26.9.12

Berg Fidel - Eine Schule für alle

BRD 2011 Regie: Hella Wenders 94 Min.

Ein kleines Wunder und gleichzeitig ein interessanter Diskussionsbeitrag zum Thema ist dieser Dokumentarfilm über die inklusive Gemeinschaftsgrundschule "Berg Fidel" in Münster. Eine Schule, die keinen zur Sonderschule schickt, wie schon der Vorspann sagt. Wir lernen Kinder kennen, die allein schon ganz großes Kino machen. So vertrauensvoll, wie sie sich vor der Kamera bewegen, so offen, wie sie von ihren Lebensträumen erzählen. Da kommt man abwechselnd aus dem Staunen und dem sympathisierenden Lachen nicht mehr heraus. David kann sich nicht vorstellen, dass das Universum unendlich ist und will dem später unbedingt nachforschen - da kann man ja dann auch toll viel rechnen! Die Roma Anita aus dem Kosovo will auf jeden Fall Modell werden und übt den Catwalk schon mal in der Schule. Und dann gibt es auch ganz klassisch den zukünftigen Rennfahrer, der ganz doll Autos tief legen will. Aber auch Jakob, der trotz Down-Syndrom am Unterricht, an den Mahlzeiten und am Klassenrat teilnimmt. Doch selbst der hochintelligente David würde in vielen anderen Orten auf einer Sonderschule landen, weil er nicht gut hört und sieht.
Zwar leistet „Berg Fidel", der sich mit Kommentaren fast komplett zurückhält und nur beobachtet, keine Auseinandersetzung als Diskussion, weil er ein fast traumhaft gutes Miteinander zeigt. Kritiker der Inklusion kommen nicht vor. Aber als Stellungnahme und als hervorragende Dokumentation ist dies Plädoyer äußerst gelungen.

Madagascar 3 - Flucht durch Europa

USA 2012 (Madagascar 3 - Europe's Most Wanted) Regie: Eric Danell 93 Min.

Anfangs hängen das dumm plappernde Zebra Marty, der Anführer-Löwe Alex, die empfindliche Giraffe Melman und die eingebildete Nilpferddame Gloria noch in Afrika fest. Doch ganz schnell startet „Madagascar 3" mit Action und anspielungsreichem Humor durch: Mit Hilfe von Julien, dem König der Lemuren, rettet man sich mehr schlecht als recht nach Monte Carlo, wo allein dieser schillernde Name mit seinen nach Raubzügen verlangenden Casino-Reichtümern genügend Vorlagen für einen ganzen Filmspaß liefert. Einen Moment fürchtet man, dass es nun vorhersehbar wird, dann merkt man, dass ein Haufen verrückter Ideen das Innere dieser Merchandise-Maschine antreibt. So wie sich unter der Perücke eines überschminkten Louis XIV, der gerade die Bank eines Casinos knackt, ein paar Schimpansen befinden, die von den Pinguinen ferngesteuert werden. Die „Pinguine von Madagascar" haben hier die gleiche Slapstick-Funktion wie Scrat in „Ice Age" aber bewerkstelligen gleich noch einiges mehr. Wie einen fast perfekten Casino-Raub, wenn man davon absieht, dass sich eine Giraffe und ein Nilpferd in Gesellschaft von Löwe und Zebra, doch nicht so elegant abseilen können wie Tom Cruise.

Auf jeden Fall bleibt genügend Beute für einen Heimflug, endlich nach New York, übrig. Aber die Handlung legt noch eine Kapriole drauf, in Form der biestigen Tierjägerin Capitaine Chantel DuBois. Eine tödliche Piaf, ein Killerweibchen im Dienstrock der Pariser Polizei treibt die Truppe auf atemberaubende Weise über die Dächer von Monte Carlo. Dabei landen die Flüchtlinge um Alex in den Zugwaggons eines heruntergekommenen Wanderzirkus'. Der Hahnenkampf von Alex mit dem russischen Messerwerfer-Löwen Vitali wäre schon Grund genug für Spannungen, hätte der grimmige Ex-Star Alex nicht noch ne mächtige Psychose an der Schüssel. Nachdem man sich mit dem Casino-Gewinn den Zirkus und damit eine Tarnung gekauft hat, müssen sich all die sehr schrillen Tiere zusammenraufen, schon allein, um eine anständige Show auf die Beine zustellen. Dabei ist das Personal mit verliebtem Bär im Rüschenrock auf Dreirad oder dem stupiden Seehund Stefano und einem „Bullshevik" schon an sich genial. Auch gibt es ein neues Team aus kleinen Raufbolden als Gegenpart zu den Pinguinen.

Was in dem von Bond entlehnten flotten Wechsel der Spielorte noch an innerer Dramatik hinzukommt, hätte bei anderen glatt für drei Fortsetzungen gereicht. Wie kommt man nur auf die Idee, während einer tierischen Rom-Romanze das Pantheon und Donuts zusammenzubringen? Klar - beide sind rund und haben ein Loch in der Mitte! Wobei die Krönung allen Wahnsinns in schöner Tradition durchgeknallter Oberschurken die verbissene Chantel DuBois bleibt, die allen den Rang abrennt und geradezu göttlich gemein wird, wenn sie mit „Rien de rien" ihre angeschlagenen Häscher zum Leben erweckt.

So ist „Madagascar 3" sogar eine Steigerung des bisherigen Spaßes - nicht nur wegen der Erweiterung um eine alberne Zirkustruppe. Das ganz große Animations-Kino - bis zum zerlaufenen Mascara - reizte mit einer atemberaubenden 3D-Zirkusnummer die aktuelle Technik auch auf verblüffende Weise aus.

