27.10.21

Dear Evan Hansen

USA 2021 Regie: Stephen Chbosky, mit Ben Platt, Amy Adams, Julianne Moore, 137 Min. FSK: ab 12

Ein fehlbesetzter US-Schüler singt sich mit furchtbaren Liedchen durch ein Selbstmord-Drama und fühlt sich sichtbar so unwohl wie das Publikum beim Durchleiden des hochnotpeinlichen Musicals. „Dear Evan Hansen" gewann als Broadway-Musical 2017 gleich sechs „Tonys". Der Film ist heißer Kandidat für die „Goldene Himbeere": Der schüchterne Außenseiter Evan Hansen soll im Auftrag seiner Therapeutin Briefe an sich selbst schreiben, beginnend mit „Dear Evan Hansen". Zufällig gerät einer dieser Briefe in die Hände seines unsympathischen Mitschülers Connor, der sich auch noch kurz danach umbringt. Als Evan der Vermutung von Connors Eltern, sein Freund gewesen zu sein, nicht widerspricht, ändert sich das zurückgezogene Leben von Evan. Neben krasser Fehlbesetzung in der Hauptrolle gibt es viele Songs zum Fremdschämen und Vorspulen.

Contra


Deutschland 2020 Regie: Sönke Wortmann, mit Nilam Farooq, Christoph Maria Herbst, Hassan Akkouch, 104 Min. FSK: ab 12

Die äußert präzise Eingangsszene lässt im Hörsaal der Frankfurter Goethe-Universität die aus Marokko stammende Jura-Studentin Naima Hamid (Nilam Farooq) auf den arroganten Dozenten Richard Pohl (Christoph Maria Herbst) treffen. Man hat ihren langen und symbolisch mühsamen Weg aus den Vororten erlebt, den Job vor Sonnenaufgang, das Kümmern um den kleinen Bruder. Naimas Verspätung benutzt Pohl, um StudentInnen wie üblich coram publico herunterzumachen. Mit rhetorischer Brillanz und im Falle von Naima gewürzt mit rassistischen Andeutungen. 

Doch nach 300.000 Klicks der Szene in den Sozialen Medien hat vor allem der arrogante Professor Pohl ein Problem. Das sind die Tropfen, die ihm mit anderem Fehlverhalten die Entlassung bringen könnten. Wie der befreundete Uni-Leiter ihm beibringen muss. Nur eine Image-Kampagne, in der Pohl die Studentin für einen Rhetorik-Wettbewerb vorbereitet, kann ihn retten. Widerwillig stimmt der Dozent zu, der glaubt über den Dingen zu stehen.

Die Geschichte mag bekannt vorkommen. Nicht nur wegen Alltags-Rassismus und dem typischen Fertigmachen von jungen Menschen in solchen Institutionen. „Contra" ist wieder einmal das Remake eines französischen Erfolgsfilms, diesmal von „Die brillante Mademoiselle Neïla" (Le Brio), den Regisseur Yvan Attal 2017 mit Daniel Auteuil und Camélia Jordana in die Kinos brachte. Und das „Wieder" aus Wiederholung muss weiter bemüht werden, denn auch der deutsche Regisseur Sönke Wortmann und sein Hauptdarsteller Christoph Maria Herbst sind Wiederholungstäter: Bereits Wortmanns letzter Film „Der Vorname" (2018) war ein (eher schwacher) Abklatsch des sechs Jahre älteren französischen „Le prénom". Herbst gab schon damals einen etwas weltfremden Intellektuellen.

Nun ist Sönke Wortmann nach seinen frühen, noch originellen Komödien wie „Kleine Haie" und „Der bewegte Mann" (1994) mit Renommierprojekten wie „Das Wunder von Bern" (2003) ein zuverlässiger Erfolgsregisseur geworden. Auch dieses Remake wird gekonnt nach Deutschland verpflanzt (Buch: Doron Wisotzky). Da feiert Naimas Freund seine „Kartoffelparty" zur Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft. Ihre eigene Familie muss trotz der schier übermenschlichen Bemühungen der studierten und als Putzfrau arbeitenden Mutter noch warten und bangen. Vor allem weil der Bruder ins kriminelle Milieu abrutscht. Das ist der wenig überraschende, aber stimmig gesetzte soziale Rahmen. Angetrieben wird „Contra" jedoch von Duell und Annäherung zwischen Naima und Richard Pohl. Der Professor kann der Aufsteigerin durchaus viel vermitteln, tut das aber weiterhin auf eine provokante und grenzwertige Weise. Die Wut der jungen Frau, die aufgrund des Namens nicht mal ein Praktikum bei einer Anwaltskanzlei erhält, hält sich dagegen in Grenzen. Im Vergleich zur Vorlage geriet Naima deutsch verklemmt. Da tut Pohls Spiel der Beleidigungen, die sich die beiden an den Kopf schleudern, richtig gut. Gelungen zum Lockern für beide Figuren auch die Idee, vor öffentlichen Auftritten die Nervosität durch Tanzeinlagen zu vertreiben.

