27.9.16

Mit dem Herz durch die Wand

Frankreich 2015 (Un peu, beaucoup, aveuglement) Regie: Clovis Cornillac mit Mélanie Bernier, Clovis Cornillac, Lilou Fogli 91 Min. FSK: ab 6

Eine schüchterne Pianistin mit strengen Haaren und unpassender Brille zeiht in ein neues Pariser Appartement und findet sich bald gefangen in einer „architektonischen Anomalie" – durch die hohlen Wände hört man alles, aber die Wohnungen haben unterschiedliche Besitzer, die das alles nicht interessiert. Ihr Nachbar ist ein erfolgreicher Erfinder, der sich weigert, weiter Spiele für Smartphones zu entwickeln. Stattdessen bastelt er seit sieben Jahren an einem ziemlich komplexen Spiel und hat die Wohnung nicht mehr verlassen. Statt Arrangement gibt es zwischen beiden einen geräuschvollen Kleinkrieg bis zur Selbstverstümmelung. Die Kombination von Solistin und spinnertem Einzelgänger lässt viel Raum für zwischenmenschliche Konfrontation. Letztlich schafft das harmlose Geräusch des Metronoms ihn.

Das gemeinsame Arrangement führt zu ebenso originellen Lärmvermeidungs-Strategien bis er – als Sohn eines ehemaligen Konzertsaal-Hausmeisters - ihren Chopin als seelenlos bezeichnet und sie mit seinen Kommentaren zu einem orgastischen Aufblühen antreibt. Das ist mit Öffnen von Haaren und Bluse heftiger Slapstick. Doch das folgende Gespräch, Rücken an Rücken, Wand an Wand, ist pure Romantik, wie die turtelnden Tauben auf dem Fenstersims bestätigen. Fortan reden sie mit der Wand ... mit echten Menschen klappt es sowieso nicht so ganz. So entscheiden sich die beiden Sonderlinge, getrennt zusammen zu sein. Sie schieben die Betten näher zusammen und das Bild teilt sich für einen gemeinsamen Raum – mit Wand in der Mitte. Sie essen sogar gemeinsam, wobei auf seiner Seite alles perfekt gelingt, während sie alles anbrennen lässt. Überhaupt hat sie den albernen Part, während alle seine positiven Eigenschaften kaum ins Bild passen. Das mag daran liegen, dass Clovis Cornillac die romantische Komödie nicht nur (mit-) geschrieben und inszeniert hat, er spielt auch die männliche Hauptrolle. Das Zwei-Kamerspiel wird jedoch von beiden getrennt agierenden Schauspielern lustvoll gespielt.

Ein Abendessen zu viert mit den Freunden ist wieder ein komödiantischer Volltreffer, mit jedem weiteren Gespräch gewinnt aber die fixe Idee an Gewicht, das wirklich wichtige an einer Beziehung zu extrahieren. In der unumgänglichen Krise fällt die Trennung besonders schwer, weil man sowieso immer getrennt war. Das ist zwar schon fast konventionell, doch längst bangt und hofft man mit den Liebenden und Leidenden, die in ihrer Andersartigkeit so perfekt zusammen passen. Eine etwas andere, aber sehr sympathische und sehenswerte Sommer-Romanze des Kinos.

Findet Dorie

USA 2016 Regie: Andrew Stanton & Angus MacLane 97 Min. FSK: ab 0; f

Erinnern Sie sich noch an Dorie und ihre Meeres-Abenteuer mit Nemo, der seinem Vater abhanden kam? Nein? Macht nichts, denn auch Dorie erinnert sich an nichts mehr: Die blaue Paletten-Doktorfisch-Dame ohne Kurzzeitgedächtnis lebt glücklich und zufrieden mit Nemo und dessen Papa Marlin im Korallenriff, die sich geduldig um die vergessliche Freundin kümmern. Aber plötzlich blitzt eine alte Erinnerung aus der Kindheit auf und macht Dorie unruhig: Irgendwo da draußen müssten doch ihre Eltern sein, die vielleicht noch immer nach ihr suchen. Gegen alle Vernunft starten Dorie, Marlin und Nemo ein neues Abenteuer, das zwar „Findet Nemo" dreist kopiert, aber auch sympathisch variiert.

„Findet Nemo" war für Disney mehr als ein Erfolg. Der kleine Clownfisch wurde zur Ikone und zur Merchendise-Massenware. 13 Jahre widerstand Disney der Versuchung, „Findet Nemo 2" auf den Markt zu werfen. Und das Warten hat sich tatsächlich gelohnt: „Findet Dorie" ist ein meeres-frisches Abenteuer, gleichzeitig sprudelnder Spaß, raffinierte Aquariums-Action und eine schöne Erinnerung für die Älteren. Apropos: Ganz nebenbei lernen die Kleinen hier den Umgang mit Menschen, deren Gedächtnis nicht mehr richtig will und können so Oma und Opa besser verstehen.

Das am wenigsten Überraschende an diesem neuen Pixar-Film ist, dass die digitalen Trickser immer wieder überraschen: Fische ohne Mimik als Helden eines Zeichentrick, ist doch albern! Ein Geheimnis der Vergangenheit aufdecken - das ist ja geradezu ein Krimi-Plot! Der witzige Nebenfigur Dorie eine Hauptrolle geben? Kann nicht funktionieren! Eben doch: Mit ihrem tragischen Schicksal erweist sich die Fisch-Dame als äußert gewinnende Heldin, die immer wenn es schwierig wird äußert tapfer den richtigen Weg findet. So wächst die Hilflose zur Retterin, indem sie einfach ihren Gefühlen folgt. Ebenso esoterisch lautet ihr Leitfaden, „Was würde Dorie tun?", fragt Dorie sich immer wieder in Notsituationen.

Und von denen gibt es bei dieser nassen Achterbahn richtig viele. Denn recht schnell führt die Reise durch den Ozean zum berühmten Meeresbiologischen Institut in Kalifornien führt. Wieder mit dabei beim Road-Movie durch die Ozeane sind für die Langstrecke die Meeresschildkröten. In den Becken, über denen Sigourney Weavers Stimme schwebt, zeigen auch ein Beluga ohne Radar und ein Oktopus, dem ein Arm fehlt, wie man mit Behinderungen umgehen kann. Was bei Nemo mit der kleinen Flosse eine Randerscheinung war, ist fast zum Hauptthema geworden.

