne Alwara Höfels als Stewardess eines Vergnügungskahns und Laura Tonke als Kneipen-Chefin kämen die Jungs nicht weit. Viel freche Schnauze die ihnen den Kopf wäscht. Dazu zeigt Regisseur Philipp Kadelbach („Unsere Mütter, unsere Väter") viel Bochum. Die Tonspur-Songs von Cat Stevens' „Father and Son" bis zu „Brothers in Arms" überzeugen allerdings mehr als die zu recht unbekannt gebliebenen „Bochums Steine" oder die austauschbaren Kurzauftritte der aus unbekannten Gründen bekannten Scorpions.

Verschwörung

USA, GB, Kanada, BRD, Schweden 2018 (The Girl in the Spider's Web) Regie: Fede Alvarez, mit Claire Foy, Sylvia Hoeks, Mikael Blomkvist 117 Min. FSK ab 16

Es geht weiter mit der coolen Hackerin Lisbeth Salander und ihrem Kampf gegen Frauen-Schläger und rechte Kräfte. Allerdings nicht mit Teil zwei und drei des US-Remakes der schwedischen Filmtrilogie („Verblendung", „Verdammnis", „Vergebung") nach Stieg Larssons Romanen. Statt Rooney Mara als Salander und Daniel Craig als Journalist Mikael Blomkvist übernimmt Claire Foy eine einsame Titelrolle mit action-reichem Trip in Salanders Vergangenheit.

Bevor Claire Foy („The Crown") als neue, nun dritte Lisbeth Salander ihre Karriere als Action-Figur startet, darf kurz noch mal die alte auftreten: Ein ekliger Unternehmer, der Prostituierte und seine Frau blutig schlägt, wird mit schnellen Hacker- und Ninja-Tricks von Salander abgestraft und ausgebremst. Der nächste Auftrag ist schon aus der Kiste „James Bond-Routine": Ausgerechnet dem geheimsten Geheimdienst NSA wird in den USA mal eben ein Programm geklaut, dass Zugang zu allen Nuklearwaffen ermöglicht. Aber mysteriöse Angreifer klauen das gerade Geklaute und jagen Salanders lässig gestylten Luxus-Loft in die Luft. Die Heldin der letzten vier sorgfältigen Filme wird nun ruckzuck direkt in die Enge getrieben und kann sich aus riesigem Action-Feuerwerk nur mit einem großartigen Stunt retten.

Verzweifelt und wirklich allein meldet sich die Kämpferin nach Jahren der Sendepause wieder bei ihrem ehemaligen Partner Mikael Blomkvist (Sverrir Gudnason). Es gilt, die Verfolger zu enttarnen, gleichzeitig aus den Griffen von schwedischem und US-Geheimdienst zu bleiben. Dabei müssen der Entwickler des MacGuffin-Programms sowie dessen autistischer Sohn geschützt werden. Die rücksichtslose Einzelgängerin Salander zeigt hier viel Herz für Kinder, was zu ihrem eigenen wunden Punkt führt.

Verflixt, es ist wirklich kompliziert! Nicht nur mit der verstörenden Verhunzung deutscher Verlags- und Verleih-Titel von schwedischen Bedeutungen wie „Männer, die Frauen hassen" bei diesem Verkaufs-Erfolg. Stieg Larsson veröffentlichte bis zu seinem Tod 2004 nur drei von zehn geplanten Millennium-Romanen. Die zerstrittenen Erben wollen das Manuskript von Teil Vier nicht zur Verwertung freigeben. Aber dass David Lagercrantz mit „Verschwörung" („Det som inte dödar oss" - dt: Was uns nicht umbringt) die Reihe fortschrieb, wurde akzeptiert. Im Jahr 2017 folgte bereits „Verfolgung".

Auch „Verschwörung" fasziniert als fünfter Larsson-Film wieder mit einem hoch stilisierten Look: Viel Coolness bei Architektur, Ausstattung und Licht soll die abgebrühte Haltung Lisbeths wiederspiegeln. Diesmal erleidet die innerlich sensible Frau im harten Leder-Dress eine Verletzung ausgerechnet unter ihren großen Drachentattoo. An der Schulter, wo auch Siegried nach dem Bad im Drachenblut seine verwundbare Stelle hatte. Eine brennende Schuld aus der Vergangenheit ist Kern der Geschichte.