24.9.12

Der Chaos-Dad

USA 2012 (That's my boy) Regie: Sean Anders mit Adam Sandler, Andy Samberg, Leighton Meester, James Caan, Vanilla Ice 116 Min.

Nach einigen braven Kinoauftritten gibt Adam Sandler wieder richtig Gas und wer das jetzt mit Körperausscheidungen verbindet, liegt genau richtig in der Geschmacksnote: Das Verhältnis zu seiner Lehrerin machte Donny (Adam Sandler) schon als Kind zu einem Star und zum alleinerziehenden Vater, weil Mutter in den Knast musste. Viele Jahre später ist Donny so abgewrackt wie sein Auto. Weil ihm das Finanzamt im Nacken sitzt, wendet er sich an seinen Sohn Han Solo (sic!), der sich schon lange losgesagt hat und vom väterlichen Rader weggetaucht ist. Todd (Andy Samberg), wie er sich jetzt nennt, steht nach erfolgreicher Karriere und Abmagerungskur kurz vor der Hochzeit mit der reichen Jamie. Als der infantile, eigentlich totgesagte Vater dort auftaucht, muss er sich als bester Freund von früher ausgeben, sprengt aber auch so ohne Mühen die Hochzeitsgesellschaft im Minutentakt. Seine Zoten-Quote ist unfassbar hoch, doch er gewinnt auf unerklärliche Weise die Aufmerksamkeit und Herzen aller. Und Todd ist wieder der Außenseiter, hatte er doch seine Sammlung von Ängsten mit einer doppelten Ladung Beruhigungstabletten und Ersatz-Unterhose halbwegs im Griff...

Ordinär, idiotisch, schweinisch, blödsinnig und absurd - es fehlten einem die Worte, um diesen Film zu beschreiben. Auch wenn der dringend nötige Ausbruch aus einer verklemmten (amerikanischen) Puritaner-Gesellschaft zigfach überzogen immer noch einige befreite Lacher mit sich bringt, auch wenn sich wieder zeigt, dass die rüden Außenseiter anständiger sind als die angesehene Gesellschaft, verläuft der Film vor allem am Ende äußerst konventionell konstruiert.

Doch das zählt nicht, wenn Sandler seinem Affen (un-)anständig Zucker und viel Bier gibt, wenn sich Susan Sarandon als Ex-Lehrerin sexy gibt und James Caan einen prügelnden Priester. Ex-Star Vanilla Ice wird kräftigst durch den Kakao gezogen, der Rest ist nackt, besoffen, sexuell, ausgesucht ekelhaft und erstaunlicherweise manchmal richtig komisch.

Mensch 2.0 - Die Evolution in unserer Hand

BRD, Schweiz 2012 Regie: Basil Gelpke und Alexander Kluge 112 Min.

Was ist der Mensch? Wenn auch diese ältere Frage nicht ausreichend beantwortet ist, kümmert sich jetzt schon eine faszinierende DVD-Box um den „Mensch 2.0". Die verbesserte Version des Homo sapiens wurde schon in einer DVD-Box mit 70 kurzen Beiträgen über insgesamt 12 Stunden ergründet. Die Autoren Basil Gelpke (DVD 1+2: Mensch – Maschine – Mensch) und Alexander Kluge (DVD 3+4: Die Auswanderung des Denkens aus dem Gehirn) boten viel sachliches Hintergrundwissen und Kluges faszinierende Beiträge aus seinem dctp.tv mit einzigartiger Mixtur aus Information und TV-Kunst.

Nun gibt es „Mensch 2.0" auch im Kino, angeregt von der Aktion Mensch schufen Alexander Kluge und Basil Gelpke auf der DVD-Grundlage einen Kinofilm, der mit neuem Material aufwartet und zahlreiche Fragestellungen der DVD-Produktion in konzentrierter Form zusammenbringt. Der Kinostart ist eingebettet in das Filmfestival „überall dabei – das inklusive Filmfestival" der Aktion Mensch, das von September 2012 bis Mai 2013 bundesweit in 40 Städte kommt und sich dem Menschen, seiner Kommunikation und seinen unterschiedlichen Fähigkeiten widmet. In ihrem Film verfolgen Alexander Kluge und Basil Gelpke den Menschen im digitalen Zeitalter, in dem die Grenzen zwischen Mensch und Maschine neu gezogen werden. Dass 112 lineare Kinominuten gegenüber 720 des interaktiven Stöberns auf DVD einen Rückschritt darstellen, sei nur am Rande erwähnt.

18.9.12

Die Kunst sich die Schuhe zu binden

Schweden 2011 (Hur många lingon finns det i världen) Regie: Lena Koppel mit Sverrir Gudnason, Vanna Rosenberg, Mats Melin, Theresia Widarsson 101 Min.

Als der junge Schauspieler Alex entlassen und von der Freundin aus der Wohnung geschmissen wird, nimmt er in der Provinz einen Job als Betreuer von sechs geistig Behinderten an. Dabei muss man eigentlich auf ihn aufpassen, Alex ist unpünktlich, unordentlich, kurz ungeeignet. Er beschäftigt bei seinen Einsätzen erst mal die Feuerwehr, dann die Polizei, macht alles anders und dabei auch einiges richtig. Als er bemerkt, dass alle seine Betreuten bei schwedischem Pop richtig abgehen, spricht er ihre Fantasie an und beginnt mit der Inszenierung eines Theaterstücks. Vor allem die Eltern der Behinderten zweifeln am Talent ihrer vielfach verängstigten Schützlinge als Rampensäue. Alex jedoch sieht sie nicht als Kinder, sondern als Erwachsene mit vielen Möglichkeiten. Diese ergreifen die sechs schließlich, als sie ohne Betreuung per Zug nach Stockholm aufbrechen, um an einer Casting-Show teilzunehmen.

