28.2.20

La Vérité

Frankreich, Japan 2019 Regie: Hirokazu Koreeda, mit Catherine Deneuve, Juliette Binoche, Ethan Hawke 108 Min. FSK ab 0

Der japanische Regisseur Hirokazu Koreeda gewann bei 2018 in Cannes die Goldene Palme für sein berührendes Familiendrama „Shoplifters". In anderen, wunderbaren Familienfilmen wie „Unsere kleine Schwester", „Like Father, Like Son" oder „Nobody Knows" spielen Kinder immer eine besondere Rolle. Nun, bei seinem ersten „ausländischen" Film, ist vor allem Catherine Deneuves Filmdiva kindisch. Trotz der Stars gelingt Hirokazu Koreeda nach eigenem Buch erneut ein sehr schöner Film um Lüge und Wahrheit, echte und falsche Familien.

Die Drehbuchautorin Lumir (Juliette Binoche) kommt mit Ehemann Hank (Ethan Hawke) und dem gemeinsamen Kind aus New York nach Paris. Ihre Mutter, die französische Filmdiva Fabienne (Catherine Deneuve) wird Memoiren veröffentlichen. Der Titel lautet „La Vérité" - die Wahrheit, aber es steht nichts Wahres drin. Vor allem mit dem Bild der liebenden Mutter ist Lumir keineswegs einverstanden.

Weil die Diva ihren langjährigen Vertrauten und Freund verjagt, muss Lumir ihr bei Dreharbeiten zur Seite stehen. Und wir erleben, wie die Deneuve gekonnt in die Rolle eines zickigen Stars, einer schrecklichen Mutter, eines furchtbaren Menschen schlüpft. Dauernd über jüngere Kolleginnen lästert und dabei grandiose Sätze abläst: „Ich bin Schauspielerin, ich erzähle keine blöden Fakten, die Wahrheit ist langweilig." Fabienne stellt die paar familiären Small Talk-Fragen nur, weil sie Stille nicht erträgt. Ansonsten interessiert sie sich nur für sich selbst.

Solch ein Projekt eines gefeierten Regisseurs mit großen Stars hätte leicht ein eitles Schaulaufen werden können. Doch Hirokazu Koreeda fügt alle und alles zusammen zu einer runden Geschichte um eine zu abwesende und selbstbezogene Mutter, eine tragisch verstorbene Freundin und Konkurrentin, die eigentlich die bessere Mutter für Lumir war. Denn die Diva dreht gerade ausgerechnet einen Film über die allgemein vergötterte Konkurrentin Sarah, deren Erfolg Fabienne geraubt hat, indem sie mit dem Regisseur ins Bett ging,. Ein (Science Fiction-) Film über eine Mutter, die zu selten da ist, weil die Erdenschwere sie sterben lassen würde. Eine sehr deutliche Metapher für das vermeintliche Künstler-Leben des Stars, der nicht mal die Tochter schauspielern lassen wollte.

In vielen sehr schönen Details, Verbindungen und Dialogen lässt Hirokazu Koreeda die Familien-Beziehungen aus unterschiedlichen Perspektiven aufblitzen. Eine kleine, sehr feine Spielerei, vergnüglich anzusehen und immer wieder bei aller (gespielter) Raffinesse echt berührend. Anders als seine bisherigen Meisterwerke (und die wünscht man sich zurück), doch auch unbedingt sehenswert.

25.2.20

Die Känguru-Chroniken

BRD 2020 Regie: Dani Levy, mit Dimitrij Schaad, Rosalie Thomass, Henry Hübchen 90 Min.

Regisseur Dani Levy macht aus dem kommunistischen Känguru von Marc-Uwe Kling eine nette Komödie mit flapsigem Klassenkampf und klasse Besetzung.

Es fängt damit an, dass ein Känguru bei Marc-Uwe Kling (Dimitrij Schaad) nervig klingelt und um ein paar Eier bittet, um wenige Momente später gleich ganz einzuziehen. Doch wie es sich für die Geschichte eines kommunistischen Kängurus und eines anarchistischen Kleinkünstlers gehört, wird beim Film erst mal kritisch über die passende Nacherzählung diskutiert. Der Streit-Ton ist damit gesetzt, es ist das intellektuell durchaus gehaltvolle, zitatenreiche und links-politische Gekabbel zwischen neuen WG-Bewohnern.

Dem flott chaotischen Auftakt um hauptsächlich verschütteten Eierkuchen-Teig mit geistreichem Wortwitz, guter Animation und noch besserem Schauspiel folgt ein Mix aus Kiez-Porträts, Slapstick und anti-kapitalistischer Handlung. Denn die typische Berliner Viertel-Bude im Multikulti-Viertel soll vom fiesen Immobilien-Bonzen Jörg Dwigs (herrlich angebräunt: Henry Hübchen) für einen populistisch-nationalen Europa-Tower platt gemacht werden. So wie die Nazis, die gerade Kling und Känguru wegen dessen Köter-Weitkicken verfolgen, aus purer Blödheit Dwigs' Porsche platt gemacht haben. Dass der Immobilien-Hai auf Sand gebaut hat, erfährt die Protest-Truppe um Kling, das Känguru, die Kneipen- und Büdchen-Besatzung sowie Klings Love-Interest (Rosalie Thomass) erst später.