Überhaupt sind Figuren-Zeichnung und -Entwicklung sehr rund. Die Einsamkeit des Ekels und seine tragische Vergangenheit bringt Herbst hervorragend vor die Kamera. Nilam Farooq ist als klug ehrgeizige Naima Hamid nach ihrer Rolle in „8 Zeugen" nicht mehr unbedingt eine Entdeckung, aber eine exzellente Besetzung. Wobei auch dieses Wortmann-Remake ausgiebig vom Filter „brav" Gebrauch macht: Die Konfrontation ist harmloser, das wachsende Verständnis „wohlfühliger". Dies fällt besonders auf, weil in den Jahren des Film-Kopiervorgangs die Machtkämpfe um Rassismus und „Gender" quasi wöchentlich eskalierten.

 

26.10.21

Online für Anfänger


Frankreich, Belgien 2019 (Effacer l'historique) Regie: Benoît Delépine, Gustave Kervern, mit Blanche Gardin, Denis Podalyès, Corinne Masiero, Bouli Lanners, 106 Min. FSK: ab 12

In der Neubau-Siedlung stehen Möbel im Garten, weil das Wohnzimmer als islamischer Gebetsraum untervermietet wird. Ein Blockwart kontrolliert die Mülltrennung. Alle starren auf ihre Smartphones. Eine ganz normal verrückte Welt, in der Marie (Blanche Gardin) Gespräche mit dem Mann führt, der nicht mehr da ist, und Geburtstagskuchen für Sohn backt, der auch nicht mehr da ist. Dass die einsame Frau irgendwann in die Wohnung vom Ex einbricht und eine Packung Kochschinken-Scheiben mitgehen lässt, bevor eine Sex-Nacht startet, an die sie sich später nicht mehr erinnern kann, ist dann die eigentliche Geschichte vom peinlichen Sextape.

Neben der Geschichte von ihrer Freundin Christine (Corinne Masiero), die trotz aller Bemühungen nur schlechte Internet-Bewertungen für ihren Fahrdienst bekommt. Dritter im Bunde der ehemaligen Gelbwesten ist Bertrand (Denis Podalyès), dessen Tochter im Cyberspace und auf der Schule gemobbt wird. Facebook will das Video nicht löschen, zwischendurch verschuldet er sich beim Flirten mit einer Callcenter-Agentin. Klar, dass die seltsamen Freunde zur „Cloud" müssen, um alles zu löschen. Das empfiehlt der Hacker-Gott im Windrad (Bouli Lanners aus Lüttich).

Der alltäglich unerträgliche und trotzdem akzeptierte Wahnsinn der digitalen Welt ist in vielen Szenen und Beobachtungen Thema des neuen Werks vom irren Regie-Duo Delépine/Kervern („Saint Amour" und „Mammuth" mit Depardieu, „Louise Hires a Contract Killer", „Aaltra"). Das Anliegen ist löblich und notwendig, die Ausführung im Vergleich zu den genialen und anarchischen Vorgängern nur mäßig und holperig.

Ron läuft schief


USA 2021 (Ron's gone wrong) Regie: Sarah Smith, Jean-Philippe Vine, 107 Min. FSK: ab 6

Gerade hat Amazon einen Echo-Bildschirm auf Räder gesetzt, doch diese neuen „B-Bots" aus der Kinder-Animation „Ron läuft schief" laufen ihnen um Jahre digitalen Rang ab: Ein großes Ei mit Händen und Füssen sowie Rundum-Bildschirm. So kann der glänzende B-Bot zu allem werden, vor allem zum Besten Freund des jugendlichen Benutzers. Weil er jedes Detail über das Kind herunter- und wieder hochlädt. Nur nicht Ron - das Ausschuss-Modell startet gerade mal zu fünf Prozent, sein Lexikon hört bei A auf und er ist vor allem nicht online. Sein Besitzer Barney, sowieso Außenseiter und letzter ohne B-Bot an der Schule, muss ihn erst anlernen. Was letztlich sehr vergnüglich ausfällt. So wie alles andere Versagen Rons. Doch für den großen Konzern, der „aus Freunden Dollars machen" will, sind die Fehlfunktionen ein Problem. Deshalb schaltet er die Kameras und Mikros aller Bots an, um den Rebellen zu finden...

Neben dem wunderbar fehlerhaften Offline-Ron, der noch Plakate aushängt und damit für reale „Freunde" sorgt, macht auch die altmodische und schräge russische Familie Barneys viel Spaß. „Ron läuft schief" kommt perfekt zur großen Facebook-Kritik und dem fortwährenden Sonderangebot von Alexa-Geräten: Eine ganze Reihe wichtiger Themen wie Abhängigkeit von den Sozialen Medien und Mobbing werden verständlich und erspürbar präsentiert. Da gibt es die totale Kontrolle wie in „1984" und keine richtigen Freundschaften mehr. Wobei die wechselnden Oberflächen der Bots doch so richtig cool sind... „Ron" lahmt etwas im Finale, in dem wieder „die Cloud" sabotiert werden muss, liefert aber durchgehend klug und verantwortungsvoll gemachten Animations-Spaß.

Borga


Deutschland, Ghana 2021, Regie: York-Fabian Raabe, mit Eugene Boateng, Adjetey Anang, Christiane Paul, 108 Min. FSK: ab 12

Erfreulich frei von Klischees erzählt das packende Drama die Geschichte vom „Borga" Kojo (Eugene Boateng). In Ghanas Hauptstadt Accra werden so reiche Heimkehrer genannt. Auch der junge Kojo will ein Borga werden. Er arbeitet auf einem Schrottplatz und schlachtet mit viel Risiko Elektronik aus dem Westen aus. Zudem leidet er darunter, dass sein Vater den älteren Bruder vorzieht. Nach vierjähriger Flucht in Mannheim angekommen, zerplatzt der Traum vom Reichtum der Borgas. Dieser besteht nur aus gestellten Fotos mit Autos und Villa. Doch der kluge und mutige Mann gibt nicht auf. Regisseur York-Fabian Raabe vermeidet mit viel Erfahrung im Thema die Mitleids-Schiene und zeigt mit klasse Hauptdarsteller ein zerrissenes Leben zwischen Deutschland und Ghana.