Diese Selbstfindung eines Taugenichts (nach einer wahren Geschichte) geriet mit einigen rührenden Szenen der Solidarität ziemlich einfach, aber sympathisch. Dabei erzählt der Film so träge wie seine Hauptfigur agiert. Trotzdem gewinnt Alex neue Freunde - so bekannt wie dieser Satz kommt einem auch der Film vor. Gleiche Geschichten gab es schon oft im TV, im Kino können das die Briten viel besser.

Auf der Suche nach einem Freund fürs Ende der Welt

USA 2012 (Seeking a friend for the end of the world) Regie: Lorene Scafaria mit Steve Carell, Keira Knightley, Connie Britton, Martin Sheen 101 Min. FSK ab 12

„Das Ende der Welt ist nah!" Wenn das Ende tatsächlich in Form eines riesigen Kometen naht und jemand mit so einem Schild vor der Brust im Knast sitzt, finden das vielleicht einige Menschen lustig. Oder man könnte auch ein dickes Männlein zeigen, das noch alle möglichen Drogen und möglichst viele Frauen ausprobieren will. Vielleicht noch den grauen Versicherungs-Makler, der weiter ins Büro geht, obwohl wirklich niemand für die letzten drei Wochen des Lebens eine Versicherung abschließen will. Diese traurige Gestalt namens Dodge (Steve Carell) scheint die drei letzten Wochen der Menschheit aussitzen zu wollen, während das „Klassik-Hits"-Radio fröhlich „Wouldn't it be nice" dudelt.

Dass Dogde selbst ungerührt bleibt, als ihm Leute aufs Autodach fallen, liegt an seiner verschwunden Frau Linda. Der Langeweiler suhlt sich im Liebeskummer bis - auch fast wie vom Himmel, aber vor allem aus „Frühstück bei Tiffany" - die Nachbarin Penny (Keira Knightley) in seine Wohnung einfällt und sich erst mal ausschläft. Dodge hat ein gutes Herz und schon vorher einen herrenlosen Hund aufgenommen. Ab soll die chaotische Penny den lethargischen Typen wiederbeleben. Hilfreich ist ihre Entdeckung, dass Linda einen Liebhaber hatte. Unglücklich ihre Eigenschaft, seine Post einfach mal zu sammeln. So erhält Dodge den vielversprechenden Brief einer Jugendliebe erst Monate später - und der Erd-Countdown läuft...

Apokalyptische Absurditäten, angesichts des Endes weiter ins Fitness-Studio zu gehen oder Fenster zu putzen, sollen diese „Suche" nach einer Erfolgsfilm-Formel in der ersten Hälfte komisch machen. Für jeden Humor ist was dabei, nur Volltreffer sind selten. Carells Gesicht ist prinzipiell für diese Art lakonische Komik geeignet, lange hält er die Mundwinkel unten, da kann Penny noch so viel neckisches Chaos verbreiten. Das erste Lächeln überzeugt, da sind wir denn längst im gefühlvollen Teil: Die Gegensätze ziehen sich mächtig an und auch mal aus, ein Besuch bei Dodges Papa (Martin Sheen) heilt alte Verletzungen. Dass bei all diesen, an sich reizvollen Ideen das Interessanteste an Penny ihre John Cale-LP ist, muss man Keira Knightley zuschreiben. Die typisch überzogenen Grimassen im abgemagerten Gesicht funktionieren im komischen Teil leidlich, den süßen Fratz zum Verlieben nimmt man ihr überhaupt nicht ab. Um sie loszuwerden, wünscht man sich glatt ein schnelles Ende der Welt und des Films herbei.

17.9.12

Liebe (2012)

Frankreich, BRD, Österreich 2012 (Amour) Regie: Michael Haneke mit Jean-Louis Trintignant, Emmanuelle Riva, Isabelle Huppert 127 Min. FSK ab 12

Im Wettbewerb des 65. Filmfestivals von Cannes erhielt der haushohe Favorit, der französische Film „Liebe" vom Österreicher Michael Haneke, verdientermaßen die Goldene Palme. Eigentlich hätten auch seine Darsteller Jean-Louis Trintignant und Emmanuelle Riva einen Hauptpreis verdient. Doch beides ging laut Reglement nicht.

Das sehr feinfühlige und bewegende Meisterwerk „Liebe" zeigt anscheinend ganz einfach, wie die alte Piano-Lehrerin Anne (Emmanuelle Riva) nach einer missglückten Operation halbseitig gelähmt ist und ihr auch nicht mehr richtig fitter Mann Georges (Jean-Louis Trintignant) versucht, sie zu pflegen. Zuvor erlebte man einen kurzen Moment des gemeinsamen Lebens in Paris, voller Kultur und Austausch, dann kommen die Aussetzer bei Anne. Erst eine Hälfte des Körpers, dann die Sprache, dann liegt sie als Pflegefall im Bett. Das Paar gehört zum wohlhabenden Bürgertum, Pflegerinnen sind bezahlbar, aber auch manchmal fürchterlich ruppig. Die distanzierte und egozentrische Tochter Eva (Isabelle Huppert) kommt aus London nur vorbei, um alles besser zu wissen. Als Anne zu verstehen gibt, dass sie das quälende Füttern nicht mehr will, fasst Georges einen Entschluss…

