30.12.19

Freies Land (2019)

BRD 2019 Regie: Christian Alvart, mit Trystan Pütter, Felix Kramer, Nora Waldstätten, Marius Marx 129 Min. FSK ab 16

Schmutzige Engel von Charlie

In einem fremden Land, in ferner Zeit siedelt der Krimi-Spezialist Christian Alvart („Antikörper", „Dogs of Berlin", „Steig. Nicht. Aus.") einen grandios düsteren Thriller an, der sich atmosphärisch mit Hollywood und bei den Abgründen mit den Skandinaviern messen kann.

Strafversetzt ganz in den Osten, wird 1992 der zurückhaltende Hamburger Kommissar Patrick Stein (Trystan Pütter) im verfallenen Kaff Löwitz mit einer Serie von Morden an jungen Mädchen konfrontiert. Sein lauter Partner Markus Bach (Felix Kramer) stammt aus dem Osten, eine schmutzige Stasi-Vergangenheit wird ihm nachgesagt. Am Schießstand des Jahrmarkts werden im coolen Dialog die Ost-West-Vorurteile ausgetauscht. Der wegen seiner Korrektheit versetzte Verklemmte und der korruptions-verdächtige, geradlinige Typ ermitteln überraschend erfolgreich zusammen. Der eine denkt länger nach, der andere ermittelt beim Saufen und packt Verdächtige brutal an. Die ganze Bevölkerung scheint ihnen dabei feindlich gesinnt zu sein.

Regisseur Christian Alvart begeistert von Anfang an mit dem erstaunlichen Verfall einer heruntergekommenen, vergessenen Gegend im Osten, aus der die Menschen nur noch weg wollen. Vor allem für die ermordeten Mädchen waren die Verlockungen von Kapitalismus und Westen tödlich. Da gibt es auch den Vater, der für einen gebrauchten Golf das Glück seiner Töchter verkauft. Die Verschwundenen werden nach ihrem verdächtigen Freund Charlie „Drei Engel für Charlie" genannt.

Über Ostalgie und die Treffsicherheit dieser mehr als nur angedeuteten Diskussion, sollte man in Ruhe diskutieren. Aber als Thriller ist Alvarts Film ein Volltreffer. Vom kantigen Ermittler-Paar, das selbstverständlich innere Spannungen auszutragen hat, bis zur Flusslandschaft mit Schilfinseln bietet „Freies Land" reichlich Schau- und Denk-Material. Der Titel ist selbstverständlich ironisch gemeint, frei fühlt sich hier niemand. Die Fluchtversuche aus dem Gefängnis Löwitz führt zu Situationen wie bei Laura Palmer und „Twin Peaks". Selbst an „Element of Crime", dem Debüt eines Lars von Trier, muss man angesichts der Düsterheit (Kamera: Christian Alvart) denken. Dass diese nicht nur dekorativ bleibt, sondern tief in vielen guten Figuren steckt, macht „Freies Land" knallhart wie die skandinavischen Thriller.

Grandioses Setting mit faszinierend graphischen Luftaufnahmen, reihenweise Charakterköpfe, bedrohliche Atmosphäre, auf der Tonspur tiefes Bass-Brummen wie bei „Massive Attack". „Freies Land" ist ein Krimi-Meisterstück mit gelungenem Bodensatz aus Verelendung des Ostens und tödlicher Verlockung von Arbeit im Westen.

Little Joe

Österreich, BRD, GB 2019 Regie: Jessica Hausner, mit Emily Beecham, Ben Whishaw, Kerry Fox 100 Min.

Little Shop of Horror 2.0

Alice (Emily Beecham) ist alleinerziehende Mutter und erfolgreiche Botanikerin. Vielleicht ist es das schlechte Gewissen, weil sie so ganz und gar in ihrem Beruf aufgeht, das sie eine experimentelle Laborpflanze verbotenerweise mit nach Hause nehmen lässt. Denn ihr 13jähriger Sohn Joe (Kit Connor) wirkt nicht wirklich glücklich und die „Little Joe" genannte Blume soll Glückshormone versprühen. Das ist allerdings der Anfang einer ganzen Reihe seltsamer und sogar tödlicher Ereignisse...

Mit „Little Joe", für den Emily Beecham in Cannes den Darstellerinnen-Preis erhielt, scheint die Österreicher Regisseurin Jessica Hausner ihre Bestimmung gefunden zu haben: Schon ihre speziellen und hoch interessanten Filme „Lovely Rita", „Amour Fou", „Lourdes" und vor allem „Hotel" atmeten eine besonders unterkühlte Atmosphäre. (Und damit eine stilistische „nationale" Verwandtschaft mit Ulrich Seidl und Michael Haneke.) „Little Joe" ist nun eine labortechnisch gekühlte Version von „Der kleine Horrorladen" („Little Shop of Horrors") um eine Pflanze mit gefährlichem Eigenleben. Dass die anderen Pflanzen im Labor eingehen, könnte ein erstes Zeichen von Eifersucht sein.

Die knallrote Blume, die mit den roten Haaren ihrer Schöpferin korrespondiert, ist sehr pflegeintensiv: Man muss mit ihr reden, sie am besten lieben wie das eigene Kind. Und es sie keinesfalls anmerken lassen, wenn man misstrauisch wird. Alice und die Pflanze werden nie richtige Freunde werden. Denn die Pflanze macht nicht wirklich glücklich, sie blockiert nur alle Gefühle. Den Infizierten ist alles egal. Klingt wie ein Werbespruch für das entsprechende Medikament der Wahl.

Dieser sehr bodenständige Science Fiction erzählt wie alte US-Horrorfilme - nur in modernster Umgebung. Das scheinbar steril wissenschaftliche Thema entwickelt sich von Anfang an hoch spannend, vor allem das bei aller Zurückhaltung intensive Spiel packt. Sehr passend sind die für Jessika Hausner typischen kühlen Kulissen. Nur die Geräusche auf der Tonspur sind echt Horrorfilm. „Little Joe" - ein gutes Rezept für filmisches Glück.

Milchkrieg in Dalsmynni

Island, Dänemark, Deutschland, Frankreich 2019 (Heradid) Regie: Grímur Hákonarson, mit Arndís Hrönn Egilsdóttir, Sveinn Ólafur Gunnarsson, Sigurður Sigurjónsson 92 Min. FSK ab 6

Nachdem ihr Mann mit dem Laster verunglückt, muss Inga in der isländischen Provinz nicht nur alleine mit ihrer kleinen, hochverschuldeten Milchfarm zurechtkommen. Sie widersetzt sich auch über Facebook der Genossenschafts-Mafia, der lokalen Kooperative, welche die Bauern drangsaliert. Dazu erfährt Inga, dass beim Unfall ihres Mannes Selbstmord vermutet wird. Er spionierte für die Genossenschaft und verriet abtrünnige Bauern, um seinen eigenen Hof zu retten.

Der Titel „Milchkrieg in Dalsmynni" ist das packendste an diesem in jeder Hinsicht behäbigen Film: Die Situation Ingas wird recht dröge dargelegt. Irgendwann versprüht sie die Milch in einem einsamen Protest mit dem Gülle-Wagen. Und nachts wollen die Handlanger der Kooperative ihre Fenster einschmeißen. Aber verglichen mit der isländischen Öko-Kämpferin in „Gegen den Strom" ist das hier purer Winterschlaf. Vielleicht stehen große Themen von einem Umbruch hinter der kleinen Geschichte, aber die lassen sich höchstens erahnen. Selbst als ihr Widerstand Nachfolger findet und man eine neue Kooperation will, passiert das nicht besonders dynamisch. Für das Eintrittsgeld sollte man besser Milch direkt beim Bauern kaufen.

29.12.19

Jeanne d'Arc

Frankreich 2019 Regie: Bruno Dumont, mit Lise Leplat Prudhomme, Jean-François Causeret, Daniel Dienne, Fabien Fenet 138 Min.

Die am meisten ersehnte Fortsetzung dieses Dezembers zeigt, wie es weitergeht mit der jungen Schäferin Jeanne, die durch Gottes Erscheinung und Hardrock-Musik zur Befreierin von Frankreich wurde: „Jeanne d'Arc" von Bruno Dumont fällt im zweiten Teil überraschend konventionell aus.

Jeanne (Lise Leplat Prudhomme) ist nun ein junger Teenager in Kriegs-Rüstung. Wieder in der Dünenlandschaft Nord-Frankreichs, welche die Bühne bildet für eine ganze Reihe von hölzernen Auftritten, die von den Schlachten berichten. „Jeanne d'Arc" basiert auf den Romanen von Charles Péguy. Während die Handlung für moderne Verhältnisse extrem dünn ist, wartet man bei Dumont doch immer wieder mit Spannung auf Wundersames: Diesmal tanzt ein Pferd zu militaristischem Trommeln Dressur, dann noch mehr ästhetischer Pferde-Zirkus. Das ist dann selbst bei kleinem Etat und spartanischem Konzept ganz großes Kino. Ansonsten nach der ersten Niederlage für Jeanne wieder viele Dialoge draußen und in der Kathedrale von Amiens, anstelle des historisch korrekten Schlosses in Rouen.

Es folgt die genaue Vorstellung ihrer Richter, Theologen, sehr wohlhabender Männer und ein paar Juristen. Die Kirchenleute mit ihrer Vorstellung von Gerechtigkeit, Folter und Verurteilung sind eine böse Karikatur. Man ahnt, dass es – Spoiler! – nicht gut ausgehen wird. Doch weiterhin wartet man mit Spannung auf die erste schwebende Figur, das Markenzeichen Dumonts. Doch es gibt nur eine einzige Musical-Einlage, sie beschreibt das Grauen der Hölle.

Nach Carl Theodor Dreyers „Die Passion der Jungfrau von Orléans", Robert Bresson, Luc Besson (mit Milla Milla Jovovich) und Jacques Rivettes „Johanna, die Jungfrau – Der Kampf/Der Verrat" (Jeanne la Pucelle) aus 1994 mit Sandrine Bonnaire arbeitet sich mit Bruno Dumont („La vie de Jésus", „L'Humanité", „Flandern") nun einer der interessantesten Filmemacher des heutigen Frankreichs an der Nationalheiligen ab. „Jeanne d'Arc" ist dabei nicht so erfrischend abstrus wie der Vorgänger „ Jeannette" und nur eine Ahnung von den besseren „weltlichen" Filmen Dumonts.

27.12.19

Judy

Großbritannien 2019 Regie: Rupert Goold, mit Renée Zellweger, Jessie Buckley, Finn Wittrock, Rufus Sewell, Michael Gambon 118 Min. FSK ab 0

A star is dying

Der Anfang ist ein Traum und der brutal harte Preis dafür in einem Bild: Auf dem Set des Filmklassikers „Der Zauberer von Oz" mit dem berühmten gelben Weg durchs Traumland macht der übergriffige Hollywood-Mogul Louis B. Mayer dem unsicheren Mädchen klar, dass sie ihm gehört und nach seiner Pfeife tanzen muss.

Wie Frances Ethel Gumm, mit Künstlername Judy Garland, nun ohne eigenes Leben nur Tanzen, Singen und Schauspielen muss, wie sogar ihre Geburtstagsparty zwei Monate vor dem richtigen Datum inszeniert wird, zeigen Rückblenden aus dem Leben eines gebrochenen, tablettenabhängigen Ex-Stars. Dreißig Jahre später tourt die stark gealterte Judy Garland (Renée Zellweger) mit ihren beiden jungen Kindern, kann aber trotzdem das Hotel nicht bezahlen. Die Filmkarriere mit „A Star Is Born" (1954) ist lange vorüber. Ihr ehemaliger Mann und Manager Sidney Luft (Rufus Sewell) will sich gerne um seine Kinder kümmern, aber dafür auch das Sorgerecht haben. Anscheinend war Garland als Mutter und Künstlerin nicht besonders zuverlässig.

Schon der Anfang des Films (nach dem Bühnenstück „End of the Rainbow" von Peter Quilter) findet Judy Garland ganz unten, und um den Leidensweg abzukürzen: „Judy" wird keine Erfolgsgeschichte mehr, nicht mal die eines kurzen Comebacks. Der beste Moment für Judy wird noch ein privates Essen mit zwei heimlich schwulen Fans nach dem Konzert sein. Es gibt eine kurze Hoffnung mit dem fünften Ehemann Mickey Deans (Finn Wittrock), doch auch er scheint sie nur ausnehmen zu wollen. Garland wird - Vorsicht Spoiler! - kurz nach den letzten Konzerten in London, von denen der Film hauptsächlich erzählt, 1969 im Alter von 47 sterben.

Wie Renée Zellweger nun in dieser Rolle für einen Oscar gehandelt wird, ist ein blinder Automatismus: Der Ausdruck soll durchs Wissen verstärkt werden, dass auch die Darstellerin einen Karriereknick erlebte. So mag „Judy" als Oscar-Vehikel vielleicht geeignet sein, als beeindruckender Film nicht unbedingt: Die Figur der unglücklichen und unsichere Frau mit Alkoholproblem ist zu eindimensional, ihre Tragik ebenso. Zu oft erinnert Renée Zellweger noch an „Bridget Jones", nie verschwindet ihr Gesicht wirklich in der Rolle. Aber vor allem haben die von Zellweger selbst gesungenen Lieder wie „Over the Rainbow" nie den Zauber, mit dem die Garland noch als menschliches Wrack ihr Publikum verzauberte.

3 Engel für Charlie (2019)

USA 2019 (Charlie's Angels) Regie: Elizabeth Banks, mit Kristen Stewart, Naomi Scott, Ella Balinska, Elizabeth Banks, Patrick Stewart 119 Min. FSK ab 12

Weibliches Empowerment im Modewahn auf hohen Hacken kann gehen, doch „Charlie's Angels", diese sexistische Agentinnen-Geschichte in Bikini, eignet sich überhaupt nicht dafür. So vergeigt ausgerechnet Hauptdarstellerin, Autorin und Regisseurin Elizabeth Banks die letzte Rettung „Ironie".