20.10.21

Walchensee Forever


BRD 2020 Regie: Janna Ji Wonders, 116 Min. FSK ab 6

In der außerordentlich gelungenen Dokumentation „Walchensee Forever" ergründet die Musikerin und Filmemacherin Janna Ji Wonders die Geschichte ihrer Familie über fünf Generationen und 100 Jahre mit Fokus auf die Frauen. 8mm-Filmaufnahmen, ungewöhnliche Fotografien und detailreiche Briefe bilden einen erstaunlich reichen Schatz. Das Zentrum bildet zwar das Familien-Café am Walchensee in Oberbayern, doch die bewegte und durchaus dramatische Familiengeschichte ist keineswegs eine provinzielle: Da gibt es die Amerika- und Mexiko-Tournee der Mutter Anna und ihrer Schwester Frauke mit Volksmusik, der Ende der 60er in San Francisco zum Folk wird. Frauke (von der viele, spannende Briefstellen zu hören sind) driftet zuerst in die Drogen, dann zu einem adeligen, aber unbefriedigenden Traummann ab. Nach einem Aufenthalt in der Psychiatrie schreibt sie noch mehr Tagebuch und auch ein orientalischer Guru taucht auf. Dann gibt es tatsächlich ein Verhältnis zu Rainer Langhans, der prominenten Leitfigur der legendären Kommune I. Er zieht sogar für eine Weile in Walchensee in eine asketisch kleine Kammer. Und ganz im Zeitgeist fünf Wochen lang zusammen in einer Höhle auf Mykonos. Leider für Anna völlig enthaltsam.

Janna Ji Wonders arbeitet nicht nur mit den üblichen „Talking Heads" der Interviews, sondern atmosphärisch stark mit weiterem, fremdem Bildmaterial. So staunt man nicht nur über die auf der Tonspur erzählten spannenden Menschen und Leben, auch die Augen folgen gefesselt dieser kaum glaubhaft bewegten Familiengeschichte. Der mit dem Bayerischen Filmpreis ausgezeichnete „Walchensee Forever" ist die nächste erfolgreiche Produktion des aus Aachen stammenden Martin Heisler mit seiner Berliner Firma „Flare Film".

The French Dispatch


USA, BRD, Frankreich 2019 Regie: Wes Anderson, mit Benicio del Toro, Adrien Brody, Tilda Swinton, Léa Seydoux, Frances McDormand, Timothée Chalamet, 108 Min. FSK ab 12

Diese wunderbare Hommage an guten Journalismus und exzellente Filme ist kein Meisterwerk – es sind gleich vier Meisterwerke, die Wes Anderson („Grand Budapest Hotel", „Moonrise Kingdom") als Kapitel der letzten Ausgabe des fiktiven Print-Magazins „The French Dispatch" erzählt. In der erfundenen französischen Stadt Ennui-sur-Blasé blieb der aus Kansas stammende Verleger Arthur Howitzer Jr. (Bill Murray) hängen und gibt seitdem das Qualitätsjournal heraus, bei dem eher Anzeigen als Zeilen seiner Autoren gestrichen werden. Mit Ennui-sur-Blasé ist Paris gemeint, aber die wörtliche Übersetzung beschreibt „blasierte Langeweile".

Mit einem seiner einzigartig detailreichen Tableaus ohne Kamerabewegung tritt Anderson in die Redaktionsstuben des „French Dispatch". Der Zickzack aus Treppenstiegen ist unverkennbar ein Nachbau des Jacques Tati-Haus aus „Mon Oncle". Nach dem Rückblick auf die letzte Redaktionskonferenz Howitzers mit dessen verlegerischer Ethik, von der jeder Journalist nur träumen kann, blättert der Film die finale Ausgabe in vier Geschichten im Stil des Magazins „The New Yorker" auf.

Herbsaint Sazerac (Owen Wilson), der furchtlose Radelnde Reporter, den es in die verstörendsten und unappetitlichsten Ecken entlegener Städte zieht, berichtet über Taschendiebe, Leichname, Gefängnisse und Pissoirs. Der morgendliche Trip durch eine Stadt, die eher klein als Metropole zu sein scheint, gerät dank Andersons pedantischer Bildgestaltung in jedem Bild zu einem immensen Vergnügen. Aber auch die Erzählung serviert in rasantem Fluss einen Leckerbissen nach dem anderen. Beispiel: „Nach dem Empfangen der Hostie stellen blutrünstige Messdiener unbedarften Pensionären nach." Genau so darf man sich die surreale bis absurde Welt des Wes Anderson gerne vorstellen.