Es gibt reichlich Filmzitate und Häppchen aus dem modernen Klassiker „Die Känguru-Chroniken": Der grammatikalische Korinthenkacker bekommt ebenso sein Fett ab, wie die Nazis, die AzD (Alternative zu Deutschland), „Fick Neoliberalismus" (als Graffito nicht Graffiti!), rechte Aluhüte, ein Berliner Schwabe, der den Mangel an korrektem Deutsch beklagt, und das Gentrifizieren. Wenn die Handlung zwischendurch mal an Schwung verliert, tragen die sympathischen Figuren und die trefflichen Karikaturen die Komödie locker über die Hänger.

Dimitrij Schaad gibt die menschliche Hauptfigur stimmig, die animalische Animation ist gut und vor allem witzig. Dani Levys vertrauter Darsteller Henry Hübchen karikiert klasse den rechtspopulistisch verbrannten Unsympath und Rassisten. Das ist inhaltlich eher rebellisch als formal von Marc-Uwe Kling und Dani Levy auf die Leinwand gebracht. Nach Komödien wie „Alles auf Zucker" ist es diesmal kein feiner Lubitsch von Levy. Für die vielen Fans sind „Die Känguru-Chroniken" möglicherweise zu wenig pointiert, für Neueinsteiger auf jeden Fall ein netter Spaß mit dem Herz am linken Fleck. Für Nazi, AfD-Wähler und Immobilien-Spekulanten aber eher nichts.

Emma. (2020)

GB 2020 Regie: Autumn de Wilde, mit Anya Taylor-Joy, Johnny Flynn, Bill Nighy, Mia Goth, Miranda Hart 124 Min.

Hätten die inflationären Heiratsvermittler von Bachelor- und Bauernshows bloß „Emma" von Jane Austen gelesen! Sie hätten verstanden, dass Heiratsvermittlung - mit zu geringem Verstande betrieben - immer schiefgehen muss. Deshalb nach zahllosen Verfilmungen hier noch einmal und richtig vergnüglich: Emma!

Diese Emma Woodhouse (Anya Taylor-Joy) ist ein furchtbar eingebildetes Naivchen, wohlsituiert im britischen Landadel Anfang des 19. Jahrhunderts. Sie meint, ihre Mitmenschen zum (Ehe-) Glück führen zu müssen. Besonders darunter leiden muss ihre Freundin Harriet Smith (Mia Goth). Emma nimmt sich dieses völlig unbedarften Kükens an, sucht einen passenden Mann für die Mittellose, muss es dann aber verwinden, dass Harriet mit jemandem flirtet, der sie selbst interessiert.

Da sind der seltsame Pfarrer und der sehr gut aussehende, aber „zu arme" Bauer. Und vor allem der lange abwesende und erwartete Nachbars-Neffe Frank Churchhill (Callum Turner). Ihr Freund Mr. Knightley (Johnny Flynn) ist bei all den Irrungen und Wirrungen immer still und spitz kommentierend dabei. Nur er kann mit seinem kühlen Verstand lange den emotionalen Wallungen trotzen. (Ein Mann übrigens, der regelmäßig den Wagen stehen lässt, um zu Fuß zu gehen!) Wer schließlich Emmas Mr. Darcy wird, ist nicht schwer zu erraten. Aber der Weg dahin ist ein äußerst sorgfältig und liebevoll inszeniertes, buntes Vergnügen.

Die Werbe- und Musikvideo-Regisseurin Autumn de Wilde (Beck, Florence + The Machine) inszeniert die Austen-Figuren mit keineswegs leiser Ironie. Das „Leise" bekommt auch die Musik nicht hin - zur Freude der Zuschauer. „Emma." - mit bewusstem Punkt hinter dem Namen - präsentiert nicht das übliche Kostüm und Kulissen-Schaulaufen: Nein, wenn die Klosterschülerinnen im roten Umhang wie Entchen über ein Brückchen marschieren, ist das allein herrlich komisch. Hier sind die Farben so bonbon-bunt wie bei Sofia Coppolas „Marie Antoinette". Ein wunderbarer Bill Nighy kann als Emmas Vater Mr. Woodhouse nur mit Mühen Fassung bewahren, angesichts der Albernheiten, die um ihn herum geschehen. Selbstverständlich geriet auch die Mimik vor allem von Hauptdarstellerin Anya Taylor-Joy („The Witch", „Split") so pointiert wie der Dialog. Doch niemals grob oder übertrieben. Das Können der Videoclip-Regisseurin zeigt sich darin, dass die Gesellschafts-Tänze, die so leicht veralbert werden könnten, dann sogar als schöner romantischer Moment funktionieren.

Letztlich muss sich die eingebildete Emma selbst alle menschliche Schwächen und Tiefen eingestehen. Darin, dass es im turbulenten Verwechslungs-Finale wieder ganz wunderbar menschelt, liegt die andauernde Attraktion Jane Austens. Dem zuzuschauen, liefert letztlich die gleiche voyeuristische Schadens-Freude wie bei anderen medialen Heiratsvermittlungen, nur wesentlich raffinierter und feiner präsentiert.

24.2.20

The Gentlemen

USA 2019 Regie: Guy Ritchie, mit Matthew McConaughey, Hugh Grant, Colin Farrell, Michelle Dockery 114 Min. FSK ab 16

Hugh Grant verkauft uns eine millionenschwere Gangster-Geschichte, in der Drogen, Adel und überzogener Ehrgeiz eine mörderische Mischung ergeben. Vor allem wenn Guy Richie („Sherlock Holmes", „Snatch") Regie führt.