Die 1976-1981 ausgestrahlte Fernsehserie „Charlie's Angels" erfuhr Anfang der 2000er ein „Revamping" mit Cameron Diaz, Drew Barrymore und Lucy Liu in den Hauptrollen. Das war in jeder Hinsicht überdreht und eher albern als action-spannend angelegt.

Nun übernimmt das bekannte Gesicht Elizabeth Banks die Bosley-Rolle. Also nicht nur als Agenten-„Handler", der die Aufträge vom anonymen Charlie an die Angels weitergibt, sondern auch hinter den Kulissen als Autorin und Regisseurin. Die drei Engel sind mit Kristen Stewart, Naomi Scott und Ella Balinska eher irritierend besetzt.

Die Handlung um eine neue faustgroße Energiequelle mit gefährlichen Möglichkeiten ist hauptsächlich lächerlich. Der klasse Action-Choreografie in einem Hamburger Kaffee folgt eine Verfolgungsjagd mit übertriebener Waffenausstattung. Die schematischen Agentinnen-Szenen vor touristischen Postkarten-Orten können bei Null Glaubwürdigkeit und mäßiger Raffinesse nur über den „Look" interessieren. Ja, die geballte Frauenpower sieht mit häufigen Wechseln flotter Klamotten mehr nach „Sex in the City" als nach „Mission Impossible" aus.

Kristen Stewart spielt die zu jugendlich freche Sabina. Die ehemalige Edel-Vampirin hat schon einige komische Sachen gemacht („Die Wolken von Sils Maria", „Personal Shopper""), aber an die Rolle dieses Engels kann man sich echt nicht gewöhnen. Stewart sieht selbst auf den Werbefotos, die in allen Zeitungen zu sehen sind, deplatziert aus. Das ist tragisch, wenn man erlebt hat, wie sie kluge Rollen spielt. Naomi Scott („Aladdin", „Power Rangers") und Ella Balinska („The Athena") wirken eher unauffällig. Patrick Stewart als Ex-Bosley und Jonathan Tucker als Killer machen da mehr her. Die Fortsetzung ist schon angelegt, aber alle Beteiligten könnten ihre Talente besser einsetzen.

25.12.19

Cats (2019)

Großbritannien, USA 2019 Regie: Tom Hooper, mit Francesca Hayward, Judi Dench, Jason Derulo, Idris Elba, Jennifer Hudson, Ian McKellen, James Corden, Taylor Swift, Rebel Wilson 111 Min. FSk ab 0

Vom absoluten Musical-Superhit zum heißen Kandidaten bei „Schlefaz" (Schlechtester Film aller Zeiten) auf Tele 5. Bei der Verfilmung von Andrew Lloyd Webbers „Cats" ist mehr als einiges schief gelaufen. Gefundenes Katzenfutter für die Kritik!

Dass es fast vierzig Jahre dauerte, bis „Cats" auf die Leinwand kam, lässt schon misstrauisch werden. Und dann sorgten die beiden Trailer für allgemeines Entsetzen. Dieses setzt sich im Film schon beim ersten Liedchen fort: Digital überarbeitete Fell-Kostüme lassen die Tänzchen aussehen, wie die Hupfdohlen-Darbietung einer Laientanzgruppe. Bei Vorspiel eines Katzenjammer-Castings für ein neues Leben (sind neun nicht genug?) will man wirklich nicht sehen, wie die immer provokant spielende Rebel Wilson sich im Schritt kratzt. Überhaupt ist das Thema „Katzen mit Brüsten" eines der populärsten Punkte in den niederschmetternden Reaktionen zu „Cats".

Die geradezu beleidigend banale Handlung und die schmerzhaften Ohrwürmer sind Geschmackssache - über 80 Millionen Zuschauer beim Musical „Cats" können in einer Welt von Populismus und Charts-Diktatur nicht irren. Doch zu dem Abgeschmackten gesellen sich handwerkliche Fehlgriffe: Die Größenverhältnisse der Katzen zu den Kulissen wechseln so oft, als wäre dies ein Arthouse-Experiment. Dann verrutschen sogar mal die digitalen „Masken" - die Anschlüsse der echten Gesichter zu den aufkopierten Fellen stimmen nicht. Und auch das Rumhüpfen - andere nennen es „Ausdruckstanz" - im Trickstudio vor später einkopierter Kulisse landet nicht immer nachvollziehbar „echt".

Zwar zeigt die Primaballerina Francesca Hayward als junge Katze Victoria mit hübschem Gesicht, dass wir mit ihr staunen sollten. Aber auch hier erwecken diese Schnurrbart-Haare im Gesicht Gänsehaut - der unguten Art. Wie die Figuren ist auch „Cats" selbst ein Zwitterwesen zwischen konsequent durchgezogenem Fantasy und einem Schauspiel-Film. Dieses fatale Scheitern ist jedenfalls die haarigste Angelegenheit seit „Human Nature" von Michel Gondry und Charlie Kaufman mit einer heftig behaarten Patricia Arquette.

Ganz unabhängig davon, wie man diese Stimmen und den Gesang findet, lippensynchron geht es auch hier ganz schief, weil die bekannten deutschen Texte nicht zu den Original-Bewegungen passen. Dazu irritierend zappelnde Ohren und fertig ist die Film-Katastrophe trotz Star-Regisseur Tom Hooper („The King's Speech", „Les Misérables", „The Danish Girl") und prominenter Besetzung (James Corden, Judi Dench, Idris Elba, Jennifer Hudson, Ian McKellen, Taylor Swift). „Das muss man gesehen haben", meint der Verleih Universal weiterhin und drückt die Peinlichkeit zum Fremdschämen trotz historisch schlechten Bewertungen weiter in alle Kinos.

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

BRD, Schweiz 2019 Regie: Caroline Link, mit Riva Krymalowski, Oliver Masucci, Carla Juri, Justus von Dohnányi, Marinus Hohmann 119 Min. FSK ab 0

Die wundervolle, in jeder Hinsicht gelungene Verfilmung von Judith Kerrs modernem Klassiker „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" ist eine Flüchtlings-Geschichte zur rechten Zeit, wobei letztens die Zeiten leider dauernd rechts sind: Anfang 1933 verkleiden sich die neunjährige Anna Kemper (Riva Krymalowski) und ihr Bruder Max (Marinus Hohmann) beim Fasching noch als Bettelmädchen und Zorro, der gegen die Nazis kämpft. Die brauchen sich allerdings nicht zu verkleiden - sie bleiben einfach in ihren Uniformen und die dummen Gewalttäter, die ihre Eltern ihnen vorleben.

Schon am nächsten Tag erfahren die Kinder, dass sie fliehen müssen: Ihr Vater ist der berühmte Theater-Kritiker Arthur Kemper (Oliver Masucci), der sich auch deutlich gegen Hitler ausgesprochen hat. In zehn Tagen werden die historisch so fatalen Wahlen zum Reichstag vom März 1933 stattfinden, die zig Millionen Menschen das Leben kosten werden. Kemper steht bereits auf der Liste der Menschen, die direkt verhaftet werden sollen. Verfolgt werden sie nicht nur als Sozialisten, sondern auch als Juden.

Nun erzählt der wundervolle Jugend- und Familien-Film die Geschichte dieser Flucht erst in die Schweiz, dann nach Paris und schließlich nach London. Allerdings nicht dramatisch, sondern als kluge und lebens-echte Binnenansicht eines deutschen Flüchtlingskindes, das Armut und Antisemitismus erfährt.

Arthur Kemper ist eigentlich der geniale Kritiker Alfred Kerr und „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" die Erinnerung von Flucht und Ausgrenzung seiner Tochter Judith. Denn - Achtung: Spoiler - sie überlebte Hitlers Nationalsozialismus und wurde als Illustratorin und Schriftstellerin auch vieler Jugendbücher berühmt. Judith Kerr starb erst im Mai 2019 im Alter von 95 Jahren.

Die bei allen Erfolgen vielleicht immer noch unterschätzte Regisseurin Caroline Link („Der Junge muss an die frische Luft", „Nirgendwo in Afrika") setzt den 1971 veröffentlichten Bestseller zurückhaltend und konventionell um, macht dabei aber alles mehr als richtig. Seit „Jenseits der Stille" weiß man, dass sie Kinder ganz hervorragend inszenieren kann. Mit Riva Krymalowski als Anna machte das Casting eine ganz besondere Entdeckung. Sie wirkt natürlich, man nimmt ihr ebenso die naseweise Klugheit ab, wie die kindliche Trauer um das titelgebende Kaninchen-Stofftier, das ihr bei der berichteten Ausraubung der Berliner Wohnung am wichtigsten ist.

Überhaupt ist es ein Genuss, die wunderbaren Menschen aus Kerrs Geschichte so exzellent gespielt miterleben zu dürfen: Die Kempers sind besonders kultivierte Menschen und eine liebevolle Familie, die offen über ihre problematische Situation spricht, wenn das Geld im Pariser Exil nicht mehr für Essen, Licht und Miete reicht. So spüren wir mit, wie es ist, aus einem sehr vertrauten, modernen Umfeld in die Situation eines Flüchtlings geworfen zu werden.

Das alles aber ohne bedrohlichen Nazi-Aufmarsch, ohne künstliches Drama. Stärker in der Geschichte eines sehr klugen, mutigen und optimistischen Mädchens sind die Szenen vom wiederholten persönlichen Abschied vom zeitweiligen Heim, die geistreichen Bemerkungen, die sie als Tochter des unvergleichlichen Alfred Kerr ausweisen.

So gelingen Link und Kerr das Wunder, einen historischen Stoff zeitlos nahe zu bringen und das eigentlich furchtbare Exil als hoffnungsvolle Geschichte voller Kultur und Liebe zu erzählen. Ob in einigen Jahre ein Mädchen von ihrer furchtbaren Zeit im winterlichen Asyl in Griechenland so hoffnungsvoll erzählen wird, ist sehr fraglich.

Buñuel im Labyrinth der Schildkröten

Spanien, Niederlande, BRD 2019 (Buñuel en el laberinto de las tortugas) Regie: Salvador Simó 80 Min.

Nach seinen ersten Filmen „Ein andalusischer Hund" (1928) und „Das goldene Zeitalter" (1930) ist der Spanier Luis Buñuel einer der führenden Köpfe des Surrealismus. Beim letzten Film bezeichnet ihn das Publikum als Atheist, Faschist und Kommunist. Der Papst selbst sorgt dafür, dass Buñuel nicht mehr drehen kann. Der Mann aus Aragon greift deshalb ein Doku-Projekt in der abgelegenen Extremadura auf. „Las Hurdes - Land ohne Brot" wird eine erschütternde Anklage der extremen Armut auch im Westen Spaniens. „Buñuel im Labyrinth der Schildkröten" ist das hoch interessante und bewegende Making Of - als Animation!

Kein Produzent traut sich 1930, noch mit Buñuel zu arbeiten. Doch sein Freund, der Bildhauer Ramón Acín, wird nach einem Lotterie-Gewinn sein Produzent, wie einst besoffen versprochen. Mit kantigen Physiognomien, einfachen Zeichnungen, mit Albträumen im Stile von Dalis Surrealismus' arbeitet Regisseur Salvador Simó bei dieser Verfilmung der gleichnamigen Graphic Novel von Fermín Solís.

Es gibt Rückblenden zu Buñuels Kindheit und ersten Kinder-Aufführungen mit Schatten-Theater unter dem Blick des strengen Vaters. Und in der auch immer wieder lustigen Animation tauchen dann die Originalbilder aus der Dokumentation auf: Verfallene Hütten, zerlumpte Bekleidung, Missgestaltete Gesichter, Kinder sterben in den Gassen des Dorfes, das aus der Ferne aussieht wie eine Ansammlung von Schildkröten-Panzern. Daher der Filmtitel.

„Buñuel im Labyrinth der Schildkröten" ist eine schöne Huldigung des Regisseurs Buñuel und seiner Arbeit. Gleichzeitig ein biografisches Kapitel über Buñuels Wende zum sozial bewussten Menschen und ein erschütterndes Dokumentes der Armut im Spanien vor dem Bürgerkrieg. Der außergewöhnliche Film gewann den Spezialpreis der Jury beim diesjährigen Festival d'Animation Annecy, dem international bedeutendsten Filmfestival für Animationsfilme. Nebenbei macht er auch neugierig, „Las Hurdes" zu sehen.

23.12.19

Knives Out

USA 2019 Regie: Rian Johnson, mit Daniel Craig, Chris Evans, Ana de Armas, Jamie Lee Curtis, Michael Shannon 130 Min.

Die reiche, aber zerstrittene Familie ist nach dem Tod ihres Patriarchen Harlan Thrombey (Christopher Plummer) versammelt und jemand will gestehen. Da stürmt der berühmte Detektiv Benoit Blanc (Daniel Craig) herein und alles ist anders als gedacht. Klingt sehr nach Agatha Christie, ist aber modern raffiniert geschrieben und mit vielen Stars köstlich inszeniert vom Talent Rian Johnson („Star Wars: Die letzten Jedi", „Looper", „Brothers Bloom").

