28.8.19

Frau Stern

BRD 2018 Regie: Anatol Schuster, mit Ahuva Sommerfeld, Kara Schröder, Nirit Sommerfeld 82 Min. FSK ab 12

Der mit Abstand sympathischste Film dieser Kinowoche kommt ganz ohne Pathos und Tamtam aus. Ja, geradezu explizit verweigert sich die 90-jährige Jüdin Frau Stern dem Pathos als sie ein TV-Talker auf den Holocaust reduzieren will. „Frau Stern" ist ein wunderbares Porträt mit dokumentarischen Einsprengseln der nach den Dreharbeiten verstorbenen Protagonistin Ahuva Sommerfeld.

Die Antwort kommt trocken und cool: Wenn ihr der Arzt nicht helfen kann, sich umzubringen, dann hilft sie sich selbst. Und zündet sich erst mal wieder eine Zigarette an. Frau Stern ist 90, eine zierliche, leicht gebeugte Gestalt bei bester Gesundheit und klarstem Verstand unter dem schlohweißen Haar. Und wünscht sich einen „schnellen Abgang". Sie steht mitten im Leben, sucht sie in ihrer Stammkneipe sie Rat und in ihrem Berliner Viertel eine Waffe. Die Idee, erst mal einen Schießkurs zu machen, um sich dann mit einer Knarre umzubringen, findet sie absurd. Aber weder die sehr lebenslustige Enkelin, noch der schöne, junge Friseur, der auch ihr Dealer ist, können mit einer Waffe aushelfen. Schließlich nimmt Frau Stern irgendwelchen albernen Hipster-Einbrechern deren Pistole ab.

Aus ungewöhnlicher Perspektive zeigt „Frau Stern" ein wunderschönes Porträt dieser „verrückten Bande", mit der sich die ruppige Seniorin umgibt. Dazu gibt es die jüdische Familie in Berlin mit erweitertem Bekanntenkreis, zu dem auch der jüdische Dealer gehört. Spielerisch und sehr nett sind die Konzerte von Tochter und Enkelin mit ganz unterschiedlicher Musik eingeflochten.

Die echte und Film-Tochter, die Klezmer-Sängerin und Aktivistin Nirit Sommerfeld, war Ausgangspunkt dieses beglückenden Films. Über ihre Bekanntschaft zu Regisseur Anatol Schuster und Kameramann Adrian Campean wurde um Ahuva Sommerfeld ihre teilweise fiktive Geschichte entwickelt. Es wurde ein wunderbares Porträt von Lebensfreude, Eigensinnigkeit und Frauen-Power.

27.8.19

Late Night

USA 2019 Regie: Nisha Ganatra, mit Emma Thompson, Mindy Kaling, John Lithgow, Reid Scott, Hugh Dancy 102 Min.

Die Bewegung #metoo entstand in Hollywood. Da ist es eine interessante Volte, die nicht mehr ganz erfolgreiche us-amerikanische Late Night-Talkerin Katherine Newbury ihrerseits über eine Affäre mit einem jüngeren, abhängig Beschäftigten stolpern zu lassen. Neben dem Vorführen eines sexistischen und rassistischen Medienbetriebes unterhält der anfangs bissige „Late Night" vor allem mit Emma Thompson in Rolle eines zynischen Medien-Profis.

Seit über 30 Jahren steht die Britin Katherine (Emma Thompson) vor den Kameras der Talkshow „Tonight with Katherine Newbury". Weshalb, das lässt sich kaum noch erahnen. Vielleicht weil sie unverrückbar auf Qualität und auf Intelligenz wert legt. „Unverrückbar" wird jedoch gefährlich, wenn es eine Unfähigkeit einschließt, mit sozialen Medien umzugehen.

Eher aus Publicity-Gründen stellt Frauen-Hasserin Katherine mit der unerfahrenen Quereinsteigerin Molly (Mindy Kaling) die erste Frau für ihr Autorenteam ein. Ein Team von arroganten weißen Männern, das die Frauentoilette für ihr großes Geschäft nutzt - weil ja hier nie eine Frau gearbeitet hat. Doch Katherine ist die Königin dieser hoch-toxischen Arbeitsumgebung: Sie nummeriert diese Truppe sexistischer und rückständiger Speichellecker durch, weil sie sich die Namen nicht merken will. Durch Molly kommt echtes Leben in diese Bude, während die Sendung eigentlich schon durch die Konzern-Chefin abgesetzt wurde.

Katherine Newbury, diese geadelte Britin, ist zu intelligent für diese Welt und vor allem für us-amerikanisches Fernsehen. Wenn man / frau keine Ahnung von sozialen Medien hat, verliert man allerdings das Publikum, das keine Ahnung von haufenweise Emmys und Golden Globes hat. Wie die privilegierte weiße Frau die Herzen der Menschen gewinnt, auch die jüngerer und anderer Hautfarbe, ist der Hintergrund einer Karriere-Komödie im gekonnt modernisierten Stile von "Die Waffen der Frauen" („Working Girl", 1988). Das Drehbuch schrieb die amerikanische Stand-Up- und Fernsehkomikerin Mindy Kaling, die auch ko-produzierte und die zweite Hauptrolle der Molly spielt. Von ihr kommen das echte Leben, die treffenden Sätze und das überzeugende Sentiment der Geschichte.

Nach Katherines Canossa-Gang auf High Heels in eines der weniger attraktiven Viertel der Stadt, in dem die mehrfach geschasste Quoten-Autorin Molly lebt, bekommt „Late Night" zu einfach ein Happy End aus Hollywood, Nach einer bösen Darstellung übler Verhältnisse in der Medien-Welt wird die Hoffnung auf eine bittere Satire mit doppeltem Boden enttäuscht. Katherine ändert sie sich wirklich, ihr Zynismus ist verflogen. Das macht die Komödie netter und sicher erfolgreicher, aber auch gewöhnlicher.

26.8.19

Die Agentin

Israel, BRD, USA, Frankreich 2019 (The Operative) Regie: Yuval Adler, mit Diane Kruger, Martin Freeman, Cas Anvar 117 Min. FSK ab 16

Eine israelische Agentin, die in Teheran ein iranisches Atomprogramm sabotieren soll, aber dann aus enttäuschtem Idealismus eigene Wege geht. Die Verfilmung des israelischen Romans „The English Teacher" von Yiftach Reicher Atir, einem ehemaligen israelischen Geheimdienstmitarbeiter, scheint ein toller Stoff für eine so vielseitige Schauspielerin wie Diane Kruger. Sie könnte ihre eindrucksvolle Charakterzeichnung von Fatih Akins „Aus dem Nichts" fortführen. Doch Regisseur Yuval Adler will in seinem zweiten Mossad-kritischen Film nach „Bethlehem" neben dem reizvollen Psychogram der Agentin auch einen Thriller inszenieren. Das gelingt nur selten und verwässert mit platten Genre-Elementen die psychologische Erzählung.

Thomas Hirsch (Martin Freeman), ein Mossad-Kontaktmann, wird in einer panischen Aktion aus dem Ruhestand zurückgeholt. Denn seine ehemalige Agentin Rachel (Diane Kruger) ist untergetaucht. Er selbst erhielt einen kryptischen Anruf von ihr. In einer verschachtelten Montage unterschiedlicher Zeitebenen wird Rachels Anwerbung, ihr lebensgefährlicher Job in Teheran und die langsame Entfremdung von einem gnadenlosen und menschenverachtenden Geheimdienst ohne Ideale erzählt. Thomas und Rachel hatten immer ein besonders enges Verhältnis, unausgesprochen teilten sie eine kritische Haltung zum eigenen Tun. Jetzt muss er sie schnell finden, denn es ist schon ein Killer vom Mossad auf sie angesetzt.

„Die Agentin" ist deutlich als Demontage schmutziger Geheimdienste und als Anklage gegen den Tod von Unschuldigen angelegt. Doch trotz der eindrucksvollen Darstellung der Geheimdienst-Aussteigerin durch Diane Kruger verläuft der Film meist wenig spannend, kann bis auf wenige Szenen nicht mitreißen oder schockieren. Martin Freeman hat etwas Probleme, sich von seinem mütterlich besorgten Watson-Blick aus „Sherlock" zu lösen, vermag aber auch härtere Seiten zu zeigen. Letztlich bleibt Rachels Motiv ein Geheimnis, doch auch das offene Ende ist nur ein interessanter Teil eines nicht überzeugenden Ganzen.