Wie erzählt man diese Gangster-Geschichte, die gerade durch ihre Erzählweise besonders reizvoll daher kommt? Vielleicht nicht damit, dass die Hauptfigur, Drogenboss und der Exil-Amerikaner Mickey Pearson (Matthew McConaughey) direkt in der ersten Szene zu sterben scheint. Besser mit diesem schmierigen und gleichzeitig faszinierenden Erzähler, dem Privatdetektiv Fletcher (Hugh Grant). Der sitzt uneingeladen in der Küche von Mickeys smarter rechter Hand Ray (Charlie Hunnam). Und will 20 Millionen Pfund für seine Geschichte, die ehrlich gesagt, so wie Guy Richie sie erzählt, tatsächlich Einiges wert ist.

Es ist die Geschichte des Amerikaners Mickey Pearson, der seine Zeit an einer britischen Elite-Uni nutzt, um den Adel mit Drogen zu versorgen. Dafür lässt ein Teil der verarmten Lordschaft ihn im riesigen Umfang Marihuana auf ihren Ländereien anpflanzen. Basis für ein millionenschweres Marihuana-Imperium. Doch nun will Mickey sich zur Ruhe setzen und bietet seine berauschende Infrastruktur dem exzentrischen Milliardär Matthew Berger (Jeremy Strong) für 400 Millionen an. Dass der Triaden-Boss Lord George (Tom Wu), der wahnsinnige Emporkömmling Dry Eye (Henry Golding) und auch ein kleiner, beleidigter Chefredakteur (Eddie Marsan) hinter Mickey her sind, macht den Deal kompliziert. Und all die geheimen Details will der Privatdetektiv Fletcher in Form eines Drehbuchs für nur 20 Millionen anbieten...

„The Gentlemen" ist mit seinem smarten Filmstil und den selbst im brutalen Killen coolen Figuren ein typischer Guy Ritchie. Trefflich besetzt mit Typen wie Matthew McConaughey („Interstellar"), Hugh Grant („Codename U.N.C.L.E.") und Colin Farrell („Widows – Tödliche Witwen"), denen das deftige Spiel gegen ihre typischen Rollen-Klischees sichtlich Spaß macht. Echte Gentlemen gibt es nämlich kaum beim verräterischen Hin und Her von „The Gentlemen". Dafür viel knackiger, raffiniert inszenierter Actionspaß und spritzige, am besten im Orginal genossene Dialoge zwischen den Blut-Spritzereien.

23.2.20

Just Mercy

USA 2019 Regie: Destin Daniel Cretton, mit Michael B. Jordan, Brie Larson, Rob Morgan, Tim Blake Nelson 137 Min. FSK ab 12

„Just Mercy" erzählt klug und ruhig von einem Kampf gegen rassistische US-Justiz. Wie bei Harper Lees „Wer die Nachtigall stört", nur dass diese wahre und bewegende Geschichte aus Alabama nicht in den 30ern, sondern 1987 spielt.

Es gibt früh im Film den Hinweis, die Geschichte spiele in Maycomb, einer kleinen Stadt im Alabama, die auch Handlungsort von Harper Lees Klassiker „To Kill a Mockingbird" (Wer die Nachtigall stört) war. Dass mittlerweile 1988 ist und trotzdem wie in den 1930er-Jahren die Justiz nach der Hautfarbe urteilt, schockiert. Aber zumindest muss nicht ein gerechter weißer Ritter wie Atticus Finch (im Film gespielt von Gregory Peck) als Retter einschreiten. Diesmal ist es ein privilegierter afroamerikanischer Harvard-Jurist, der einen zu Unrecht verurteilten Schwarzen vor dem Elektrischen Stuhl rettet.

Es ist eine Begegnung in der Todeszelle, die den Lebensweg des jungen Anwalts Bryan Stevenson (Rob Jordan) bestimmen wird: Die Verzweiflung und Einsamkeit des verurteilten Afroamerikaners berührt den Harvard-Absolventen tief. Zum Ärger seiner Mutter zieht er ins rückständige und rassistische Alabama, um zusammen mit der ortsansässigen Anwältin Eva Ansley (Brie Larson) Menschen zu verteidigen, die zu Unrecht verurteilt wurden oder sich keine angemessene Verteidigung leisten konnten. Unter seinen ersten Fällen ist Walter McMillian (Jamie Foxx), der 1987 für den Mord an einer 18-Jährigen zum Tode verurteilt wurde, obwohl alles gegen seine Schuld spricht. Stevenson wird bei seinem ersten Gefängnisbesuch von den Waffen direkt körperlich angegangen, muss sich widerrechtlich komplett ausziehen und untersuchen lassen.

„Just Mercy" klingt auf den ersten Blick nach Gerichtsfilm und nach Kampf gegen die Todesstrafe im Stil von „Walk the line". Doch völlig ohne übliche Klischees macht der exakt erzählende Film Rassismus in Justiz und Gesellschaft deutlich. Wie in einer Reportage wird gezeigt, was das Urteil mit Familie und Freunden von Walter macht. Der Harvard-Jurist muss die brutale alltägliche Diskriminierung im Süden der USA kennenlernen, samt willkürlicher Verkehrskontrollen mit Pistole an seinem Kopf. Dabei spielt der Film nicht in den sechziger Jahren, sondern 1988.