Regie führte Fede Alvarez („‪Don't Breathe‬"), der raffiniere Fluchten und Auswege in die Vollgas-Action einbaute. Claire Foy legt, unterstützt durch kräftiges Orchester, eine intensive Darstellung hin. Ihre Figur ist körperlich erstaunlich unkaputtbar. Lisbeth Salander mutiert damit von faszinierend kantigem Charakter zu einer von vielen Action-Figuren. Da ist plötzlich die Schwester Camilla, als rote Hexe des Nordens gespielt von der Niederländerin Sylvia Hoeks („Whatever Happens", „Blade Runner 2049"), viel interessanter. Aber das ist ja in diesem Genre normal, dass die Schurken sterben müssen, weil sie den langweiligen Helden als erstes die Aufmerksamkeit stehlen.

14.11.18

Phantastische Tierwesen: Grindelwalds Verbrechen

USA 2018 (Fantastic Beasts: The Crimes of Grindelwald) Regie: David Yates, mit Eddie Redmayne, Katherine Waterston, Dan Fogler, Jude Law, Johnny Depp, Alison Sudol, Ezra Miller, Zoë Kravitz 134 Min. FSK ab 12

Selbst Muggel, denen das ganze Getue um Harry Potter ziemlich egal war, wurden vor zwei Jahren durch „Phantastische Tierwesen" verzaubert. Eine Randnotiz der Harry Potter-Romane J. K. Rowlings geriet zum großartig fantastischen und psychologisch spannenden Abenteuer. Jetzt kommen für den zweiten Teil auch noch Johnny Depp und Jude Law hinzu.

Das Ende des ersten Films machte sehr neugierig: Blitzte doch unter der Maske des mächtigen Dunklen Zauberers Gellert Grindelwald das Gesicht Johnny Depps auf. Der wurde zwar vom MACUSA (Magischer Kongress der Vereinigten Staaten von Amerika) mit der Hilfe von Newt Scamander (Eddie Redmayne) festgenommen. Aber die zu erwartende Flucht wird in den ersten Minuten des zweiten Teils „Phantastische Tierwesen: Grindelwalds Verbrechen" als großes Action-Kino erledigt. Es geht um den auch aus anderen Filmen wie „X-Men" bekannten Konflikt: Wie gehen Mehr- und Minderheit miteinander um. Ko-Existenz oder Unterdrückung? Sprich: Grindelwald will die Herrschaft reinblütiger Zauberer über alle nichtmagischen Wesen.

Johnny Depp verlässt hier für seinen Ober-Schurken die üblichen Pfade der bösen Standard-Figur: Nicht Gewalt, sondern Verführung macht ihn mächtig und die Figur mit einer grimmigen Nonchalance ambivalent. Eine von mehreren starken Szenen passt ins Lehrbuch demagogischer Politik: Eine Versammlung von Reinblütigen auf dem Pariser Friedhof Père-Lachaise mit Nazi-Uniformen im Publikum gerät zum inszenierten Massaker. Hier wird mit aktuellem Bezug auch explizit gezeigt, wie eine „Politik der Unterdrückung und Gewalt immer mehr zum populistischen Verführer treibt", mit drohenden Totalitarismus und Genozid.

Besonders reizvoll an dieser erwachsenen Erzählung ist das Verhältnis von Grindelwald zu Albus Dumbledore, hier in jungen Jahren in Hogwarts von Jude Law gespielt. Die beiden verband einst eine Jugendliebe, Dumbledore ist also schwul. Eigentlich eine Nebensächlichkeit, die allerdings einige seltsame Anhänger von „Harry Potter" zu unschönen Reaktionen brachte.

Das gegnerische Team besteht wieder aus Newt, dem witzigen Muggel Jacob, der klugen Tina und ihrer naiven Schwester Queenie. Selbstverständlich gibt es im Paris von 1927 reichlich seltsame Geschöpfe. Altbekannte und neue, wie einen chinesischen Feuerdrachen. Das passt alles locker in Newts Koffer, aber nicht unbedingt in einen Film.