Fast, denn auch „Findet Dorie" ist ein rasantes Trickfilm-Abenteuer mit aberwitzigen Action-Ideen und viel, viel Gefühl. Dazu selbstverständlich eine große Zahl an Nebenfiguren, die zu Land, in der See und in der Luft für noch mehr Trubel sorgen, als es die dauernd quasselnde Dorie alleine schafft. „Findet Dorie" ist nicht nur schon wieder ein überragender Trickfilm von Pixar, nicht nur schon wieder ein Höhepunkt der industriellen Kinderunterhaltung, er weckt auch Interesse für den Regisseur Andrew Stanton, der mit „Findet Nemo" und „WALL-E" eine bemerkenswert einfühlsame und mitmenschliche Trilogie hingezaubert hat.

War Dogs

USA 2016 Regie: Todd Phillips mit Jonah Hill, Miles Teller, Bradley Cooper, Ana de Armas 115 Min. FSK: ab 12

Wer sich nebenbei fragt, woher all die Waffen für den Massenmord in Syrien kommen, bekommt bei „War Dogs" auch keine Antwort und auch nichts zum Lachen: Anfangs rechnet der Erzähler David Packouz (Miles Teller, der geniale Trommler aus „Whiplash") noch sehr schön auf, wie sehr Krieg ein Geschäft ist. Die Ausstattung eines US-Soldaten wird mit Preisschildern wie im IKEA-Katalog und wie in „American Psycho" auf über 17.000 Dollar addiert. Doch als der Masseur dann, weil er Geld für Freundin (Ana de Armas, sic!) und Baby braucht, mit dem alten Freund Efraim Diveroli (Jonah Hill) eine wenig bekannte staatliche Regelung ausnutzt, nach der sich auch kleine Firmen um amerikanische Rüstungsaufträge bewerben dürfen, wird die vermeintlich Waffen-Satire oder Komödie immer lahmer. Bush Jr. blamiert sich gerade im Irak und das Militär braucht Unmengen an Tötungs-Material für Afghanistan. Davids Karriere entwickelt sich in ein paar Wochen vom Masseur zum Waffenschmuggler, der persönlich Tausende illegale Pistolen von Jordanien in den Irak transportiert. Aber die Hauptfigur ist der wahnsinnige Efraim, ein immerwährender Betrüger, ein Täuscher, der „Scarface" als die Rolle seines Lebens auserwählt hat. Mit seiner sehr, sehr schrägen Lache, irgendwo zwischen Hyäne und Maultier, reißt er zuerst seinen Freund mit, um bald auch ihn ans Messer zu liefern. Als dies wenigstens in den letzten zwanzig Minuten spannend werden könnte, läuft der Film wieder wenig dramatisch weiter, weil uns ja tote Albaner ebenso wenig interessieren wie tote Afghanen.

Wir sollen uns nicht tatsächlich dafür interessieren, wie 100 Millionen Schuss Munition, mit denen selbst die größten Idioten Tausende Menschen umbringen oder verstümmeln können, illegal beim Endverbraucher ankommen. Wir sollen drüber lachen, wie zwei junge Ahnungslose plötzlich in dem mörderischen Geschäft mitmischen. Leider läuft das hier keineswegs satirisch ab. Das hat nicht die erschütternde Schärfe von Nicolas Cage als „Lord of War". Im Gegenteil: Die beiden netten, zur Hälfte recht verrückten Jungs machen eigentlich Image-Werbung für Waffenhändler und -Industrielle, die mit blutigen Händen Milliarden scheffeln.

26.9.16

Frantz

Frankreich, BRD 2016 Regie: François Ozon mit Paula Beer, Pierre Niney, Ernst Stötzner, Marie Gruber 114 Min. FSK: ab 12

Mit „Frantz" hat der Franzmann François Ozon die französisch-deutsche Kulturfreundschaft manifestiert, die er als Erbe Fassbinders schon immer gepflegt hat. „Frantz" ist ein ebenso raffiniertes wie rührendes Gefühlsdrama, inszenatorisch meisterhaft und im Schauspiel großartig. Es lebe die deutsch-französische Völkerverständigung per Film!

In einer deutschen Kleinstadt trauert 1919 auch die Familie Hoffmeister um einen Sohn, der im „großen Krieg" „gefallen ist", wie man das Gemetzel damals euphemistisch verpackte. Das alte Paar hat Anna (Paula Beer), die Verlobte ihres irgendwo in einem Massengrab verscharrten Frantz, bei sich aufgenommen und man stützt sich gegenseitig im Leid. Doch eines Tages findet Paula an der leeren Grabstätte von Frantz fremde Blumen und bald einen weinenden jungen Mann. Der Franzose Adrien Rivoire (Pierre Niney) erzählt, er sei in Frantzens Pariser Studienzeiten mit ihm befreundet gewesen.

Der von vielen Nationalisten angefeindete Besucher wird von der Familie Hoffmeister nach kurzem Zögern aufgenommen und spendet mit seinen Erinnerungen Trost. Vor allem Anna lebt wieder auf, tanzt beim Erntedank, genießt die Welt bei gemeinsamen Spaziergängen und interkulturellen Gesprächen. Für sie geht eine Sonne auf – der Film wechselt unmerklich von Schwarz-Weiß zu Farbe.

Ein Vexierbild ist „Frantz" auch auf der Handlungsebene. Denn er packt nicht nur mit einer intensiven Geschichte, mit sehr emotionalen Szenen und Figuren, er ist plötzlich auch ein spannendes Spiel mit Lüge und Wahrheit, bei dem man dem Film selbst nicht trauen kann. Regisseur und Autor François Ozon führt einen fast eine Stunde lang auf eine falsche Fährte und auch nach dem Film gibt es noch lange Diskussionen, was wahr und was nicht wahr war. Ebenso wie Rilke wird auch Paul Verlaine zitiert, wobei dessen schwierige schwule Beziehung zu Arthur Rimbaud Teil der Täuschungs-Strategie des Films ist.