Ein Jahr, in dem übrigens 65 Menschen in diesem US-Staat hingerichtet wurden. So muss man mitten im Film mit anderen Zuschauern eine Hinrichtung durchstehen. Stevenson, nach dessen Sachbuch „Ohne Gnade: Polizeigewalt und Justizwillkür in den USA" aus 2014 der Film entstand, kämpft nicht nur gegen Rassen-Justiz, sondern auch gegen die Todesstrafe. So kommt laut Film auf neun hingerichtete Personen ein unschuldiger zum Tode Verurteilter. Ein doppeltes Engagement, das der Film fortführt. Auf unaufgeregte Weise, obwohl man beim Miterleben immer wütender wird. Der sehr starke Schauspielerfilm gegen Justizwillkür wirkt umso mehr im Bewusstsein, dass in den USA die Hautfarbe weiterhin landesweit eine Rolle bei der Rechtsprechung spielt.

Chaos auf der Feuerwache

USA 2019 (Playing with Fire) Regie: Andy Fickman, mit John Cena, Keegan-Michael Key, John Leguizamo, Brianna Hildebrand, Judy Greer 96 Min. FSK ab 0

Es brennt nicht gerade lichterloh in der Ideenkiste Hollywoods. Auch die lauwarme Komödie „Chaos auf der Feuerwache" ist so wenig originell, dass man sich immer überlegt, wann man diesen Film schon einmal gesehen hat. Es fängt noch ganz witzig an, wenn der Super-Feuerwehrmann Jake Carson (John Cena) wie eine Action-Puppe in Kinderhänden von den Autoren und vom Film durch die Mangel genommen wird. Ja, die US-Feuerwehrleute sind schon so oft und so pathetisch als Helden gefeiert worden, dass eine wohltuende Veralberung dringend nötig ist. Auch sein Team besteht aus herrlich clownnesken Nebenfiguren (Keegan-Michael Key, John Leguizamo). Die pedantische Helden-Heimeligkeit gerät durcheinander, als die freche Teenagerin Brynn (Brianna Hildebrand) mit zwei kleinen Geschwistern aus einem brennenden Haus gerettet und wegen Umständen auf der abgelegenen Feuerwache bleiben muss. Klar wird da mit Feuerlöschern gespielt, das wunderschön rote Feuerwehr-Auto zerkratzt und die Übungskiste entflammt. Aber vor allem das schreiende Kleinkind überfordert die Babysitter-Qualitäten der hartgesottenen Firefighter.

Der Film schlägt sich mit zunehmendem Klamauk immer mehr auf die Kinderseite: Erwachsene Männer kämpfen mäßig witzig mit Übelkeit beim Windelwechsel und mit einer unfreiwilligen Schaumparty. Nur die Rührseligkeit bremst den Humor aus, den man in diesem Filmchen bislang als Einziges ernst nehmen konnte. Ohne Unterfütterung mit halbwegs vernünftiger Handlung bleiben leider nur Witzfiguren übrig. Dazu noch ein hochintelligentes, sehr emanzipiertes und einsames Weibchen, das angesichts von Muskeln immer ganz albern schwach wird. Spätestens jetzt sind die kleinen Kinogänger genauso gelangweilt wie die großen vorher.

19.2.20

Ruf der Wildnis (2019)

USA 2019 (The Call of the Wild) Regie: Chris Sanders, mit: Harrison Ford, Dan Stevens, Omar Sy, Karen Gillian, Bradley Whitford, Colin Woodell 105 Min.

Ein Hundleben für Kinofreunde - die nächste Verfilmung des bekannten Jugendromans „Ruf der Wildnis" von Jack London kommt digital auf den Hund und ist so unnötig wie Flöhe und Zecken.

Ein Hund auf abenteuerlichen Abwegen - das wirkt wie die Kopie der Kopie von Filmen „Enzo und die wundersame Welt der Menschen" oder „Bailey", um nur das Letzte zu nennen. Dabei ist „Ruf der Wildnis" als Roman von Jack London eigentlich die Hunde-Mutter aller Hunde-Geschichten. Die besonders realistische Geschichte über das Hunde-Leben während des Goldrausches in Alaska erschien 1903 erstmals. Schon 1935 gab es einen ersten Film, damals mit Clark Gable und Loretta Young in menschlichen Hauptrollen.

Wieder wird Bernhardiner-Mischlingshund aus nach Alaska entführt. Dem Goldrausch folgend, landet er in dem Schlittenhund-Rudel von Perrault (Omar Sy), wo sich unser allzu menschlicher Held erst durchsetzen muss. Die vorletzte Etappe dieses tierischen Abenteuers wird Bucks Zeit mit dem trauernden alten John Thornton (Harrison Ford) sein. Alles scheint gut, doch letztlich ist das Tier klüger als die meisten Menschen: Buck folgt dem Ruf der Wildnis, entscheidet sich für ein (Liebes-) Leben in einem Wolfrudel.

Harrison Ford und Omar Sy halten gekonnt ihre Gesichter hin, haben aber ansonsten nicht viel zu sagen. Vor allem die Geschichte des einsamen Thornton passiert auf der Tonspur mit Synchrostimme. Hier hat der Mundharmonika spielende Hund noch einen Einsatz als Psychoanalytiker des Alkoholikers.

Die Werbung nennt dieses filmische Unglück „Live-Action-CGI-Animationsabenteuer" und irgendwie sieht es auch so verzwurbelt aus: Der digital generierte Bernhardiner zeigt sich unglaublich flexibel mal riesig bedrohlich, dann flauschig und niedlich. Aber vor allem künstlich wie die meisten anderen digitalen „Tiere" des Films. Zum Auftakt titscht Buck wie Gummiball und Comicfigur durch viele Slapstick-Fettnäpfchen und ähnelt dabei vor allem dem hyperaktiven Scooby Doo-Hund.