Erneute inszenierte David Yates und auch für „Phantastische Tierwesen: Grindelwalds Verbrechen" schrieb J.K. Rowling ein Original-Drehbuch. Doch der zweite Teil leidet an Überfüllung, die symptomatisch ist für größenwahnsinnige Filmreihen. Wie Marvel sein Universums-Gedöns propagiert, preist Warner Bros. nun „Phantastische Tierwesen" als fünfteilige Geldmaschine, als „Wizarding World" an. Die Bemühungen, erst mal noch EINEN guten Film zu machen, haben darunter gelitten. Außerdem ist „PT 2" ein typisches Zwischenstück mit viel zu vielen Anfängen von Handlungsfäden, die in den nächsten Film fortgeführt werden. Eine beeindruckende, aber ermüdende Fülle an raschen Entwicklungen, Familiengeschichten wie aus einer Soap, verrückten Ideen und faszinierenden Kreaturen. Bei allem Hokuspokus birgt das vor allem einen starken humanistischen Kern. Mit großem Herz für Sonderlinge. Und Newt als Vorbild - milde den Wütenden gegenüber, verständnisvoll den Bösartigen. Schließlich als Versprechen für noch mehr Aufregung, die Enthüllung, wer der extrem wütende Credence (intensiv: Ezra Miller) wirklich ist.

13.11.18

Assassination Nation

USA 2018 Regie: Sam Levinson, mit Suki Waterhouse, Bill Skarsgård, Bella Thorne, Maude Apatow 109 Min. FSK ab 16

Ein eindrucksvoller, gewaltiger, aber nicht stumpf gewalttätiger Film: Sam, der Sohn von Barry „Rainman" Levinson, macht sich mit grellen Bildern und einer im Finale trashigen Story Gedanken über den Umgang mit privaten Daten im digitalen Salem.

Erst hält Lily ihrem Highschool-Direktor einen Vortrag: Ein Nacktfoto mit klugem theoretischem Unterbau kann angesichts kann angesichts von Millionen unbedachter Snapchats nicht für eine Maßregelung herhalten. Derweil wurden von einem anonymen Hacker bereits die Sex-Fotos vom Smartphone des heimlich schwulen Bürgermeisters geleakt. Bald wird der harmlose SMS-Dialog des Direktors mit seiner Frau veröffentlicht und auf dem Account eines Familienvaters finden sich sehr sexy Bilder Lilys.

Als die Daten der Smartphones von 17.000 Menschen veröffentlicht wurden, bricht in Salem die Gewalt aus. Muskelbepackte Erbsenhirne starten die neue Hexenjagd, notgeile Biedermänner und auch Polizisten machen sofort mit. Völlig verständnislose Eltern werfen Lily aus dem Haus. Aber in höchster Not machen die vier Highschool-Frauen mit Säbel und Maschinengewehr auf weibliche Ermächtigung im „Kill Bill"-Stil. Nur mit roten Lackmänteln anstelle des gelben Dresses von Uma Thurman. Zu einem Song von Anohni entsteht eine neue Frauen-Bewegung und Salem steht vor dem Bürgerkrieg.

„Assassination Nation" ist im zweiten Teil blutig und wild. Aber anders als billige Gewalt-Orgien dank toller Inszenierung und guter Figurenzeichnung vor allem inhaltlich kohärent schockierend. Mit avanciertem Look samt Splitscreen und Musikvideo-Stil ist das heftig diskutierte Werk von Sam Levinson („The Wizard of Lies"; „Another Happy Day") ein sehr wichtiges Statement gegen eine pervers prüde Gesellschaft, die harmlose Nackt-Fotos von den eigenen Kindern als Verbrechen ansieht. Kluge Gedanken zur Nacktheit in den Medien, speziell den Sozialen Medien, machen „Assassination Nation" zu einem „Uhrwerk Orange" von heute, eher als zu einer Neuauflage von Arthur Millers Theaterstück „Hexenjagd" über die realen Vorfälle im Salem des Jahres 1692. Hängen bleibt letztlich ein visuell und formal eindrucksvolles Manifest gegen scheinheilige Selbstgerechtigkeit der puritanischen Gesellschaft und die Zurichtung devoter Weibchen.