Die einfache Geschichte basiert auf der amerikanischen Vorlage eines deutschen Regisseurs, „Broken Lullaby" von Ernst Lubitsch aus dem Jahre 1932. Die geniale Variante „Frantz" ist das Meisterwerk eines schon immer in vieler Hinsicht grenzüberschreitenden Mannes, dessen Filmographie den Rahmen sprengt. In „Eine neue Freundin" wurde ein Transvestit zum alleinerziehenden Vater und Liebhaber, in „Jung & schön" prostituierte sich eine gut situierte junge Frau, „Das Schmuckstück" war Catherine Deneuve als dekorative Frau eines Industriellen, im „Swimming Pool" fantasierte sich Charlotte Rampling in das Sexualleben ihrer Mitbewohnerin Ludivine Sagnier und das erotische Frühwerk „Tropfen auf heiße Steine" war Ozons Fassbinder-Homage.

Nun schenkt er uns wieder so ein Kino-Glück mit erlesen schöner Sprache, wunderbarem Spiel und einer betörenden Kamera-Führung. Da ist dann vor allem diese Schauspielerin, bei der man dauernd überlegt, welcher der französischen Superstars da gerade spielt. Die Binoche, Marion Cotillard? Aber nein, es ist die in Mainz geborene Paula Beer, die so unglaublich gut und präsent ist. Man hätte sie bisher in „4 Könige", dem Alpen-Western „Das finstere Tal" oder in dem baltischen Historiendrama „Poll" erleben können. In Venedig gab es gerade den „Marcello-Mastroianni-Preis" für die beste schauspielerische Nachwuchsleistung in „Frantz", allerdings war es eine äußerst reife Leistung.

Dass die Geschichte um das Gefühl des Fremdseins, das Anna später auch in Frankreich durchlebt, von rührendem Mitgefühl und tiefem Humanismus durchdrungen ist, macht „Frantz" neben allem Genuss zu einer zeitlosen Warnung vor Krieg in jeder Form. „Wer hat die Söhne an die Front geschickt? Wer hat ihnen Bajonette und Munition geliefert? Wir die Väter!". So lautet die Anklage des Vaters Hoffmeister, der zuerst auch den Fremden abgewiesen hat.

20.9.16

Snowden

USA, BRD, Frankreich 2016 Regie: Oliver Stone mit Joseph Gordon-Levitt, Shailene Woodley, Melissa Leo, Nicolas Cage, Zachary Quinto 135 Min. FSK: ab 6

Der dreifach mit Oscars ausgezeichnete Regisseur Oliver Stone ist genau so berüchtigt für sein politisches Engagement wie für seinen Stil in „Nixon", „John F. Kennedy - Tatort Dallas", „Geboren am 4. Juli", „Talk Radio" und „Wall Street": Unter einer hektisch geschnittenen Flut von Bildern, einem Mix aus Inszeniertem und Dokumentarischen geht das eigentliche Thema rettungslos unter. In „Snowden" macht der us-amerikanische Regisseur das Biopic über den Whistleblower Edward Snowden zu einer menschelnden Geschichte mit etwas Thriller im Abgang: Rückblickend wird das Leben vom ehemaligen CIA-Mitarbeiters erzählt, selbstverständlich mit Freundin, Karriere und seiner Epilepsie. Der „Mensch" Snowden soll uns näher gebracht werden, auch wenn seine Aussagen über die rechtlose Spioniererei unserer aller Regierungen allein deutlich genug ist. Die Frage, ob er „Verräter oder Held" ist, kann sich nur jemand stellen, der bis zum Hals im Sumpf konservativer Propaganda steckt. Die Frage, weshalb keine unserer tollen westlichen Demokratien Snowden Exil gewährt, ist eine viel entblößendere.

In einem - für Oliver Stone - sehr betulichen Stil machen wir die Entwicklung eines glühenden Patrioten und Soldaten (auch Stone hat gedient, jawoll!) zum kritischen Bürger mit. Beim ersten Date nennt ihn seine liberale Freundin einen klugen Konservativen. Der jedoch bei drastischen digitalen Eingriffen in die Privatsphäre durch die NSA, bei Hinrichtungen durch Drohnen im Nahen Osten und einer Totalüberwachung in den USA den Glauben an die guten Absichten seiner Auftraggeber verliert. Er erkennt, dass der Kampf gegen allen möglichen Terror nur der Deckmantel für die digitale Kontrolle ist. Und entschließt sich zum historischen Datenklau und der Veröffentlichung entlarvender Fakten aus einem Hongkonger Hotel heraus.

Das Drehbuch schrieb Oliver Stone zusammen mit Kieran Fitzgerald („The Homesman"), basierend auf den Büchern „The Snowden Files: The Inside Story of the World's Most Wanted Man" von Luke Harding und „Time of the Octopus" von Snowdens russischem Anwalt Anatoly Kucherena. Auch mit Snowden selbst sprach Stone, trotzdem bleibt in der Sache selbst, in der Warnung vor der Allmacht der digitalen Überwachung, letztlich Laura Poitras' preisgekrönte Dokumentation „Citizenfour" mit Edward Snowden persönlich wesentlich erhellender und deutlicher.

Die Rahmenhandlung spielt genau in dem Hotelzimmer, das man aus „Citizenfour" kennt. Was trotz des guten Spiels des hervorragenden Schauspielers Joseph Gordon-Levitt („The Dark Night Rises", „Inception") irritiert, aber dies ist ein Film für alle anderen Zuschauer. Wichtige Details wie das Prism-Programm, die Zweifel an der Rechtstattlichkeit der ganzen digitalen Spionage oder die Diskussion über die Art der Veröffentlichung des brisanten Materials werden nur gestreift. Lange ist die chronologische Lebensgeschichte einfach langweilig, nur die letzte halbe Stunde wird spannend und dann gleich auch pathetisch. Zwar gelingt Oliver Stone kein guter Film, aber er macht den richtigen Mann zum größten Freiheits-Helden unserer Zeit. Und gibt dem echten Snowden das letzte Wort. Das ist wirkungsvoller als die ganze Inszenierung Oliver Stones.

24 Wochen

BRD 2016 Regie: Anne Zohra Berrached mit Julia Jentsch, Bjarne Mädel, Johanna Gastdorf, Emilia Pieske, Maria Dragus 102 Min.