Die zweite Geschichte, „Das Beton-Meisterwerk", auf den Seiten 5-34 zu „Kunst und Künstler" ist ein grandioser Kurzfilm über einen Maler, sein Aktmodell und einen Galeristen. Die Szene mit der nackten Léa Seydoux kippt in Sekunden, als ihre Figur sich als Gefängniswärterin erweist und der Künstler Moses Rosenthaler (Benicio Del Toro) als Doppelmörder wieder in seine Zelle muss. Dieser Anfang einer besonderen Beziehung wird eine herrliche Farce des Kunstbetriebes, nachdem der kurzzeitig einsitzende Galerist Julian Cadazio (Adrien Brody) das Genie entdeckt. Mit Hilfe breit gestreuter Bestechungsgelder sollen die Gemälde aus dem Hochsicherheitstrack eine internationale Sensation werden. Nur blöd, dass Julian erst bei der heimlichen Vernissage entdeckt, dass die wunderbaren Bilder unverrückbare Freskos sind.

Auch die beiden weiteren Episoden sind gewitzt erzählte, reizvoll verschachtelte Perlen filmischen Erzählens: „Korrekturen eines Manifests" in den Studentenaufständen von Paris der 60er-Jahre mit Timothée Chalamet und Frances McDormand als weiterem Mitglied der Anderson-Familie. „Das private Speisezimmer des Polizeichefs" ist die Geschichte des schwulen Gastrokritikers Jeffrey Wright (Roebuck Wright), der wegen des Chefkochs der Polizeikantine (Monsieur Nescafier!) in eine dramatische Entführung gerät. Das Finale wird gar zum Comic in der „ligne claire" von Herge.

Die Darstellerriege ist mehr als exquisit, nebenbei sind auch Tilda Swinton als Kunstkritikerin, Jason Schwartzman als Cartoonzeichner, Edward Norton als Entführer, Liev Schreiber als Talkshow-Host und Mathieu Amalric als Oberkommissar zu erleben. Die wahre Kunst Andersons liegt allerdings in den bewegten Tableaus, voller netter Figuren, Details und Verrücktheiten.

Wenn die Kritiken nach der Premiere von „The French Dispatch" in Cannes nur begeistert und nicht euphorisch waren, kann das allein daran liegen, dass Anderson diesmal mit mehreren Geschichten und noch mehr ebenso kuriosen wie genialen Einfällen überfordern könnte.

19.10.21

Cry Macho


USA 2021 Regie: Clint Eastwood, mit Clint Eastwood, Eduardo Minett, Natalia Traven 104 Min. FSK ab 12

Der ehemalige Western-Held und mittlerweile verehrte Filmemacher Clint Eastwood ist 91 und sieht auch in seinem jüngsten Film recht alt aus. Dass irgendwer im Film zu seiner Figur, dem ehemaligen Rodeo-Reiter sagt, er sei „schnell für einen alten Mann", gilt auch für den Regisseur Eastwood. Alle ein bis zwei Jahre haut er neue Werke raus und immer sind sie besonders sehenswert.
Bei „Cry Macho" geht es wieder in den Westen, aber anders: Der alte Rodeo-Reiter Mike Milo wird von seinem Boss entlassen. Der Job auf der Ranch war nach tragischem Verlust der Familie, nach Drogen und Alkohol sowieso so etwas wie ein Gnadenhof. Doch nach einem Jahr bittet der unsympathische Chef um einen großen Gefallen. Mike solle dessen Sohn von der verrückten Mutter aus Mexiko entführen.

Die nicht ungefährliche Aktion läuft mit der für Eastwood typischen tiefen Ruhe ab. Selbst als sich Rafael (Eduardo Minett) als ganz wilder Teenager herausstellt und die Mutter ihnen einem ihrer gefährlichen Bodyguards hinterherschickt. Mike muss erst das Vertrauen des wütenden Jungen gewinnen. Der fragt sich „Wer bin ich? Bin ich ein Gringo wie mein Vater, der weggelaufen ist? Oder Mexikaner wie meine schwache Mutter?"
„Cry Macho" erzählt ohne sich überschlagende Action packend. Dafür mit wunderbaren Szenen auf einer Odyssee durch mexikanische Dörfer, wie das Kennenlernen der taubstummen Enkelin der offenherzigen Wirtin und Witwe. Bald scheint sich alles in Güte und Glück aufzulösen. Die „Brücke am Fluss" kann nicht weit sein.

Venom: Let There Be Carnage


USA 2021 Regie: Andy Serkis, mit Tom Hardy, Woody Harrelson, Michelle Williams, 90 Min. FSK ab 12

„Mein Freund Harvey" sieht rot! Ob es dem Film gefällt, dass man bei seinen Blödeleien an einen eingebildeten Hasen an der Seite von James Stewart aus dem Jahr 1950 denken muss? Der verfilmte Marvel-Comic um den braven Journalisten Eddie Brock (Tom Hardy), der von einem gewalttätigen außerirdischen Schmarotzer bewohnt wird, erinnert im Dialogwitz zu oft an ein „Odd Couple" („Männerwirtschaft", 1970) wenn beim Frühstück maskulin ruppig Liebeskummer behandelt wird. Klar, diese humoristischen Varianten sollen die übliche Action aufhübschen. Und die Bild-Attraktion vom Venom ausbalancieren, mit seinem Alien-Kopf und vielen Tentakeln, die bei Wut aus Brock herausbrechen. Diese nette Bebilderung mangelnder Affektkontrolle macht auch im zweiten Teil einiges her, doch bevor die ganze Geschichte zur Komödie verkommt, taucht aus dem zum Tode verurteilten Schurken Cletus Kasady (Woody Harrelson) ein Artgenosse Venoms namens Carnage auf. Der Rest ist „Godzilla gegen King Kong".