Der renommierte, reiche Krimiautor und Familienpatriarch Harlan Thrombey
wurde nach der Feier zu seinem 85. Geburtstag tot aufgefunden. Die Polizei verhört den Clan auf dem weitläufigen Familienanwesen, die Zeugen-Aussagen sind raffiniert gegen- und ineinander geschnitten. Wobei sich selbstverständlich die Erinnerungen von den wahren Ereignissen unterscheiden, die wir in Rückblenden sehen: Da wurde auf der Feier die angeblich so esoterische Schwiegertochter Joni Thrombey (Toni Colette) überführt, Geld veruntreut zu haben. Sohn Walt Thrombey (Michael Shannon) bekommt die Verlagsleitung entzogen. Der verwöhnte Enkel Ransom Drysdale („Avengers" Chris Evans) erfährt, dass Harlan sein Testament geändert hat. Nur scheinbar unbeteiligt, ist die medizinische Hilfe Marta Cabrera (Ana de Armas, „Blade Runner 2049") die Einzige, die wirklich um Harlan trauert. Auch Jamie Lee Curtis („Halloween") und Don Johnson („Book Club") spielen fiese Rollen in dieser nicht sehr ehrenwerten Gesellschaft.

Im Hintergrund lauscht und ermittelt der berühmte, aber sonderbare Detektiv Benoit Blanc, dem Daniel Craig einen großartigen Auftritt gibt. Mit übertrieben tiefer Stimme und mehr Präsenz als Präzision in den Ermittlungen, freut man sich durchgehend, dass er nach dem Bond-Ende mehr Zeit für solche klasse Filme haben wird. Seine Ermittlungen führen zu einigen Überraschungen, immer dabei die sympathische Marta, Tochter einer illegalen Einwandererin aus Südamerika. Mit der originalen Besonderheit, dass sie sich immer übergeben muss, wenn sie lügt. Und tatsächlich werden auch aktuelle politische Standpunkte erwähnt: Die Reichen sind nicht nur verlogen und hinterhältig, sind wettern auch gegen Flüchtlinge und tendieren zu den Alt Right-Nazis der USA. Schließlich gibt es sogar ein sehr schönes Bild vom sozialen Umsturz.

Ja, da kommt einem einiges so bekannt vor, wie die Darsteller sind. Doch im Gegensatz zu den richtigen Agatha Christie-Verfilmungen verkommen der typische Detektiv und die Promi-Riege nicht zu Karikaturen. Hier wird es nicht unfreiwillig, sondern nur mal richtig komisch. Ana de Armas und Craig spielen gut, die Inszenierung ist hervorragend. Ein klasse Krimi-Vergnügen, bei dem mal nicht die prominente Besetzung den Spaß verdirbt.

22.12.19

Der Geheime Roman des Monsieur Pick

Frankreich, Belgien 2019 (Le Mystère Henri Pick) Regie: Rémi Bezançon, mit Fabrice Luchini, Camille Cottin, Alice Isaaz, Hanna Schygulla 100 Min. FSK ab 0

„Der geheime Roman des Monsieur Pick" beginnt als lauwarmes Geschichtchen mit etwas Kritik auf den Literaturbetrieb, vielleicht wird es eine Komödie auf abgelegener Insel der Bretagne. Dort gibt es eine Bibliothek der zurückgewiesenen Buch-Manuskripte. Die junge Verlegerin Daphné (Alice Isaaz) entdeckt dort - nachdem das Debüt ihres Freundes floppte - einen großartigen Roman, der sofort zum Bestseller wird. Wobei der Autor Henri Pick, ein bretonischer Pizzabäcker, seit zwei Jahren tot ist.

Doch dann schießt sich der bekannte und etwas oberflächliche Literaturkritiker Jean-Michel Rouche (Fabrice Luchini) auf die Sache ein und es wird spannend: Wie kann ein Pizzabäcker, den niemand jemals hat schreiben, geschweige ein Buch lesen gesehen hat, so einen Roman vollbracht haben? Und woher kommen die Kenntnisse der russischen Literatur, sogar der nichtübersetzten? Wie ein Detektiv erkundet der ver- und entlassene Rouche mit dem Fahrrad das kleine Dorf, in dem sich seit dem Erfolg des verstorbenen Mitbewohners Henri Pick seltsame Dinge vortun. Der Chef der Creperie, die ehemals Pizzeria war, ist jedenfalls auch schlecht gelaunt, weil seit dem Buch alle Leute nur noch Pizza bestellen wollen.

Die sehr schöne Idee einer Bibliothek der abgelehnten Manuskripte ist Hintergrund einer netten, leichten Geschichte. Ab und zu gibt es kriminalistische Klänge und dann auch wieder komödiantische auf der Tonspur. Mit der sehr belesenen Tochter von Henri Pick bildet er ein nettes Pärchen im Stile von Sherlock und Doktor Watson, Romantik nicht ausgeschlossen. Auch die nicht ganz überraschende Auflösung kommt nicht allzu dramatisch daher, aber die Leichtigkeit mit ein paar bissigen Gedanken über Literaturkritiker bleibt stimmig in diesem vergnüglichen und gut gemachten Film.

18.12.19

Latte Igel und der magische Wasserstein

BRD, Belgien 2019 Regie: Regina Welker 82 Min. FSK ab 0

Einen Klassiker hat die alles vereinnahmende Industrie der Kinderbuch-Verfilmung noch gefunden - in Finnland! Der Roman von Sebastian Lybeck, der 1959 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde, erfährt eine erstaunlich professionelle deutsche Animation, allerdings auch einen ruhelosen Handlungsverlauf in der Öko-Tiergeschichte.

Prinzessin Latte ist eine mutige, egoistische und eingebildete Igel-Waise, die am Rande der Tiergemeinschaft im Wald lebt. Als der Wassermangel zu groß wird, zieht das Igel-Mädchen los, um den mythischen Wasserstein zu finden. Denn der verschrobene Raben Korp erzählte, Bärenkönig Bantur hätte den magischen Wasserstein gestohlen und in seiner Palasthöhle versteckt. Ihr hinterher hechelt das schreckhafte und ängstliche Eichhörnchenjunge Tjum. Sie raufen miteinander und raufen sich zusammen.

„Latte Igel und der magische Wasserstein" ist vor allem eindrucksvoll animiert. Igel, Eichhörnchen und Vögel sehen sehr, sehr echt aus, fotorealistisch sogar, sagen einige. Was für die Pelztiere gelten mag, während Wölfe oder die als dämonischer Seher überzeichnete Krähe den Fantasie-Wesen näher sind.

Doch zwingt der enorme Einsatz bei der Animation vielleicht zu einer risikolosen und konturlosen Erzählung, weil das Geld ja unbedingt wieder reinkommen muss? Das Ergebnis ist jedenfalls ein hyperaktiver Animationsfilm. Rast- und atemlos, bisweilen auch gehetzt, folgen die kleinen Helden dem ausgetrockneten Fluss. Dazu trägt die Musik selbst in undramatischen Szenen zu dick auf. Der Angriff eines Luchses mag so für die ganz Kleinen sogar zu spannend sein. Außerdem wirkt das mutige Igel-Mädchen mit ihren dauernden Streitereien nicht wirklich sympathisch.

Jeannette - Die Kindheit der Jeanne d'Arc

Frankreich 2017 (Jeannette - L'Enfance de Jeanne d'Arc) Regie: Bruno Dumont, mit Lise Leplat Prudhomme, Jeanne Voisin, Lucile Gauthier, Aline Charles 114 Min.

Was hat eigentlich Jeanne d'Arc gemacht, bevor sie beritten in glänzender Rüstung Frankreich rettete? Schafe gehütet, mit Nonnen auf Metal-Musik abgerockt und sich mit schwebenden Heiligen unterhalten. So jedenfalls in dieser Musical-Version der Kindheit der Jeanne d'Arc vom genialen Filmemacher Bruno Dumont.

Im Jahr 1425 tobt der Hundertjährige Krieg auch im Norden Frankreichs. Im kleinen Dorf Domremy erlebt die achtjährige Jeannette die Grauen des Krieges und erzählt beim Schafhüten ihrer Freundin Hauviette davon. Jeannette will die bösen Engländer vertreiben. Die Nonne Madame Gervaise versucht, es ihr auszureden, doch Jeannette besteht darauf, von Gott persönlich beauftragt worden zu sein.

„Jeannette - Die Kindheit der Jeanne d'Arc" ist im Stil so simpel wie seine Figuren. In einer Dünenlandschaft bewegt sich die Kamera so gut wie nicht. Auch wenn Jeannette und die Nonnen immer wieder zu Hard-Rock in Tanz und Gesang ausbrechen, ist dies kein Lars von Trier-Musical. Alles ist bei allem Können Dumonts bewusst nicht perfekt inszeniert und gespielt. Ein Hilfe suchender Blick geht schon mal an der Kamera vorbei. Gesang und Tanz sehen nach Laientruppe aus.

Die radikale Einfachheit steht dabei für einen radikalen Glauben: Die Bevölkerung wünscht sich nach Jahrzehnten des Krieges einen endgültigen Sieg der Engländer, sie seien schließlich gute Christen und disziplinierter im Brandschatzen als die Franzosen. Doch die Gottes-Kriegerin Jeannette will den „guten französischen Boden" von den Fremden befreien. Ziemlich nationalistisch dieser Text des französischen Schriftstellers Charles Pierre Péguy (1873 - 1914). Das Unten und Oben derer, die an göttliche Ordnungen und an die passende weltliche Unterdrückung glauben, manifestiert sich in den fixen Kamera-Standpunkten.

Aber Dumont durchbricht dies alles mit den rauen Songs des französischen Metal-Musikers Igorrr und den Choreographien von Philippe Decouflé, der bereits für Beyoncé und New Order arbeitete. Wie auch in seinen früheren, „gegenwärtigeren" Filmen „La vie de Jésus" (1997), „L'Humanité" (1999) oder „Flandern" (2006) irritiert und fasziniert der aus der Küstenregion Nordfrankreichs stammende Dumont gleichermaßen. Schwebende Figuren sind quasi ein Markenzeichen des französischen Flamen geworden. In letzter Zeit setzte er der mit Fabrice Luchini, Valeria Bruni Tedeschi und Juliette Binoche sehr prominent besetzten, skurrilen und absurden Komödie „Die feine Gesellschaft" (2016) die herrlich komischen TV-Serien „KindKind" / „Quakquak und die Nichtmenschen" (2014/18) entgegen. Dabei sind bei allen verdrehten Umsetzungen Glaubens- und existentielle Fragen immer in seinen Filmen eingewebt. „Jeannette" wird schon Anfang Januar mit „Jeanne d'Arc" fortgesetzt.

7500

BRD, Österreich 2019 Regie: Patrick Vollrath, mit Joseph Gordon-Levitt, Aylin Tezel, Omid Memar 92 Min.

Die Zahl „7500" steht in der Luftfahrt für eine Flugzeugentführung. Es ist also klar, wohin der Flug von Berlin nach Paris steuern wird. Doch intensiv ist diese Inszenierung schon vor dem Abheben. Die einzelnen Schritte vom Checken des Flugmaterials bis zum Bestellen des Menüs, das Gespräch vom amerikanischen Ko-Piloten Tobias Ellis (Joseph Gordon-Levitt) mit seinem Kapitän und der heimlichen Freundin hinten im Passagierabteil ... alles, was im Cockpit passiert, packt bereits bevor Außergewöhnliches passiert.

„Alles, was im Cockpit passiert" ist dann auch der ganze Film. Denn er verlässt - bis auf Überwachungsvideos am Anfang und den Monitor zum Passagierraum - nie diesen engen Raum, diese Hochdruckkammer der Spannung. Regisseur Patrick Vollrath intensivierte diese dichte Kammerspiel-Wirkung schon beim Dreh: Er ließ die Kamera 20, 30, manchmal 60 Minuten am Stück laufen. Und diese immense Anspannung ist im Film spürbar.

Mit dem Essen für die beiden Flugzeug-Führer brechen Gewalt und Action in die Kabine ein. Zwei Männer versuchen, in die Kanzel einzudringen, verletzten den Kapitän schwer und den Ko-Piloten am Arm. Doch Tobias drängt einen wieder hinter die Sicherheits-Türe und schlägt den anderen ohnmächtig. Während weitere Entführer enervierend auf die Türe hämmern, drohen sie über Kamera und Sprechanlage, Passagiere zu ermorden, wenn man sie nicht in die Kabine lässt. Derweil steuert Tobias Hannover für eine Notlandung an...

Bei allen Unterschieden zu den üblichen Flugzeug-Entführungen, bei denen Präsidenten („Air Force One") oder Jodie Foster („Flightplan") in erstaunlich weitläufigen Maschinen die Kontrolle zurückgewinnen, hat „7500" vor allem eines mit ihnen gemeinsam: Er ist extrem spannend! Der entscheidende Unterschied neben der Konzentration auf engen Raum liegt im Fokus auf der Psychologie statt auf Action. Gemäß des Film-Mottos „Auge um Auge, bis die ganze Welt erblindet" (Gandhi) kämpft Tobias Ellis nicht so sehr gegen seine Gegner, sondern für das Überleben aller, selbst seiner Gegner. Dazu gehört auch, das Überwinden niederer Rachegefühle, die 99% solcher Filme befeuern. Verständigung im weiteren Sinne ist ein Thema in den Gesprächen zwischen Tobias und einem jungen Entführer. Vollrath hält sich ebenfalls bei der Darstellung drastischer Momente angenehm zurück. Intensiv dagegen die Darstellerleistung von Joseph Gordon-Levitt („Snowden", „The Dark Knight Rises", „500 Days Of Summer"). Er trägt den Film größtenteils und kann eine entschlossene, energische aber auch kluge Figur glaubhaft rüberbringen. „7500" ist ohne unnötige Gewalt oder Zynismus raffiniert.

Star Wars: Der Aufstieg Skywalkers

USA 2019 (Star Wars: The Rise of Skywalker) Regie: J.J. Abrams, mit Carrie Fisher, Mark Hamill, Adam Driver, Daisy Ridley, John Boyega, Oscar Isaac 142 Min.