Dies war im Februar der erste Film des Jahres, der tief berührte und für Aufsehen sorgte: Anne Zohra Berrached legte mit „24 Wochen" ein sensationelles Debüt im Wettbewerb der Berlinale hin. Es geht um die tief erschütternde Frage eines Paares, ob es ein mehrfach behindertes Kind bekommen soll. Julia Jentsch, die schon 2005 für „Sophie Scholl" den Schauspiel-Preis in Berlin erhielt, spielt preisverdächtig die Kabarettistin Astrid, die von ihrem Mann Markus (Bjarne Mädel) gemanagt wird. Auch ihre Schwangerschaft kommt frech und keck auf hohen Schuhen mit ins Comedy-Programm. Dann erfährt das Paar, dass ihr zweites Kind mit Down-Syndrom auf die Welt kommen wird. Nach einem ersten Schreck sehen sie freudig dem Nachwuchs entgegen, Freunde und Verwandte werden rührend informiert. Als der nächste Ultraschall jedoch noch einen schweren Herzfehler ans Licht bringt, steht das Paar nicht mehr gemeinsam hinter der Entscheidung. Astrid überdenkt unter schweren Qualen die Möglichkeit einer späten Abtreibung - was bei einer Schwangerschaft von 24 Wochen eine noch schwerer als schwere Entscheidung ist.

Es ist eine geniale Idee des Films, mit dem Lachen auf der Show-Bühne das emotionale Thema aufzufangen. Besonders schön, wie das Paar über seine Situation redet. Nur die bockige Tochter Nele protestiert nach einem beim ungemein berührenden Besuch bei einem Chor von Jugendlichen mit Down-Syndrom. Das polnische Kindermädchen kündigt, weil sie selber einen behinderten Bruder zuhause hat. Echte Ärzte beraten und empfehlen auf provozierende Weise. Das Spektrum der Reaktionen von Oma bis zu Kollegen ist breit, aber nachvollziehbar.

Anne Zohra Berrached wurde 1982 in Erfurt, DDR, geboren. Nach einer Ausbildung im Bereich Sozialpädagogik arbeitete sie als Theaterpädagogin in London, bevor sie an der Filmakademie Baden-Württemberg studierte. Man muss der jungen Regisseurin zu ihrem Mut gratulieren, diese unglaublich schwere Situation mit „24 Wochen" einer Weltöffentlichkeit vorzustellen. Und zwar sehr sensibel und gelungen. Selbstverständlich wird es reflexartig Vorwürfe von Betroffenen-Verbänden geben. Doch die 1982 geborene Berrached, deren Name im Film selbst auf eine starke autobiographische Komponente hinweist, macht es sich nie leicht, umschifft die Klischees, macht die Last der Entscheidung so bedrückend deutlich, dass nach der Pressevorstellung der Berlinale betroffenes Schweigen den Applaus ersetzte. Daran haben die Haupt- und Neben-Darsteller großen Anteil: Julia Jentsch ist sowieso eher für leise Töne bekannt und war im Februar unter den Favoriten für einen Schauspiel-Bären. Bjarne Mädel steckt noch in der Haut des weinerlichen Emil aus „Stromberg", ist aber auch ein großartiger (Manager-) Mann, der seiner Frau bis zum Ende an zur Seite steht. Wobei sich im letzten Bild das Plädoyer des Films doppelt: Mit dieser schweren Frage, die nur jeder für sich entscheiden kann, offensiv an die Öffentlichkeit gehen.

Der Vollposten

Italien 2016 (Quo Vado?) Regie: Gennaro Nunziante mit Checco Zalone (Checco), Eleonora Giovanardi (Valeria), Sonia Bergamasco 84 Min. FSK: ab 6

Italien beglückt uns mit ihrem Erfolgsfilm sowie einem Ekel und Idioten, Macho und Faulpelz, einem Vollpfosten, der voll an seinem Posten hängt. Checco Zalone (Checco) hat eine reich gefüllte Speisekammer neben seinem Büro bei der Landesverwaltung für Jagd und Fischerei. Doch ein neuer Minister will aufräumen und alle Nichtstuer rausschmeißen. Da als letzte Rettung die Versetzung bleibt und Checcos Gegenspielerin, die Staats-Sekretärin Sironi, eine Entlassungs-Quote zu erfüllen hat, und schickt sie ihn in die entlegensten Gebiete. Das ergibt im vierten Film des Komikers Checco Zalone einen Satire-Rundumschlag zum ganzen Land: In Lampedusa lässt er Flüchtlinge rein, sobald sie gute Fußballer sind, in Südtirol enteignet er für eine Schnellbahn das Land alter Leutchen. Schließlich landet der egozentrische Depp auf einer italienischen Polarstation, wo er sich direkt in eine junge Forscherin verliebt.

Checco ist ein Clown wie Roberto Begnini, allerdings ohne dessen körperliche Komponente und dessen filmische Ambitionen. „Der Vollposten" nimmt das Beamtentum Italiens derbe auf die Schippe, was Deutsche nicht wirklich interessieren muss. Vor allem bei seinem Besuch in Norwegen will der seltsame Protagonist nicht begreifen, dass der Vordermann im Auto auch ohne dämliches Hupen weiterfährt. Ein Kursus in Zivilisiertheit macht aus Checco einen Vorzeige-Öko und -Norweger, doch die Wiedervereinigung von Al Bano & Romina Power ruft unstillbares Heimweh empor. Weiter geht es in der eher sanft satirischen Nummern-Revue, die als Film mit durchgehender Handlung oder Entwicklung komplett scheitert.

Hedis Hochzeit

Tunesien, Belgien, Frankreich, Katar, Vereinigte Arabische Emirate 2016 (Inhebbek Hedi) Regie: Mohamed Ben Attia mit Majd Mastoura, Rym Ben Messaoud, Sabah Bouzouita 88 Min.

Bei all den Diskussionen um Burkinis und geistig umhüllte Politiker, bei aller Sorge um den Maghreb wurde eine Personengruppe vergessen: Die schüchternen tunesischen Söhne, die unter der Fuchtel der Mutter arrangiert heiraten müssen. Dies ist sarkastisch gemeint, denn unser „Held" Hedi (Majd Mastoura) konnte in dem nur mäßig interessanten Film aus und über Tunesien nie wirklich unsere Anteilnahme gewinnen. Dieser sehr schüchterne, introvertierte Autoverkäufer in einem Land, das kein Geld für Autos und ganz andere Sorgen hat, sitzt schweigend bei der offiziellen Vorstellung der Brautpaare rum. Er mag Baya (Sabah Bouzouita) ganz gerne, doch scheinbar will er vor allem in Ruhe gelassen werden. So hängt er nach seiner Versetzung in den Touristenort Mahdia nur im Hotel rum und zeichnet seine Comics. Dass er sich in die Animateurin Rim (Rym Ben Messaoud) verliebt, könnte einen Ausbruch ermöglichen, doch die Verliebtheit versandet in einer neuerlichen Hängepartie, bei der Hedi zuerst gegen sein Mutter aufbegehrt, dann aber gleich Rim und Baya hängen lässt.