Bei völlig unblutigen Ringkämpfen im römisch-germanischen Stil, wie es halt Hundeart ist, übernimmt der Neuling Buck mit sozialen Maßnahmen die Leitung gegenüber dem alten autoritären Führer. Der neue, erzählerisch uralte „Ruf der Wildnis" ist eine verharmlosende, kindgerechte Version, die immer noch viel Drama und Gewalt enthält, wenn der Knüppel zur Erziehung eingesetzt wird. Dazu viel aufwändige Action, die wegen ihrer doch lahmen digitalen Unsetzung nie gut aussieht. Der 800 Kilometer lange Postweg gibt eine ganz kleine Ahnung vom Realismus Londonscher Erzählungen. (Wie die heutigen Zuschauer staunt der Hund über die von Briefen, diesen seltsamen weißen Vierecken, die Menschen glücklich machen können.) Selbstverständlich werden die Tiere dabei furchtbar vermenschlicht. „Ruf der Wildnis" ist Disney aufs Schlimmste, selbst wenn er nicht von Disney ist.

18.2.20

In Search...

BRD, Belgien, Kenia 2018 Regie: Beryl Magoko 90 Min.

Beryl Magoko wurde als junges Mädchen in einem ländlichen Dorf in Kenia „beschnitten". Lange trug sie diese traumatische Erfahrung alleine, im Glauben, dies würde jedes Mädchen erleben. Als Filmemacherin geht Beryl Magoko nun mit nervös fröhlicher Naivität vor und hinter der Kamera der Frage nach, ob diese genitale Verstümmelung operativ rückgängig gemacht werden kann. Die dokumentierte Entscheidungsfindung zeigt viele sehr persönliche Erfahrungsberichte und erstaunlich detaillierte Erinnerungen an das traumatische Ereignis von Mädchen, die sich auch von ihren Müttern allein gelassen fühlen. Die Nacherzählungen dieser noch zu oft tabuisierten Verbrechen an afrikanischen Frauen differenzieren - es gibt auch Aufklärungskampagnen. Wobei die Geschichte besonders tragisch ist, wenn die Aufklärung einfach zu spät kommt. Magoko selbst zeigt sich bei einem wunderbar gezeigten Besuch in ihrem Dorf und den Versuchen, mit der Mutter zu sprechen, mit extremen Menstruations-Schmerzen in Folge der brutalen „Initiation".

Die Frage nach den Möglichkeiten, die Verstümmelung rückgängig zu machen, ergibt einen mutig persönlichen, bewegenden und wichtigen Film zu einem verdrängten Thema, das leider immer noch ein Tabu ist.

Fantasy Island

USA 2019 Regie: Jeff Wadlow, mit Michael Peña, Maggie Q, Lucy Hale, Austin Stowell, Portia Doubleday 90 Min. FSK ab 16

Fantasieloses Elend

„Fantasy Island" ist noch eine zum Glück vergessene Fernsehserie (1977-1984, 1998-1999), die aus unerfindlichen Gründen auf die Leinwand gebracht werden musste. Aus mäßig dramatischer Nachmittags-Unterhaltung wird ein weniger als mäßiges Horror-Filmchen, das sich mit dem alten Namen etwas Aufmerksamkeit klauen will.

Auf „Fantasy Island" sollen in billig-noblem Ambiente eines Ferien-Clubs Träume wahr werden. Doch die magische Insel mit ihrem Reiseleiter (hier: Michael Peña) hat etwas Sadistisches - immer muss den Gästen moralin-sauer irgendwas beigebracht werden. Wer dies nicht in der Vergangenheit erleiden brauchte, bekommt am Anfang extrem deutlich erklärt, war hier alles möglich ist.

Der Film packt mehrere Episoden in eine krampfhaft kombinierte Handlung: Zwei Freunde wollen nur dumpfe Party und viel Sex, werden sich aber nach einem martialischen bewaffneten Überfall über den Wert ihrer Freundschaft klar. Eine unglückliche Frau bekommt die Chance, einen abgelehnten Heiratsantrag von vor fünf Jahren rückgängig zu machen. Als sie aufwacht, ist sie seit fünf Jahren verheiratet und hat ein großes Kind. Ein feiger kantiger Typ mit „rassistisch kurzen Haaren" möchte unbedingt in die Armee und trifft im Einsatz auf seinen mutigen Soldaten-Vater, der seit 27 Jahren verstorben ist. Und eine bauchfreie und blonde Influencerin möchte das Mobbing ihrer Schulzeit verarbeiten. In ihrer Fantasie darf sie ihre Quälerin foltern.

Diese Episödchen leihen sich wahllos etwas aus extremen Horror- und Kriegsfilmen, was zu einer haarsträubend zusammengeschusterten Auflösung führt. Dabei bekommt das fantasieloses Elend „Fantasy Island" nicht mal die Mini-Dosis Moral hin, die das Markenzeichen des Originals war.