„Star Wars", eine kleine, innovative und rebellische Idee von George Lucas, findet 42 Jahre später einen aufgeblasenen, kommerziell bis ins letzte ausgewrungenen und pompösen Endpunkt. Vorläufig. Serien-Mastermind J.J. Abrams („Lost"), der 2015 mit „Star Wars: Das Erwachen der Macht" den Grundstein für die dritte Trilogie legte, führt die Saga mit „Star Wars: Der Aufstieg Skywalkers" fort.

Das Weltall besteht physikalisch größtenteils aus Nichts. Intelligentes Leben ist dabei noch weniger vorhanden als bloße Materie. Auch der neunte und sicher nicht letzte „Star Wars" gibt diese inhaltliche Leere hervorragend wieder: Zwischen ziemlich viel materiellem Aufwand ist wenig Intelligentes oder Interessantes zu entdecken. Die neue Heldin findet immerhin einen Verwandten wieder, den sie direkt umbringt. „Star Wars 9" ist wieder das aufgeblasene Erzählen von fast nichts, das immer in lächerlichen Duellen endet. Auch als J.J. Abrams Film sehr enttäuschend.

Das neue Rebellenteam aus Rey, Finn und Po (Daisy Ridley, John Boyega, Oscar Isaac) sucht mit dem dunklen Skywalker-Schurken Kylo Ren (Adam Driver) um die Wette nach Wegweisern zum Versteck des wiederbelebten Sith-Führers Palpatine. Der hat heimlich eine ganze Armada von Sternen-Zerstörern aufgebaut, siehe Sauron, siehe „Herr der Ringe". Schlechter als im Drehbuch-Lehrbuch folgen bei der austauschbaren Handlung Begegnungen, flaue Scherze, Problem und Lösung in lockerer aber nie mitreißender Folge. Und immer wartet schon ein Schwarm von Jägern, um die Handlung weiter zu treiben.

Eine Schnitzeljagd, zu viele Wiedersehen (Carrie Fisher, Mark Hamill, Harrison Ford), eine finale Schlacht und die große Entscheidung zwischen Gut und Böse. Es ist erstaunlich, wie simpel hier Hunderte von Millionen sinnlos rausgeballert werden. Dazu die unerlässliche Weltraum-Bar, ein paar fliegende Oldtimer und dauernd die galaktisch aufdringliche Musiksoße von John Williams. Auch im Bild enttäuscht der gehypte TV-Regisseur J.J. Abrams („Lost"): Nur die eine Kampf-Szene zwischen Rey und Ren auf den Trümmern des Todessterns zwischen tonender Brandung macht Eindruck. Der Rest ist voll gepfropftes Bild, mehr nicht. Also müssen es die Figuren retten. Wobei nur die beiden so viel Charakter haben, dass es für mehr als freundschaftliche oder romantische Kabbeleien reicht.

Also Ren und Rey. Schwarz und Weiß. Sith und Jedi. Während der eine seinen Übertritt auf die dunkle Seite rückgängig macht, kämpft die andere gegen das dunkle Sith-Erbe in ihr. Reizvoll dabei die dauernde mentale Verbindung, bei der nicht nur mal Gegenstände aus der einen in die weit entfernte andere Welt wechseln, es wird auch geschwertkämpft. Aber das wird es ja dauernd mit den überladenen Taschenlampen.

Im Finale dann der erwartete Satz „Ich bin dein Opa", etwas Romeo und Julia sowie all umfassende Enttäuschung. „Star Wars" war ja nie mehr, als eine beschränkte Familiengeschichte, die mit viel filmtechnischen und Science Fiction-Spielzeug aufgepäppelt wurde. Die übliche Laufschrift am Anfang des Films sagt: „Die Toten sprechen". Und das tun sie in diesem Film so oft, dass Sterben eigentlich keine Rolle mehr spielt. Denn man weiß ja, jeder kann jederzeit wiederbelebt werden.

16.12.19

Cunningham

BRD, Frankreich, USA 2019 Regie: Alla Kovgan 89 Min. FSK ab 0

Der US-Amerikaner Merce Cunningham (1919-2009) hat den modernen Tanz stark geprägt. Dieser Dokumentarfilm begleitet seinen künstlerischen Werdegang in der Zeit von 1944 bis 1972. Historische Aufnahmen und neue Aufführungen seiner Choreografien wechseln einander ab. Dazu gesprochen Cunninghams Theorien über Tanz. Skizzenartig nacherzählt das Zusammenkommen und Arbeiten mit seinem Lebens- und kreativen Partner John Cage, der seit den vierziger Jahren für ihn komponierte. Historisch zog diese Tanz-Innovation viele Künstler an, wie Robert Rauschenberg, der Hintergründe und Kostüme entwarf („Summerspace", 1958) oder Andy Warhol mit silbernen Helium-Kissen in „RainForest" (1968).

„Cunningham" erinnert in den neu aufgeführten Tanz-Szenen sehr an Wim Wenders' „Pina" über Pina Bausch. Wobei es hier nie so populär und gefällig wird wie bei Wenders' wunderbarem Meisterwerk in 3-D. Das kann man nur teilweise der Regie der Moskauer Tanz/Film-Spezialistin Alla Kovgan vorwerfen, denn Cunninghams Choreografien und die Musik von Cage sind halt kühler, intellektueller angelegt.

Zum Ende dieses filmischen Wikipedia-Eintrags, dieser interessante Tanz-Zeitgeschichte, die ein größeres Publikum nicht begeistern wird, gibt es immer mehr Tanz - gemäß der Selbstbeschreibung Cunninghams „Ich bin ein Tänzer": Auf einem Häuserdach New Yorks, im Innenhof eines Schlosses und in einem Park werden bekannte Stücke mit meist bonbonbunten Einteilern nachgetanzt. Einige der Tänzer gehören zur letzten Generation der mittlerweile aufgelösten Kompanie Cunninghams. Trotzdem bleibt dieser Film auch bei großem Aufwand auf allen Ebenen von Dokumentation und Inszenierung nur interessant und nie begeisternd.

The Farewell

USA 2019 Regie: Lulu Wang, mit Awkwafina, Zhao Shuzhen, X Mayo 101 Min. FSK ab 0

Die schönste und rührendste Weihnachtsgeschichte kommt dieses Jahr aus China: Ganz ohne Stars wird in dem sensationell gefeierten und bewerteten „The Farewell" (Der Abschied) auf wundervolle Weise etwas über Leben und Mensch sein erzählt.

„Basierend auf einer wirklichen Lüge" steht im Vorspann und dieser Film zeigt im Abspann, dass Lügen nicht immer kurze Beine und manchmal sogar ein langes Leben haben: Billi (Awkwafina aus „Crazy Rich", „Ocean's 8"), die als Kind mit ihren Eltern China verließ, muss erfahren, dass bei ihrer geliebten Großmutter Nai Nai (Zhao Shuzhen) Lungen-Krebs im Endstadium diagnostiziert wurde. So kommt die ganze im Ausland verstreute Familie in China wieder zusammen. Aber da Nai Nai nicht erzählt werden soll, dass sie schwer krank ist, ist die hektisch vorgezogene Hochzeit für Billis Cousin Hao Hao der Vorwand.

Bei vielen Begegnungen und noch mehr Essen im Kreise der Familie prallen unprätentiös westliche und östliche Vorstellungen aufeinander. Denn die burschikose Billi, die trotz Rückschlägen ihr eigenes Leben als selbständige Autorin verfolgt, will die Oma nicht belügen. Aber der in Japan lebende Onkel bringt es in einer der vielen erstaunlichen Weisheiten des Films auf den Punkt: „Ihr seid vor langer Zeit in den Westen gezogen. Ihr denkt, das eigene Leben gehört einem selbst. Aber das ist der Unterschied zwischen Ost und West. Im Osten ist das eigene Leben ein Teil des Ganzen. Familie. Gesellschaft. Wir sagen es ihr nicht, weil es unsere Aufgabe ist, diese emotionale Last zu tragen."

In Asien erzählen scheinbar viele Familien ihren Senioren nicht die Wahrheit über lebensbedrohliche Erkrankungen. Dies sei eine gute Lüge. Was sehr dramatisch klingt, zeigt Regisseurin Lulu Wang als reiche aber leichte und vor allem unklebrig rührende Familiengeschichte. Am Grab des Großvaters wird diskutiert, ob er jetzt das Rauchen aufgegeben hat oder nicht; ob man ihm zum Gedächtnis neben den geschälten (!) Apfelsinen und dem ausgegossenen Schnaps auch eine Zigarette anzünden soll oder nicht.

„The Farewell" fließt über wie ein reich gedeckter Tisch beim chinesischen Bankett vor (filmischen) Köstlichkeiten: Die exzellente Kamera beglückt mit erlesenen Bildkompositionen. Die durch Mykal Kilgore gesungenen Kompositionen von Alex Weston erinnern an Bobby McFerrins Interpretationen von Bach und Beethoven. Zwischendurch müssen mit Mühen und viel Rennerei Untersuchungs-Ergebnisse vom Krankenhaus im Copyshop gefälscht werden. Billi findet zwischen den Traditionen und Welten einen vergessenen Teil von sich selbst zurück. Und gerade der undramatische Verlauf von „The Farewell" lässt Offenheit für andere Sichtweisen. Eine große Portion Rührung gehört wie das viele Essen auf der gigantischen Hochzeit dazu. Doch dies ist mal ein Film, an dem man sich nicht satt sehen kann.

15.12.19

Einsam Zweisam

Frankreich 2019 (Deux moi) Regie: Cédric Klapisch mit Ana Girardot, Francois Civil, 110 Min. FSK ab 6

Wie einen Videoclip elektronischer Musik rast „Einsam Zweisam" anfangs rasant durch das Leben in und um die Pariser Metro. Rémy und Mélanie (Francois Civil, Ana Girardot), beide um die 30 Jahre alt, sitzen nebeneinander in einem Multikulti-Gemisch von Fahrgästen und wohnen sogar nebeneinander. Nach der Arbeit sind sie auf dem Balkon kaum zwei Meter voneinander entfernt, doch zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, um das Naheliegende zu sehen.

Rémy ist kein Artikulations-Genie, trotzdem erhält er, während alle anderen bei einer Art von Amazon entlassen werden, eine Beförderung ins Callcenter. Auch Mélanie ist eher zurückhaltend, findet es keine gute Idee, die Ergebnisse ihrer Forschung vor Kollegen und Geldgebern zu präsentieren.

„Einsam Zweisam" zeigt immer wieder das gleiche Bild mit beiden Häusern, mit dem Montmartre im Hintergrund und dem Schienenverkehr vorne. Wie die Züge, so fährt auch das Leben an Rémy und Mélanie vorbei. Ganz deutlich gemacht, wenn Mélanies Schwester zu Weihnachten zu den Eltern fährt und beide im Moment des Vorbeifahrens miteinander telefonieren.

So nett, wie sich Rémys und Mélanies Wege immer wieder in einfallsreichen Situationen kreuzen, „Einsam Zweisam" ist keine klassische Romantische Komödie, obwohl die beiden eigentlich sehr traurigen Geschichten sehr komisch präsentiert werden. Auch filmisch wunderbar, wie sie in der Apotheke nebeneinander stehen und Mittel für ihre jeweiligen Schlafprobleme suchen. Sie schläft dauernd und er kann nicht einschlafen. Parallel suchen sie psychiatrische Hilfe, wobei ihre Psychiater nicht unterschiedlicher sein könnten.

„Einsam Zweisam" schwingt sich auf zu dieser Leichtigkeit der alten Franzosen Rivette und Rohmer, bei denen Beiläufiges sehr vielsagend ist, ohne dass die Figuren dies selber im Entferntesten ahnen. Rémy und Mélanie sind zwei einsame Menschen. Er ist nicht bei Facebook und sie vor allen Dingen nicht bei Tinder. Die furchtbaren Erlebnisse bei den ersten Schritten in den sogenannten „sozialen" Medien sind ein treffender Kommentar zu unserer digitalen Zeit. Auch der Unterschied zwischen Leben im Dorf und dem anonymen in der Stadt wird diskutiert: Rémy könne nicht mehr Zuhause bei den verdrängenden Eltern leben, er braucht die freie Luft der Stadt.

Und dann läuft ihm auch noch die Katze davon, mit der er sich gerade angefreundet hatte. (Und selbstverständlich direkt zu Mélanie.) 1996 hieß Cédric Klapischs erster großer Erfolg schon „...und jeder sucht sein Kätzchen". Wie immer bei Klapisch („L'Auberge espagnole", „So ist Paris", „Der Wein und der Wind") ist alles im alltäglichen Leben verankert, die Umgebung und die Szenen sind nicht „Bigger than Life". Trotzdem ist es nett, die ganze Zeit darauf zu warten, dass Rémy und Mélanie wie in der klassischen Romantischen Komödie zusammenkommen.

Gemäß der umstrittenen Lebensweisheit, man könne erst jemanden kennenlernen, wenn man seine Probleme gelöst habe, verfolgt „Einsam Zweisam" zwei schöne Lern-Prozesse im Laufe des Films. Sie werden auch wichtiger genommen, als nur das Zusammenkommen. Aber dann vollendet Klapisch seinen wunderbaren und klugen Film für ein paar Sekunden mit ganz großem romantischem Kino.

Star Wars Origins

USA 2019 Regie: Phil Hawkins, mit Jamie Costa , Marie Everett , Christopher Dane , Hadrian Howard , Philip Walker 20 Min.

Wer dachte, der unübersichtliche Kram von „Star Wars" und seinen zahllosen Ablegern fände in der Zukunft statt, hat sich getäuscht: 1944 werden Reste der Handlung in einer arabischen Wüste ausgegraben.

Gierige Araber, ehrenwerte Grabräuber und auch Nazis. Nein, Indiana Jones ist noch hinter der nächsten Düne, aber ein Lichtschwert kommt zum Einsatz. Oh, und George Lucas läuft noch im Bauch seiner Mutter rum.