Neben einer soliden Inszenierung und einem sympathischen Schauspieldebütanten in der Hauptrolle, der in Berlin einen Silbernen Bären gewann, wäre vor allem die Hängepartie als Metapher für das perspektivlose Leben in Tunesien fünf Jahre nach der Revolution zu sehen. Einige Details und viele Gespräche lassen dieses miterleben. Doch als möglicher politischer Film über die uneigentliche Kaste der angepassten Mitläufer ist der eher deprimierende „Hedis Hochzeit" ebenso mutlos wie seine Hauptfigur.

Bad Moms

USA 2016 Regie: Jon Lucas, Scott Moore mit Mila Kunis, Kristen Bell, Kathryn Hahn, Christina Applegate 100 Min. FSK: ab 12

Es ist eine „Bad"-Tendenz im Hollywood-Film, dass brave Frauen plötzlich beginnen zu saufen und regressiv in Teenager-Verhalten verfallen. So geschieht es auch Amy (Mila Kunis), einer überforderten Helikopter-Mutter, deren Mann ihr online untreu ist und deshalb rausfliegt. Nun wird es Amy endgültig zu viel, sie besäuft sich heftig, bevor sie ebenso heftig – einkauft! Begleitet von einer völlig unterdrückten, vierfachen Mutter, die sogar die Unterwäsche ihres Mannes bügelt, und der typischen Film-Schlampe.

Im Stress, nur noch Chauffeur für die Kinder zu sein, finden sich sicher viele wieder. Aber sehen sie sich dabei auch als Witzfigur eines Slapsticks? Die billige us-amerikanische Komödie auf TV-Niveau „provoziert" mit deftiger Sprache und sexueller Freizügigkeit ... ausschließlich im Wort. Denn schnell dreht sich die Handlung in Richtung eines attraktiven, sympathischen und verwitweten Vaters. Dazu entschließt sich Amy, Präsidentin des täglich tagenden Elternrates zu werden, was zum Zickenkrieg mit der diktatorischen Amtinhaberin führt, die von der ehemaligen Al Bundy-Tochter Christina Applegate gespielt wird. Von wegen Befreiung und Ausleben.

Statt alle Konventionen mit dem „Bad-e" auszuschütten, verpassen es die „Bad Moms", wie die Vorbilder aus „Hangover" und anderen wirklich wilden Filmen, richtig auf den Putz zu hauen. So hängen alle zwischen Beziehungs-Filmchen und wildem Getue im Highschool-Stil. „Bad Moms" ist auf keinen Fall ein Film, den Frau sich angucken sollte, wenn sie die Nase voll von ihrem Alltag hat. Weil sie hier den ganzen Kram noch einmal aufs Butterbrot geschmiert bekommt. Und letztlich bleibt alles wie bisher, nur die Entwicklung zur Latte Macchiato-Mutter ist als „Emanzipation" zu verbuchen.

12.9.16

Eye in the sky

Regie: Gavin Hood

Hochgelobt und doch nicht im Kino: Jetzt gibt es endlich Gelegenheit, den Polit-Thriller „Eye in the sky" mit Helen Mirren („The Queen") zu erleben. Sie spielt Colonel Katherine Powell, die von ihrer Einsatzzentrale in England aus mit einer geheimen Drohnen-Operation in Nairobi Terroristen aufspüren soll. Ihre Mission ändert sich schnell von „Gefangennehmen" zu „Töten" als die Fernüberwachungsmodule Bilder vom Inneren eines Hauses liefern, in dem sich zwei Mitglieder aus der Top 10 der meistgesuchten Terroristen befinden: Die al-Shabaab Extremisten sind gerade mitten in der Vorbereitung eines Selbstmordanschlags in der kenianischen Hauptstadt. Plötzlich betritt ein Mädchen die Todesszone und bringt die hochrangigen, multinationalen Entscheidungsträger in eine höchst ungemütliche Zwickmühle, während die Sekunden herunterticken: Wer stellt sich als Sündenbock hin und gibt den Tötungs-Befehl.

„Eye in the sky" ist ein raffiniertes und packendes Planspiel über Verantwortung, politische und militärische Entscheidungen. Im moralischen Konflikt näher an den „Zwölf Geschworenen" als an dem Theaterstück „Terror" bringt die Parallelmontage in Echtzeit die Entscheidungen vieler Menschen eindringlich ins Bild

Man könnte behaupten, dass die Setzung mit den zwei Selbstmord-Attentätern schon manipulativ ist. Auch kommen die politischen Entscheidungsträger auf vielfältige Weise nicht gut weg. Doch es bleibt genug Konflikt- und Diskussions-Stoff. Selbst der britische General kann der Oppositions-Politikerin auf den Vorwurf, es wäre leicht, aus der Ferne zu morden, etwas entgegen halten. Alan Rickman bringt in dieser Rolle glaubhaft rüber, dass er das Grauen der Soldaten vor Ort durchaus erlebt habe.

Drehbuch und Schnitt sind ausgezeichnet. Etwas Science Fiction hilft bei der Dramaturisierung: Mit uns beobachten die militärischen und politischen Entscheidungsträger die Situation, die nicht nur von Drohnen mit hochauflösenden Objektiven, sondern auch im Nahbereich von fliegenden Minikameras in der Form von kleinen Vögeln kontrolliert wird. Neben der großartigen Helen Mirren spielt hier noch einmal der im Januar verstorbene Alan Rickman in seiner letzten Rolle. Das Bonusmaterial von DVD und Blu-ray enthält Interviews mit Cast & Crew, B-Roll Material sowie Featurettes.