Wie Haneke dies Einfache, das oft verdrängte Altern und Sterben zeigt, ist ganz große Kunst. Der Holzhammer bleibt in der Schublade und man merkt trotzdem irgendwann, wie sehr man bei diesen Menschen ist, dass man längst mit am Bett bei Anne sitzt. Dabei ist „Liebe" in vielen Details raffiniert erzählt. So spiegelt eine alte Geschichte die Schwierigkeiten Annes wieder, ein Signal nach außen zu geben, weil sie nicht mehr richtig sprechen: Georges erzählt, wie er einst mit einem Postkarten-Geheimcode aus dem Jugendcamp versteckte Nachrichten für die Mutter versandte. Sowohl die innige Geistes-Gemeinschaft vor der Operation, wie auch das Verständnis nachher berühren tief. „Liebe" ist in ein intensives Kammerspiel mit exzellenten Bildern von Kameramann Darius Khondji, nur Landschaften in Öl zeigen etwas vom Draußen. Auch der rätselhafte Rahmen mit dem Aufbrechen der Wohnung und dem Verschwinden von Georges liefert nur eine Variation des Innenlebens. Hanekes „Liebe" ist im Vergleich zu seinem vorherigen Cannes-Sieger „Das weiße Band", zu „Caché", „Die Klavierspielerin" und vor allem zu „Funny Games" sehr mild. Und selbstverständlich intellektuell: Die Bücherwand mit Noten und Schallplatten bildet den Rückhalt, Berührungen sind selten. Nur wenn der selbst humpelnde Georges seiner Anne aus dem Rollstuhl in den Sessel hilft, dann ist das fast ein letzter Tanz der beiden Liebenden.

Resident Evil: Retribution

Großbritannien, BRD, USA 2011 (Resident Evil: Retribution) Regie: Paul W.S. Anderson mit Milla Jovovich, Michelle Rodriguez, Sienna Guillory, Kevin Durand, Oded Fehr 96 Min. FSK ab 16

Zuhause bei den Andersons: „Liebling, zieh das enge Schwarze an, wir gehen Zombies schlachten..." Wenn Herr Paul W.S. Anderson als „Resident Evil"-Regisseur mit Ehefrau Milla Jovovich was unternimmt, sieht das anders aus als bei den meisten Paaren - schicker und blutiger. Zum fünften Male gibt Jovovich die Alice im Monsterland, kämpft gegen die Umbrella-Organisation, die mit Viren eine weltweite Zombie-Invasion auslöste. Ein geistloser Selbstläufer, der wieder eine Menge deutsches Geld verbrät. Die Simulations-Welten der äußerst konfusen ersten halben Stunde von „Resident Evil: Retribution" sind dabei eine ganz böse Falle. Nicht für Alice (Milla Jovovich), die einfach stetig weiter kämpft und killt. Auch für den gesamten Film, der sich als so lose und fast absurde Folge von Simulationen darstellt, dass es fast wie Kunst wirkt, wäre es nicht nur sehr teurer Schrott. Das übliche Hüpfen rund um die Weltkugel findet nun in einer Reihe gigantischer Simulationshallen tief unter zig Metern Kamtschatka-Eis statt. Man könnte auch sagen, in großen Hallen eines Filmstudios. Im Computer - der Roten Königin oder der Produzenten - werden New York, Moskau, Tokyo nachgespielt. Praktischerweise lässt sich eine globale Katastrophe so mit nur einem großen Wasserhahn erzeugen. Alice rast derweil mit einem aufgepimpten Rolls durch die Moskauer U-Bahn, immer tough aus der SM-Wäsche blickend, mit unglaubliche Sprüngen und Kicks trotz Highheels. Das Ex-Modell Jovovich bleibt als Ikone der Gewaltverherrlichung immer 3-Wetter-tough frisiert und perfekt geschminkt, höchstens eine Strähne verrutscht mal. Das Verbissene im Gesicht erschüttern nur - Figur und Publikum - verwirrende Muttergefühle. An Fließbändern in Form der Doppelhelix warten in moderner Reproduktion hingegen hunderte Klone der beteiligten Personen auf ihren Einsatz. Der Film klont dazu bekannte Vorbilder, macht wieder auf „Matrix", lässt Wehrmachts-Zombies aufmarschieren, die ein ausfaltbares Alien-Maul bekommen haben. Dazu gibt es haufenweise Monster-Kopien, Brazil-artige Riesen ohne jeden Humor. Selbst die üblicherweise starke Musik von tomandandy hört sich schlecht kopiert an.

„Resident Evil 5", die übliche Mischung aus aufwändig gestylter Action und Zombie-Film, aus Lack und Leder-Modell Jovovich und Ehemann-Regisseur Paul W.S. Anderson ist letztlich, oder „am Ende des Tages" wie man es so furchtbar falsch amerikanisiert, ein nicht origineller Zickenk(r)ampf in Eislandschaft, für den man sich nicht erwärmen muss. Was da an vordergründiger Frauenpower mit Michelle Rodriguez in einer Gut-und-Böse-Doppelrolle aufgefahren wird, sind nur Faltposter-Abzüge großer Jungs kombiniert mit deren ängstlichen Allmachtsfantasien.

11.9.12

Das Bourne Vermächtnis

USA 2012 (The Bourne Legacy) Regie: Tony Gilroy mit Jeremy Renner, Rachel Weisz, Edward Norton, Stacy Keach 135 Min.

Noch so ein Irgendwas-mit-Bourne-Film? Die drei Vorgänger waren ein großer Erfolg, doch am Ende hatte der Super-Agent wider Willen endlich seine Freiheit erkämpft. Gerüchte besagen, er hätte mit seiner Familie einen Zoo gekauft. Regisseur Paul Greengrass hetzte seinen Bourne Matt Damon mit eindrucksvoller, aber auch anstrengender Geschwindigkeit durch die Trilogie. Dabei war Greengrass nicht purer Action-Spezialist, er drehte auch 2002 den irischen Protestfilm „Bloody Sunday". Nun übernimmt Tony Gilroy, bisheriger „Bourne"-Autor, aber auch Regisseur des genialen Kunst-Thrillers „Michael Clayton" mit George Clooney.