Loro - Die Verführten

Italien, Frankreich 2018 (Loro) Regie: Paolo Sorrentino, mit Toni Servillo, Elena Sofia Ricci, Riccardo Scamarcio, Kasia Smutniak 157 Min. FSK ab 12

Das vorerst letzte Zucken von Silvio Berlusconi als Farce, als Trauerspiel. Oscar-Preisträger Paolo Sorrentino („La Grande Bellezza", „Ewige Jugend", „Il Divo") nähert sich mit grellen, hart und schnell geschnittenen Party-Szenen wieder dem politischen Verfall Italiens. Sein Lieblings-Darsteller Toni Servillo gibt Berlusconi als ebenso gefährliche wie absurde Witzfigur, jedoch ohne ihn zu entmenschlichen. Als Kunststück und Meisterwerk zeigt „Loro" den moralischen Offenbarungseid der Politik und Zeitgeschichte als beklemmende Party im großartigen Stile Sorrentinos.

Es ist der kleine Gauner Serfio Morra (Riccardo Scamarcio), über den wir uns Berlusconi nähern, denn der tritt erst nach 45 Minuten Film auf. Serfio verschafft sich mit Gratis-Koks einen Stall williger, junger Frauen und verführt mit ihnen alte Politiker. Er hasst seinen Vater, weil der ehrlich und sein Leben anstrengend ist. Berlusconi hingegen verehrt er und will in Rom die Nähe von „Ihm", vom ehemaligen Ministerpräsidenten suchen. Mit einem atemberaubenden Crash eines Lasters und dem folgenden Müll-Regen in Zeitlupe geht es in einem genialen Schnitt zu einem Regen von MDMA-Pillen in der Villa Morena auf Sardinien. Gegenüber der von „Ihm" gelegen. Orgiastische Dauer-Party ist angesagt, nur um den Nachbarn Silvio zu interessieren.

Es ist atemberaubend, was Paolo Sorrentino in einzelne Sequenzen hineinlegt, riesige Party-Tableaus mit meist nackten Statisten, welche die italienische Gesellschaft aufs schärfste analysieren. Er macht sich in Bildern mit großer Symbolkraft zum Hieronymus Bosch des 21. Jahrhunderts. Dass hier tatsächlich ein politischer Skandal mit Mafia-Einfluss stattgefunden hat, wird nicht erklärt. Die sexuellen Auswirkungen von LSD dagegen in einem wissenschaftlichen Vortrag, wobei die politische Macht als das ultimative Aphrodisiakum erscheint. Sorrentino blickt unverschämt auf unverschämte Politik mit ihrer Korruption und Prostitution, auf die hemmungslose Fleischbeschau, die das italienische Fernsehen als normal betrachten lässt.

Nach einer irre surrealen Eröffnungsszene in der Berlusconis Villa, wo ein Schaf mittels Spieleshow und Klimaanlage zu Tode gefroren wird, zeigt der zweite Teil wesentlich ruhiger dann das Psychogramm des Show-Politikers. Aber Sorrentino kann auch ruhig, wie er bei „La Grande Bellezza" bewiesen hat. Trotz aller Monstrositäten bleibt der Protagonist ein Mensch, ein Charakter. So kann „Loro" mit Berlusconi all die anderen Politiker verurteilen, die nur für sich selbst und nicht für das wohl des Landes handeln.

Während Berlusconi sich mit Stimmenkauf wieder zum Ministerpräsidenten macht, als Vereinspräsident Fußball-Spieler abwirbt, die schwere Scheidung mit Veronica Lario (Elena Sofia Ricci) nicht vermeiden kann und immer wieder eine seiner berüchtigten Gesangseinlagen gibt, schafft es der großartige Toni Servillo hinter dem debilen Dauergrinsen (und dicker Maske) einen Mensch mit Gefühlen zu zeigen. Der ist immer noch der alte Immobilien-Verkäufer, der abends wahllos Menschen anruft und ihnen anonym Wohnungen verkaufen will. Es ist erschütternd, wie nah dieses Zerrbild an der Realität bleibt, und wie selbstverständlich dies alles in der Realität hingenommen und sogar gefeiert wurde. Sorrentino hingegen setzt das fruchtbare Erdbeben von L'Aquila direkt wie einen Fluch hinter die neuerlichen Vereidigung Berlusconis. Das ist eine andere, eine virilere, schärfere und sensiblere Berlusconi-Abrechnung als Nanni Morettis „Il Caimano". Und ein grandioser Film. Der mit 160 Minuten als die internationale Kino-Kurzfassung zu sehen ist. In Italien gab es zwei Teile von 100 Minuten!