Angel has fallen

USA 2019 Regie: Ric Roman Waugh, mit Gerard Butler, Morgan Freeman, Jada Pinkett Smith, Nick Nolte 121 Min. FSK ab 16

Der dritte Teil der „Fallen"-Reihe ist mit Abstand das schlechteste in einem nicht besonders avancierten Konzept. Mike Banning (Gerard Butler), Personenschützer des US-Präsidenten, ist längst reif für den Ruhestand, aber will das nicht wahrhaben. Gerade als Präsident Trumbull (Morgan Freeman) Mike beim Angeln seine Beförderung ausspricht, kommen Schwächeanfall und die futuristische Attacke eines ganzen Schwarms von Kamikaze-Drohnen zusammen. Das Massaker unter den Sicherheitsleuten überleben nur Trumbull und Mike. Der wird prompt verdächtigt, flieht, muss die Verschwörer enttarnen und seine Unschuld beweisen.

Ziemlich viel „wie gehabt", die Handlung von „Angel has fallen" ist längst reif für den Ruhestand. Es gibt nur noch hirnlose Schiessereien, ohne jede Bemühung, diese tödliche Routine irgendwie neu oder interessant zu gestalten. Die üblichen Verdächtigen sind direkt zu erkennen. Tipp: Was machen Sicherheitsleute, wenn sie zu wenig verdienen? Alles unsicher. Ja, „Thema" sind Privat-Armeen wie die berüchtigte US-Söldnerfirma Blackwater. Irgendwie - wie auch die Relativitätstheorie, denn es kommen auch Atome im Film vor.

Mike wird jedenfalls nach sehr unwahrscheinlichen Fluchten direkt von einer schießwütigen Bevölkerung gejagt. So ist „Angel has fallen" nur noch dumme Baller-Routine, mit erschreckendem Maß an ermordeten Leuten und für Action-Krach verschwendeter Zeit. Gerard Butler zeigt sich hier wenig von seiner lächerlichen Witzfigur im Ledertanga aus „300" weiter entwickelt. Ein kurzer Auftritt von Nick Nolte als Mikes Vater bringt schauspielerische und sonstige Substanz, die der Film ansonsten schmerzlich vermissen lässt.

25.8.19

Playmobil - Der Film

Frankreich, BRD 2019 (Playmobil - The Movie) Regie: Lino DiSalvo 100 Min. FSK ab 0

Schon beim „Lego Movie" erwartete man das Schlimmste. Doch der war richtig gut und umwerfend komisch. Nun werden alle Erwartungen erfüllt: der „Playmobil"-Film ist richtig schlimm. Während beim Lego-Film die Abenteuer des Bauarbeiters Emmet wie selbstverständlich abliefen und diese - digital perfekt animierte - Welt einfach als gegeben angesehen wurde, wird bei Playmobil ausführlich eine Rahmen-Geschichte konstruiert werden. Und die ist keineswegs originell: Das ganze Familien-Gedöns um zwei arme Waisenkinder, die den Verlust der Eltern verarbeiten müssen, stört eigentlich nur. Denn es ist klar, dass Marla und ihr jüngerer Bruder Charlie in ein animiertes Playmobil-Museum eingesaugt werden.

Und, einmal hier angekommen, nach ein paar Problemen mit den unbeugsamen Armen und Beinen, fällt dem Film nichts anderes ein als eine Schlacht. Dabei ist der kleine Charlie ein tapferer Wikinger und Marla ist ... Marla. Wenn das nicht bald eine Sexismus-Stelle verbietet!

Die Sache mit den Armen und Beinen erledigt sich übrigens nach ein paar Minuten: Plötzlich lassen sie sich doch ganz normal bewegen, also nicht mehr steif wie bei den echten Playmobil-Figuren. Steif und mühsam stolpert nun allerdings die Handlung von einer Welt, sprich: Verkaufskarton, in die nächste Werbeeinblendung. Western, Jurassic Parc, römisches Kolosseum. Hektisches Rennen und Schreien sind Hauptbestandteile dieser filmischen Katastrophe. Wenn man sich so richtig veralbert fühlt, fangen die Figürchen auch noch an zu singen. Ein paar Film-Genres werden durchgespielt, dabei gibt es so gut wie keine Entwicklung der Figuren. Vor allen Dingen in den Texten zeigt sich, dass der Playmobil-Film im Vergleich zur Lego-Konkurrenz um den Faktor 5-10 reduziert ist: Weniger witzig, viel weniger geistreich, keine Pop-Zitate ... Das Ganze sollte als Plastik-Müll schnell im Gelben Sack entsorgt werden.

Mein Lotta-Leben - Alles Bingo mit Flamingo!

BRD 2019 Regie: Neele Leana Vollmar, Meggy Hussong, Yola Streese, Laura Tonke, Oliver Mommsen, Carolin Kebeku 94 Min. FSK ab 0

Ganz schon wild geht es zuhause her bei Lotta Petermann (Meggy Hussong): Mama Sabine (Laura Tonke) kocht am liebsten Ayurdingsbums, Papa Rainer (Oliver Mommsen) ist eifersüchtig auf den Guru Heiner Krishna (Milan Peschel) und Lottas Blöd-Brüder (Lenny und Marlow Kullmann) nerven den ganzen Tag. Aber zusammen mit ihrer besten Freundin Cheyenne (Yola Streese) und dem nerdigen Paul (Levi Kazmaier) tritt Lotta in der Schule gegen die eingebildeten (G)Lämmer-Girls an. Denn bei deren Anführerin gibt es eine Party, auf die Lotta und Cheyenne niemals gehen würden. Doch eine Einladung hätten sie schon gerne...

Nach der Kinderbuchreihe „Mein Lotta-Leben" von Autorin Alice Pantermüller und Illustratorin Daniela Kohl erzählt der gleichnamige Film eine kleine, nette Geschichte, mehr nicht. In Zeiten von digitalen Traumwelten und allen erdenklichen Fantasien gewinnen die bodenständigen Figuren um Lotta schnell Sympathien. Das Natürliche und Widererkennbare bringt aber auch die Gefahr mit sich, dass diese Kinder wenig reizvoll sind. Das fällt auf, wenn überzogene Charaktere wie Comedy-Star Carolin Kebekus als Klassenlehrerin Frau Kackert für frechen Spaß sorgen.

Die „lockere" Handkamera, die Krickel-Zeichnungen auf dem Bild (siehe Snapchat-Filter) oder die Ansagen in die Kamera - das ist anfangs witziger Firlefanz, der äußerlich bleibt, weil die Handlung nicht gleichartig „flippig" daherkommt. Hier ist selbst bei der Regisseurin von „Rico, Oskar und die Tieferschatten" und „Rico, Oskar und der Diebstahlstein", Neele Leana Vollmar, alles wie gehabt: Die Außenseiter an der Schule müssen sich gegen die mobbende, selbsternannte Elite durchsetzen. Die Freundschaft wird durch Verführungen von der Glammer-Seite des Schullebens auf die Probe gestellt. Kann man sehen, aber auch im Fernsehen.

22.8.19

Little Monsters (2019)

USA 2019 Australien, Großbritannien Regie: Abe Forsythe, Lupita Nyong'o, Alexander England, Josh Gad 94 Min.

Obwohl sich alles in diesem Film um einen Haufen Kinder dreht, ist er sogar für ältere Kinder so ungeeignet wie seine Hauptfigur. Dave (Alexander England) landet nach einer Trennung auf der Couch seiner Schwester. Und erweist sich als immanente Gefahr für deren kleinen Sohn Felix. Denn der mürrische Onkel ist verantwortungslos, asozial, flucht und versagt selbst als Heavy-Metal-Gitarrist. Schon Daves Gesicht wirkt derart mies gelaunt, dass man anfangs eine Deformation vermutet. Aber es klärt sich im Verlauf des Filmes wunderbar auf.

Dave ist allerdings nicht der übliche Held. Beim Ausflug von Felix' Kindergartengruppe meldet er sich nur wegen der äußerst netten Miss Caroline (Lupita Nyong'o) als Begleiter. Und dann entlaufen dem Militär die Zombies. Es spritzt Blut und Gedärme hängen raus. Ja, dies ist ein Kindergarten-Ausflug, aber kein Kinderkram oder Ponyhof. Der Streichelzoo wird zur Schlachtplatte für blutrünstige Untote, die überall rumlaufen. Und mittendrin eine niedliche Kindergarten-Gruppe, die von Miss Caroline tapfer bei Laune gehalten wird. Unter anderem mit Taylor Swifts „Shake it off" auf der Ukulele. Oscar-Preisträgerin Lupita Nyong'o („Wir" 2019, „Black Panther" 2018, „Star Wars: Die letzten Jedi" 2017, „12 Years a Slave" 2013) ist die große Attraktion dieses kleinen Films.