The Purge: Election Year

USA, Frankreich 2016 Regie: James DeMonaco mit Frank Grillo, Elizabeth Mitchell, Mykelti Williamson 109 Min. FSK: ab 16

„Clockwork Blutorange" - der vermeintlich politische Gewaltexzess „The Purge: Election Day" erweist sich schon in den ersten Bildern als ein sadistisches Blutbad, das mit „20th Century Boy" von T-Rex flott aufgepeppt wird. Dieses Vorspiel zeigt die Vergangenheit der Politikerin Senator Charlene „Charlie" Roan (Elizabeth Mitchell) als einzige Überlebende eines „Purge" vor 18 Jahren. Für alle, die nicht auf besonders blutige Schlachtereien stehen: Dies ist der dritte Film zur Idee des Purge, in dem sich alle US-Bürger einmal im Jahr ungestraft gegenseitig massakrieren dürfen. Eine Art Karneval in Form eines Bürgerkriegs mit angeblich reinigender Wirkung.

Nun will Senator Roan im Falle ihres Wahlsieges den Purge abschaffen. Was die elitäre Führung NFFA mit ihrer rituellen Ermordung während des Purge verhindern will. Während die Regierung Roan und ihren Leibwächter mit Soldaten verfolgt, will die Politikerin verhindern, dass diese Regierung selbst per Lynch-Einsatz „abgewählt" wird. Die perverse Argumentation des Films lautet allerdings, dass einem im Finale letztlich nichts anderes übrig bleibt, als den Gegner zu ermorden. Die Versammlung der sadistischen Führungsriege in einer alten Kirche ist noch ein schönes satirisches Zerrbild, die Scheißerei dort dann eine nicht beabsichtigte Lachnummer. In die Kategorie gehört auch der extrem schwach gespielte Body-Guard. Senatorin Roan stellt (mit klug machender Brille!) einen Witz von Politikerinnen-Klischee dar, da braucht man gar nicht erst einen Vergleich mit „Borgen" zu bemühen.

„The Purge: Election Year" stellt erzählerisch eine extrem simple Konstruktion dar, die Parallelhandlung wurde ungehobelt zusammengeschustert. So unterstützen Ruhepausen nicht die dramatische Steigerung, sie langweilen einfach. Erschreckend ist aber vor allem, dass im Prinzip das Gleiche passiert, was auch der Film macht: Einen Vorwand für niedere Instinkte liefern. Das Prinzip Purge-Night ist vor allem Fassade für Geballer und sadistisches Gemetzel.

Auf Augenhöhe

BRD 2016 Regie: Evi Goldbrunner, Joachim Dollhopf mit Luis Vorbach, Jordan Prentice, Ella Frey 99 Min. FSK: ab 6

Ein Jugendfilm, ein junger Film: „Auf Augenhöhe" bringt frisch und lebendig einen Jungen aus dem Kinderheim zu seinem Vater. Dass der fast einen Kopf kleiner als sein Sprössling ist, stellt nur eines von gleich mehreren Themen dar, die der sehr gelungene Film locker rüberbringt.

Der zehnjährige Halbwaise Michi (Luis Vorbach) leidet unter der Situation im Kinderheim, den Gemeinheiten grausamer Mitbewohner, den Freundschaften, die nicht halten. Vor lauter Verletzungen ist er verschlossen und einsam, hat Schwierigkeiten, mit den eigenen Gefühlen umzugehen. Da platzt ein Brief in sein Leben, den seine verstorbene Mutter an einen gewissen Tom schrieb. Michi ist sich sicher: Dieser Unbekannte muss sein Vater sein! Der Junge zieht los in die Stadt und ist schockiert: Tom (Jordan Prentice) ist kleinwüchsig!

Nach einem holprigen ersten Treffen zieht der Junge aber doch recht rasant bei Tom ein. Zum Glück - auch für diesen Film - sind gerade Ferien. Beim vorsichtigen Annähern lernen wir den Alltag eines Kleinwüchsigen kennen, aber Michi erfindet auch bei seiner neuen Freundin immer wieder neue Lügengeschichten, weil er nicht zu seinem neuen Vater steht.

Der ziemlich kleine Vater „Auf Augenhöhe" mit seinem spät entdeckten Sohn, dies ist Sinnbild für einen tollen Film, in dem Kinder nicht von oben herunter betrachtet werden. Zuerst spielt er raffiniert mit Michis Erwartungen, wer denn von den stattlichen Männern aus dem Ruder-Achter sein Vater sein könnte. Dann überlässt er die meisten blöden Wortspiele den anderen und macht sich nicht wie „Mein ziemlich kleiner Freund" selbst einen Spaß auf Kosten von Kleinwüchsigen. Selbst Toms Freunde aus dem Ruderclub müssen überdenken, wie sie mit ihm umgehen.

Das alles wurde auch vom jungen Luis Vorbach super gespielt. Nur schade, dass der englischsprachige Jordan Prentice schlecht synchronisiert wurde. Die denkbare Fortsetzung von „Taxi" (nach dem Roman von Karen Duve) bekommt gleich mehrere Themen richtig gut zusammen erzählt und bedient sich dabei keiner Klischees, keiner einfachen Hollywood-Lösungen.

Der Landarzt von Chaussy

Frankreich 2016 (Médecin de Campagne) Regie: Thomas Lilti mit François Cluzet, Marianne Denicourt, Isabelle Sadoyan, Félix Moati 102 Min. FSK: ab 0

Jean-Pierre Werner (François Cluzet) ist mehr als nur Landarzt, der stille Mann kümmert sich bei den vielen Hausbesuchen auch um andere Sorgen seiner Patienten, wartet geduldig, bis die sich durch viele Lagen freigemacht haben, schreibt einen Brief ans Sozialamt, baut das Selbstvertrauen einer misshandelten Ehefrau auf. Daran ändert sich auch mit der Diagnose eines Hirntumors und des baldigen eigenen Todes nicht - umso mehr hilft er nun der Zukunft anderer. Dabei sollte er nicht mehr arbeiten und sich Ruhe gönnen. Weshalb ihm auch ein befreundeter Arzt die jüngere Kollegin Nathalie Delezia (Marianne Denicourt) ungefragt als Assistentin vorbeischickt.

Überraschenderweise lässt der so freundliche Jean-Pierre die Unerfahrene ziemlich gemein auflaufen. Wirft sie auf dem Bauernhof aggressiven Gänsen zum Fraß vor und veralbert sie mit der Ärzte-Variante der Kolben-Rückholfeder. Doch selbstverständlich vertragen sich die beiden immer besser und scherzen schon miteinander, als es plötzlich ernst wird: Er untersucht sie nur ganz zögerlich für eine Standard-Bescheinigung und will dabei nicht, dass sie sich auszieht!