Beim lustigen Körper-Wechsel mischt auch Brocks große Liebe Anne Weying mit. Michelle Williams macht dabei noch die beste Figur, eben weil nicht alle paar Minuten effektheischend Tentakel aus ihr hervorschießen. Regisseur Andy Serkis („Mogli: Legende des Dschungels", „Solange ich atme") scheint der Wirkung seiner janusköpfigen Kreatur nicht mehr zu vertrauen und baut auf Mehr-vom-Gleichen. Das liefert das Erwartete mit guten Schauspielern auf hohem Tricktechnik-Niveau – ein wirkliches „Mehr" aber nicht.

Halloween Kills


USA 2020 Regie: David Gordon Green, mit Jamie Lee Curtis, Judy Greer, Andi Matichak 106 Min. FSK ab 18

Wieder steht Halloween vor der Tür und wieder ist eine weitere Fortsetzung des klassischen Carpenter-Horrors der größte Schrecken: „Halloween Kills" ist zweiter Teil einer Wiederbelebung, die direkt an das Original von 1978 anschloss und alle Fortsetzungen dazwischen ignorierte. Diesmal, es ist das Jahr 2018, liegt Star Jamie Lee Curtis die meiste Zeit im Bett und sieht selbst aus wie ein Gespenst. Das passt zum Film, der typisch für einen zweiten Teil handlungsmäßig auf der Stelle tritt. Was gefühlt noch mehr Zeit für extrem brutales Abschlachten durch Mike Myers lässt. Modernisierungen wie ein kritischer Blick auf mordlüsterne Bürgerwehr und die Frauenpower von drei Generationen der Familie Strode (Curtis) können das Entsetzen darüber nicht mildern.

12.10.21

Supernova (2020)


Großbritannien 2020 Regie: Harry Macqueen, mit Colin Firth, Stanley Tucci 95 Min. FSK ab 12

Seit zwanzig Jahren sind der berühmte Pianist Sam (Colin Firth) und der Schriftsteller Tusker (Stanley Tucci) ein Paar. Nachdem Tusker vor zwei Jahren mit Demenz diagnostiziert wurde, hat Sam seine Arbeit aufgegeben, um sich um seinen Partner zu kümmern. Nun, da sich die Anzeichen der Krankheit mehren, brechen sie in einem alten Camper zur letzten gemeinsamen Reise auf. Dass es für Tusker auch im übertragenen Sinn eine „letzte Reise" sein soll, weiß sein Mann allerdings noch nicht.

Für beide steht ein Rollentausch an, der ruckelig vor sich geht: Früher war Tusker für Sam stets der Fels in der Brandung, jetzt ist es an Sam, die Kontrolle zu übernehmen. Eine längere Szene im Cockpit des Campers macht es schön und humorvoll deutlich: Zwar hat Sam das Steuer übernommen, doch Tusker muss ihm sagen, welcher Gang der bessere ist und auch sonst alles kommentieren. Ein altes Paar halt! Der Autor, der in seinem Notizbuch nur noch krakelige Linien zustande bringt, läuft schon manchmal verwirrt durch die Gegend. Und doch ist er in vielen Momenten noch der klarere, nüchternere von beiden. Ihm verbleiben die sehr passenden Beschreibungen seiner extremen Situation: „Ich werde zum Passagier meines Lebens."

Demenzfilme sind mittlerweile ein eigenes Genre, manchmal sogar mit Reise in den Tod, wie bei „Das Leuchten der Erinnerung" mit Helen Mirren und Donald Sutherland als an Alzheimer erkrankter Ehemann. Sehr gelungen „Iris" mit Judi Dench als Schriftstellerin Iris Murdoch, die an Alzheimer erkrankte. Sally Potter, die ausgezeichnete und renommierte Regisseurin von „Orlando" und „The Party", erlebte die Demenz bei einem jüngeren Bruder, sie drehte danach „Die Wege des Lebens" mit Javier Bardem als dementem Schriftsteller. Ian McKellen verlor als Sherlock im rührenden „Mr. Holmes" von Bill Condon seine Erinnerung. „Honig im Kopf" mit Dieter Hallervorden muss in der Reihe von Meisterwerken eigentlich nicht erwähnt werden.

„Supernova" lässt nun nicht all die anderen Filme vergessen, doch so nah und vor allem liebevoll ließ kein anderer diese Tragödie miterleben. Liebevoll in der Darstellung des Paares, unheimlich intensiv im Erleiden der Krankheit. Dass die Frage des selbstgewählten Todes aufkommt, ist zwar keine Überraschung, aber auch das erlebt man hier intensiver. Während der sorgevolle Sam sich weigert, über die nächsten Schritte nachzudenken, findet Tusker noch klare Worte: „Du musst mich gehen lassen!" In der englischen Bedeutung von „gehen lassen", nämlich sterben.

Der erst 40-jährige Autor und Regisseur Harry Macqueen hat für den Film drei Jahren lang eng mit Großbritanniens führenden Demenz-Spezialisten zusammengearbeitet und sich mit vielen Menschen, die von dieser Diagnose betroffen sind, getroffen. Hat Zeit mit Menschen verbracht, die inzwischen verstorben sind, sowohl an der Krankheit selbst als auch aufgrund von Selbstmord. Macqueen bezeichnet das als „einige der ergreifendsten und wichtigsten Erfahrungen meines Lebens". Er will mit „Supernova" auch „diesen Menschen und ihren Geschichten auf eine wahrhaftige und ursprüngliche Art gerecht zu werden".