Es gibt eine gute Portion Humor in der Zombie-Komödie „Little Monsters", aber der „Gore", das drastische Zerfleischen und das Rumgrunzen zerfetzter Körper, ist dem Film mindestens eben so wichtig. Selbst wenn irgendwann Rührung einsetzt - jemand, der seinen kleinen Neffen nachts entführt, ihn als Darth Vader verkleidet, um eine Liebeserklärung zu inszenieren, kann nicht ganz weich werden. Liebliche Kinderunterhaltung a la Disney bekommt eine Breitseite in der Figur des extrem beliebten Kinder-Entertainers Teddy McGiggle (Josh Gad). Der erweist sich als richtig egoistisches und perverses Ekel. Während Dave irgendwann auch auf der Ukulele „Sweet Caroline" von Neil Diamond trällert.

Als Zombie-Spaß erinnert „Little Monsters" an die Schul-Variante „Anna und die Apokalypse". Was alles weit entfernt bleibt vom wirklich bissigen sozialkritischen Ansatz richtiger Zombie-Klassiker von Romero & Co. Die Ausführung von Abe Forsythe hängt irgendwo zwischen charmant einfach und sehr einfach. Ist aber sogar noch beim finalen Kuss vor großer Bombenexplosion richtig böse, wenn der General sagt: „Ich kann nicht auf Kinder schießen ... schon wieder."

21.8.19

Das zweite Leben des Monsieur Alain

Frankreich 2018 (Un homme pressé) Regie: Hervé Mimran, mit Fabrice Luchini, Leila Bekhti, Rebecca Marder 100 Min.

Die eigene Tochter muss sich einen Termin bei der Chefsekretärin erschleichen, um mit ihm sprechen zu können. Ja, Alain Wapler (Fabrice Luchini) ist ein viel beschäftigter Manager. Lächelnd zieht er knallhart seine Visionen durch, zwingt seinen Chef, beim nächsten Automobilsalon das neue, 100-prozentige Elektroauto anzukündigen. Und er sagt niemals Danke.

Nach einem Schlaganfall wacht Alain im Krankenhaus auf und lallt nur noch Unverständliches. Ausgerechnet er, der in der Jury eines Rhetorikwettbewerbs saß, kann sich nur noch schwer verständlich machen. Der Kauderwelsch, der aus ihm rausströmt, ist sogar lustig - das darf sich der Film wahrscheinlich erlauben, weil Alain vorher so ein Ekel war. Später verwechselt er Worte: „Alle meine Tantchen schwimmen auf dem Tee, Zöpfchen in das Hasser..." wäre seine Version des Kinderliedes. Bei den verdrehten Silben kommt Rübo statt Büro raus, Rakete statt Karate, Sekundengeizer, Tervrauen und wo seiter. (Hier ist mal die sehr einfallsreiche Arbeit der Untertitel zu loben.)

Die Logopädin Jeanne (Leïla Bekhti) nennt er Psychopathin, aber verlangt mit seiner herrischen Art trotzdem Ihre Hilfe. Und wenn die Haushälterin reichlich schief „Papaoutai" von Stromae singt, weiß man, dass auch das Verhältnis zur Tochter Thema wird. Wenn schließlich eine weibliche Version des Songs „Father and Son" von Cat Stevens erklingt, ist fast alles wieder gut.

„Das zweite Leben des Monsieur Alain" ist eine eher komische als dramatische Rehabilitation von Schlaganfall und folgender Aphasie. Die Geschichte basiert auf der Autobiografie des Ex-Konzernmanagers Christian Streiff (Airbus und PSA Peugeot Citroën). Es ist eine eigentlich etwas dünne Geschichte von der Menschwerdung eines Managers, eines gehetztes Mannes, wie der Originaltitel sagt. Aber sie gerät durch die hervorragenden Darsteller ansehnlich, nett und sogar rührend. Dem exzellente Fabrice Luchini gelingt es, die witzigen Sprachverdreher durchzuziehen, ohne sich lächerlich zu machen.

Paranza - Der Clan der Kinder

Italien 2019 (La Paranza dei Bambini) Regie: Claudio Giovannesi, mit Francesco Di Napoli, Viviana Aprea, Valentina Vannino 112 Min. FSK ab 16

Der 15-jährige Nicola (Francesco Di Napoli) sagt, er wäre nie gut im Fußball gewesen. Also bleibt ihm in Napoli nichts anderes übrig, als Verbrecher zu werden. So die Logik in diesem jugendlichen „Es war einmal in Napoli". Der Film basiert auf dem Roman „La Paranza dei Bambini" („Der Clan der Kinder") des italienischen Autors Roberto Saviano, der 2006 durch „Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra" weltberühmt wurde.

Nicola hat ein Engelsgesicht, hinter dem sich der Wille zum Aufstieg verbirgt. Klug und aufmerksam dient er sich den alten Bossen an. Hier bedeutet Tradition das Morden, Erpressen, Drogenverkaufen durch eingesessene Camorra-Familien. Als der Clan, der Nicolas Viertel kontrolliert, verhaftet wird, übernimmt der Junge mit seinen Freunden und einem Gleichaltrigen aus einer entmachteten Familie die Geschäfte. Von den täglichen 20 Euro für einen Straßenstand bis zum Haschverkauf auf dem Campus. Dafür sollten mit den neu erworbenen Waffen nur ein paar Schüsse vor die Füße der alten Garde nötig sein. Bald folgt der erste Mord.

Wenn die erschreckend junge Gang auf ihren Motorroller durch die engen Gassen der Stadt rollt, hat das in der Regie von Claudio Giovannesi auch eine mitreißende Dynamik. Die Nähe zu den Protagonisten soll vielleicht die Verführung durch tatsächlich ziemlich schäbige Konsumgüter vermitteln. Nicola spielt sich bald als Wohltäter des Viertels auf und besorgt sich Möbel im gleichen geschmacklosen, vergoldeten Stil wie die verehrten Dons, die Schwerverbrecher. Mittlerweile koksen die Jugendlichen selbst und feiern mit Prostituierten. Doch viel schneller als der Aufstieg, der letztlich nur eine Episode war, erfolgt die mörderische Eskalation im nächsten Bandenkampf mit immer jüngeren Beteiligten.

Roberto Saviano schrieb am Drehbuch mit und war auch als Produzent dabei. Bei der diesjährigen Berlinale erhielt er den Silbernen Bären für das Beste Drehbuch. Wie schon bei „Gomorrha" aus dem gleichen Milieu, entstand „Paranza" mit jungen Laiendarstellern aus Neapel. Dabei gibt der sehr eindrucksvolle Hauptdarsteller Francesco Di Napoli seiner Figur enormes Selbstvertrauen, selbst wenn sie sich vor einem Paten ausziehen muss. Er hat mächtige Eier, so etwas würden sie da unten sagen.

Insgesamt erzählt „Paranza" eine sehr klischeebeladene Geschichte. Aber es wäre auch albern, die Jungs als Erfinder des Kreislaufs von Verbrechen und Gewalt zeigen zu wollen. Diese distanzlose Darstellung ergibt, im Gegensatz zum kunstvolleren und stärkeren Sozialrealismus von Matteo Garrone bei „Gomorrha", im besten Falle ein erschreckende Realität, die oberflächlich mit dem Glanz des Gangster-Films verkauft wird.

20.8.19

I am Mother

Australien 2019 Regie: Grant Sputore, mit Hilary Swank, Rose Byrne, Clara Rugaard 114 Min. FSK ab 12

Das „Was wäre wenn" des Science Fiction gelingt selten so packend und intensiv wie in dem Gedankenspiel-Film „I am Mother". Im modernen Duell zwischen Künstlicher Intelligenz und menschlichem Wesen erzählt dieser kammerspiel-artige Zukunfts-Thriller eine raffiniert neue Variante. Obwohl die Parameter eher gegensätzlich gesetzt sind, ist „I am Mother" im Stil dem ebenfalls außergewöhnlichen „Ex Machina" (2015) von Alex Garland und mit Alicia Vikander sehr ähnlich.

Die Geburt eines Kindes ist etwas Besonderes - hier allerdings als Hightech-Vorgang vom in Massen gelagerten Embryos bis zur gläsernen Gebärmutter in Form einer Glaskugel. Alles kontrolliert von „Mother", also Mutter. Einem Roboter mit einem Auge wie ein alter iPod-Knopf, der sich für die menschliche Wärme bei der Aufzucht des Babys Wärmematten umschnallt.