13.2.20

Limbo (2019)

BRD 2019 Regie: Tim Dünschede, mit Elisa Schlott, Tilman Strauß, Martin Semmelrogge, Mathias Herrmann, Christian Strasser 89 Min. FSK ab 12

Ein Film in einer Aufnahme - dafür gab es bei „1917" gerade keinen großen Oscars und tatsächlich ist so eine Spielerei in der rohen Version eines Hochschulfilms aus München noch interessanter: Tim Dünschede lässt in der Unterwelt von „Limbo" drei Geschichten an einem Abend dramatisch zusammenkommen. Raffiniert, spannend und ambitioniert.

Die junge, verbissene Compliance-Managerin Ana Bergmann (Elisa Schlott) versucht nach Feierabend, ihren Chef auf ein Geldwäsche-Netzwerk hinzuweisen, doch der will mit seinem Kumpel zur einer Party. Deshalb verlässt die ununterbrochen filmende Kamera das Trio an einer Tankstelle und folgt nun dem verdeckten Ermittler Carsten (Tilman Strauß). Zusammen mit seinem väterlichen Freund, dem Kleinkriminellen Ozzy (Martin Semmelrogge), geht es mit einer Geschäfts-Idee zu dem Unterwelt-Typen Wiener in dessen auswärtigen Komplex. Die Mischung aus Bordell und illegalem Boxring wird von nun an mit viel Treppauf und Treppab der Handlungs-Ort sein. Eine blutrünstige Schickeria wartet auf den nächsten Kampf, hinter den Kulissen wird das Geldwaschen mit Hilfe eines Finanzinstituts auf ganz modern umgestellt.

Dass dabei Ana mit ihrem Chef wieder auftaucht, dass Alles mit Allen zusammenhängt, überrascht positiv, nachdem der Dialog mit Carsten und Ozzy auf einer zu langen Autofahrt zu vielen Längen hatte. Dieser „Limbo" zwischen Akteuren und Kamera, der Tanz zwischen den Ebenen wird zum Schluss immer spannender. Das ist handwerklich und auch noch als Debütfilm erstaunlich gut gemacht, vor allem mit dieser „One Shot"-Spielerei. Illegale Boxkämpfe und Wetten, dazu Geldwäsche, das hat ganz leicht einen Hauch von Scorsese. Ein paar von Früher bekannte Gesichter helfen aus, doch Regie, Kamera und Schauspielführung passen, viel Stimmung wird mit der Musik gemacht. Das Buch hätte etwas dichter, der Dialog etwas flotter sein können. Aber dass „Limbo" bald auch außerhalb von Studentenfilm-Kreisen für Aufsehen sorgte, ist sehr verständlich, ein Kinostart mehr als verdient.

Weisser weisser Tag

Island, Dänemark, Schweden 2019 (Hvitur, Hvitur Dagur) Regie: Hlynur Pálmason, mit Ingvar Eggert Sigurdsson, Ída Mekkín Hlynsdóttir, Hilmir Snær Guðnason 109 Min.

Ein Autounfall im dichten Nebel und ein abgelegener Hof im Wechsel der Jahreszeiten. Ja, der isländische Regisseur Hlynur Pálmason ist sichtbar auch bildender Künstler und so wird aus dem Drama eines zur Trauer unfähigen alten Witwers ein besonderer Film.

Nach dem Knall zum Auftakt - in einsamer Berglandschaft fährt ein Wagen durch die Leitplanken - verfolgen wir den Wandel eines verlassenen Hofes wie eine bewegte Bild-Installation. Die langsam belebt wird, je mehr der ältere Mann Ingimundur (Ingvar Eggert Sigurdsson) das Haus herrichtet. Auch während der Sitzungen beim Psychologen mault er leicht aggressiv, er wolle nichts anderes, als ein Haus bauen und auf keinen Fall viele Fragen gestellt bekommen.

So nett Ingimundur als Opa sich um die Enkelin Salka (Ída Mekkín Hlynsdóttir) kümmert, weil die Eltern zu gestresst sind - dieser knorrige, bärtige Herr wirkt gefährlich verschlossen. Ein Karton voller Erinnerungen seiner verunfallten Frau stellt sein Inneres dann auf den Kopf. Da taucht in Videos ein Liebhaber auf, mit dem Ingimundur sogar noch Fußball spielt. Vom bösen Faul bis zu Gewehrschüssen bricht die lang verdrängte Trauer in gefährlicher Weise an die Oberfläche.

Noch so ein Drama um verschlossene Alte aus dem Norden erscheint vielleicht wenig geeignet für einen auch sehr kunstfertigen Film. Aber die üblichen Gespräche über Begehren und Treue werden bei Hlynur Pálmason begleitet mit Stillleben von Steinen und Detailaufnahmen des tödlichen Autounfalls. „Weisser weisser Tag" verfolgt auch mal zwischendurch den Sturz eines Steins über einen langen Abhang bis auf den Boden des Meeres. Dauernd unterbrechen Aufnahmen von Überwachungskameras die Bilder, dann fließt langsam Milch über eine Holzmaserung.

Was sich zeitweise faszinieren meditativ ansieht, wird dann zunehmend sehr dramatisch. Die Figur Ingimundurs fesselt, wie sie sich eigentlich liebevoll um die Enkelin kümmert. Plötzlich erzählt er ihr aber ziemlich heftige Schreckens-Geschichten. Das alles ist zum Glück weit entfernt vom ästhetischen Einerlei ähnlicher Bewältigungs-Dramen. Und wirklich mal „sehens"-wert.