12.11.18

Juliet, Naked

USA, GB 2018 Regie: Jesse Peretz, mit Ethan Hawke, Rose Byrne, Chris O'Dowd 98 Min.

Der neue Hornby liefert in der Verfilmung wieder alle Qualitäten und allen Spaß, die wir seit High Fidelity", „About a Boy" und „Fever Pitch" lieben, dazu einen Ethan Hawke mit reizender Alter-Coolness. Romantisch, lustig, klug und verrückt - die absolute Kinoempfehlung für alle, die nicht in der Potter-Phase hängengeblieben sind.

Es geht selbstverständlich um Musik, denn die Romane von Nick Hornby sind immer „High Fidelity". Auch ist der typische, nerdige Musik-Fan wieder dabei. Allerdings nicht mehr in der Hauptrolle, die John Cusak 2000 in Frears „High Fidelity" und Hugh Grant 2002 in „About a boy" der Weitz-Brüder übernahmen. Im Zentrum des sehr einfühlsamen „Frauenfilms" „Juliet, Naked" steht jetzt die teilnahmslos vor sich hin lebende Ehefrau Annie (Rose Byrne). Verheiratet mit dem Musik-Fan Duncan (Chris O'Dowd) ist Liebe und Leidenschaft nur noch eine Erinnerung. Und auch Duncan begeistert sich vor allem für seine Fan-Website über den einst gefeierten Musiker Tucker Crowe (Ethan Hawke). 25 Jahre ist es her, dass dessen letzte Platte veröffentlicht wurde. So kritisch Duncan in seinem Dozenten-Job den US-Film analysiert, so hemmungslos feiert er alles von seinem Idol. Um ein im geheimnisvollen Umschlag zugesandtes, neues Album „Juliet, Naked" umgehend zu hören, akzeptiert er sogar ohne Irritation die Batterien aus Annies Vibrator für seinen Disc-Player.

Doch ausgerechnet aus Annies Verriss der Songs entwickelt sich ein persönliches Online-Gespräch der einsamen Frau mit der von ihrem Mann vergötterten Legende Tucker. Hier verstehen sich zwei trotz des Atlantiks zwischen ihnen. Sehr nette Musik kommentiert die transatlantische Brieffreundschaft, aus der mehr werden könnte. Und dann geht Duncan mit seiner neuen Kollegin fremd.

In „Juliet, naked" finden sich zwei wunderbar normale Menschen trotz einiger vertaner Jahre. Die durch die australische Schauspielerin Rose Byrne („Marie Antoinette", „Mit besten Absichten") wunderbar verkörperte Traurigkeit und Tristesse von Annies Ehe mit einem seltsamen Fan-Boy wird ebenso mit schönem Humor erzählt, wie das fast wundersame Auftreten Tuckers im britischen Küsten-Örtchen, dessen Hauptattraktion bislang ein eingelegtes Hai-Auge darstellt. Wenn nun Tucker im Kaff leibhaftig vor Duncan steht, ist das herrlich ausgedachter und brillant gespielter Slapstick. Der eigentlich mit seiner peinlichen zweiten Jugend beschäftigte Clown bekommt den Mund nicht mehr zu. Wie nerdige Fans ohne Respekt und Distanz ihre wahnsinnige Obsession auf den Künstler kippen, basiert sicher auf eigene Erfahrungen des erfolgreichen Autors Nick Hornby.

Ethan Hawke („Before Midnight", „Maudie", „Boyhood") legt in bester Jeff Bridges-Manier einen gescheiterten, aber eigentlich zufriedenen Rocker und Egoisten hin. Der altersweise versucht, das Chaos der vielen Kinder aus verschiedenen Beziehungen und der eher nicht freundlichen Ex-Frauen zu meistern. Er hat Nachwuchs im Überfluss, in Annie hingegen keimt ein unterdrückter Kinderwunsch auf. Die sehr realistische und bodenständige Romanze bekommt mit einer Hommage an „Waterloo Station" von „The Kings" den Leitsong und einige wunderbare Szenen dazu. Im tollen, perfekt besetzten Ensemble darf neben Chris O'Dowd („Am Sonntag bist du tot") als herrlichem Idioten auch Azhy Robertson als Tuckers jüngster Sohn Jackson gute Momente und Einsichten in ein kompliziertes Erwachsenen-Leben haben. „Juliet, Naked" ist ein Kino-Ereignis, dass gekonnt britische Film-Schrulligkeit mit der Lässigkeit von US-amerikanischer Independent-Filme vereint.