So wächst „Tochter" (Clara Rugaard) bis ins Teenager-Alter auf. Es gibt strenge Schulzeiten und -Prüfungen. Als Geburtstags-Geschenke neue Lieblings-Pyjamas und immer die Drohung vor einer völlig verseuchten Außenwelt. Denn „I am Mother" spielt größtenteils in einem riesigen, abgekapselten Hochsicherheitsbunker. Hier ist alles auf die Entwicklung vieler Menschen durch viele Roboter angelegt. Doch seltsamerweise gibt es nur eine „Mutter" und eine „Tochter". Was diese als Teenager mit natürlicher Abkapselungs-Tendenz auch seltsam findet. Die Zweifel an der Allmacht und der Allwissendheit von „Mutter" wachsen, als an der Schleuse zur angeblich unbelebten Außenwelt eine schwerverletzte Frau (Hilary Swank) auftaucht. Sie hat panische Angst vor Robotern und berichtet von einem verzweifelten Kampf der Menschen gegen die Maschinen.

Wie in den besten Science Fiction fasziniert schon das Produktions-Design von „I am Mother": Eine kühle, sterile Atmosphäre umgibt das ansonsten so vertraute Aufwachsen eines Kindes. Die Feinheit dieses Films besteht darin, dass der Roboter nicht nur mit Computerhilfe entstand. Die Spezialeffekts-Firma WETA Workshop („Avatar", „I, Robot", „Der Herr der Ringe") stellte einen speziellen Anzug her, der im Film von Luke Hawker getragen wurde. Die Stimme verlieh ihr im Original die Schauspielerin Rose Byrne („Peter Hase", „Juliet, Naked", „Plötzlich Familie").

Die immer spannender werdende Geschichte auf die Emanzipation eines Teenagers zu reduzieren, wäre viel zu kurz gegriffen. Vor allem in Hinsicht auf die äußerst raffinierten Wendungen im Finale. Man nähert sich vor dem Szenarium einer katastrophalen Entwicklung der Spezies Mensch der Entwicklung eines menschlichen Individuums von der nüchtern analysierenden Distanz einer Maschine her. Und diesmal kommt die Künstliche Intelligenz tatsächlich über das Klischee hinaus, wir Menschen seien ja so toll und erhaltenswert, weil wir so unperfekt sind.

Erstaunlich ist die Intensität, die der Film aus Schauspiel und Psychologie gewinnt. Hilary Swank („Million Dollar Baby", „Das Glück an meiner Seite", „Logan Lucky") ist gut wie immer. Die noch unbekannte Clara Rugaard („Good Favour", „Still Star Crossed") macht ihren Charakter glaubhaft, gerade weil sie anfangs so unscheinbar wirkt. Und „Mother" - tatsächlich ist diese Kreation mal wieder eine der reizvolleren im Universum der künstlichen Maschinen. Wie der ganze Film zusammen mit Klassikern wie „Blade Runner" und Neustartern wie „Ex Machina" im Genre unbedingt Beachtung verdient.

Stuber

USA 2019 Regie: Michael Dowse, mit Kumail Nanjiani, Dave Bautista 94 Min. FSK ab 12

Bei uns sind viele Organe des Staates auf dem rechten Auge blind, was nicht lustig ist. Wenn ein fast blinder, bulliger und blind-wütiger Polizist seine Rache mit Hilfe eines sehr sanftmütigen Uber-Chauffeurs durchziehen will, wird es stellenweise wieder witzig. Wobei der Komödiant hier eindeutig mehr (Uber-) Punkte macht, als der Ex-Wrester und der Rest des Films.

Nach einer Augen-OP sollte sich der grobschlächtige Polizist Vic Manning (Dave Bautista) eigentlich ausruhen. Doch gerade jetzt kommt ein Hinweis auf den Verbrecher, der seine Partnerin umgebracht hatte. Die Verfolgung geht im Slapstick-Stil schief, weil Vic so gut wie nichts sieht. Der auch digital-technisch an einen Neandertaler erinnernde Muskel-Mann hat aber gerade gelernt, wie man sich ein Uber-Taxi bestellt und erwischt als Chauffeur ausgerechnet den sehr smarten, aber eher ängstlichen und übervorsichtigen Stu (Kumail Nanjiani) mit seinem noch nicht abbezahlten Elekro-Auto. Man kann sich das Entsetzen des lispelnden Nerds beim ersten Kratzer vorstellen und auch, dass es das Auto nicht überleben wird, ist von vornherein klar.

Aber für die volle Punktzahl in der Uber-App macht Stu alles mit: Die Verfolgung einer Spur bis in einen schwulen Stripclub, die bewaffnete Aufsicht über einen Gefangenen, der erste Blutspuren ins Auto bringt, die Sichthilfe bei einer mörderischen Schießerei und selbstverständlich die Verfolgungsjagd, die das Elektroauto in einem Feuerball explodieren lässt.

So wird aus Stuart Stu, und letztlich völlig entpersönlicht St-Uber. Der Kern dieser Zwangslage könnte eigentlich ein richtiges Thema bei diesem Filmchen aus Klamauk und Action sein: Die Ausbeutung der prekären Scheinselbständigen in der neue digitalen Ökonomie von Uber, Lieferando und den Einsammlern von Elektro-Rollern sorgt im ganz normalen Leben gerade für Zwangslagen. Doch „Stuber" jetzt eine politische Ebene anzudichten, wäre überzogen.

Zu vermerken bleibt bei dem extrem vorhersehbaren und mit der dritten Reihe von so genannten Stars besetzten Scherzchen, wie der Komiker Kumail Nanjiani („The Big Sick") dem ehemaligen Wrestler Dave Bautista („Kickboxer - Die Vergeltung") den Schneid abkauft. Dank ihm ist „Stuber" tatsächlich auch in den Texten richtig witzig. Nur übernimmt leider die blindwütige Kampfmaschine immer wieder das Kommando - was zugegeben auch Thema ist.

Gloria (2019)

USA, Chile 2018 (Gloria Bell) Regie: Sebastián Lelio, mit Julianne Moore, John Turturro 102 Min. FSK ab 0

Grundsätzlich steht die Frage im Raum, weshalb man einen wunderbaren, perfekt gespielten Film wie „Gloria" (2012) vom chilenischen Regisseur Sebastián Lelio noch mal drehen muss. Hauptdarstellerin Paulina García wurde bei der Berlinale 2013 mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet. Aber das müssen wohl die Menschen beantworten, die sich nichts ansehen, was nicht mindestens fünf bekannte Gesichter und Geschichten enthält und auf jeden Fall synchronisiert ist.

Nun also das Gleiche noch einmal, interessanterweise vom gleichen chilenischen Regisseur - nur der Rest findet (nord-) amerikanisiert in Los Angeles statt: Gloria (Julianne Moore) ist Mitte Fünfzig, hat einen nicht richtig befriedigenden Job, etwas desinteressierte Kinder und sucht auf Single-Partys nach einem Mann. Der ebenfalls geschiedene Arnold (John Turturro) macht mächtig Eindruck mit Gedichten und mehr oder weniger romantischen Ausflügen zu seiner Paintball-Arena. Wären da nicht immer die Anrufe seiner fordernd hilfesuchenden, erwachsenen Kinder...

Interessanter als der übersichtliche Plot ist das Porträt dieser Gloria, die kaum merkbar etwas neben ihrem Leben steht. Vor allem beim Remake sind das Mitsingen simpler Hits („No more lonely nights", „Alone again naturally"), das Auftauchen einer fremden Katze in ihrer Wohnung, der Ärger mit einem wahnsinnigen Nachbarn und vor allem das Kümmern um die längst selbständige Tochter an der Grenze zur Lächerlichkeit angesiedelt. Ebenso wie die Rolle Arnolds.

Alles tönt deutlicher, wie für Menschen, die Brille und Hörgerät zuhause gelassen haben: Die Peinlichkeiten in der Yogaklasse, das nicht mehr beachtet werden vom eigenen Sohn. Dagegen war im Original Gloria einfach eine Frau, die wie selbstverständlich im Leben stand. Zwar gibt es die gleiche riesige Brille und die gleichen Augenprobleme, aber der Reiz, dahinter Feinheiten zu entdecken, erübrigt sich nun. Durch die Besetzung mit einem international bekannten Star wird banal, wie eine resolute, aber unscheinbare Frau im Rahmen ihrer Emanzipation aufblüht.