Dies gelingt auch Dank zweier begnadeter Darsteller: Colin Firth und Stanley Tucci sind von Action-Knallern bis zu Arthouse-Meilensteinen ungemein präsente Schauspieler. Trotzdem gehen sie voll in der Rolle des liebenden Paares auf und man nimmt ihnen die Rollen sowie jede ihrer Emotionen ab. Neben dem wunderbaren Licht der genialen Kamera Dick Popes muss noch immer erwähnt werden, dass die schwule Beziehung hier mit einer traumhaften Selbstverständlichkeit gelebt werden kann. Ein „unvergesslicher" Film wäre im Zusammenhang dieses feinen Films ein blöder Kommentar. Eine Liebe, die bleibt, der passende.

Es ist nur eine Phase, Hase


BRD 2021 Regie: Florian Gallenberger, mit Christoph Maria Herbst, Christiane Paul, Jürgen Vogel, 105 Min. FSK ab 12

Christoph Maria Herbst auf einer Parkbank, völlig besoffen und am Ende, rührend und komisch. Leider gibt es diese Szene nicht im weniger als mäßigen neuen Film „Es ist nur eine Phase, Hase" mit Herbst, sondern in der großartigen Serie „Tilo Neumann und das Universum". Wieder ist Midlife-, Schaffens- und Ehekrise angesagt. Der Autor Paul (Herbst) und die Synchronsprecherin Emilia (Christiane Paul) haben drei Kinder und nicht mehr viel gemeinsam. Nach einem Seitensprung ihrerseits zieht er aus, obwohl alle wissen, dass diese falsche Entscheidung nicht ewig währt. Kinder wie Publikum.

So verklemmt wie der Film selbst zeigt Herbst seinen Paul mit Stock im Hintern. Dazu macht der Film wenig Aufwand, um ihn unattraktiv zu zeigen: Streck' mal wieder deinen Bauch raus! Vor allem Pauls Desinteresse an der eigenen Frau ist geradezu Körperverletzung. Nach langer Zeit muss man noch mal kiffen - wie originell, das sieht man nur bei jedem zweiten Film über Midlifecrisis. Auch die weiteren Drogen-Szenen bleiben krampfhaft witzig, wie der Rest des Films nach dem Erfolgsbuch „Es ist nur eine Phase, Hase: Ein Trostbuch für Alterspubertierende" von Maxim Leo und Jochen Gutsch. Oder vielleicht zünden ja die Schenkelklopfer mit Papa in den Latex-Fetischklamotten von früher?

Leider nein! Tiefpunkt des Klamauks ist schließlich eine Prostata-Untersuchung bei der kölschen Urologin Cordula Stratmann. Höhepunkte bleiben aus, wenn Vorhersehbares sehr lahm inszeniert und von Herbst („Contra", „Der Vorname", „Stromberg") und Paul („Borga", „Eltern", „Counterpart") nicht mal anständig gespielt wird. Das interessiert niemanden in keiner Krise.

Résistance - Widerstand


Großbritannien, Frankreich, BRD, USA 2020 Regie: Jonathan Jakubowicz, mit Jesse Eisenberg, Clémence Poésy, Matthias Schweighöfer, Karl Markovics 122 Min. FSK ab 12

Dass Marcel Marceau hunderte jüdische Kinder gerettet hat, bevor er der berühmteste Pantomime wurde, ist nicht unbedingt bekannt. „Résistance" erzählt diese dramatische Geschichte im jüdischen Widerstand Frankreichs: Marcel Mangel (Jesse Eisenberg) wollte als Sohn eines Metzgers in Straßburg eigentlich auf die Bühne, doch die deutschen Invasionen (und eine aufgesetzte Liebesgeschichte) zwangen ihn zur Flucht ins Vichy-Frankreich und dann in die Schweiz. In den schönsten Momenten tröstet seine Kunst verstörte Kinder, deren Eltern gerade umgebracht wurden. Ansonsten stilles Heldentum und Matthias Schweighöfers teuflischer Obersturmführer Klaus Barbie (der „Schlächter von Lyon") als eigentlich interessantere Figur. Trotz unausgewogener Szenen fällt es schwer, angesichts einer grauenvollen Geschichte nicht betroffen zu sein.

Boss Baby - Schluss mit Kindergarten


USA 2021 (Boss Baby: Family Business) Regie: Tom McGrath 107 Min. FSK ab 6

„Baby Boss 2" ist eine Mogelpackung für die kleinen großen Fans der TV-Folgen: Nach dem Erfolg der ersten Animation um ein überraschend erwachsenes Baby und seine Firma „Baby Corps" sind die jungen Akteure mittlerweile erwachsen. Das herrische Kleinkind Ted erinnert sich als erfolgreicher Manager nicht mehr an diese Zeit. Der bedauernswerte große Bruder Tim sorgt sich als Familienvater um zwei Töchter, vor allem die ältere entfremdet sich rasant. Eine Menge Probleme Erwachsener überladen den Animationsspaß, der erst spät die Original-Idee wiederholt. Zwar gefällt jungen KritikerInnen, dass ein Mädchen jetzt Boss ist. Baby Boss Ted jedoch gar nicht mehr; die Hypnose des Schurken macht Kleinen sogar Angst.