Die Bourne-Fortsetzung ähnelt im verschneiten, menschenleeren Anfang sehr „Hanna". Wie die ganz geheime Agentin versteckt sich auch Aaron Cross (Jeremy Renner) in eisiger Abgeschiedenheit. Derweil muss die Regierungsorganisation unter der Leitung von Colonel Eric Byer (Edward Norton) das Programm gen- und chemisch manipulierter Superwaffen in Menschenform einstellen. Überall sterben die medikamenten-abhängigen Agenten an einer letzten Pille. Nur „Ergebnis Nr. 5", Aaron Cross, entkommt sogar einem Drohnenangriff und schneidet sich den Ortungssender aus dem Fleisch. So weit, so unoriginell. Zum Glück wird die Wissenschaftlerin Dr. Marta Shearing (Rachel Weisz) als einzige nicht erschossen, als ein Killer ihr ganzes Labor umlegt. Zum Glück kommt Aaron Cross auch rechtzeitig vorbei, als Agenten auch mit ihr einen Selbstmord vortäuschen wollen. Marta macht Cross mit dem bekannt, was die schlimmsten Doping-Ärzte gerade den Sportlern vorschlagen: Mit Gen-Manipulation braucht er die grünen und blauen Tabletten nicht mehr, sein Körper erzeugt selbst die Drogen, damit er ein Super-Agent mit Super-Käften und Super-Reaktionsvermögen bleibt. Oder Olympia-Sieger ohne nachweisbare Epo-Einnahme. Doch das Labor für diese Manipulationen am eigenen Körper liegt allerdings am anderen Ende der Welt, auf den Philippinen.

Diese Wendungen sind zwar alle ziemlich erzwungen, doch mit Rachel Weisz bekommt das Rumgerenne schauspielerisches Schwergewicht und den menschlichen Faktor, den Jason Bourne selbst in sich trug. Der wollte nie unzerstörbarer Supermann und schon gar kein Killer sein. Jeremy Renner als Aaron Cross ist zwar interessanter und ausdruckskräftiger als Ex-Bourne Matt Damon, doch allein mit ihm wäre der Film wirklich langweilig. So ist mäßige Spannung und das nötige Mitgefühl für eine nicht ganz unschuldig in die mörderischen Mühlen der Geheimdienste Verwickelte zu verzeichnen. Denn die Verfolgung aus der Luft, die Greengrass so extrem praktizierte, geht weiter. Es scheint kein Problem zu sein, jeden Menschen überall auf der Welt innerhalb von ein paar Stunden zu finden. Das ist tatsächlich erschreckend, wenngleich der politische Aspekt deutlich kleiner geworden ist. Wirklich spannend bleibt die Frage, wie die Fortsetzung von all dem Verfolgen aussehen soll...

10.9.12

Parada

Serbien, Kroatien, Mazedonien, Slowenien 2012 (Parada) Regie: Srdjan Dragojevic mit Nikola Kojo, Milos Samolov, Hristina Popovi, Goran Jevtic 115 Min. FSK ab 12

Die serbische Komödie „Parada" war ein Hit der letzten Berlinale, dabei ist das Thema schrecklich ernst und brennend aktuell. Denn in Serbiens Hauptstadt erweist sich eine Schwulen-Parade als ebenso riskant wie in Russland - oder im Westen vor ein paar Jahren. Der schwule Mirko ist Hochzeitsplaner, hat einen eigenen Laden, kämpft für Menschenrechte und will sich nicht verstecken. Im Gegensatz zu seinem Freund Radmilo, der sich in seiner Tierarztpraxis duckt und auch ganz klein macht, wenn er den rosa Mini wieder mal neu lackieren lassen muss, weil er mit schwulen-feindlichen Losungen beschmiert wurde. Doch Prügel haben sich alle schon eingesteckt. Die neuen Faschisten schmeißen auch Brandsätze oder finden es lustig, zur Abwechslung „nur" mal jemanden von den „Unnatürlichen" anzuspucken.

Nun rettet Radmilo ausgerechnet die Bulldogge des brutalen Kriminellen Micky Limun und Mirko sollte die Hochzeit von Limun und dessen Perle Pearl veranstalten. Als wieder mal eine Gay Pride-Parade von einem korrupten und faschistischen Beamten abgelehnt wird, engagieren Radmilo und Mirko den Schläger und Ex-Soldaten Limun als Beschützer. Eigentlich ist es eine sehr dreiste und mutige Erpressung, denn Pearl will unbedingt eine Hochzeit von Mirko und der will seine Parade. Außerdem liebt der harte Knochen seinen Hund mehr als die Menschen, Pech dass ausgerechnet einer der von ihm verachteten Schwulen seinen Hund gerettet hat.

Allein die Idee „Schwuchteln zu beschützen" lässt seine Limuns „Kameraden" verschwinden. Auf dem Weg zu kroatischen Faschisten, die ihm nun helfen sollen, wird die gemeinsame Reise von Limun und Radmilo, der auf solche Alpha-Tiere steht, zu einem Buddy-Movie. Sie holen gleich noch einen bosnischen Muslim und einen Kosovo-Albaner dazu. Überall muss der Mini neue Graffitis erdulden.