Julianne Moore ist auch als Gloria eine eindrucksvolle Schauspielerin. Wie sie 2012 in „Don Jon" von Joseph Gordon-Levitt allerdings eine sehr ähnliche Figur zum Leben brachte, war weitaus besser. Wenn man das eindeutig bessere Original kennt, fällt viel von dieser Entdeckung weg und der einst so faszinierende Film geriet erschreckend banal, ja gar geschwätzig.

17.8.19

Locarno 2019 Auf der Suche

Das erste Festival der neuen Locarno-Leiterin Lili Hinstin zeigte Vielfalt für Entdecker

Locarno. Heute Abend werden auf der Piazza Grande im Südschweizer Locarno die Preise des 72. Filmfestival von Locarno (7.-17.8.) verliehen. Wer unter den Wettbewerbsbeiträgen Favorit auf den Goldenen Leoparden ist, blieb bis Redaktionsschluss umstritten. Eine lebendige Vielfalt an Stilen, Regionen und Themen kennzeichnet diesen neuerlichen Re-Start des sich an vielen Stellen verjüngenden Events.

Arbeitssuche in Brasilien, Tänzerinnen in Paris, Folter in Nordafrika, eine seltsame Insel in Südkorea, ein singender Aussteiger in Portugal, ein wortloser im Norden Amerikas und Helikopter-Eltern in Deutschland - es ist eigentlich selbstverständlich, dass bei 17 Filmen in einem Wettbewerb eine kleine Weltreise zusammenkommt. Doch wenn die zwei, drei besonderen Filme ausbleiben, über die alle reden, bekommt diese Vielfalt viel Raum. Es bleibt für Locarno, wie für alle Festivals jenseits von Cannes und Venedig schwierig, ein durchgehend interessantes, ansprechendes und aussagekräftiges Wettbewerbs-Programm zusammen zu bekommen.

Herausragend war „The Last Black Man in San Francisco" (Regie: Joe Talbot) und passend zur Retrospektive „Black Light", die derart eilig vorgezogen wurde, dass es keinen Katalog gibt. Zwei gute Freunde aus der schwarzen Community versuchen, das enteignete Haus eines Großvaters wieder an sich zu bringen. Auf sehr naive und komische Weise. Weil noch ein weißes Pärchen darin wohnt, kommen sie von weit her wöchentlich vorbei, um Fenster zu streichen, den Garten aufzuräumen und sonst nach dem Rechten zu sehen. Die Geschichte um Gentrifizierung eines Viertels, das die schwarze Bevölkerung einst übernahm, als die Asiaten in Camps gesteckt wurden, ist quasi eine junge Hommage an Spike Lee. Großartig im Stil, wenn die Freunde zu zweit auf dem Skateboard durch San Francisco rollen, dabei am Wegesrand wunderbare Portraits von Menschen der Stadt aufnehmen.

Die meisten Schläfer in der Pressevorführung, aber auch viel Begeisterung sind für Pedro Costas „Vitalina Varela" zu vermelden, der Elends-Geschichte einer Frau, die nach Jahrzehnten auf den Kapverden nach Portugal zurückkehrt, um zu erfahren, dass ihr Mann vor drei Tagen gestorben ist. Die Reaktionen auf den deutschen Beitrag „Das freiwillige Jahr" von Ulrich Köhler und Henner Winckler reichten von positivem Interesse bis zur Abkanzelung als „kleinem Fernsehfilm".

Piazza Grande
„Notre-Dame" der französischen Schauspielerin, Regisseurin und Drehbuchautorin Valérie Donzelli gehörte zu den mehreren „netten" Filmen auf der Piazza, die des Vorgängers Chatrians Tendenz zu harter Action und lautem Hollywood ersetzt. Valérie Donzelli ist selbst Hauptdarstellerin in der Rolle einer Frau, die so sehr gefallen will, dass sie sich gar nichts (zu-) traut. Die in ihrem Architektur-Büro unterdrückte und auch sonst mäuschenhafte Maud, traut sich nicht mal ihren Ex-Mann aus dem Bett zu werfen. Durch einen märchenhaft vom Winde verwehten Architektur-Entwurf wird sie aber zur Siegerin eines 100 Millionen schweren Etats zu Umgestaltung des Vorplatzes von Notre Damme. Eine eitle Bürgermeisterin von Paris ist ihre größte Unterstützerin, doch als die 3D-Präsentation eine Metrostation in Form eines Riesen-Penis vor der Kirche entblößt, gerät das Leben der Architektin so richtig durcheinander. Was als sehr alberne Komödie beginnt, gewinnt durch freche Stilwechsel und durch die muntere Konjugation weiblicher Rollen.

Alles andere als nett dagegen der niederländische „Instinct" von Halina Reijn, einer der Filme, die im Katalog eine Warnung für empfindliche Gemüter bekamen. Während am Tag vorher eine Diskussion über #metoo lief, fällt in diesem atemberaubend packenden Film ausgerechnet der Satz, dass Frauen ja so viele Vergewaltigungs-Fantasien hätten - von einem mehrfachen und äußerst brutalen Vergewaltiger. Doch auch dieser Piazza-Film lässt sich nicht auf ein einfaches Frauenbild reduzieren. Er ist gleichzeitig faszinierend, beklemmend, unerträglich spannend und irritierend, wie die eigentlich knallharte Gefängnis-Psychologin einem trickreichen Monster (Marwan Kenzari) verfällt. Hauptdarstellerin Carice van Houten, die Priesterin aus „Game of Thrones", fungierte auch als Ko-Produzentin.

Mit der Dokumentation „Diego Maradona" (Start am 5.9. in deutschen Kinos) wiederholt Regisseur Asif Kapadia seine Methode, die er schon bei „Amy" (Winehouse), für die er einen Oscar erhielt, und den Rennfahrerfilm (Ayrton) „Senna" anwandte. Er arbeitet vor allen Dingen mit Original-Material, diesmal waren es angeblich 500 Stunden. Das Ergebnis ist allerdings mit über zwei Stunden immer noch zu lang - und vor allem oberflächlich sowie ohne roten Faden. Der extreme Niedergang des argentinischen Fußballers bekommt nur zehn Minuten, die schlimmsten Szenen erspart uns der Film.

Die deutsche Produktion „7500" mit dem Hollywood-Star Joseph Gordon-Levitt hob auf der Piazza als Spielfilm-Debüt von Patrick Vollrath steil ab. Derart gelungene Spannung ohne aufgesetzte Gewalt kann sehr gut die übliche Hollywood-Action ersetzen.

Aber es gab mit „Days of the Bagnold Summer" auch als britischer Humor verkaufte Langeweile auf der Piazza. Die Fallhöhe zwischen den Festivals zeigt der letzte Cannes-Sieger „Parasite" (dt. Start 17.10.), aus Anlass eines Ehren-Leoparden für seinen koreanischen Regisseur Joon-ho Bong („Okja", „Snowpiercer", „Mother"). Der koreanische Beitrag im Wettbewerb von Locarno, „Pa-go" von Jung-bum Park, über eine seltsame Inselgemeinschaft und einer traumatisierten neuen Polizei-Chefin ist ganz interessant, aber weit davon entfernt, international Festival-Karriere zu machen.

Was die Lago Maggiore-Touristen neben den vielen Cineasten erfreuen wird: Das Festival hat äußerlich gründlich aufgeräumt. Der alternative Kramladen auf der sehr großen, tiefer gelegten Verkehrsinsel „La Rotonda" ist jetzt mehr Festival-Gelände mit Bühne, Konzerten und (immer noch) Essbuden. Direkt daneben wurde das Castello Visconteo, ein altes Schloss aus dem 12.–16. Jahrhundert, zum atemberaubend illuminierten und modern beschallten Treffpunkt für nach dem Abendfilm.

Auch hier zeigten die Gespräche: Prognosen waren schwierig. Die Jury-Präsidentin Catherine Breillat („Sex Is Comedy", „Meine Schwester") ist zwar für ihre provokanten und sehr körperlichen Frauenfilme bekannt, aber sie muss ja nicht nur die Filme mögen, die sie selbst macht. Ansonsten hätte sie „Instinct" ausgezeichnet, aber der läuft auf der Piazza, nicht im Wettbewerb. So ist noch einmal für Spannung in der Altstadt am Lago Maggiore gesorgt.

6.8.19

Once Upon a Time in Hollywood

USA 2019 Regie: Quentin Tarantino, mit Leonardo DiCaprio, Brad Pitt, Margot Robbie, Al Pacino 159 Min.