10.11.18

Was uns nicht umbringt

BRD 2018 Regie: Sandra Nettelbeck, mit August Zirner, Sophie Rois, Johanna Ter Steege, Barbara Auer, Christian Berkel 129 Min. FSK ab 6

Enttäuschender Reigen der Jämmerlichkeit mit großem Ensemble

Die hervorragende Regisseurin Sandra Nettelbeck („Belle Martha", „Mr. Morgans letzte Liebe", „Helen") enttäuschte mit dem Ensemble-Film „Was uns nicht umbringt" schon beim Festival von Locarno. Nun landet die sogenannte Tragikomödie mit unter anderem Johanna ter Steege, Barbara Auer, Bjarne Mädel, Christian Berkel und Peter Lohmeyer in den Kinos - eine unsägliche Nabelschau wohlsituierter Großstadt–Bürger.

Bereits die ersten Szenen des konstruierten Star-Reigens der Tristesse irritieren: Barbara Auer hat als geschiedene Frau allein zuhause Probleme mit dem Wasserhahn. Beim still leidenden Psychiater, der seine Ex noch liebt, gehen weitere Figuren ein und aus. Johanna Tersteeges Sounddesignerin will von ihrem Geliebten (Peter Lohmeyer) nicht dauernd vergessen werden und spielt sich im Unglück in die Schulden. Der elegante Bestatter (Berkel) bekommt beruflich Besuch von seiner Lieblings-Autorin und muss sich mit einer hoch-hypochondrischen Schwester rumschlagen. Nur Bjarne Mädel, in einer typischen Rolle als Tierpfleger Hannes, tut fröhlich und kündigt, damit seine leicht autistische Kollegin Sunny bei ihren Tieren bleiben kann. Ohne Schwung oder Reiz geht es mehr und mehr bergab mit der Befindlichkeit der Figuren - wohlgemerkt nicht Menschen - und dem Interesse der Zuschauer. Wie heißt es in einem der zahllosen Kalendersprüche, welche die eigentlich klüger Sandra Nettelbeck verbreitet? „Die Welt ist klein und die Probleme groß." Abgesehen von grammatikalischen Problemen in diesem Satz, stellt er seinen eigenen Film bloß. In dem ist alles klein. Das ist Stoff fürs ZDF am frühen Montagabend mit viel Überlänge.

7.11.18

In My Room

BRD, Italien 2018 Regie: Ulrich Köhler, mit Hans Löw, Elena Radonicich 120 Min. FSK ab 12

Kameramann Armin scheitert beruflich und auch privat steht es um den alternden Single nicht bestens. Als er in der ostwestfälischen Heimat die sterbende Oma besucht, wird der isolierte Mann plötzlich richtig einsam: Um ihn herum verschwanden plötzlich alle Menschen. Köhlers Drama eines vereinsamten Großstadt-Menschen wechselt zu einem postapokalyptischen Endzeit-Film in westeuropäischer Kulisse. Mit Gewehr, Pferd und Hund zieht Armin in die Natur, aber irgendwann taucht ausgerechnet eine Frau als weitere Überlebende auf. Ulrich Köhler hat sich mit „Schlafkrankheit", „Montag kommen die Fenster" und „Bungalow" den Ruf erarbeitet, tief gehende Befindlichkeiten moderner Menschen in ungewöhnlichen Situationen zu entdecken. Nun stellt er Zivilisation und „Freiheit" gegenüber, erlaubt einen utopischen Neuanfang, doch selbst für die letzten Menschen auf dieser Erde ist das Zusammenleben als Mann und Frau schwierig. Der ungewöhnliche Film reizt mit anderen Ideen und gutem Schauspiel.

Leto

Russland, Frankreich 2018 Regie: Kirill Serebrennikow, mit Roma Zver, Irina Starshenbaum, Teo Yoo 129 Min. FSK ab 12

68er-Feeling, Flower Power und Freie Liebe gab es auch im Osten, wie dieses atmosphärisch und ästhetisch begeisternde Meisterwerk von Kirill Serebrennikow („Der die Zeichen liest") beweist, der in seiner Heimat noch immer unter Hausarrest steht. Der großartige Musikfilm um die russische Kultband Kino spielt in einem Sommer (russ.: Leto) der frühen Achtziger in Leningrad.