The Ice Road


USA 2021 Regie: Jonathan Hensleigh, mit Liam Neeson, Laurence Fishburne, Amber Midthunder 109 Min. FSK ab 16

Furchtbar altmodisch überzeugend meistert dieses Action-Roadmovie das dünne Eis vieler Genre-Wiederholungen: Nach einer Bergbaukatastrophe wird der erfahrene Trucker Mike McCann (Liam Neeson) mit seinem Bruder Gurty (Marcus Thomas) und zwei anderen LKW-FahrerInnen (Laurence Fishburne, Amber Midthunder) engagiert. An Bord sind Bohrköpfe zur Rettung eingeschlossener Minen-Arbeiter. Allerdings ist der „Highway" über nicht mehr ganz zugefrorene Seen wegen Tauwetter schon geschlossen, die Aktion ist ein Himmelfahrtskommando mit viel Geld als Belohnung. Neben knackendem Eis bringt Sabotage Spannung. Fürs Herz gibt's die Sorge um den Bruder: Gurty kann nach Kriegsverletzungen zwar nicht mehr verständlich sprechen, ist aber begnadeter Mechaniker. Und Liam Neesons Spiel macht die Routine glaubwürdig.

6.10.21

Tagebuch einer Biene


BRD, Kanada 2020 Regie: Dennis Wells, 92 Min. FSK ab 0

Dass es Winterbienen gibt, die man nicht sieht, weil sie im Stock die Königin und den Nachwuchs wärmen und pflegen, ist eine der spannenden Informationen dieses nur optisch gelungenen Tierfilms: Drei Jahre Dreharbeiten mit spezieller Makrokameratechnik und Superzeitlupen sind die Basis spektakulärer und atemberaubend detaillierter Aufnahmen vom Leben der Bienen. Dass die Erzählerinnen daraus den furchtbar dramatisierten Jahreslauf einer Winter- und einer Sommerbiene machen, umreißt nur das Ausmaß einer schwer erträglichen Vermenschlichung. „Biene hat in ihrem ganzen Leben noch nie die Flügel gespreizt, aber nun muss sie es wagen". Es wabert ein poetisches Geraune, das zeitweise das Bienenvolk unter der Königin zum Kult macht. Die Musik legt noch eine Soße drüber. Das lenkt von den erstaunlichen Aufnahmen ab, da gehen die Informationssprengsel leicht unter. Im Gegensatz zum in jeder Hinsicht eindrucksvollen Dokumentarfilm „More than Honey" von Markus Imhoof ist dieses „Tagebuch" eine Eintagsfliege. Allerdings auch geeigneter für kleine Kinofans.

5.10.21

Wonders of the Sea

Großbritannien 2017 Regie: Jean-Michel Cousteau 84 Min. FSK ab 0

Im netten Tierfilm-Triptychon dieser Kinowoche überrascht der Cousteau-Film mit einer großen Buntheit unter Wasser: Naturdokumentarist Jean-Michel Cousteau, der Sohn vom legendären Jacques mit der roten Mütze, reist mit seinen beiden Kindern rund um die Welt, um die „Wunder der Meere" vorzuführen. Von den Fidschi-Inseln bis zu den Bahamas sehen wir Korallenriffe mit kunterbunten Weihnachtsbaum-Würmern, eine leuchtend blaue Moräne oder Hummer im Karnevalskostüm. Alles zum Staunen und erstaunlich sachlich im Vergleich zu disneysierten Naturfilmen. Nur der Personenkult um die Meeresfilmer-Familie Cousteau und den engagierten Erzähler Arnold Schwarzenegger stören etwas die schönen Bilder von eindrucksvollen Wesen jeder Größe.

Titane


Belgien, Frankreich 2021 Regie: Julia Ducournau, mit Agathe Rousselle, Vincent Lindon, Garance Marillier, 108 Min. FSK ab 16

Der aufsehenerregende Siegerfilm von Cannes 2021 „Titane" ist ein Meisterwerk, das sich skandalös gibt, aber inmitten von irren Vereinigungen aus Metall und Fleisch ein menschliches Herz hat: Nach einem heftigen Verkehrsunfall verlässt ein Mädchen das Krankenhaus mit einer Titan-Platte im Kopf. Die Begrüßung der Eltern fällt kalt aus, nur das Auto bekommt einen Kuss! Dann nach dem Schnitt die erwachsene Alexia (Agathe Rousselle) in einer Show wie aus dem Strip-Club, aber sie tanzt auf einer Automesse. Besser: Sie hat Sex mit einem lächerlichen Poser-Auto.

Alexia muss sich auf dem Parkplatz Nachstellungen erwehren. Die Belästigung endet für den Mann mit einer langen Haarnadel quer im Kopf. Es ist der Beginn einer brutalen Mordserie, die letztlich absurde Züge annimmt. Als Alexia kapiert, wie viele Zeugen sie in einer Wohngemeinschaft umbringen muss, verdreht sie die Augen. Letztlich kommt ihr bei der Flucht der irre Gedanke, sich für einen seit zehn Jahren vermissten Jungen auszugeben. Für den Geschlechtswechsel bricht sie sich auch selbst die Nase.