10.2.20

Tommaso und der Tanz der Geister

Italien, Großbritannien, USA 2019 Regie: Abel Ferrara, mit Willem Dafoe, Cristina Chiriac, Anna Ferrara 117 Min. FSK ab 12

Mit einem allseitig fordernden Selbstporträt liefert der für skandalöse Filme aller Art berüchtigte Regisseur Abel Ferrara („Bad Lieutenant") ein spätes Meisterwerk ab. Willen Dafoe spielt den Filmemacher an der Seite von dessen tatsächlicher junger Frau und dessen echter dreijähriger Tochter.

Der amerikanische Filmemacher Tommaso Buscetta (Willem Dafoe) wohnt mit seiner jungen Frau Nikki (Cristina Chiriac) und der Tochter Dee Dee (Anna Ferrara) in Rom, lernt italienisch, gibt Schauspielunterricht und arbeitet an einem neuen Film. Dafoe spielt bewährt intensiv den Regisseur, der gleichzeitig hinter der Kamera steht. Mit dessen eigener Frau, die vor der Kamera spielt. Spätestens bei sehr intimen Szenen verursacht diese besondere Versuchsanordnung das typisch unangenehm irritierede Ferrara-Gefühl.

Bei den anonymen Alkoholikern erzählt Tommaso sehr gekonnt und berührend eine Geschichte von ganz unten - nicht unwahrscheinlich, dass sie der abhängige Ferrara selbst erlebt hat. Es gibt in „Tommaso" heftige Beziehungsprobleme, erotische Tagträume mit nackten Frauen, wahnsinnige Eifersucht und immer wieder erschütternde Geständnisse bei den AA-Sitzungen.

Aber im packenden Fluss ruhiger Szenen staunt man auch über eine unvermittelte Pontius Pilatus-Szene in Mafia-Milieu, beobachtet den recht fitten Dafoe bei Yoga und Meditation. Ferrara schafft es trotzdem, selbst in diesen reflektierten Film ein paar brutale Szenen einzubauen. Bis zu einer Kreuzigungsgruppe vor dem Bahnhof Termini, selbstverständlich mit Dafoe wieder als Christus. Der Schauspieler begeistert noch einmal in einer faszinierenden Rolle eines sehr vielschichtigen, getriebenen Mannes - voller Erfahrungen und immer noch orientierungslos.

Zwischen inszenierter Dokumentation, filmischer Beichte und kunstvollem Künstler-Porträt ist „Tommaso" ein sehr ruhiger und reifer Film, der aber seine immer noch die Effizienz seines erfahrenen Horror- und Gewalt-Regisseurs („The Addiction", „Body Snatchers") zeigt. Sehr berührend, interessant und nachdenklich machend.

9.2.20

Bombshell

USA, Kanada 2019 Regie: Jay Roach, mit Charlize Theron, Nicole Kidman, Margot Robbie, John Lithgow 110 Min. FSK ab 12

Sehr passend zur nicht gender-mäßig ausgewogenen Oscar-Veranstaltung startet diese glänzend schockierende Anklage sexueller Belästigung und Ausbeutung von Frauen in der Medien-Welt. Die wahre Geschichte des Falls von Fox-Chef Roger Ailes feiert die Erfolge von etwas weiblicher Solidarität noch vor #metoo und Harvey Weinstein.

Dass Donald Trump sich schon als Kandidat auch mit obszöne Bemerkungen und Aktionen gegenüber Frauen diskreditierte, ist heute schon wieder vergessen. 2016, zu Beginn des Wahlkampfs, konfrontierte Megyn Kelly (Charlize Theron), Moderations-Star bei Fox, ihn damit bei einer TV-Diskussion. Schon vorher wurde ihr vergifteter Kaffee untergeschoben, nachher sind Trumps Tweets und der inszenierte Shitstorm ebenso ungenießbar. Megyn Kelly badet einen kurzen Gesinnungswandel von Murdoch gegen Trump aus, muss allerdings auf Befehl von Fox-Chef Roger Ailes (John Lithgow) persönlich zurückrudern.

Diese totale Kontrolle eines vermeintlichen Nachrichten-Konzerns ist Teil der Farce „Bombshell" aus der Hölle des ultrakonservativen Medien-Löwen Rupert Murdoch. So flott der Film und seine Erzählerinnen auch durch die Redaktionsräume, Studios und Chef-Etagen führen, Angst und Beklemmung ist selbst bei überzeugten rechten Meinungs-Machern im Gesicht abzulesen. Und zunehmend bei den Frauen, die alle wissen, was in den Räumen des fetten, alten Bosses Roger Ailes passiert. Sie wissen und schweigen. Der Karriere willen.

In der „Bombshell"-Dramaturgie verklagt erst die ältere, degradierte und schließlich entlassene Moderatorin Gretchen Carlson (Nicole Kidman) wegen sexueller Belästigung den berüchtigten Senderchef Roger Ailes und den Murdoch-Konzern Fox. Sie muss auf Kolleginnen hoffen, die auch über erlittene Schweinereien von Ailes aussagen - lange vergebens. Zu den interessanten Identifikations-Figuren im Herzen des rechten Medienzentrums gehört als Dritte die naive Aufsteigerin Kayla Pospisil (Margot Robbie): Forsch drängt sie sich in das abgeschlossene Büro von Ailes, wo ihr schauerlich langsam klar gemacht wird, dass sie sexuell zur Verfügung stehen muss, wenn sie Erfolg haben will. Dass die Moderatorinnen nicht nur vor der Kamera ihre nackten Beine zeigen müssen, ist die Außenseite einer Konzern- und Gesellschafts-Mentalität, in der Frauen nur als Sexualobjekte etwas wert sind. Zwar herrscht bei Fox rechts-konservative Naivität bis zu gemeiner Blödheit, doch noch erschreckender sind die frauenfeindlichen Frauen, die nach ersten Anklagen als „Team Roger" nur Solidarität zum mächtigen Schwein zeigen. Erst der Blick auf die eigene Tochter lässt Megyn Kelly umdenken.