So was können sich nur Fan Boys ausdenken, die auch in Star Wars-Bettwäsche schlafen. Immerhin eine nette Idee, die Zeit auf den Kopf zu stellen, macht diesen mit viel Tricktechnik und einigem Aufwand realisierten Fan-Film interessant. Für Fans!

The Peanut Butter Falcon

USA 2019 Regie: Tyler Nilson, Michael Schwartz, mit Zack Gottsagen, Shia LaBeouf, Dakota Johnson, Bruce Dern, John Hawkes, Thomas Haden Church 97 Min.

Nein, „The Peanut Butter Falcon" ist kein neues Raumschiff aus dem neuen „Star Wars". Der wunderbare Roadmovie rund um einen großartigen jungen Mann mit Down-Syndrom ist ein richtiger Film am Rande des von „Star Wars" besetzten Kino-Universums.

Weil sich keine Institution für den ziemlich raffinierten und quicklebendigen 22-jährigen Zak (Zack Gottsagen) mit Down-Syndrom zuständig fühlt, vegetiert er in einem Altersheim dahin. Erste Fluchtversuche besorgen ihm in der Buchhaltung die Markierung „gefährlich", doch mit Hilfe seines Zimmernachbarn (Bruce Dern) zwängt er sich durch die Gitter. Draußen landet er ausgerechnet im Boot des aggressiven Dieb und Brandstifters Tyler (Shia LaBeouf). Der hat nicht nur Krabbenfallen von Konkurrenten geleert, aus Wut über die zu erwartende Prügelstrafe ging gleich dessen ganzes Lager in Flammen auf. Zwei Flüchtlinge also gegen ihren Willen in der Flusslandschaft im Süden der USA zusammengeworfen. Zak bietet dem grimmigen Tyler direkt seine Freundschaft an. Der will den pummeligen Kerl in Unterhose nur loswerden. Nicht nur brutale Krabbenfischer sind ihnen auf den Fersen, auch die liebevolle Sozialarbeiterin Eleanor (Dakota Johnson) soll Zak finden, bevor ihr fieser Chef den Flüchtling der Polizei melden muss.

Diese unwahrscheinliche Paarung ist eine erfolgreiche Formel für Filme um Behinderte: „The Peanut Butter Falcon" ist dabei ein Roadmovie wie der sehr berührende „Am achten Tag" von Jaco Van Dormael oder „Rain Man" von Barry Levinson. Ohne der seltsamen Kritik unter dem Begriff von „Cripping up" (nur Behinderte dürfen Rollen von Behinderten spielen), hinterherzulaufen: Zack Gottsagen, der seit seiner Kindheit Schauspiel studiert hat, bringt auch die Rolle des Zak sagenhaft gut und einnehmend sympathisch rüber. Hier braucht es tatsächlich keinen Dustin „Rainman" Hoffman. Gottsagen ist eine echte Entdeckung. Shia LaBeouf („Nymphomaniac", „Transformers") dagegen anfangs hinter einem Vollbart schwer zu erkennen und insgesamt angenehm zurückhaltend. Dakota Johnson („Fifty shades of grey") zeigt, dass sie auch in guten Filmen fesselnd sein kann. All das macht „The Peanut Butter Falcon" mit Südstaaten-Atmosphäre und -Musik zum auch optisch sehr sehenswerten Wohlfühlfilm.

11.12.19

Supervized

GB, Irland 2019 Regie: Steve Barron, mit Tom Berenger, Beau Bridges, Louis Gossett Jr., Fionnula Flanagan 87 Min. FSK ab 12

Bei der heftigen Superhelden-Schwemme in unseren Kinos macht sich mal wieder keiner Gedanken, was all diese Wunder-Männer und -Frauen machen sollen, wenn sie alt sind. Bis auf „Supervized" - der witzigen und sympathischen Abenteuer-Geschichte aus dem Altersheim für Superhelden!

Ray (Tom Berenger) konnte einst mit Gedankenkraft alles in seiner Nähe nach Wunsch bewegen. Heute ist der ehemalige Superheld als alter Mann froh, wenn es sich selbst noch etwas bewegen kann. Einst „Maximum Justice" muss der Kämpfer für Gerechtigkeit nun mit ansehen, wie Jugendliche besoffen Autos aufbrechen. Aber da alle Heiminsassen das gleiche Problem haben, lebt mann und frau in allgemeiner Allmachts-Nostalgie zusammen. Damit Streits unter den Rest-Kräften nicht eskalieren, lässt die hinterhältige Heimleiterin Alicia (Fiona Glascott) die Helden-Fähigkeiten künstlich runter dimmen. Als aber Rays alter Kumpel Rainbow stirbt und seine Regenbogen-Kräfte nachher trotzdem aufleuchten, schöpft „Maximum Justice" Verdacht. Worauf alle Super-Freunde ihn für verrückt erklären. Dass er auch noch mit seinem Sidekick Pendle „Total Thunder" und seiner alten Flamme Madera „Moonlight" fertig werden muss, ist fast zuviel für Ray.

Superkräfte am Krückstock könnten zu einer platten Klamotte verkommen, doch Regisseur Steve Barron („Turtles", „Die Schatzinsel" 2012) macht aus „Supervized" mit toller Besetzung eine sehr sympathische Superhelden-Satire. Neben Tom Berenger laufen auch Beau Bridges, Fionnula Flanagan und Louis Gossett jr. zu großer Form auf. Dazu gibt es bis in die kleinste Nebenrolle Figuren und Gesichter, die man gerne (wieder-) sieht. Ja, diese ist auch eine verdiente Würdigung für Schauspieler, die aus der ersten Reihe verabschiedet wurden. Die Handlung ist übersichtlich - aber das trifft auf alle Superhelden-Filme zu. „Supervized" ist jedoch in vielen Szenen sehr sorgfältig inszeniert und macht durchgehend gute Laune.

9.12.19

Aquarela

BRD, Großbritannien, Dänemark, USA 2018 Regie: Viktor Kosakovskiy 90 Min. FSK ab 6

Wasser - nicht mehr, nicht weniger, aber vor allem sehr viel davon zeigt dieses sehr filmische „Aqua"rell. Die enorm eindrucksvollen Aufnahmen von „Aquarela" oszillieren auch auf der Tonspur zwischen Achterbahn und Meditation. Ein mitreißendes Kinoereignis ohne weitere erkennbare Absicht.

Es bleibt lange ein Rätsel, was die Männer am Rande der Eisfläche mit den langen Holzstangen machen: Eine Messung schmelzender Gletscher vielleicht? Man ist ja heute ganz auf Klimawandel gepolt. Aber irgendwann nach vielen Drehungen mit den Stangen und viel Ziehen an Drahtwinden entdeckt die Kamera im Wasser ein Auto, das herausgefischt werden soll. Und dann geht es ganz schnell weiter: Ein anderer Wagen hängt halb im See und die Polizisten fragen: Wieso fahrt ihr denn jetzt noch hier rüber? Ganz zufällig entdeckt die Kamera in der Ferne ein Auto, das in voller Fahrt im See versinkt. Der Rettungstrupp findet zwei klatschnasse Männer auf dem Eis, ein Dritter ist ertrunken.

Nach diesen ersten Kapitel schwelgt der Film im Herabbrechen riesiger Gletscherstücke, die wie Spielzeugentchen im Meer schwappen. Um dann mit einer Segeljacht die Gewalt haushoher Wellen zu erleben, bevor eine Überschwemmung Land hinwegspült.

Victor Kossakovsky, Regisseur der großartigen Doku „¡Vivan Las Antipodas!" (2011) Lässt diesmal nur die Natur sprechen, eigentlich nur Wasser und Eis. Der Soundtrack nimmt bei Unterwasseraufnahmen das Knacken riesiger Eisflächen auf. Dagegen gesetzt, Heavy-Metal-Töne des finnischen Cellisten Eicca Toppinen, Mitglied der Band „Apocalyptica". Gewaltige Gletscher, haushohe Wellenberge, eindrucksvolle Wasserfälle ergeben ein großes Natur- und Kinoschauspiel. Es sind Wasser-Phänomene, gigantisch und eindrucksvoll gefilmt. Ohne Bezug, ohne Verortung, trotzdem unbedingt sehenswert, vor allem im großen Kino.

5.12.19

Jumanji: The next Level

USA 2019 Regie: Jake Kasdan, mit Karen Gillan, Dwayne Johnson, Madison Iseman, Danny DeVito, Jack Black 113 Min.

Das Weihnachts-Jumanji verbindet einsame Teenager und Senioren mit Hüftoperationen zu einer hüftlahmen Action. Danny DeVito zeigt kurz in der Rahmenhandlung, dass auch am Schauspiel gespart wurde.

Der dritte „Jumanji"-Aufguss um Menschen, die in ihr gerade gespieltes Spiel geraten, legt einen rekordverdächtig lahmen Start für einen Actionfilm hin: 20 Minuten lange Einführung bevor das Spiel los geht, dann fast 40 bis zur ersten Action. Ja, das Leben als Regaleinräumer ist nicht prickelnd für den Teenager Spencer. Da lässt er sich doch lieber mit einer sehr alten Spielkonsole in die Abenteuerwelt beamen, die er vor zwei Jahren in „Jumanji: Willkommen im Dschungel" erlebte. Lebensgefährlich, aber auch ein wenig spaßig. Und vor allem mit dem Körper von Dwayne Johnson als Spiel-Figur ausgestattet! Und die Freunde, die sich im realen Leben nicht wirklich gekümmert haben, fliegen prompt hinterher, samt Spencers Opa (DeVito). Der erwischt allerdings diesmal den Körper Johnsons, während Spencer eine kleine Asiatin ist. Soll komisch sein, wirkt aber wie krampfiges Aufwärmen des letzten Films.

Auf verschiedenen Leveln in Wüste, Orient und Gebirge gehen einige Leben drauf, ein alter Streit wird geschlichtet. Und vor allem: Mitten in einer Einwand gestehen sich die Teenager Spencer und Martha Unsicherheit und Liebe. Derweil wurden die Senioren von der Handlung gekidnappt.

Soll sich das Zielpublikum nun aus Ü60-Teenagern zusammensetzen? Danny DeVito macht selbst die Reha nach Hüft-OP lustig, aber er darf nicht mit in den Dschungel. Zwar versucht Johnson DeVito zu imitieren, denn der Kleine soll ja im Riesenkörper stecken, doch so wird nur der Unterschied zwischen richtig gutem und populärem Schauspiel deutlich.

Als würde man die Zeit des „Jumanji"-Brettspiels mit Robin Williams im auch nicht besonders tollen ersten Film würdigen, nutzt der Nachfolger eine von zehn anderen Filmen ausrangierte Kasbah, dazu Motorräder vom letzten dreckigen B-Movie. Mad Max für Arme. „Jumanji 3" ist lahm und zu oft nicht witzig. Viel Zeit geht mit Erklärungen für die Neuen drauf, der Rest ist schlampig gemacht. Die Handlung wird dann noch zu voll und bald zu lang. Vom Ende sei schon so viel verraten: Die Spielkonsole als besseres Altersheim, das wird Jens Spar-Spahn freuen!

4.12.19

Wild Rose

Großbritannien 2018 Regie: Tom Harper, mit Jessie Buckley, Julie Walters, Sophie Okonedo 101 Min. FSK ab 12

A star is born - in Glasgow. Das klingt nicht so prickelnd, deshalb will die 23-jährige Rose-Lynn Harlan (Jessie Buckley, keine Familie von) mit ihren Country-Träumen auch unbedingt nach Nashville. Doch noch hält sie eine Fußfessel nach 12 Monaten Knast wegen Drogenschmuggel fest. Und da sind auch noch ihre beiden kleinen Kinder, die bei der Oma Marion (Julie Walters) leben. Allerdings ist Rose nicht besonders intelligent, auch nicht sympathisch, bis sie anfängt zu singen. Dann gibt auch der Film Gas und zeigt eine ganze Country-Band, die sie beim Staubsaugen begleitet.

Obwohl ihre Figur im Film über Casting-Shows meckert, wurde Jessie Buckley tatsächlich durch dieses Format bekannt. Mangelnde Schauspielkunst sieht man ihr nicht an, das Drehbuch ist das eigentliche Problem des Films. Rose blendet mit Kopfhörern und Country-Musik die Realität aus. Obwohl das Tattoo sagt „Three cords and the truth" (Drei Akkorde und die Wahrheit) hat sie es mit der Wahrheit nicht so. Und enttäuscht alle, die sie trotz Unzuverlässigkeit und Besäufnissen weiter unterstützen. Selbst als sie durch Vermittlung der faszinierend freundlichen Arbeitgeberinnen Susannah (Sophie Okonedo) ein Vorspielen beim BBC bekommt, vermasselt sie auf der Hinfahrt in der spendierten Ersten Klasse alles. Allerdings wirft ihr der Film auch besonders viele Knüppel zwischen die Beine: Dass sich ausgerechnet an dem Abend, als ein Konzert Geld für ihre Nashville-Reise sammeln soll, ihr Kleiner die Arme bricht, das ist mehr Film als Leben, und mehr Elend, als man sich unbedingt antun will.

Wenn die konventionelle Doch-Noch-Karriere der wandelnden Katastrophe in weißen Cowboy-Stiefeln nach später Erkenntnis trotzdem etwas rührt, ist das den anderen Darstellern zu verdanken. Wie eigentlich die aufopferungsvolle Mutter und Susannah die interessanteren Figuren sind; kleine große Helden, die über sich selbst hinaus wachsen. So wie Johnny Cash im Gegensatz zu Roses Meinung nie mehr als eine Nacht in Haft war, so ist „Wild Rose" ein Feel Good-Film, bei dem man sich nur begrenzt gut fühlt.

Die Wache

Frankreich, Belgien 2018 (Au Poste!) Regie: Quentin Dupieux, mit Benoît Poelvoorde, Grégoire Ludig, Marc Fraize, Anaïs Demoustier 73 Min.