„Parada" vom Regisseur Srdjan Dragojevic, der sich früher auch sehr ernsthaft mit der inneren Verfassung seines Landes beschäftigte, ist heftig derb in seinem Schwulenhass und Nationalismus. Aber irgendwie überlagern sich Homophobie, Sexismus, Nationalismus und religiöser Wahn. Und die harten Kerle haben einen weichen Punkt, der Albaner findet die ausgefallenen Stoffe Mirkos klasse und alle lieben Ben Hur. Außer Limun, der hat inzwischen erfahren, dass sein Lieblingsfilm eine total schwule Geschichte erzählt. Doch er bekommt einen Satz neuer Freunde, denn die zwar nicht sehr intelligente aber gutherzige Tusse Pearl quartiert nach einem weiteren Überfall auf das Büro der Tunten und Lesben die Verfolgten in Limuns Wohnung ein.

„Parada" ist ein speziell jugoslawischer Käfig voller Narren: Gerade noch wollen sie sich an die Gurgel, da heulen sie schon, weil ihre Eselin ein Junges bekommen hat. „Es bekommt gleich ein Profil auf Facebook", wird noch als Gag draufgesetzt. Oder der amerikanische Panzer, in dem man einen frisch geschmuggelten Joint rein- und der Geld rauswirft: ein Geldautomat.

Im Finale erfüllt sich das Plakat der „Glorreichen Sieben", das bei Mirko und Radmilo überm Bett hängt. Aber es geht letztendlich, wie es Mirko in der Rede vor der Entscheidungs-Schlacht sagt, um die Zukunft Serbiens. Darum, dass man nicht für Ideologien oder Nationalismen leben muss, gegen Primitivlinge und Hooligans.

9.9.12

Venedig 2012 Der beste ... Kompromiss

Mit Jurys ist es wie mit der Demokratie: Jeder regt sich drüber auf; was rauskommt, ist meist suboptimal. Als in Venedig der Wettbewerb längst gelaufen war und sich am Flughafen rundsprach, dass die Jury immer noch diskutierte, war klar: Es wird wieder einen Kompromiss geben. Diesmal jedoch nicht ganz so schlimm, denn der Wettbewerrb „Venezia 69" bot bis auf ganz wenige Ausnahmen eine überdurchschnittliche Qualität. Fast jeder der außerordentlichen Beiträge verdiente Beachtung und Auszeichnung. Also auch die moderne „Pietà" des Südkoreaners Kim Ki-duk, dem man es besonders gönnt, weil er nach Jahren schwerer Depression nun wieder Filme macht. Die echten Spitzenleistungen jedoch fielen bei der Jurysitzung unter den Tisch: „Spring Breakers" von Harmony Korine, der dynamischste, jüngste Film. Das in jeder Faser meisterliche, brillante philippinische Liebesdrama „Thy Womb" von Brillante Mendoza. Oder der wunderbare, „kleine" Terrence Malick „To the Wonder". Doch man hätte es sich ausrechnen können: Bei 18 Startern im Wettbewerb geht alles glatt auf, wenn der 18. Film gewinnt. Und der Vorspann von „Pietà" erwähnte es noch einmal - es ist der 18. Film des Südkoreaners Kim Ki-duk. Mit Jurys ist es wie mit der Demokratie. Sie sind Gleichmacher - im Guten wie im Schlechten. Für die Demokratie sah schon Churchill keine Alternative, beim Film gibt es die Volksabstimmung im Kino. Man kann sich die Titel von „Venezia 69" merken und in den nächsten Monaten selbst entscheiden.

7.9.12

Venedig 2012 Passion Brian de Palma

Wenn der Sponsor zweimal klingelt, gibt das noch längst keinen erotischen Thriller. Altmeister Brian De Palma hat wohl seinen Steuerberater auch mal einem Film machen lassen. Ausserdem brauchte er ein neues Handy und die Filmförderung Berlin-Brandenburg warf ihm zusätzlich Geld hinterher. Das Ergebnis ist schrecklich: In einem weiblich dominierten Werbehaus beschäftigen sich Chefin, Assistentin und deren Assistentin mit Intrigen. Zeit für Arbeit kann da keine bleiben, deshalb muss auch Betrug im Spiel sein, um die Miete am Potsdamer Platz zu bezahlen. Mit Verführung zwischen den Frauen soll da auch was laufen, aber dies funktioniert ebenfalls nicht. Bis zum Mord vergehen mühsame 60 Minuten, man staunt was für ein Krampf unter dem guten Namen De Palma läuft. Allein der Name Christine erinnert an Spannung, die Schauspielerin Rachel McAdams dahinter ist eine Witzfigur. Auch Noomi Rapace, die wieder mit Kamera ins Bett geht, spielt extrem schlecht. Mit dieser Enttäuschung ist der Wettbewerb komplett, denn ohne großen Ausfall kommt kein Festival über die Runden. Das italienische Füllmaterial sollte man grosszügig ignorieren - mit Ausnahme von Bellochio.

6.9.12

Venedig 2012 La cinquieme saison von Peter Brosens und Jessica Woodworth

Ardennen-Apokalypse
Und schon am nächsten Morgen wurden die „Spring Breakers" von ruhigen, ganz konzentrierten Einstellungen bei „La cinquieme saison" von Peter Brosens und Jessica Woodworth abgelöst: Ein kleines Dorf in den Ardennen wollte den eigentlich mit seinem alten Feuerritual vertreiben. Doch der Berg aus Weihnachtsbäumen mit "Onkel Winter" obendrauf will einfach nicht entflammen. Was folgt, wird immer apokalyptischer. Die Bienen sterben, auf den Feldern wächst nichts, die Kühe geben keine Milch mehr. Auf den Frühling folgt immer nur noch der Winter. Milch, die eine schwarze Wand herunter läuft, Birken im dunklen Steinbruch und davor außergewöhnliche Gesichter. So was wie in der belgisch-niederländischen Koproduktion hat man noch nie gesehen - außer in den ersten beiden Filmen der Trilogie vom Flamen Brosens und der Amerikanerin Woodworth. Aber „Altiplano" (2009, mit Magaly Solier und Jasmin Tabatabai) sowie „Khadak" (2006) waren bei gleicher Arbeitsweise thematisch ganz anders.