Es sind ambivalente Heldinnen, mit denen „Bombshell" den - Spoiler! - bekannten Fall des scheinbar allmächtigen Roger Ailes nachzeichnet. Dadurch bleibt diese Etappe im Kampf gegen Sexismus und Vergewaltigungen außer schockierend auch interessant und packend.

La Gomera

Rumänien, Frankreich, BRD 2019 Regie: Corneliu Porumboiu, mit Vlad Ivanov, Catrinel Marlon, Rodica Lazar, Sabin Tambrea 98 Min.

Dass „La Gomera" im Wettbewerb von Cannes lief, macht klar: Dieser klasse Krimi ist nicht die übliche Kost und trotz Strand und Lorbeerwald auch kein Urlaubsfilmchen für Fans des „Valle Gran Rey". Als der Bukarester Polizist Cristi (Vlad Ivanov) noch altmodisch per Fähre anlandet, begrüßen ihn schroffe Felsen, ein rauer Gangster und Gilda (Catrinel Marlon) im verführerisch roten Kleid. Eine der reizvoll eingebauten Rückblenden macht klar: Als die Frau den Polizisten in Rumänien beauftragte, einen Vertrauten aus dem Gefängnis zu befreien, kamen sie sich wegen der allgegenwärtigen Überwachungskameras zu Tarnung intim nahe. Jetzt sei das vergessen, betont sie, während er die berühmte Pfiff-Sprache El Silbo für die Befreiungsaktion lernt. Weitere Rückblenden machen weitere Verwicklungen um versteckte 30 Millionen Euro klar und den Gangsterboss Paco (Agustí Villaronga) sehr wütend. In dieser korrupten Gesellschaft hat auch Cristis Polizei-Chefin Magda (Rodica Lazar) eigene Pläne.

Dieser Arthaus-Krimi um Rache und Millionen spielt raffiniert mit Erwartungen und Sehgewohnheiten: Schon Gilda in rot ist eine alte Verführungs- und Filmgeschichte. Der Western im Kino wird zum finalen Feuergefecht ausgerechnet in der verlassenen Filmkulisse eines Western. Dazu gibt es in diesem wahrhaft pfiffigen Film eine gepfiffene Mackie Messer-Melodie. Regisseur und Autor Corneliu Porumboiu zeigt sich in „La Gomera" nicht als Speerspitze der rumänischen Nouvelle Vague. Doch sein Krimi ist in Geschichte und Schauspiel äußerst packend und sehr sehenswert.

Looking at the Stars

Brasilien, USA 2016 Regie: Alexandre Peralta 90 Min. FSK ab 0, Audiodeskription & Untertitel für Gehörlose

Mitten in Sao Paulo gibt es eine besondere Schule: Die Ballettschule „Associação Fernanda Bianchini" kümmert sich nicht nur um arme und benachteiligte Kinder, sie lehrt Blinden den Balletttanz! Die brasilianische Ballerina und Physiotherapeutin Fernanda Bianchini gründete diese außergewöhnliche Institution. Schon mit seinem Kurzfilm über diese Schule aus dem Jahr 2014 gewann Alexandre Peralta den „Studenten-Oscar". Die berührende, sehr gute Dokumentation „Looking at the Stars" begleitete nun über mehrere Jahren besondere Menschen dieser Schule.

Zwei faszinierende Frauen sind mit sehr persönlichen Portraits Protagonistinnen des Films: Geyza erblindete mit neun Jahren und ist heute Primaballerina und Ballettlehrerin an Fernanda Bianchinis Schule. Wir erleben ihren Alltag, die Zweifel daran, dass ihr Freund sie interessant finden könnte. Aber dann auch eine bewegende Hochzeit, die Geburt eines Kindes und bald die ersten Schritte zurück auf die Ballett-Bühne.

Geyzas Lieblingsschülerin scheint die 14-jährige Thalia mit dem so gewinnenden Lachen zu sein. Beim Unterricht mit dem Lehrer sehen wir, wie die blinden Schülerinnen die Bewegungen und Körperspannungen an anderen ertasten. Schnipsende Finger geben Rhythmus und Richtung vor. Sehende Tänzer unterstützen die Ballerinen.

Die lebenslustige und mutige Thalia erleidet Mobbing in der Schule. Dem Ausgegrenzt- und Nicht Verstanden-Sein setzt der Film eine poetisch inszenierte Tanzszene in den Schulräumen entgegen. Überhaupt findet Alexandre Peralta selbst in alltäglichen Beobachtungen immer wieder sehr sinnliche Aufnahmen.

Selbst wenn zwei öffentliche Aufführungen zu den Höhepunkten des Films zählen, ist der Alltag oft interessanter als die schwierigen Übungsstunden und die erstaunliche Faszination blinder Frauen und Mädchen für eine sehr optische Betätigung. Auch wenn dieser interessante Widerspruch nicht weitergedacht wird, bleibt „Looking at the Stars" eine hervorragend gemachte und berührende Dokumentation.