Dass Alexia vom Sex mit einem Ami-Schlitten schwanger wird und Motorenöl aus ihren Brüsten fließt, ist der erzählerische Wahnsinn, der Filmemacherin Julia Ducournau („Raw") zur Erbin David Cronenbergs und seines „Crash" macht. Doch nicht nur, weil jedes hochglänzende oder bös dunkle Bild faszinierend aufgenommen und gestaltet ist, nimmt man diesen Film ernst. Brutal sind einige Szenen, die drastischen Morde, mit Spaß am splatterigen Detail. Die versuchte Abtreibung mit der selben Haarnadel, mit der Alexia mordet. „Titane" hat in Story, Figuren und Gestaltung ganz das Material sehr großer Meisterwerke, die sich nachhaltig einbrennen.

4.10.21

Hinterland


Österreich, Luxemburg 2021 Regie: Stefan Ruzowitzky, mit Murathan Muslu, Liv Lisa Fries, Maximilian von der Groeben 99 Min.

Düster, nie Sonne, trübe Aussichten - das ist die faszinierende Stimmung im österreichischen Film „Hinterland" von Oscar-Preisträger Stefan Ruzowitzky („Die Fälscher"), der in Locarno auf der Piazza Grande Weltpremiere feierte. In einem fantastisch gezeichneten Wien klärt der Kriegsheimkehrer Peter Perg 1920 eine Mordserie an anderen Soldaten auf. Dabei werden die Opfer sadistisch hingerichtet und mit einer Botschaft ausgestellt.

Nach Jahren russischer Kriegsgefangenschaft fahren gebrochene Soldaten durch eine apokalyptische Landschaft nach Wien. Tote Bäume säumen die Donau-Ufer wie Skelette. Die Stadt selbst ist ein Aufschrei des Expressionismus: Schräg die Giebel, es knirscht im Gebälk und auf der Tonspur. Diese digitalen, bewusst künstlich gestalteten Kulissen entstanden alle in der Postproduktion, die Schauspieler spielten im Studio vor grünen Leinwänden (Kamera: Benedict Neuenfels). Was dem Film dank durchgehend eindrucksvoller Akteure nicht anzumerken ist. Das Szenenbild, das an die modernen und expressionistischen Motive des Kinos der 20er Jahre erinnert, entstand hauptsächlich am Computer.

Der ehemalige Kriminalbeamte Peter Perg (Murathan Muslu) ist auch in der Republik, die das Kaiserreich nach dem Ersten Weltkrieg ablöst, gefragt. War doch der erste grausam Ermordete ein Mithäftling. Und der opportunistische Vorkriegs-Kollege Victor Renner (Marc Limpach) ist nun Polizeirat, der sich zu sehr um Pergs Ehefrau gekümmert hat. Freundlich nur die Gerichtsmedizinerin Dr. Theresa Körner (Liv Lisa Fries) - als Einzige in Weiß gekleidet!

Da die Zahl 19 eine Rolle spielt, ist „Hinterland" das neue „Neun7ehn" - statt „Se7en", wie sich Finchers Thriller mit Brad Pitt einst schreib. Während die Serienmörder-Handlung diesem vertrauten Schema folgt, ähnelt die Ästhetik dem düsteren „Sin City" von Robert Rodriguez und Frank Miller. Ein Wiener Tatort im Comic-Stil und doch unendlich viel interessanter. Wenn Matthias Schweighöfer dann als Gott der Rache keinen einzigen Scherz macht, ist der Film vollends gelungen!

Freundlichkeit und Hoffnung sind rar in diesen Zeiten, deren politische Unruhe der Oscar-Preisträger Stefan Ruzowitzky immer wieder einfängt. Anarchisten, Futuristen, Dadaisten und eine Pazifistin tummeln sich in den Szenen. Der Hinweis auf diesen „Österreichischen Gefreiten und seine Nationalsozialisten" - gemeint ist Hitler – darf nicht fehlen. Stärker als die Information wirkt die erdrückende Nachkriegs-Stimmung. Mit viel digitaler Kunstfertigkeit und einem großartigen Ensemble macht „Hinterland" aus vertrauten Bestandteilen etwas beeindruckend Neues.

Wie schon bei seinem Oscar-Sieger „Die Fälscher" formt der zeitweise in Düsseldorf aufgewachsene Wiener Ruzowitzky bekannte und bislang eher unauffällige Gesichter zu einem starken Ensemble: Vor allem Murathan Muslu als der vom Krieg und Gefangenschaft zerrüttete Super-Ermittler ist so prägnant, dass man – vergeblich – seine vielen anderen großen Rollen sucht. Liv Lisa Fries kopiert als Gerichtsmedizinerin Körner ihre Rolle aus „Babylon Berlin", wie auch die Stimmung trotz anderem ästhetischem Konzept an die Erfolgsserie erinnert. Der als Gast angekündigte Matthias Schweighöfer krönt schließlich die Riege deutschsprachigen Talents mit einer Rolle, über die geschwiegen werden muss.

Wenn sich Schweighöfers Figur als „Vorbote für das nächste große Morden" bezeichnet, überhebt sich der unbedingt sehenswerte Film damit auf den ersten Blick dann doch etwas. In den Kommentaren zum Kriegseinsatz als „Blödheit" taucht die Antikriegs-Haltung Ruzowitzky aus „Die Fälscher" wieder auf. Ein Pazifist, der es allerdings auch deftig mag, siehe seine früheren „Anatomie"-Erfolge mit viel Splatter.