Wenn beim knallharten Verhör eine Leiche im Schrank steckt und Kafka im Hinterzimmer, dann ist das der neue Film von Quentin Dupieux, dem Electro-Musiker Mr. Oizo (Flat Beat). Nach Meisterwerken wie „Rubber" über einen amoklaufenden Reifen, kommt nun mit „Die Wache" sein siebter Film als erster auch in deutsche Kinos. Originell, abgedreht witzig und einzigartig mit einem großartig ekligen Benoît Poelvoorde in der Hauptrolle.

In einem Musterbau des Brutalismus mit tiefen Betondecken wird Louis Fugain (Grégoire Ludig) von Hauptkommissar Buron (Benoît Poelvoorde) verhört. Es gab einen Toten, Fugain fand ihn vor seinem Wohnkomplex und muss nun erklären, weshalb ihn seine Nachbarin sieben Mal raus- und reingehen hat sehen. „Ich habe mich noch nie so gelangweilt in einem Verhör", kommentiert der Cop. Doch der freundliche Verdächtige meint, er könne ja schließlich nicht einen Kühlschrank anstelle des Blumentopfes aus dem Fenster fallen lassen.

Dass allerdings eine später hinzugekommene Leiche, die jetzt im Verhörzimmer versteckt ist, völlig unrealistisch und vorwurfsvoll in seinen Rückblenden auftaucht, erzählt Fugain nicht. Bis der Kommissar selbst in einer anderen Rückblende bei Fugain und seiner Frau im Schlafzimmer sitzt. Was keineswegs der Höhepunkt des Abgedrehten ist. Bei Krimis sagt man oft, dass das Ende konstruiert wirkt. Nie traf das mehr zu als bei „Die Wache", nur ist es deswegen genial. Die dekonstruktivistische Krimi-Komödie erscheint anfangs konventionell, wird aber zunehmend kafkaesk und komisch, um schließlich auf unfassbare Weise zu enden.

Dazu ist das Ganze ein großer schräger Spaß. Poelvoorde („Das brandneue Testament", „Nichts zu verzollen", „3 Herzen") gibt wieder das grobschlächtige Ekel. Zwischendurch soll der einäugige Hilfspolizist ein Auge auf den Verdächtigen werfen, was schließlich böse in Auge geht. (Hier gibt es kurz einen Blick auf Dupieux' Splatter-Fähigkeiten.) Das Styling fasziniert mit altem, komplett in Braun- und Beige-Tönen vergilbtes Büro, dazu die passenden, zeitlos langweiligen Klamotten.

Erzählerisch ist „Die Wache" eine äußerst gewagte und raffinierte Konstruktion. Eine, die sonst nur Leuten wie David Lynch oder im Science-Fiction gelingt. Man könnte sagen, dass dies Dupieux' konventionellster Film bislang ist, nach „Rubber", „Wrong" oder „Reality". (Sein Neuester, „Le Daim" mit der wunderbaren Adèle Haenel und Jean Dujardin ist in anderen Ländern bereits zu sehen.) Doch vor allem durch den einzigartigen - und keineswegs konventionellen - Erzählbogen lässt sich „Die Wache" in einer Reihe mit großartigen Meisterwerken wie Kaufmans „Synecdoche, New York" und „Adaption" sowie Lynchs „Lost Highway" sehen.

3.12.19

Motherless Brooklyn

USA 2019 Regie: Edward Norton, mit Edward Norton, Gugu Mbatha-Raw, Alec Baldwin, Willem Dafoe 145 Min. FSK ab 12

Seit drei Jahren und „Verborgene Schönheit" hat man keinen Film mit Edward Norton mehr gesehen. Und vor allem seit 2000 und „Glauben ist alles!" keinen von ihm. Das ist viel zu lang, wie man nach diesem sowohl filmisch als auch politisch, musikalisch und emotional prallem Meisterwerk „Motherless Brooklyn" sagen muss. Ein klassischer Gangster-Film im New York der 50er reflektiert mit exzellenten Darstellern, Ausstattungen und Kompositionen heutige Politik und das eigenes Genre.

Als sein Freund und Mentor Frank Minna (Bruce Willis) ermordet wird, macht sich Lionel Essrog (Edward Norton) auf, die Mörder zu entdecken. Allerdings herrscht in Lionels Kopf großes Chaos, wie Lionel selbst als Erzähler eine Mischung aus Autismus und Touret erklärt. Unauffällig in dunklen Bars und schwitzigen Jazz-Clubs zu ermitteln, ist nicht einfach, wenn man immer wieder Teile seiner Gedanken unvermittelt als Wortfetzen herausschreit. Vor allem in der Nähe von Frauen hat Lionel nie eine Chance, als typisch cooler Privatdetektiv rüber zu kommen.

Die komplexen Hintergründe um den korrupten und gefährlichen Stadtplaner Moses Randolph (Alec Baldwin), seinen ebenso genialen wie wirren Bruder Paul (Willem Dafoe) und das Geheimnis um die schwarze Bürgerrechtlerin Laura Rose (Gugu Mbatha-Raw) lassen sich hier nicht aufdröseln. Weil „Motherless Brooklyn" überhaupt mit Überfülle verwöhnt: Neben den vielen grandiosen Stars sind auch die Themen ein Füllhorn für interessierte Filmfans. Das wieder aktuelle Thema von Immobilien-Spekulationen und „Bereinigungen" ganzer Stadtviertel entstammt aus Jonathan Lethems Roman „Motherless Brooklyn". Doch als Enkel des legendären Stadtplaners James Rouse, der mit Columbia in Maryland eine ganze Stadt vom Reißbrett her schuf, ist Norton auch persönlich am Thema.

„Wir leben in Zeiten, in denen Dinge als das benannt werden müssen, was sie sind", so lautet einer der irritierend treffenden Sätze zur heutigen Politik von „alternativen Fakten". Es ist genialerweise Alec Baldwin, der größte Trump-Darsteller aller Zeiten, der als Moses Randolph den Missbrauch des Amtes zur persönlichen Bereicherung verkörpert.

Filmisch variiert Norton die klassische Detektiv-Geschichte der „Schwarzen Serie" mit einem touret-fluchenden anstelle des schweigsamen Detektivs. Auch als Regisseur gelingt dem Schauspielstar mit viel Stilwillen Hervorragendes. „Motherless Brooklyn" zeigt wunderbare historische Kostüme und Kulissen sowie einen erlesenen Soundtrack vor allem für die Szenen im Jazz-Club. Thom Yorke schrieb einen Song, Wynton Marsalis spielt seine Improvisation dazu. Lionel/Norton vergleicht das „Chaos" mit der Kreativität eines Jazz-Trompeters. Sich ernsthaft und interessant, packend und bewegend gleichzeitig mit Autismus, Rassismus, Korruption, Ämtermissbrauch und dem Genre des Detektivfilms zu beschäftigen, ohne einen Moment zu langweilen, ist schon große Kunst. Diese so edel und gekonnt rüber zu bringen, ein Meisterstück von Edward Norton.

The Kindness of Strangers

The Kindness of Strangers

Dänemark, Kanada, Schweden, Frankreich, BRD, Großbritannien, USA 2019 Regie: Lone Scherfig, mit Zoe Kazan, Andrea Riseborough, Tahar Rahim, Caleb Landry Jones, Jay Baruchel, Bill Nighy 115 Min. FSK ab 12

„The Kindness of Strangers", der zehnte Spielfilm von Lone Scherfig, ist ein Aufruf zu mehr Aufmerksamkeit gegenüber Mitmenschen: Rund um ein ungewöhnliches russisches Restaurant in New York mit dem wunderbar augenzwinkernden Namen „Winterpalast" kreuzen sich die Wege von einer Handvoll Menschen etwas zu oft. Clara (Zoe Kazan) versteckt sich ohne Geld, Kreditkarte oder Freunde mit ihren zwei Söhnen vor dem gewalttätigen Ehemann in der frostigen Stadt. Irgendwann wird das Auto abgeschleppt und die drei leben endgültig auf der Straße. Gebannt folgt man Claras verzweifelten Versuchen, die Kinder warm zu halten und ihnen Essen zu klauen. Viele gute Menschen und ein wirklich gefährlicher ergeben diesmal bei Lone Sherfig („Italienisch für Anfänger") ein kleines Glück und dank sympathisch kantiger Figuren die Besonderheit eines komischen Dramas. Selbst die Selbsthilfe-Gruppe eines Ex-Häftlings, der auf Vergebung hofft, geriet ungeheuer komisch. Srewball-komisch sogar, was bei dem Umfeld eines Familiendramas erst nicht auffällt.

Filmemacherin Lone Scherfig („Wilbur wants to kill himself") erhielt 2001 einen Silbernen Bären für „Italienisch für Anfänger". In „The Kindness of Strangers" erzählt sie mit einer erstaunlichen Leichtigkeit davon, wie leicht jemand auf der Straße landen kann und wie hart die Flucht einer Frau vor einem Gewalttäter ist. Übrigens ohne jemals direkt diese Gewalt gegen Frau und Kinder zu zeigen. Das Drama mit kleinem Glück als Happy End erfreut auch durch starke Besetzung mit Andrea Riseborough als selbstlose Krankenschwester Alice, Tahar Rahim als Ex-Häftling Marc und dem großartigen Bill Nighy als Seele des russischen Restaurants.

2.12.19

Nome di donna

Italien 2018 Regie: Marco Tullio Giordana, mit Cristiana Capotondi, Valerio Binasco, Bebo Storti 98 Min.

„Nome di donna" startete in Italien 2018 zum Höhepunkt der #metoo-Bewegung, hat aber bis heute nichts an Dringlichkeit verloren: Eine Altenpflegerin weigert sich, dem Direktor der kirchlichen Pflegeeinrichtung wie in feudalen Zeiten sexuell zur Verfügung zu stehen.

Die Restauratorin Nina (Cristiana Capotondi) verliert in Mailand ihren Job. Deshalb zieht die junge alleinerziehende Mutter aufs Land, um im Institut Baratta, einem kirchlichen, luxuriösen Pflegeheim, zu arbeiten. Schon bei der Einstellung gibt es überall unverschämt abschätzende und lauernde Blicke der Männer. Ein schmieriger Buchhalter (Valerio Binasco), der als „dottore" die Anstalt leitet, befiehlt immer wieder Pflegerinnen nach ihrer Schicht im Dienstkittel zu sich. Eine extrem unangenehme Situation dreister Erpressung und auch brutaler Vergewaltigung. Doch Nina wehrt sich und ist deshalb für ihn eine „Schlampe". Nach langen Zweifeln zeigt die zurückhaltende und nicht unbedingt mutige Frau ihn schließlich mit Hilfe der Gewerkschaft an: „Ich habe das Recht zu arbeiten, ohne mich begrabschen zu lassen!"

„Nome di donna" (zu deutsch: Eine Frau namens...) zeigt Strukturen dieses Systems sexueller Gewalt am Arbeitsplatz auf: Die Frauen schweigen untereinander, um den Vergewaltiger zu schützen. Und als Nina von dem Verbrechen spricht, wird sie sofort verraten und abgestraft. Das Gerichtsverfahren wird erst einmal eingestellt. Nina muss, wegen „Verleugnung" entlassen, woanders arbeiten. Doch sie gibt nicht auf, forscht nach anderen Frauen, die verschwunden sind und klagt auch die „allwissende" Kirche an. Es gibt nur einen Alibi-Priester, der sich auf die Seite der Gerechtigkeit schlägt. Die anderen sind damit beschäftigt im Namen der Caritas Geld zu verdienen.

Der recht konventionell erzählte Film liefert eine umfassende Übersicht von Mechanismen sexueller Gewalt und anderem Sexismus bis zu den Sprüchen der Freundes, er könne ja für die Frau mitverdienen. Für diese Ausführlichkeit mussten wohl dramaturgische Aspekte zurückgestellt werden. Besonders die Gerichtsverfahren ziehen sich auch im Film. Trotzdem ist „Nome di donna" schockierend, bewegend und wichtig. Und nach zwei Wiederaufnahmen wird der Täter endlich zu sechs Jahren Haft verurteilt, auch ein mitwissender Priester muss ins Gefängnis. Ein Erfolg mit der bitteren Schlussnote, dass die berichtende Reporterin direkt danach von Ihrem Vorgesetzten befummelt wird.

1.12.19

A Rainy Day in New York

USA 2019 Regie: Woody Allen, mit Timothée Chalamet, Elle Fanning, Selena Gomez, Jude Law, Diego Luna, Liev Schreiber 93 Min. FSK ab 0

Der 49. Film von Woody Allen ist wieder ein sehr amüsantes Erlebnis eines - sehr jungen - Stadtneurotikers in Manhattan. Jungstar Timothée Chalamet („Call me by your name", „Beautiful Boy") führt die Promi-Riege in die Geschichte um viel Kultur-Snobismus und echte (Film-) Romantik.

Gatsby Welles (Timothée Chalamet) studiert gelangweilt an einer Kunstakademie der Provinz und lebt auf bei der Aussicht auf ein Wochenende in seiner Heimatstadt New York. Denn seine College-Liebe Ashleigh (Elle Fanning) hat einen Interview-Termin mit dem bewunderten Regisseur Roland Pollard (Liev Schreiber). Nur gerät der perfekte Plan mit Luxus-Essen und -Hotels bei Ashleighs Treffen mit der Arthouse-Berühmtheit aus der Spur. Die naive Studentin darf seinen neuesten Film im Privat-Studio sehen, muss erleben, wie der alkoholisierte Filmemacher vor Selbstzweifel zerbricht und ihn dann zusammen mit dem Drehbuchautor Ted Davidoff (Jude Law) in der Stadt suchen. Dabei trifft sie auf den Filmstar Francisco Vega (Diego Luna) und landet nach ein paar Partys in dessen Schlafzimmer. Derweil hilft Gatsby beim Werbe-Dreh eines Freundes aus und erlebt eine großartige Kussszene mit Chan (Selena Gomez), der bissigen Schwester seiner Ex-Freundin.