„Der Landarzt von Chaussy" erzählt seiner Hauptfigur entsprechend sehr ruhig und weitgehend undramatisch. Der sympathische Film ist dabei trotzdem mit den vielen Begegnungen und den unterschiedlichen Menschen vom Politiker bis zur alten Roma-Frau unter Beobachtung der ganzen Familie im Wohnwagen ungemein interessant. Eigentlich eine Hommage der Landbevölkerung, die Country-Festivals feiert und streng zwischen den Jägern und den Nicht-Jägern des Dorfes trennt. Es sind Kurzgeschichten von diesen Menschen und der Hinweis zu den „Arztgeschichten", dieser biographischen Sammlung von Michail Bulgakov („Der Meister und Margarita"), die unübersehbar in die Kamera gehalten wird, gibt die Richtung vor. Es geht um Leben, Sterben und Geburt, was auch in den emotionalen Momenten nie kitschig oder mit ausgelutschten Mitteln daherkommt. Humor ist hier, wenn ausgerechnet der grimmigste Mensch des Dorfes Lach-Yoga empfiehlt.

Nur einen kleinen Ausbruch gibt es, aber der ist ein großer Schritt im vernachlässigten ländlichen Gesundheitssystem, der es erlaubt, einen 92-Jährigen bei sich Zuhause zu pflegen. Regisseur Thomas Lilti umschifft nach seiner letzten Arzt-Geschichte „Hippocrate" (ebenfalls mit Marianne Denicourt) alle Klebrigkeit und kann sich in der ruhigen Geschichte ganz auf seine beiden Hauptdarsteller verlassen: François Cluzet („Ziemlich beste Freunde"), kann sich auch ziemlich gut zum Clown machen, ist aber vor allem in solchen Rollen richtig gut. Die eher unauffällige Marianne Denicourt möchte man öfter sehen, aber wahrscheinlich hat sie dazu zu wenig L'Oréal-Gesicht. Dies ist im besten Sinne kein Teenie-, Superhelden- oder Popcorn-Film. Doch mit der kleinen Kinokarte zum „Landarzt von Chaussy" als Rezept handelt man sich ein therapeutisch großes Lächeln ein.

6.9.16

Molly Monster

BRD, Schweiz, Schweden 2016 Regie: Michael Ekblad, Matthias Bruhn, Ted Sieger 69 Min. FSK: ab 0

Die Eltern des kleinen Drachenmädchens Molly erwarten ein zweites Kind und machen sich für die Geburt auf den Weg zur Insel der Eier - ohne Molly, denn die ist noch zu klein. Molly sieht das anders. Heimlich folgt sie ihren Eltern - begleitet von ihrem besten Freund Edison. Auf der großen Reise zurück zu Mutter und Vater lernt Molly, was es heißt, ein Freund, eine Tochter und schließlich eine große Schwester zu sein.
Der Kinofilm zur animierten Fernsehserie um die Familie Monster ist eine sehr nett erzählte und animierte Geschichte für die kleinsten Kinogänger. Angesiedelt in einer kunterbunten Welt voller fantastischer Einfälle entstand in der Langfassung ein richtiges Abenteuer, richtig flott erzählt. Mit dabei ist die Aufziehfigur Edison als Sidekick mit Schweizer Dialekt und didaktisch wertvoller, weil unnötiger Eifersucht. Sehr witzige Liedchen vom Autoren Ted Sieger selbst runden die beste Kinder-Unterhaltung ab, selbst der reduzierte, nicht realistische Hintergrund macht Spaß.

Absolutely Fabulous - Der Film

Großbritannien, USA 2016 Regie: Mandie Fletcher mit Jennifer Saunders, Joanna Lumley, Julia Sawalha 91 Min. FSK: ab 12

All der kritische Widerwillen gegen Kino-Versuche deutscher Komödianten muss revidiert werden: Es geht noch viel schlimmer, es geht auch britisch! Die beiden Freundinnen Edina (Jennifer Saunders) und Patsy (Joanna Lumley) sind seit mehr als 25 Jahren Frontfrauen der britischen TV-Serie „Absolutely Fabulous". Zwischen ordinär und grob machen sich die PR-Beraterin Edina „Eddy" Monsoon und die Fashion-Direktorin eines Modemagazins Patsy zynisch über sich selbst und den Star-Rummel lustig, von dem sie zu gierig ein Häppchen und einige Schlückchen abbekommen wollen. Nun trifft die Finanzkrise Eddy und Patsy lebensbedrohlich, denn es ist kein Champagner mehr da. Ein Deal mit Kate Moss wäre die Lösung, doch die erste Annäherung lässt das Super-Model auf Nimmerwiedersehen in der Themse untergehen. Diesmal folgen ihnen die Medien unerwünscht auf Schritt und Tritt, die Freundinnen müssen ohne Geldmittel unter den Superreichen an der Französischen Riviera untertauchen. Ein Geschlechtswechsel im Stile von „Manche mögen's heiß" soll Rettung bringen und unterhalten. Vor allem Letzteres scheitert kläglich.

Jennifer Saunders, die vor „Absolutely Fabulous" schon die verrücktere Serie „French & Saunders" kreierte, versucht als Autorin und Hauptdarstellerin noch mal alten Erfolg und verflogene Kreativität zu melken. Doch der Spielfilm zur schon länger eingestellten TV-Serie ist vor allem unendlich langweilig. Die eingestreuten (britischen) Prominenten, die Scherze über eine Glamour- und Glitter-Welt, die für wenige Euro am Kiosk feilgeboten wird, Gaunereien an der Côte d Azur, dazu etwas menschelndes Familien-Gedöns - all das ist so peinlich misslungen, dass man fürs Fremdschämen mächtig Schmerzensgeld bekommen müsste.

Don't Breathe

USA 2016 Regie: Fede Alvarez mit Jane Levy, Stephen Lang, Dylan Minnette, Daniel Zovatto 89 Min. FSK: ab 16

Tatsächlich hält man die Luft an, bei dem spannendsten Film nicht nur dieser Woche: Drei Jugendliche brechen in einer der verlassenen Gegenden von Detroit in das Haus eines alten Mannes ein. Doch was sie statt des erwarteten Geldes entdecken, lässt sie verstehen, dass die vielen Gitter nicht das Ein- sondern das Ausbrechen verhindern sollen.