Der neue Tarantino führt sein Traum-Hollywood der 60er Jahre vor, erzählt die Karriere von Clint Eastwood als tragisch-lächerliche Witzfigur nach und macht aus den „Manson-Morden" an Roman Polanskis Frau Sharon Tate ein Happy End. Endlich mal interessanter Inhalt bei dem gewaltbereiten Kult-Regisseur, der erst in den letzten 15 Minuten wieder seinem Blutrausch verfällt.

Rick Dalton (Leonardo DiCaprio) ist ein stotternder, unsicherer und weinerlicher Star, der den Schurken einer Fernseh-Westernserie spielt. Sein meist schweigsames Stunt-Double Cliff Booth (Brad Pitt) ist wegen vieler Blödheiten und dem vermeintlichen Mord an seiner Frau jetzt ein arbeitsloser Stuntman. Doch weiterhin noch Chauffeur, Psychiater, Hausmeister und Freund Ricks. Er leiht ihm beispielsweise seine Sonnenbrille, „weil man nicht vor Mexikanern weinen soll".

Rick und Cliff sind allerdings nicht die ideale Kombination für die üblichen lakonischen und witzigen Tarantino-Dialoge. Aber der Meister des gewaltsamen Kult-Films kann auch anders. Im Gegensatz zur langen, offenen Eröffnung von „The Hatefull Eight" geht es hier spritzig mit kleinen Einblendungen und anderen Scherzen los. Man feiert Tarantinos Freude mit, alte und meist billige Filmchen selber nach zu drehen.

Und es scheint um etwas zu gehen. Das Verhältnis zur Gewalt - von Kritikern kritisiert immer ein Thema bei Tarantino - wird von den Hippies genannten Anti-Hippies der Manson-Familie auf den Punkt gebracht: „Wir bringen die Leute um, die uns das Morden beigebracht haben." Dabei scheint die Hauptfigur Rick mehr Skrupel zu haben, als der Film, wenn es darum geht, ein Haufen Nazi-Offiziere mit dem Flammenwerfer zu grillen.

Ja, in diesem Fantasie-Hollywood rund um die frühen 70er Jahre schaut sich Sharon Tate (Margot Robbie) noch kindlich begeistert ihren Film „Rollkommando" („The Wrecking Crew") mit Dean Martin und Elke Sommer an. Ihr Mann, Roman Polanski, ist der Nachbar von Rick. Man weiß, dass Manson und seine Begleiter/innen am 9. August 1969, also vor fast exakt 50 Jahren die schwangere Sharon Tate und vier Andere umgebracht haben. Zwar wird uns Tarantino ein, nur um eine Hausnummer verändertes, ebenso grausames Ende präsentieren. Doch die dunklen Andeutungen funktionieren. Ein verführerisches junges Mädchen namens Pussycat bringt Cliff zur Spahn's Movie Ranch, dem Gelände eines alten Western-Filmstudios, auf dem die sektenähnliche Gang haust. Die unheimliche Szenerie löst der Stuntman schlagkräftig auf - so wie er vorher auch schon den als lächerlichen „Chinamann" dargestellten Bruce Lee vermöbelt hat.

Eine weitere Ebene deutet schon der Titel mit „Once upon a time ..." an: Die Karriere von Rick Dalton ist frei nacherzählt die von Clint Eastwood. Der Karrieretipp von Al Pacino für den abgehalfterten TV-Cowboy lautet, nach Italien zu gehen und da Western zu drehen. Wir wissen aus der Filmgeschichte, dass Eastwood so Mitte der Sechziger eine neue Stufe in seiner Karriere erklomm. Er trumpfte mit „Für eine Handvoll Dollar" von Sergio Leone auf. Dessen großer Film hieß im Original „Once Upon A Time in the West" („Spiel mir das Lied vom Tod"). In Tarantinos Nacherzählung heißt der Regisseur Sergio Corbucci, der neben Leone eine andere Legende des Italo-Westerns ist.

Hinter der für den „Pulp Fiction"-Regisseur typisch üppigen Inszenierung mit vielen Insider-Scherzen, lässigen Darstellern und megalomanem Stilwillen zeigt sich „Once Upon a Time in Hollywood" als der interessanteste, weil inhaltsreichste Tarantino seit langem - oder gar überhaupt. Die große kulturgeschichtliche Erzählung vom Ende des Sommers der Liebe, den die Manson-Morde symbolisieren sollen, bekommt durch den Tarantino-Blick eine neue Interpretation. Das kann viele begeistern - bis der berühmteste Gewalt-Regisseur in der letzten Viertelstunde mit einer unglaublichen Brutalität aufräumt. Man fragt sich da, wer einen mehr abstößt, die mörderischen Aussteiger oder die ultrabrutalen „Guten". Aber so weit darf man beim großen Spielfilm-Kind Tarantino, das es nie aus seiner Videothek ins richtige Leben schaffte, nicht denken. Einfach genießen, Spaß haben und am Ende beide Augen zudrücken.

Ich war zuhause, aber...

BRD, Serbien 2019 Regie: Angela Schanelec, mit Maren Eggert, Jakob Lassalle, Clara Möller, Franz Rogowski, Lilith Stangenberg 105 Min. FSK ab 6

„Ich war zuhause, aber" verrät lange nicht, war er erzählen will. Mühsam bastelt man sich eine Geschichte einer Mutter von zwei Kindern zusammen. Der ältere hat wohl Probleme in der Schule, ein Fahrradkauf für 80 Euro erweist sich als Fehler und mittendrin bricht die ansonsten stille Frau namens Astrid (Maren Eggert) in einen wortreichen Kunst-Exkurs aus. Es ist ein aufgeregter Monolog darüber, dass Schauspiel eine Lüge ist, und wie ein Manifest der eigenen Filmtheorie. Das emotionsarme Sprechen der Profi-Darsteller wird begleitet vom ebenso kühlen Hamlet-Vortrag einiger Schüler. Parallel läuft die Geschichte eines Lehrers (Franz Rogowski), der von seiner Freundin abgewiesen wird. Die Kinderfrage ist bei ihnen noch so ein Gespräch, das so nie wirklich geführt wird.

Gruppen werden wie Gemälde aufgestellt, die Hauptfigur Astrid - eine furchtbare Mutter, eher anstrengender als interessanter Mensch - redet als wenn sie einen juristischen Text oder griechisches Drama deklamiert. Wenn dann Sätze fallen wie „Mir ist nicht klar, wie redet man mit einem Heizungskörper", dann ist böser Spott naheliegend.

„Ich war zuhause, aber" mag für Regisseurin Angela Schanelec („Mein langsames Leben", „Marseille", „Orly", „Der traumhafte Weg") mit dem Tod eines Partners und Vaters von zwei gemeinsamen Kindern autobiografisch sein. Furchtbar unterkühlt bleibt es trotzdem. Selbst ein Cover von Bowies „Let's Dance" wird hier leblos gemacht. Solche verkopften Konstrukte mögen in einer wohlverdienten Festival- und Kino-Nische ihren Platz finden. Aber selbst viele interessante Interviews mit der Filmemacherin können nicht verhindern, dass der Film nur schwer erträglich ist.

Toy Story 4

USA 2019 Regie: Josh Cooley 100 Min. FSK ab 0

Abschied - wieder einmal. Nachdem Spielzeug-Cowboy Woody und Aufzieh-Astronauten Buzz Lightyear sich nach drei sensationellen Animationsfilmen von „ihrem" Menschenkind Andy verabschiedet haben, war „Toy Story" eigentlich „auserzählt".

Viele Jahre später liegen Woody und seine Freunde vergessen und verstaubt bei der kleinen Bonnie meist im Schrank rum. Doch seine herzliche Sorgfaltspflicht hält Woody aufrecht. Nach einer sehr dramatischen Rettung eines draußen vergessenen Spielzeugs aus der Regenrinne und einem herzerweichender Abschied von der geliebten Schäferin und ihren dreiköpfigen Schafen geht es herzzerreißend weiter: Weil Bonnie vor dem ersten Tag im Kindergarten Angst hat, schmuggelt sich Woody in ihren Kinderrucksack. Verängstigt und einsam unter lauter groben Kindern wird das Mädchen vom Spielzeug-Cowboy inspiriert, aus Abfällen, einer alten Plastikgabel und Pfeifenreinigern ihren neuen Freund Forky zu basteln.