„A Rainy Day in New York", diese Geschichte vom reichen Snob und einer sehr dummen Studentin, ist typisch Allens Manhattan mit Blick auf Central Park und die üblichen Neurosen. Reichlich gewürzt mit den üblichen Kultur-Zitat-Witzen, wie ein Verweis auf eine Genialität wie bei Van Gogh, Mark Rothko, Virginia Woolf, die allerdings alle Selbstmord begangen hätten.

Klar steht Woody Allen gerade unter besonderer Beobachtung der Gender-Polizei und ja, er ist nicht nett zu den Frauen in diesem Film. Vor allem nicht zu Ashleigh, die bei sexueller Verwirrung Schluckauf bekommt. Aber ebenso wenig zu den Männern. Woody Allen ist auch noch eindeutig „Seniorist", so wie er die verwöhnten reichen Kids vorführt. Wer sich allerdings von diesen Kontrollblicken befreit, kann wunderbare Allen-Szenen erleben. Wie Ashleigh bei der Entdeckung einer Affäre durch den aufgelösten Drehbuchautoren Ted Davidoff (Jude Law) sich Notizen für die Uni-Zeitung macht. Oder der junge Gatsby im improvisierten Pianosong bei aller Ironie und Zynismus große Gefühle anklingen lässt.

Rotschühchen und die sieben Zwerge

Südkorea 2019 (Red Shoes an the seven Dwarfs) Regie: Sung-ho Hong, Moo-Hyun Jang, Young Sik Uhm 91 Min. FSK ab 6

Noch so ein Märchenmix-Zeichentrick, diesmal aus Südkorea. Während die Auto-Kopien von dort anscheinend von einiger Qualität sind, irritiert die glatte Animation von „Rotschühchen" durch Unstimmigkeiten.

Die Prinzessin, die wegen der bösen Stiefmutter aus des Vaters Schloss zu sieben Gnomen fliehen muss - klar, das ist das „grimmige" „Schneewittchen"! Dass die grünen Kerlchen allerdings eine verhexte Truppe von märchenhaften Superhelden sind, bestehend aus einem schönen, jungen Merlin, einem tumben, starken Artus, einem Schwulen, einem Koch und drei italienischen Ingenieuren, das ist bedingt originell. Wenn dann die schöne Prinzessin eigentlich ein Pummelchen war, nur durch rote Zauberschuhe verwandelt, wird es auch bei der Aussage unübersichtlich.

Denn mit dem Twist, dass gut aussehenden Männer zu kleinen grünen Gnomen und das rundliche Mädchen zur schönsten Frau der Welt verwandelt wurde, soll etwas von „wahrer innerer Schönheit" erzählt werden. Doch wie schon bei „Ugly Dolls" bekommt der Film das mit seiner eigenen Darstellung von „Attraktivität" nicht unter einen Hut. Zuerst die böse Hexe, die irritierend nach Michelle Pfeiffer aussieht, aber auch alle anderen streben einer langweiligen 08/15 Schönheit nach. Es gibt in der Mehrzahl unsympathische Charaktere, die meist dumm ihre eigenen Interessen verfolgen.

Ästhetisch gibt es meist Plastikfiguren, seltsame Eierköpfe, furchtbare Liedchen aus dem Computer und blöde Sprüche der Synchronisation. In besten Momenten erinnern die Kopien schmerzlich an Miyazakis „Totoro" oder die Äffchen von Paul Frank. Das ist keine „Frozen"-Alternative bei ausverkauften Disney-Vorstellungen.

Alles außer gewöhnlich

Frankreich 2019 (Hors Normes) Regie: Eric Toledano, Oliver Nakache, mit Vincent Cassel, Reda Kateb 115 Min. FSK ab 6

„Alles außer gewöhnlich" ist die wahre und berührende Geschichte von Bruno (Vincent Cassel) und Malik (Reda Kateb), die autistische junge Menschen betreuen. Eric Toledano und Olivier Nakache, die Regisseure von „Ziemlich beste Freunde", realisierten diesen wunderbaren Film aus persönlicher Betroffenheit.

Die anfängliche Verfolgungsjagd erwischt auf dem falschen Fuß - hier wird nicht Räuber und Gendarm gespielt, hier läuft echtes Leben panisch in einer Fußgängerzone. Nämlich eine junge autistische Frau, deren Angst bei dem Chaos immer größer wird. Und hinter ihr her sind keine Superhelden, sondern Sozialarbeiter, deren unfassbar aufopferungsvolle Tätigkeiten wir in „Alles außer gewöhnlich" kennenlernen werden.

Bruno (Vincent Cassel) leitet eine inoffizielle Station für autistische Jugendliche - besonders schwere Fälle, die von den staatlichen Stellen abgelehnt werden. Mit unendlicher Geduld, viel Humor und zu wenig Geld. Zu viele Kinder, zu viel Personal, zu viele Kosten und das Erziehungsministerium schickt auch noch Kontrolleure vorbei. Derweil muss Joseph wieder aus der Polizeistation geschmuggelt werden, weil er erneut in der Metro die Notbremse zog. Und Vincent, mit einem Helm vor sich selbst geschützt, kommt nur ganz langsam aus seinem Panzer. Um Sekunden später brutal um sich zu schlagen. Während Vincents Betreuer mit seiner Unzuverlässigkeit selbst ein Problemfall ist. Ganz schön heftig das alles, aber erzählt mit enormer Leichtigkeit und Humor. Anrührend und herrlich der Running-Gag mit der Notbremse.

Eric Toledano und Olivier Nakache, die Regisseure von „Ziemlich beste Freunde", haben bereits einen Imagefilm und eine Dokumentation über Stéphane Benhamou, den Gründer des Vereins „Le Silence de Justes", gedreht. Toledano kennt Autismus aus seiner Familie, das Familienmitglied wurde von Benhamous Verein betreut. Als die Behörden mit Schließung drohten, entstand dieser Spielfilm.

„Alles außer gewöhnlich" erzählt sehr geschickt aus vielen Perspektiven die Geschichte von Brunos Hilfsverein und seine besondere Beziehung zu Joseph, seinem ersten Zögling. Da ist die neue Hilfskraft, der völlig verwirrte Nachbar, das Interview der Kontrolleure. Der Alltag zeigt sich mit Aktivitäten wie pädagogischem Reiten oder Schlittschuhlaufen. Dabei lernen wir die verzweifelten Eltern kennen. In der Mitte des Films ein wunderbarer Moment, in dem alles klappt: Sogar der gewalttätige Vincent traut sich, ein Pferd zu streicheln. Ganz nebenbei ist „Alles außer gewöhnlich" noch eine berührende Vision vom selbstverständlichen Zusammenleben der Religionen.

Der Berufs-Macho Vincent Cassel („Black Swan", „Die Schöne und das Biest") brilliert in der ganz anderen Rolle des Helfers, der nie Nein sagen kann. Gleichzeitig muss er einige Shidduchs, jüdische Dates, und seine digitale Unfähigkeit mit dem geteilten Kalender bewältigen. Letztendlich ist der Eindruck der ersten Szene gar nicht so falsch: Bruno, sein Kollege Malik (Reda Kateb) und die anderen Betreuer sind jeden Tag bei ganz realer „Action" Superhelden für die Kinder. Nach dem Film fragt man sich, weshalb eigentlich peinliche und karriere-geile Politikfiguren all unsere Aufmerksamkeit bekommen, während wirkliche Helden unterbezahlt bleiben.

22.11.19

The Good Liar - Das alte Böse

USA 2019 Regie Bill Condon, mit Helen Mirren, Ian McKellan, Russell Tovey, Jim Carter 110 Min. FSK ab 12

Regisseur Bill Condon ist seit seinem Drama „Gods and Monsters" um den „Frankenstein"-Regisseur James Whale als einer der besten Regisseure unserer Zeit bekannt. Dabei meistert er ebenso Musicals wie „Chicago", Polit-Thriller wie „Inside WikiLeaks" als auch Teenie-Romanzen wie „Twilight". Nun erfreut er wieder mit einem spannenden Schauspiel-Edelstein um Ian McKellen („Mr. Holmes") und Helen Mirren („Die Frau in Gold").

„Vorsicht, es ist tiefer als es wirkt!" Dieser nebenbei geäußerte Spruch meint selbstverständlich den ganzen Film „The Good Liar" mit seinen Extra-Überraschungen. Die Täuschung beginnt schon beim Online-Dating der beiden Senioren Betty McLeish (Helen Mirren) und Roy Courtnay (Ian McKellen). Beide schummeln ein wenig, aber Roy ist tatsächlich Berufsbetrüger, der für ein paar Hunderttausend auch über Leichen geht. Da die frisch verwitwete Betty einige Millionen besitzt, scheint die Zielrichtung klar, auch wenn sich die Beziehung äußerst positiv entwickelt. So dass der kultivierte Senior sogar bald ins Gästezimmer der ehemaligen Geschichts-Professorin einzieht. Zum Ärgernis und Misstrauen von Bettys Enkel Stephen (Russell Tovey), der nicht nur als Historiker eigene Nachforschungen startet.

Es ist schon überraschend und ein Genuss, Gandalf und Magneto Ian McKellan als tief verdorbenen Schurken zu sehen. Nicht nur eine doppelte Überraschung hat Helen Mirrens Betty in petto. Und selbst wenn die hier nicht verratenen Wendungen nach dem Drehbuch von Jeffrey Hatcher, basierend auf dem Roman von Nicholas Searle, aus der letzten Nazizeit vielleicht zu weit hergeholt erscheinen - dieses Doppelspiel von Giganten der Leinwand sollte man sich nicht entgehen lassen. Es ist ein bitterböses, teilweise dann sogar erschütterndes Drama in best denkbarer Inszenierung.

Als ich mal groß war

BRD 2019 Regie: Philipp Fleischmann, mit Constantin von Jascheroff, Isabell Polak, Sebastian Schwarz 85 Min. FSK ab 6

Jungs träumen davon, später Feuerwehrmann zu werden. Wirklich? Lucas und Marius tun es jedenfalls, als sie neun Jahre alt sind. Und „Als ich mal groß war" ist die Dokumentation, welche die beiden und ihre Freundin Renée über fünf Jahre begleitet, aber auch ihre Zukunftsträume witzig als Spielfilm mit „Erwachsenen" umsetzt. Eine immer nette, flott gedrehte Idee mit ein klein wenig Tiefgang und Melancholie.

„Die beste Zeit unseres Lebens war, als wir so neun, zehn waren." Diese Erkenntnis kommt am Anfang und am Ende noch mal. Dazwischen schauen die Filmemacher Philipp Fleischmann und Lilly Engel genau hin und den drei Kindern vor allem dokumentarisch genau auf den Mund.

Ja, die Feuerwehr ist tatsächlich das Ding von Lucas und Marius, sie machen da spielerisch in Kinderuniformen sogar wirklich mit. Das ist dann auch Steilvorlage für alberne Szenen, in denen die (von den Schauspielern Constantin von Jascheroff und Sebastian Schwarz verkörperten) Erwachsenen eine Katze vom Bau retten müssen. Renée, die schwäbische Freundin des Berliners Marius, ist dabei die kesse Einsatzleiterin (Isabell Polak). Oder in anderen Szenen Anwältin beim Berliner Flughafen BER, der als Running Gag auch in 20 Jahren noch nicht fertig sein wird.

Zur Hälfte des Films gibt es einen Alterssprung, der kleinere Marius ist jetzt 13 und die Freundschaften haben einige Risse bekommen. Besonders die überzeugte und resolute Schwäbin ist reifer und überlegter als die simpleren Jungs. Aber auch hier ist „Als ich mal groß war" noch längst keine „Boyhood" von Richard Linklater. Die nette Idee, Kinder-Geschichten in Spielfilm-Szenen umzusetzen, bleibt immer witzig. Wie zum Beispiel bei den unterschiedlichen Vorstellungen von der zukünftigen gemeinsamen Wohnung: Marius sieht ein kleines Backsteinhäuschen, Renée ein Schloss mit mehreren Flügeln, Kino und Tennishalle. „Als ich mal groß war" bleibt so trotz Heiratsanträgen und Enttäuschungen auch oberflächlich. Und manchmal muss man sogar an eine furchtbar dämliche Gummibären-Werbung denken.

21.11.19

Aretha Franklin: Amazing Grace

USA 2018 (Amazing Grace) Regie: Alan Elliott, Sydney Pollack 87 Min.

Aretha Franklin war 1972 bereits ein Mega-Star, nach zwanzig Studioalben inklusive elf Nummer-eins-Hits gilt sie als „Queen of Soul". Doch der Tochter eines Predigers wurde auch vorgeworfen, die Gospelmusik verraten zu haben. So passte es für alle Beteiligten und auch den Warner-Konzern, in der Missionary Baptist Church von Watts, Los Angeles zusammen mit dem Southern California Community Choir und der Gospellegende Reverend James Cleveland ein Album mit Kirchenmusik aufzunehmen. Das Ergebnis, „Amazing Grace", ist bis heute das meistverkaufte Gospelalbum aller Zeiten. Regie für die begleitenden Filmaufnahmen führte ein großes Team unter der Leitung des damals noch nicht berühmten Sydney Pollack („Jenseits von Afrika"). Allerdings wehrte sich Aretha Franklin ihr Leben lang gegen die Veröffentlichung der Aufnahmen. Erst 47 Jahre später erscheint nun der Film.