4.9.12

Venedig 2012 Spring Breakers von Harmony Korine

Breaking News: Spring Breakers

Festivalknaller von Harmony Korine

Da merkte man gerade an, dass die Jugend hier in Venedig irgendwie fehlt und auch das Publikum nicht vollzählig sei, schon drängt sich der Saal voll und springt einem Jugend per Breitseite von der Leinwand an: Spring Break in den USA - hüpfende Brüste, Koma-Saufen im großen Stil, Kiffen, Koksen... Und das ist erst der Vorspann!
Da Spring Break, die große Studentenparty im Frühling, ja in der amerikanischen Verfassung von den Gründungsvätern festgeschrieben wurde, müssen vier Freundinnen auch unbedingt nach Florida. Jeden Tag die gleiche Uni, das hält kein Mensch aus! Die dunkelhaarige Faith, die tatsächlich in einer Bet-Gruppe ist, und drei Blondvariationen, die auch nach 90 aufregenden Minuten keine Unze Individualität bekommen haben. Letztere rauben aus Geldmangel mal schnell einen Imbiss aus, die Kamera umrundet den Laden dabei sagenhaft elegant, und ab geht die Party.

Im Flow der Bilder und Töne unterscheiden sich die vier Mädels nicht von den tausend anderen, die sich an Floridas Küste die Kante geben. Puritanisch ist da nichts mehr. Erst als sie verhaftet und von einem Rapper namens Alien (James Franco) per Kaution ausgelöst werden, startet die Story durch. Diese Witzfigur mit einer Frontreihe von Metallzähnen, weiten Kinderhosen und einer Sneakersammlung erweist sich als ganz großer Gangster, der in seiner Wohnung „Scarface" auf Endlosschleife laufen lässt und überall Drogen, Geldbündel und Maschinengewehre stapelt. Während Faith das jetzt doch zu bunt wird, finden die anderen drei das jetzt keinen Hauch erschreckend, bedrohlich, kriminell oder so was - nur geil. Im Gegenteil, beim Sexspielchen mit geladenen Pistolen bekommt man eher um den Gangster Sorge, der plötzlich zwei von den Dingern tief im Mund stecken hat. Da der gehypte Regisseur Harmony Korine in seinem Kino-Trip nie Tempo rausnimmt, kommt der 88 Minuten kurze Film jetzt auch schon zum Gangster-Krieg und die Mädels machen fröhlich mit - in rosa Pussy-Riot-Sturmhauben und selbstverständlich weiterhin im Bikini, den sie Zweidrittel des Films anhaben.

Was für ein knalliger Gegensatz zum portugiesischen Film „Linhas de Wellington" am Morgen, der in 150 Minuten gemächlich historische Episoden um Napoleons Feldzug in Portugal aufzeichnete. Zwischen 1810 und 2012 liegen wirklich Welten. Ebenso zwischen der Regisseurin Valeria Sarmiento, die zudem noch einen Stoff von Regielegende Raul Ruiz übernahm, der im letzten Jahr 70-jährig starb, und dem 39-jährigen Harmony Korine. Der hat schon mit 19 das Buch für Larry Clarks „Kids" geschrieben, einen Liedtext für Björks Song „Harm of Will", das Sonic Youth-Video „Sunday" mit Macaulay Culkin und Rachel Miner gedreht und außerdem soll ihm der berühmte Jim Carroll („Jim Carroll - In den Straßen von New York") die Nabelschnur durchtrennt haben. Wenn das mal kein Start in eine Karriere ist!

Ein wilder Bilderrausch, der immer wieder vor und zurück springt, kennzeichnet auch seinen Venedig-Starter „Spring Breakers". Wie ein Filmriss wirkt gegen diese Dynamik das Strandbild vom Lido, wo italienische Senioren morgens ihren Einkaufsshopper zu den für Tausende Euro in Reih und Glied gemieteten Strandbuden ziehen. Ein Goldener Löwe für diese „Kids" wäre ein ähnliches Ausrufezeichen der Filmgeschichte wie damals die Palme für „Pulp Fiction"...

The Watch - Nachbarn der 3. Art

USA 2012 (The Watch) Regie: Akiva Schaffer mit Ben Stiller, Vince Vaughn, Jonah Hill, Richard Ayoade 102 Min. FSK ab 12

Als sein mexikanischer Nachtwächter ermordet wird, schwingt sich Evan (Ben Stiller), Geschäftsführer eines Supermarktes, zum Blockwart der Vorstadt auf. Während der Pedant als Siedlungs-Kontroletti seine Erfüllung findet, wollen seine drei noch dämlicheren Mitstreiter nur Spaß haben. Franklin (Jonah Hill) hat bei der Polizeibewerbung so ziemlich alle Tests vergeigt. Jamarcus (Richard Ayoade) will sich als Engländer einleben und hofft auf Realisierung einiger sexueller Fantasien. Desweiteren soll man sich darüber amüsieren, wie Vince Vaughns Bob völlig erstaunt entdeckt, dass in einer Matruschka noch eine Puppe ist ... und noch eine! Allerdings ist auch der Ober-Polizist ist beim Casting des größten Idioten erwählt worden.
Evan ist ein verkrampfter Kontroll-Freak, ein völlig unangenehmer Typ, dem selbst Ben Stiller keine sympathischen Seiten abgewinnen kann. Ansonsten oft Garant für absurden und auch mal sympathischen Humor, macht hier er nur auf dumpfen und peinlichen Humor. Zu viert in einem Auto sitzen und rhythmisch in eine Dose pinkeln, ist da gleichzeitig Höhe- und Tiefpunkt der sogenannten Komödie. Ganz böse wird diese Geschichten, wenn man sich erinnert, dass auch George Zimmerman, der den 17-jährigen Afroamerikaner Trayvon Martin erschoss, so ein Nachbarschaftswachen-Typ war.