Iggy Pop, Blondie, David Bowie und Talking Heads sind die von der Obrigkeit nicht gern gesehenen Idole aus dem Osten. Natascha ist mit dem bekannten Underground-Musiker Mike zusammen, aber von dem jungen Viktor Zoi begeistert, der gerade die Rockband Kino gründet. Die leidenschaftliche und verrückte Handlung basiert auf der wahren Geschichte der legendären russischem Rockband Kino und den Memoiren dieser Natasha, die in Wirklichkeit Natalia Naumenko heißt. Ein klasse Cover von „Psycho Killer" begeistert mit einer genialen Videoclip-Bildbearbeitung. Das „The Passenger"-Cover wird von den Passagieren der Straßenbahn interpretiert. Das ist Filmkunst von heute, aus der einen Lebenslust und Energie anspringt. Die Brutalitäten der anständigen Arbeiter begeistern in solcher Darstellung ebenso wie Lebenslust und originelle Rebellion, die ein Vorahnung von Glasnost sind. Das Schwarzweiß mit seltenen, aber umso stärkeren Farbsprengseln macht als Musikfilm mit bekannten Hits aus dem Westen viel Spaß und zeigt im fortwährenden Spiel mit dem Fiktionalen ein spannendes Stück Zeitgeschichte. „Leto" lief im diesjährigen Wettbewerb von Cannes und ist im Kino einer der sehenswertesten Filme des Jahres.

6.11.18

Nur ein kleiner Gefallen

USA 2018 (A simple favor) Regie: Paul Feig, mit Anna Kendrick, Blake Lively 117 Min. FSK ab 12

Was passiert, wenn eine hyperaktive und schwer erträglich spießige Helikopter-Mutter auf eine heiße Killerin trifft? Es kommt ein Film mit viel Stil, noch mehr Überraschungen und gemischten Gefühlen heraus. Die sind auf dem Theater erwünscht, aber im Genre der spaßigen Psycho-Thriller hängen sie wie der Rest zwischen den Stühlen.

Bloggerin Stephanie (Anna Kendrick) langweilt mit ihren Haushalts-Tipps auf „Hi Moms!" nicht allzu viele Zuschauer. Bis sie vom Verschwinden ihrer ganz neuen Freundin, der extravaganten Mode-PR-Chefin Emily (Blake Lively) erzählt. Ein graues Mäuschen mit Streberin-Gen darf ins perfekt gestylte Leben einer souveränen Problemlöserin eintreten. Was die lässige Zynikerin am Naivchen findet, bleibt unklar. Doch wie Emily unterschätzen auch wir Stephanie. Die findet nämlich das Geheimnis der bald tot in einem See auftauchenden Freundin heraus. Und übernimmt nebenbei deren Ehemann, Wohnung und Kleiderschrank. Polizei und Witwer spielen nur eine Nebenrolle im folgenden Zicken-Krieg. Wie der möglich ist, obwohl Emily doch tot war, gehört zu den vielen Wendungen, die „Nur ein kleiner Gefallen" den Schwung erhalten.

Anna Kendrick („Pitch Perfect") steht eine Weile unter Verdacht von etwas mehr Tiefe unter der gähnend stillen Oberfläche, bleibt aber eine langweilige Figur. Den Twist einer unauffälligen Psychopathin gönnt uns Erfolgs-Regisseur Paul Feig („Spy: Susan Cooper Undercover", „Brautalarm") nicht, das wäre vielleicht auch zu verstörend für die Zielgruppe. Blake Lively („Für immer Adaline") spielt mehrere Gesichter mit Verve aus, doch die tödliche Blonde muss in solch einem Film am Ende wieder verlieren. Und mit ihr die Hoffnung auf mal andere Unterhaltung unter glatter Hollywood-Oberfläche. Diesen Gefallen tut uns der Film nicht. Denn an Hitchcock denkt man hier nur ebenso kurz wie an schwarzen Humor.

5.11.18

Aufbruch zum Mond

USA 2018 (First man) Regie: Damien Chazelle mit Ryan Gosling, Jason Clarke, Claire Foy 142 Min. FSK ab 12

Ein kleiner Schritt für die Filmgeschichte und nichts ganz Großes fürs Kino: Nach „Whiplash" und „La La Land" schießt Damien Chazelle seinen Lieblings-Schauspieler Ryan Gosling als Neil Armstrong auf den Mond.