Die Sache ist immer ganz einfach: Rocky (Jane Levy), Money (Daniel Zovatto) und Alex (Dylan Minnette) brechen gar nicht wirklich ein, weil Alex über die Sicherheitsfirma seines Vaters den Code der Alarmanlagen kennt. Ein Kinderspiel für die Jugendlichen mit unterschiedlichen Interessen: Money liebt das Abenteuer, macht mehr kaputt als er mitnimmt. Rocky will das Geld, um mit der kleinen Schwester aus ihrer asozialen Familie zu fliehen. Und Alex liebt Rocky. Diesmal - es soll wieder einmal das letzte Mal sein - wollen sie aber alle Geld, das sie bisher liegen ließen, um nicht aufzufallen. Das vermeintliche Opfer ist in dieser Nacht ein alter, blinder ehemaliger Soldat, der für den Tod der Tochter eine sechsstellige Entschädigung kassiert hat. Der bissige Hund ist schnell eingeschläfert, dem schlafenden Mann (Stephen Lang) sprüht man zur Sicherheit Gas ins Zimmer.

Doch während sich die drei an der mehrfach gesicherten Tür zum Keller zu schaffen machen, steht der blinde Mann plötzlich bei ihnen. Er erschießt Money zum Entsetzen der beiden anderen. Meint aber erst einmal, es gäbe nur einen Einbrecher. Denn Rocky vermeidet nicht nur lautes Atmen, sondern auch gernetypisches Gekreisch. Raus kommen Rocky und Alex jedoch nicht mehr. Nur tiefer rein in die Sache, was sie nicht angenehmer macht. Denn nicht nur Österreicher treiben Perverses in ihren Kellern...

Rascher und direkter als die Nacherzählung kommt der Thriller „Don't Breathe" zur Sache. Wenn man in weniger als 90 Minuten eine Geschichte erzählen will, gilt es keine Zeit zu verschwenden. Nehmt euch da ein Beispiel dran, ihr Superhelden in Überlänge! Vor allem ist dies endlich einmal ein raffinierter Thriller. Fast komplett im reduzierten Raum eines Hauses spielend, kann man Einfallsreichtum ausspielen, wenn man ihn denn hat. Werkzeuge werden Waffen und Dunkelheit bringt dem blinden Mann die Oberhand. Die ehemalige Auto-Stadt Detroit sorgt mit ihren erstaunlichen, fast komplett verlassenen und verfallenen Wohnvierteln für die depressive Grundstimmung und die Motivation zum Diebstahl.

Regisseur und Koautor Fede Alvarez realisierte zuvor das Horror-Remake „Evil Dead". Diesmal braucht es nichts Übersinnliches und auch keine künstlichen Schreckmomente. Nur die Abgründe des Menschlichen und der pure Überlebenskampf sorgen für sauber inszenierte Hochspannung. Hauptdarstellerin Jane Levy war schon bei „Evil Dead" dabei und gehört zu den wenigen Gesichtern des B-Movies, die man sich merken sollte. Als blinder Mann kommt der bekannte Stephen Lang („Avatar") mit wenigen Worten aus, macht dabei aber mächtig Angst. Wie der Film „Don't Breathe" insgesamt: Ein Ausnahme- und Vorzeige-Thriller.

5.9.16

Nerve

USA 2016 Regie: Henry Joost, Ariel Schulman mit Emma Roberts, Dave Franco, Juliette Lewis 96 Min. FSK: ab 12

Spannung von Henry Joost und Ariel Schulman, den Machern der „Paranormal Activity", Teil 4 - das sollte gelingen. Aber der Versuch, „The Game" (mit Michael Douglas) oder „The Running Man" (mit Schwarzenegger) für die aktuelle Jugend mit Social Media aufzupeppen, bringt mehr Neon-Schein als Sein.

Dass Vee (Emma Roberts) ein braves Mädel ist, zeigt schon ihr niedlicher Computer-Desktop mit der Musik, die Fahrstühle zum Einschlafen vorgespielt bekommen. Doch als der Schulschwarm ihr eine Abfuhr erteilt, meldet sie sich eher trotzig als mutig als Spielerin bei „Nerve" an. Eine digitales Art „Wahrheit oder Pflicht" ohne die Wahrheit, dafür mit Live-Übertragung der Mutproben über alle Social Media-Kanäle. Ja, Vee ist jung und sie braucht das Geld, um demnächst fürs Studium von der Helikopter-Mutter wegziehen zu können. So küsst Vee einen Fremden für die ersten 100 Dollar. Dieser Ians (Dave Franco) stellt sich ebenfalls als Mitspieler heraus. Für eine weitere Handvoll fährt sie hinten auf seinem Motorrad rüber nach New York, soll ein teures Kleid klauen und ihn mit verbundenen Augen durch die Straßen rasen lassen. Bald klingelt nicht nur das Konto, Vee ist auch schnell bei Tausenden von Zuschauern unter Dauerbeobachtung auf dem Handy. Als die Aufgaben mörderisch werden, gibt es keine Möglichkeit mehr auszusteigen.

„Nerve" ist ein wenig aufregender, aber handwerklich routinierte Jugendfilm mit viel wirkungslosem Licht-Styling und etwas medienkritischem Lack nach Jeanne Ryans gleichnamigen Roman (dt. „Das Spiel ist aus, wenn wir es sagen"). Der singulär finanziell begründete Wunsch, ein Star im Netz zu werden, droht mit dem Absturz ohne Netz oder doppeltem Boden. Dass sich Vee im Rausch von Gefahr und zeitweiliger Geschwindigkeit von grauer Maus zur selbstbewussten, klugen Frau entwickelt, ist Mindestmaß. Ihr Partner Ian (Dave Franco als Charmeur mit rauem Aussehen) ist als Typ mit Lederjacke längst kein „Wild one", kein Rebell mehr, sondern Darling der Internet-Votings. Wenn Clicks killen können, macht das nicht wirklich ambitionierte Filmchen „Nerve" kurz ernst und behauptet, hinter der Anonymität des Netzes lässt man sogar töten. Das Spiel muss man - mit Hilfe des Darknet - ausspielen, sprich hacken, indem die Masken der Nutzer herunter gerissen werden.