Eine das Kind beruhigende Entwicklung, die Woody extrem viel Stress besorgt, denn Forky, der aus dem Müll kommt, will immer wieder zurück in den Mülleimer. So ist das Team aus den alten Spielzeugen auch auf einem Ferienausflug dauernd damit beschäftigt, den neuen, unwilligen Freund Bonnies zu retten.

Auch „Toy Story 4" ist wieder eine Geschichte voller selbstloser Liebe, die den längst abgeschriebenen Woody wieder ins Spiel bringt. Wie gewohnt bei Pixar sind digitale Animation und das Drehbuch beeindruckend detailreich. Es gibt herrlichen Slapstick wenn Forky immer wieder zum Mülleimer rennt und Woody ihn regelmäßig zurückholt. Dazu einen abenteuerlichen Roadmovie, in dem eine Mörderpuppe namens Vincent auftaucht. Wir lernen, dass nicht mehr nett durchgedrehtes Spielzeug aus dem Horror-Kabinett entsteht, wenn sich keiner mehr kümmert.

Dazu bekommt der reifere Woody auch eine große dramatische Liebesgeschichte, die ihm den Mut für das große wilde Leben draußen gibt. Alte Bekannte wie Mister Potato Head sind immer noch dabei, aber nur noch Randfiguren. Selbst Buzz Lightyear gerät zum „running gag", wenn er seinen Sprechautomaten als leitende „innere Stimme" missversteht.

Das innovative Trickfilm-Studio Pixar steht immer noch für höchstes inhaltliches und technisches Niveau. Die Neuauflage der „Toy Story" bringt die legendäre Geschichte allerdings nicht auf ein anderes Niveau. Woody erklärt in seiner neuen Rolle, wie toll es ist, sich um Kinder zu kümmern. Randy Newman darf ein neues, blutiges Lied machen. Doch mit solchen Wiederholungen riskiert es Pixar, selbst zum verstaubten Spiel(film)-Zeug zu werden.

5.8.19

Fisherman's Friends

Großbritannien 2019 Regie: Chris Foggin, mit James Purefoy, Daniel Mays, Tuppence Middleton 112 Min. FSK ab 0

Die Fröhlichkeitsmelodie auf der Tonspur nervt schon nach zehn Minuten - keine gute Vorraussetzung für „die wahre Geschichte" eines erfolgreichen Shanty-Chors. Doch Erfolgsgeschichte mit allen bekannten Zutaten liefern „Fisherman's Friends" zuverlässig. Nach dem bekannten Motto: Sind sie zu schwach, musst Du stark sein.

Ein Küstenort im idyllischen Cornwall ist das nette Setting für eine sehr konstruierte und bekannte Geschichte: Musikmanager Danny (Daniel Mays) will hier mit Kollegen aus London einen Junggesellenabschied feiern. Nachdem sich die coolen Großstädter vor den Eingeborenen ausführlich zum Affen gemacht haben und beim Stand-up-Paddling sogar die Seenotretter brauchen, bleibt Danny allein zurück. Er soll den lokalen Shanty-Chor „Fisherman's Friends" zu einem Plattenvertrag überreden. Dazu muss er mit den störrischen Dickschädeln in aller Herrgottsfrühe zum Fischen raus. Als Häuptling Jim (James Purefoy), in dessen Tochter Alwyn (Tuppence Middleton) sich Danny zudem verliebt hat, endlich bereit ist, erfährt man aus London, dass alles nur ein Scherz war. Aber Danny steht zu seinem Wort und will die Seebären nun alleine groß rausbringen...

So wie die Dörfler bei einer Fernseh-Gelegenheit zu Ehren der Queen nicht die nationale sondern die Cornwell-Hymne singen, so stur verfolgt „Fisherman's Friends" auch die übliche Erfolgsgeschichte, ohne auch nur einen Deut abzuweichen oder „modern" zu sein. Dabei hat man das gleiche Problem wie Dannys Kollegen aus dem Musikgeschäft: Was soll an „What shall we do with a drunken sailor" so besonders sein? Irgendwem scheint's zu gefallen, denn die Fischer-Sänger haben in der Realität einigen Erfolg gehabt.

Also „wahre" Erfolggeschichte mit anderer Musik, die vor allem so inszeniert nicht vom Hocker reißt. Es gibt ein paar Schauspieler mit Charisma, vor allem James Purefoy hätte einen besseren Film verdient. Daniel Mays ist der lustige Typ, der immer von allen veräppelt wird und lernen muss, sein eigenes Ding durchzuziehen.

Stimmung kommt kurz mal in der zweiten Hälfte auf, wenn die Fischer in London auf Pub-Tour gehen. Mit Sonnenbrillen und dunklen Mänteln sind sie die „Reservoir Seadogs". Ansonsten ist der Film so wild wie die Wildecker Herzbuben. Und außerdem eine Feier traditioneller Werte und des Lebens in touristischer Umgebung. In den Hauptrollen fröhliche Dickschädel, die immer so fröhlich sind, weil sie dauernd über Fremde lachen - passt in die Zeit. Selbstverständlich muss jemand sterben und dann wird auch noch zum Begräbnis auf Hoher See ein Shanty gesungen. Eine überlange Küsten-Postkarte, die man allgemein „Wohlfühlfilm" nett. Na ja.

4.8.19

Photograph

Indien, BRD, USA 2019 Regie: Ritesh Batra, mit Nawazuddin Siddiqui, Sanya Malhotra, Farrukh Jaffar, Geetanjali Kulkarni, Vijay Raaz 110 Min.

„Photograph" ist der neue Film von Regisseur Ritesh Batra, der mit seiner leisen indischen Liebesgeschichte „Lunchbox" weltweit begeisterte. Sein Neuer ist wieder alles andere als klingendes und tanzendes Bollywood, sondern eine feine, ruhige Liebesgeschichte aus Mumbai.

Vor dem berühmten „Gate of India"-Monument fotografiert der geschäftige Rafi (Nawazuddin Siddiqui) die wohlhabenderen Touristen. Zufällig nimmt er die junge Studentin Miloni (Sanya Malhotra) zu tun, die völlig in den Karriereplan ihrer Eltern eingespannt ist. Um der verschlossenen Frau ihr Bild zukommen zu lassen, das Rafi ganz altmodisch in einer Entwicklerbox im Rucksack fertig stellt, sucht er sie mühsam und fährt heimlich im selben Bus mit ihr. Aus einer kleinen Lügengeschichte, bei der Miloni für Rafis Oma die Freundin spielen soll, wird echte Liebe. Das ist klassisches Hollywood! Doch auch in Indien sind Standesunterschiede kaum überwindbar.

Regisseur Ritesh Batra entführt uns mit „Photograph" in eine faszinierende Welt: Vom Gewimmel der Touristen an der Küste bis zur kleinen Einzimmer-Hütte, in der Rafi mit seinen witzigen Kollegen lebt. Sie sind alle Einwanderer vom Land in dieser Mega City. Dunklere Hautfarbe reicht aus, um verächtlich angesehen zu werden. Doch Rafi lässt sich nicht kleinkriegen. Er arbeitet für zwei, um Geld nach Hause zu schicken, wo nach dem Tod der Eltern noch ein Kredit abbezahlt werden muss.

Miloni verfolgt hingegen freudlos ihren vorbestimmten Weg. Als Muster-Studentin hängt ihr Bild auf dem riesigen Plakat der Schule. Die Verlobte zu spielen, begeistert sie. Sie hat immer gerne geschauspielert, als Buchhalterin kann man sie sich nur schwer vorstellen.

„Photograph" zeigt nicht nur zwei Leben in Mumbai, es sind Einblicke in die Seele eines zerrissenen Landes. Es liegen Welten zwischen den Liebenden: Sie will eigentlich in einem Dorf leben, er unbedingt von dort weg. In seinem Kino rennen einem Ratten über die Füße. Ihre wohlhabenden Eltern wissen, dass man vom Eis „von der Straße" Magenprobleme bekommt.

Ritesh Batra erzählt wieder elegant mit kunstvollen Ellipsen und mit liebevollem Blick auf seine Figuren. Anfang und Ende ergeben eine sehr interessante bis irritierende Form. Es stellt sich die Frage, ob so eine poetische und romantische Geschichte nur im Kino oder auch in der Realität möglich ist.