„Amazing Grace" ist kein Konzertfilm im heutigen Stil, sondern eine Aufnahme-Session von zwei Abenden. Ohne Schnickschnack marschiert der Gospel-Chor ein, dann stellt der Prediger und Gospelsänger Reverend James Cleveland das Konzept vor. Die vierköpfige Band legt los und Franklin singt „Mary Don't You Weep". Die Begeisterung des Publikums in der Kirche ist mitreißend, auch ganz ohne die religiösen Implikationen, die von den Baptisten in solche Zeremonien gelegt werden. Das Zucken kann einem in die Glieder fahren, selbst wenn man den Heiligen Geist als Aberglauben erkennt. Andere Gospel-Klassiker wie Titelsong „Amazing Grace" oder „What A Friend We Have In Jesus" sind bekannter. Nichts zu hören ist von „Respect", also dem Respekt, den sich Aretha Franklin mit anderen Soul- und Motown-Songs verdient hat.

Wie passend für den Film der nach vielen Jahren rechtlichen Streit endlich ins Kino kommt: Er wurde selbst in einem Kino gedreht, das zur Kirche umfunktioniert wurde. Vor der Leinwand hängt nun ein Jesus-Gemälde.

Abgesehen von der exzellenten Performance ist „Amazing Grace" ein kurioser Film: Unter den wenigen Weißhäutigen im 20-30 Köpfe starken Publikum sind Mick Jagger und Charlie Watts kurz zu sehen. Immer wieder läuft Regisseur Sydney Pollack selbst durchs Bild, seine Kameramänner sind ebenfalls weiß. Ein Polizist patrouilliert tatsächlich durch die wenigen Reihen. Die Begeisterung im Publikum ist enorm. Und ganz ernsthaft hält dann noch ein anderer Reverend eine Rede. Da verliert man fast den Spaß an der guten Musik, wenn es nicht Aretha Franklins Vater Clarence LaVaughn Franklin wäre. Doch mag sie selbst diese Lobes-Hymne? Ihr Gesicht ist uneindeutig - die „Queen of Soul" so zurückgesetzt zu sehen, ist jedenfalls noch ein seltsamer Moment in diesem ungewöhnlichen Film.

19.11.19

Der Leuchtturm

USA, Kanada 2019 (The Lighthouse) Regie: Robert Eggers, mit Robert Pattinson, Willem Dafoe, Valeriia Karaman 109 Min.

Robert Pattinsons Karriere nach den „Twilight"-Erfolgen könnte man tragisch als einzigen verzweifelten Schrei nach Anerkennung interpretieren. Selbst diese mit Schnurrbart bestückte, seltsame Rolle in „Der Leuchtturm" muss noch nicht das Extremste sein. Mehr als edel gefilmte Kuriosität ist bei Robert Eggers Schwarzweiß-Vision jedoch nicht zu vermelden.

Einen abgelegenen Leuchtturm an der Küste Neuenglands soll der junge Winslow (Robert Pattinson) zur Zeit der Jahrhundertwende versorgen. Vor Ort ist der alte Seebär Thomas Wake (Willem Dafoe), der den Neuankömmling mit Schikane und Wahnsinn im Gesicht begrüßt. Er sei verheiratet mit der Insel, erzählt er dem linkisch dreinblickenden ehemaligen Holzfäller.

Während zunehmender Alkoholspiegel das hochstilisierte Kammerspiel mit Ausflügen nach draußen auf den einsamen Fels immer abstruser werden lässt, sorgt vor allem ein gespenstiger Soundtrack mit andauerndem Heulen des Nebelhorns für eine unheimliche Stimmung. Ansonsten würde das Ganze mit viel Furzen und komischen Episoden wie Winslows Kampf mit einer Möwe direkt ins Lächerliche abrutschen.

Thomas, der tatsächlich auf seinem Schaukelstuhl strickt, schleudert Winslow teils literarische Texte mit solcher Emphase entgegen, dass nicht nur dem der Mund offen stehen bleibt. Dann dauert es nicht mehr lange, bis auch Pattinson wahnsinnig grimassiert und auf Visionen von Meerjungfrauen masturbiert. Unter vollem Einsatz von Körper und Gesichtsmuskeln tanzen die Männer eng umschlungen, bevor sie sich prügeln. Kraken-Arme greifen nach ihnen - auch ein Traum oder Teil eines Fantasy-Films?

Regisseur Robert Eggers („The Witch") hat großen technischen Aufwand für diese Schwarzweiß-Bilder im alten Stil betrieben. Entstanden ist eine sehr seltsame Darstellung des Wahnsinns, der in der Isolation entsteht. Doch vielleicht ist es auch besser, das ausführliche Saufen, Urinieren und Sich-Übergeben nur in Schwarzweiß zu sehen. Dieser surreale Kino-Alptraum ist mehr Kunstwerk als realistisches Drama. Allerdings hat gerade „Doctor Sleep" an den Wahnsinn von „The Shining" erinnert und daran, dass sich auch das abstruseste Verhalten halbwegs nachvollziehbar darstellen lässt. „Der Leuchtturm" geht hoffnungslos in die andere Richtung.

18.11.19

Hustlers

Hustlers

USA 2019 Regie: Lorene Scafaria, mit Jennifer Lopez, Constance Wu, Keke Palmer, Lili Reinhart, Julia Stiles, 110 Min.

Wollten Sie immer schon mal wissen, wie toll es ist, als Stripperin zu arbeiten? Eventuell auch mal sexuelle Handreichungen als Bonus einzusetzen? Jennifer Lopez macht mit vollem Körpereinsatz Werbung für diesen Beruf. Mit viel Kopfschütteln im Publikum bereitet der völlig aus der emanzipierten Moderne gefallene Film „Hustlers" auf eine Tätigkeit an der Stange vor.

J-Lo wollte sich ihrem letzten Film „Manhattan Love Story" als ganz gewöhnliche Verkäuferin verkaufen. Jetzt führt sie ihre Bühnenpräsenz als Strip-Star Ramona (Jennifer Lopez) auf schmierigem Boden eines Strip-Clubs vor. Aus der Perspektive der unerfahrenen Destiny (Constance Wu) blicken wir in die Garderobe der Stripperinnen und Table Dancer, lernen ihre Tricks kennen und schätzen die enormen Verdienstmöglichkeiten ein. Bis die Banken 2008 mit ihrer unermesslichen Gier eine Bauchlandung machten und auch die Vergnügungsstätten der Wall Street-Zocker Probleme bekamen. Es soll wohl schlimm sein, Destiny und ihre Kolleginnen leiden zu sehen, weil sie keine Tausende mehr pro Abend verdienen. Die schlimmste Vorstellung für die junge Mutter zeichnet sich ab: Vom Minimum-Lohn leben und keine Luxustaschen mehr kaufen können! Da das Geschäft nicht mehr richtig läuft, setzt Ramona nun ihre Kunden unter Drogen, um an die Kreditkarten zu kommen. Das ist für Sekunden amüsant, wenn sich die Frauen über Haushalts-Rezepte unterhalten, während die „Taxi-Uhr" für die ausgeknockten Männer läuft. Es gibt grelle und grobe Partys, nur übertönt vom lauten Lachen der Lopez. Bis die Polizei zugreift...

Als „Goodfellas in a G-string" bezeichnete eine US-Kritik „Hustlers". Es mag sexistisch sein, dass Ramonas räuberisches Treiben nicht so interessant wirkt, wie das Morden und Ausrauben der Mafia-Männer von Scorsese. Oder vielleicht ist „Hustlers" auch einfach ein viel schlechterer Film. Es ist kein Sozialdrama im Milieu der Sex-Arbeiterinnen, auch wenn in einer Szene diese Erniedrigung vorkommt. Und keineswegs schwierig oder besonders raffiniert, wie sie die Männer verführen. Dazu sind die Typen einfach zu simpel gestrickt. Selbst die emotionale geplante Geschichte von der „Freundschaft" zwischen Ramona und Destiny wird erst in der letzten halben Stunde minimal dramatisch. Selbstverständlich zeigt der Film keine Form von Selbst-Ermächtigung - höchstens der zum materialistischen Party-Girl. Mit einem Film, der selbst überhaupt keinen Spaß macht.

Pferde stehlen

Norwegen, Schweden, Dänemark 2019 (Ut og stjæle hester) Regie: Hans Petter Moland, mit Stellan Skarsgård, Bjørn Floberg, Tobias Santelmann, Jon Ranes 122 Min. FSK ab 12

Der in den USA lebende norwegische Regisseur Hans Petter Moland hat mit Stellan Skarsgård und „Einer nach dem Anderen" einen herrlich schwarzen und flotten Gangster-Thriller hingelegt. Bei der Verfilmung von Per Pettersons Roman „Pferde stehlen" legt er - wieder mit Skarsgård - ein ganz anderes Tempo vor und überzeugt erneut.

Als sich Trond in ein abgelegnes Dorf im Osten Norwegens zurückzieht, trifft er wider Erwarten einen alten Bekannten aus Jugendtagen. Das weckt Erinnerungen an einen Sommer, den der 15-jährige Trond allein mit seinem Vater beim Holzfällen verbrachte. Ein Sommer des Pferdestehlens und der Entdeckung vieler Geheimnisse. Denn hier in der Hütte der Familie half der Vater in Zeiten deutscher Besatzung einst Flüchtlingen über die Grenze nach Schweden. Zusammen mit der Mutter von Tronds bestem Freund. Die alte Geschichte wird in wilder, freier Natur zum Drama.

Es ist eine große, dramatische Geschichte nach dem Roman von Per Petterson, die in „Pferde stehlen" erzählt wird. Und sie kommt spürbar an einigen Stellen zu kurz. Aber so wie Hans Petter Moland („Ein Mann von Welt", „Erlösung") um die Leerstellen und die meist schweigenden Männer herum erzählt, ist ein großer Genuss. Lakonische beginnt es mit zwei alten Männern und ihren Hunden, gefolgt von einer unbeschwerten Jugend in der Natur. Die Verquickung der Kriegs-Nöte und großer Leidenschaften wird Trond für den Rest seines Lebens prägen. Das Leben am Fluss, die Arbeit auf dem Land und beim Holzmachen sind starke dramaturgische Elemente und atemberaubend expressive Naturbilder. Bei der letzten Berlinale erhielt der sehenswerte „Pferde stehlen" einen Silbernen Bären für eine Herausragende Künstlerische Leistung.

17.11.19

Bernadette (2019)

Drama | USA 2019 (Where'd You Go, Bernadette) Regie: Richard Linklater, mit Cate Blanchett, Kristen Wiig, Billy Crudup, Emma Nelson, Laurence Fishburne 111 Min. FSK ab 6

Die bewegte Geschichte eines Paares, einer Familie. Lebenskrisen und Leidenschaften, die sich nicht unterkriegen lassen. Das klingt bekannt bei Richard Linklater (Boyhood), aber „Bernadette" zeigt nicht das altbekannte, in drei Filmen miterlebte „Before ..."-Paar aus Julie Delpy und Ethan Hawke. Cate Blanchett brilliert als die geniale und skurrile Architektin Bernadette Fox in der Verfilmung von Maria Semples Roman „Wo steckst du, Bernadette".

Alles atmet kreativen Geist in dem alten Gemäuer. Die wuchernde Brombeer-Sprosse unter dem Teppich bekommt von Bernadette Fox (Cate Blanchett) mit dem Messer ein Fenster in den Bodenbelag geschnitten. Derweil beschwert sich die engstirnige Nachbarin Audrey (Kristen Wiig) über das Wuchern an ihrem Hang. Die Architektin Bernadette wurde mit Größen wie Rem Koolhaas in einem Atemzug genannt. Nach einem traumatisch gescheiterten Projekt in Los Angeles zog sie mit ihrem Microsoft-Mann Elgie (Billy Crudup) nach Seattle. Aus der genialen Kreativen wurde die spinnerte Mutter der wunderbaren Tochter Bee (Emma Nelson). Als diese sich zum Schulabschluss eine Reise in die Antarktis wünscht, überstürzen sich die Ereignisse. Inklusive Paar-Therapie, ausländischer Spionage, Erdrutsch und echten Überraschungen.

Wie komplex Maria Semples Roman „Wo steckst du, Bernadette" sein muss, merkt man noch Linklaters Verfilmung an. „Bernadette" hat viele dieser Momente, in denen lebensechte Menschen Dinge aussprechen, die man nie vergessen sollte. Dann aber fühlen sich die Figuren verloren an. Nicht nur zwischen den riesigen Eisbergen der Antarktis. Es beginnt als herrlicher Spaß um die Außenseiterin Bernadette inmitten vom wohl situierten IT-Spießertum von Seattle. Wunderbar, wie diese Frau die Kleingeistigkeit pariert oder ignoriert. Das Verhältnis zur ebenfalls besonders klugen und schlagfertigen Tochter ist eng. Dann sollen die Brombeeren entfernt werden, die Folge ist ein wirkliches Chaos und sogar das FBI macht sich Sorgen. Das lustige Porträt des einzigartigen Menschen Bernadette droht zu einem furchtbaren Drama abzukippen.

„Menschen wie du müssen kreativ sein. Sie sind geboren, Neues zu schaffen, ansonsten werden sie eine Gefahr für die Allgemeinheit." Eine Erkenntnis, die Bernadette auf einem wilden Weg erst gewinnen muss. Diese Flucht macht Spaß, berührt und bereichert. Mit Menschen, die man gerne kennenlernt. Mit Sets, in denen man mehr entdecken möchte, sei es im Seattle Schloss oder in der Antarktis-Forschungsstation. Cate Blanchett („Carol", „Blue Jasmine") gibt die wundersame Bernadette perfekt. Zusammen mit dem wunderschönen und besonderen Finale geht hier selbst eine ansonsten disneyfizierte Weisheit: Das „Sei du selbst" überzeugt mit viel Toleranz und nahe an harschen Realitäten. Nicht der rundeste Linklater, aber immer noch besonders sehenswert.