„Huston, wir haben ein Problem!" Nicht nur eines, sondern richtig viele hatte das amerikanische Raumfahrtprogramms zwischen 1961 und 1969, wo es mit dem ersten Menschen auf dem Mond endlich die Sowjets überholen konnte. Viele Probleme hat auch Neil Armstrong (Ryan Gosling). Nicht nur die dramatische Notlandung mit einem Flugzeug zu Anfang des Films. Da ist er nur einer der Ingenieure und Astronauten im NASA-Team. Und seine kleine Tochter stirbt bald an einem Hirntumor. „Aufbruch zum Mond" ignoriert im Titel die Doppel-Erzählung aus sehr privater und Welt-Geschichte.

Denn der legendäre Neil Armstrong ist, basierend auf der offiziellen Biografie von Historiker James R. Hansen, ein zurückhaltender, stiller Denker, dem eine kleine Tochter und viele Kollegen verstarben. Ein bis zur Ehekrise verschlossener Mann. Idealerweise besetzt durch Schweiger Ryan Gosling, den Regisseur Damien Chazelle schon in „La La Land" vortanzen ließ. Und mehr bedröppelt schauend als sprechend, vielleicht das Beste, was man aus diesem wirklich nicht sehr flexiblen Darsteller rausholen kann.

Immer wieder übernimmt die Kamera Armstrongs subjektive Perspektive, um extreme Beschleunigungen, Geschwindigkeiten und Belastungen zu vermitteln. Das metallische Quietschen beim Start könnte an einer Autopresse vom Schrottplatz aufgenommen sein. In die All-Ruhe danach schneidet Chazelle das Miterleben der Familie auf der Erde, bevor ein weiteres Problem für Spannung und Hektik sorgt. Zu viel Schub schoss Gemini 8 beim Testflug am Ziel vorbei. Armstrong berechnet in der Raumkapsel selbst auf Papier die Richtungs-Korrektur. Zum Erfolg erklingt ein Walzer als Zitat zu Kubriks „2001". Dann noch ein Problem, nicht für Huston, sondern für die Besatzung. Atemberaubend dabei nicht nur die Situation der rasend rotierenden Kapsel - auch die wahnsinnig schnellen Bildfolgen machen schwindelig und werden Filmseminaren abheben lassen.

Solche Montagen sind ungewöhnliche Ansätze und zeigen das Können des Regisseurs. Wie schon bei der Hommage des Tanzfilms in „La La Land" lässt sich auch Chazelles Raumflug wieder als Mischung aus altmodisch und avanciert sehen. Die chronologische Erzählung ohne Rückblenden wirkt einfach, die Ausführung im Detail ist große Kunst mit kleinen mutigen Details. Am Ende fragt man sich aber, an welchem Ziel der Film eigentlich vorbei gesteuert ist. „Aufbruch zum Mond" kann man nicht mal vorwerfen, die wieder bedrohliche Unsitte Patriotismus anzufeuern. Mehr als Heldengeschichte zeigt Chazelle die Geschichte des stillen Mannes.

Das eigentliche Ereignis mit dem Lande-Countdown wird in nur zwanzig heroischen Minuten abgespult, das klassische Film-Orchester darf da endlich mal in die Vollen gehen, bis zum anderen historischen Satz „The Eagle has landed". Der große Schritt für die Menschheit erfolgt dann wieder in stärker beeindruckender Stille. Nur der Atem mit Dosenklang begleitet Armstrong auf den Mond. Dann „Boxenfunk" mit praktischen Vorgängen bis „der" Satz endlich kommt: „Ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein großer für die Menschheit." Wobei die Parallel-Montage suggeriert, dass Armstrong hier und jetzt endlich mal an glückliche Tage mit seiner an einem Hirntumor verstorbenen Tochter denkt. Das menschliche Leid ist also größer, als solche aus dem Kalten Krieg geborenen, verschwenderischen Himmelfahrts-Aktionen. Fast ein Antiklimax, der an die Kritik von „Broken Circle" an anti-aufklärerischer (Gesundheits-) Politik denken lässt. Es sind solche ungewöhnlichen Perspektiven, die Chazelles neuen Film auch interessant machen.