3.8.19

Killerman

USA 2019 Regie: Malik Bader, mit Liam Hemsworth, Emory Cohen, Mike Moh, Zlatko Buric 109 Min. FSK ab 16

Wie hieß noch mal dieser Schauspieler und in was für Filmen hat er mitgespielt? Moment mal..., oder: „Memento"! Es ist ein schwieriges Ding um das Gedächtnis. Vor allen Dingen, wenn es weg ist. Richtig: Superstar Liam Hemsworth aus „Die Tribute von Panem" und „Independence Day: Wiederkehr" macht als „Killerman" auf harten Gangster mit weichem Kern.

Moe Diamond (Liam Hemsworth) ist scheinbar Schmuckhändler, aber eigentlich Geldwäscher. Eine Kiste voller Scheine verteilt er in kleinen Päckchen über das Viertel. Nach einigen Wechsel-Spielchen kommen ein paar saubere Checks für den kriminellen Auftraggeber, den Drogen-Boss Perico (Zlatko Buric), raus. Weil das FBI neugierig wird, müssen Moe und Pericos Neffen Skunk (Emory Cohen) eine Pause machen. Doch der nicht besonders besonnene Skunk will mit dem vielen Geld, das noch im Kofferraum liegt, einen von vornherein zum Schiefgehen verurteilten eigenen Deal machen. Der bringt Moe nach einer halben Stunde und heftiger Verfolgungsjagd ins Krankenhaus, ohne dass er noch weiß, wer er ist.

„Killerman" von Malik Bader („Cash Only") hat was von Christopher Nolans „Memento", ist aber dabei ebenso schwach wie die billige Synthesizer-Musik (der deutsche Filmkomponist Heiko Maile), die auch was von Vangelis hat. Durch den Einsatz von 16mm-Film wirkt „Killerman" rauer als das heute übliche Hochglanz-Material, unmittelbarer, direkter. Doch die Action, die Gewalt, die zunehmend brutaler werdenden, korrupten Polizisten - das ist Fließbandware des Kinos. Im Kern könnte der eine Schlag auf den Kopf interessant sein: Wer ist man noch, wenn man nicht mehr weiß, wer man ist? Moe, so nennen ihn zumindest alle, ist etwas verwirrt, während ihn sein Freund - ist er wirklich ein Freund? - in Sicherheit bringt. Ansonsten muss der tragische Held nur der Handlung hinterher hecheln und über viele Leichen stolpern. Kann man aber voller Wut seine Liebsten rächen wollen, die man vor ein paar Minuten nicht mal mehr erkannt hat? So ist bis auf die „Überraschung" am Ende längst egal, ob sich Moe erinnert oder nicht. Die letzte Entscheidung kann sich zwar sehen lassen, aber ansonsten: Egal ob Moe oder Mo-mento, alles irgendwas zu(m) Vergessen.

Und wer nimmt den Hund?

BRD 2019 Regie: Rainer Kaufmann mit Martina Gedeck, Ulrich Tukur, Lucie Heinze 93 Min. FSK ab 0

Keine schöne Vorstellung, bei der Paartherapie zu sitzen, nachdem er fremdgegangen ist. Die Kinder sind aus dem Haus sind und auch sonst fehlte was. Regisseur Rainer Kaufmann („Der Polizist und das Mädchen", „Ein fliehendes Pferd", „Die Apothekerin") hat das anfangs teilweise reizvoll inszeniert. Sogar komisch, wenn die verbitterte Ehe- und Haus-Frau Doris (Martina Gedeck) wie von Eifersucht hospitalisiert immer wieder mit dem Auto vors geschlossene Garagentor fährt. Georg (Ulrich Tukur) steht hilflos daneben und vergnügt sich ansonsten mit seiner Doktorandin Laura (Lucie Heinze). Der flotte Wechsel zwischen Erzähltem und den entsprechenden Szenen funktioniert noch, die Dialoge haben mindestens eine weitere Ebene. Die Meeres-Biologen fügen beispielsweise in romantischen Dialogen immer noch nüchtern die wissenschaftliche Erklärung für ihr Verhalten hinzu. Derweil entwickelt sich die frische Liebe eher dramatisch als rosig und das Verhältnis zwischen Film und Zuschauer verliert erschreckend schnell an Reiz.

Der Verlauf der ganzen Geschichte folgt dem üblichen Trennungs-Schmerz, ist deswegen auch originell. Das unterscheidet diesen Film von der Woody Allen-Liga. „Und wer nimmt den Hund?" hat nicht die ironische Distanz, mit der Allen eine solch für die Betroffenen bitteres und gleichzeitig in der Allgemeingültigkeit banales Drama erzählen würde. Was Kaufmann mit Gedeck und Tukur vorführt, ist ebenso wahr, wie offensichtlich, ebenso betreffend wie allzu bekannt.

Regisseur Rainer Kaufmann, ein Routinier von vielen Fernseh-Krimis und Beziehungsdramen findet für ein hauptsächliches Zwei-Personen-Stück gute und manchmal sogar schöne Bilder. Martina Gedecks spielt ihre Doris überdeutlich aus, angefangen beim nervösen Rumfummeln mit den Händen in der ersten Szene, das später wie von allein verschwindet, bis zum groben Zucken des Mundes. Ulrich Tukur legt seinen Georg mit feinerer Mimik an. Er als Verursacher und letztlich Verlierer muss verkörpern, dass diese Trennung eher deprimierend als komisch ausfällt.

2.8.19

So wie Du mich willst

Frankreich 2018 (Celle que vous croyez) Regie: Safy Nebbou, mit Juliette Binoche, François Civil, Nicole Garcia 101 Min. FSK ab 12

Sieht Juliette Binoche gut aus? Solche Fragen werden überhaupt nicht gestellt. Auch der Deal als Werbegesicht für die Kosmetikfirma „Lancôme" ist deutlich. Umso bemerkenswerter, wie ihre Schauspielkunst diesmal dafür sorgt, dass wir sie auch in der Rolle einer Frau mit großen Zweifeln am eigenen Aussehen akzeptieren.

Nach einer traumatischen Scheidung und einem Liebhaber, der nur zwanglosen Sex will, macht sich Claire (Binoche) über den Messenger von Facebook an Alex (François Civil) ran, den jungen Mitbewohner des Liebhabers. Die 50-jährige Literatur-Professorin hat bislang soweit von den sozialen Medien entfernt gelebt, dass sie nicht weiß, was Instagram ist. Nun nennt sich Claire in einem neuen Profil Clara, gibt spontan ihr Alter mit 24 an und postet ein passendes Foto von jemand anderer. Im sich schnell entwickelnden Chat zündet es, Claire ist verliebt und auch Alex ist begeistert - von Clara. Die vorher deprimierte Claire ist so verliebt, dass sie selbst in Bibliotheken zu laut telefoniert. Laut wird auch der Telefonsex im Auto. Zwischendurch glaubt sie selbst an das andere Alter ihres Alter Ego und die Frühlingsgefühle lassen sie tatsächlich jünger wirken. Ihre beiden Söhne wundern sich. Nicht nur wenn Mama auf dem Parkplatz zahlreiche Runden fährt, weil vor dem Abholen der Kinder ein spannendes Telefon-Gespräch erst ungestört beendet werden muss.

Claire ist immer wieder komisch - und gleichzeitig tragisch in der Selbstverleugnung des eigenen Körpers. Die Liebesgeschichte mit Alex, die gleich mehrere überraschende Wenden nehmen wird und keineswegs konventionell verläuft, erleben wir aus der Perspektive eines Gesprächs von Claire mit ihrer neuen Psychologin. Wobei der Film, basierend auf dem gleichnamigen Roman von Camille Laurens, hauptsächlich aus dem Gesicht der Binoche besteht. Es zeigt eindrucksvoll Begeisterung, Freude, Abhängigkeit und Verzweiflung. Alles meist in Großaufnahme, die gefühlt 70 Prozent des Films ausfüllt. Eindeutig ein Gesichtsfilm, besser Schauspieler-Film, den Safy Nebbou („Der Hals der Giraffe" 2004, „Das Zeichen des Engels" 2008) schrieb und inszenierte. Dabei beschäftigt sich die Dozentin für französische Literatur Claire vor allem mit den Intrigen aus „Gefährliche Liebschaften", etwas „Cyrano" hätte auch gepasst. Die Frage nach der Moral dabei, eine andere Identität mit geklauten Fotos anzunehmen, bekommt eine dramatische Antwort. Zentral steht allerdings die emotionale Achterbahnfahrt solch einer körperlosen Affäre und dann der Zustand einer Frau, die gegen allen Anschein an ihrem Aussehen zweifelt. Eine schöne und nachdenkliche Spielerei mit ernstem Hintergrund, getragen vom Aussehen und der Schauspielkunst der Binoche.