Venedig 2012 Halbzeit

Voll gutes Programm, noch Platz im Saal

Venedig. In Venedig heißen die Filmfestspiele „Mostra Internazionale d'Arte Cinematografica" und dieser kleine Unterschied trifft 2012 tatsächlich zu: Man fühlt sich wirklich wie auf einer Leistungsschau des internationalen Arthouse-Kinos und nicht in einem dieser anderen Wettbewerbe, wo man wie Aschenputtel die Guten und die Schlechten selbst aussortieren muss. Hier, bei der 69. Mostra wurde vorsortiert und das richtig gut. Zur Halbzeit des Wettbewerbs, der am Samstag mit der Verleihung des Goldenen Löwen endet, wird ein Feuerwerk großer Namen und Werke abgefackelt.

Obwohl das mit dem Löwen gar nicht mehr so sicher scheint: Ein unbedarfter Besucher auf dem Lido Venedigs würde felsenfest - oder hier: sandbankfest - behaupten, das Nashorn sei Wappentier des Festivals. Es thront mitten in der Baubrache vor dem Festivalpalast als Reittier für Kinder. Auf Plakaten und im Festival-Vorspann teilt es sich ein Boot mit einem kleinen Anglerjungen. Und es passt eigentlich auch ganz zum ältesten Filmfestival der Welt, das sich nur langsam bewegt, aber immer mal wieder gewaltig zusticht, wenn es in Fahrt kommt.

Olivier Assayas, Terrence Malick, Paul Thomas Anderson, Takeshi Kitano, Susanne Bier, Kim Ki-Duk - ein Festival der großen Namen, die nie ganz das Erwartete liefern - dann wäre es ja auch vorhersehbar und langweilig. Thema Leitmotivisch hatte der Eröffnungsfilm „The reluctant fundamentalist" das Thema vorgegeben: Fast alle Figuren auf der Leinwand leben so, wie andere von ihnen erwarten. Die Befreiung davon ist mal Coming Out und Happy End wie in Biers Komödie „Love is all you need". Mal eine Explosion der Gewalt wie in „The Iceman".

Am Montag bekam die schöne Revolutions-Romantik „Apres mai" von Olivier Assayas mit „Disconnect" von Henry-Alex Rubin (außer Konkurrenz) einen reizvollen Gegenpart zur „Jugend von heute". Während Assayas 1971 außerhalb von Paris junge Studenten zeigt, die sich politisch engagieren, von Spezialeinheiten der Polizei in Straßenschlachten brutal zusammengeschlagen werden, findet heutzutage alles im Internet statt. Mobbing, Verführung, Betrug, aber auch Trost und Verständnis. „Ich rede mehr per SMS mit dir als persönlich" - dieser Satz zwischen Eltern eines stillen Außenseiters, der sich umbringen wollte, ist symptomatisch für die - selbstverständlich - vernetzten Geschichten von heute. Früher sah man die Jugendlichen (bei Assayas) viel Lesen, Malen, Reden und Revoluzen. War ja genug Zeit da, ohne Internet. Die entscheidende Frage blieb aber gleich: Was willst du mit deinem Leben anfangen?

Filme anschauen wollen vielleicht nicht mehr so viele. Öfter mal blieben einige Plätze in den Kinos leer. Sicherlich eine erste Folge der milliardenfachen Umverteilung vom Volk (-shaushalt) zu den Banken. So können sich Branchenvertreter aus Italien, Spanien oder Griechenland den schamlos überteuerten Lido nicht mehr leisten. Über die „Jugend von heute" braucht man sich nicht zu ärgern - sie ist auch gar nicht erst da. Ein generelles Problem von Filmfestivals.

Favorit Kim Ki-Duk
Den längsten Applaus in den Pressevorführungen erntete bislang Kim Ki-Duk ("Frühling, Sommer ....", "Bin-Jip") bei seinem Comeback nach jahrelanger Festivalabwesenheit und seinem ergreifenden Depressionsfilm "Arirang". Der Titel seines 18. Werkes "Pietà" klingt nach einem dieser quasi-religiösen Themen, die der Wettbewerb auffallend oft präsentiert. Doch die Geschichte um einen kleinen gemeinen, eiskalt sadistischen Kredithai, der verschuldete Handwerker mit ihren eigenen Maschinen verkrüppelt, um deren Versicherungssumme zu kassieren, ist eine besonders raffinierte Form von Schuld und Sühne. Denn als die Mutter des Sadisten, die er nie kannte, auftaucht, wird er ganz schnell weich. Die vermeintliche Mutterliebe nimmt extreme, ja sogar perverse Formen an, wobei sich der Begriff Pieta umstülpt. Mitleid wird zur Rache und alles hängt am Geld. Zwischen Genre und Gesellschaftsanalyse ist der Koreaner ganz nah beim Österreicher Seidl mit seinem "Paradies: Glaube".

Der zeigte sehr raffiniert vielschichtig Glaubens-, Geschlechter- und Ehe-Krieg in einer peinlich aufgeräumten Österreicher Wohnung. Aber auch Flagellation gegen die Fleischeslust vor dem Kreuz und Masturbation mit demselben! Beim Glauben kennt Seidl, der selbst eine harte religiöse Erziehung durchleben musste, sich aus. Ein doppelbödiges Vergnügen, ein Gewinn im Wettbewerb. Die Produzenten wollen den dritten Teil der „Paradies"-Trilogie bei der Berlinale platzieren.

Die auf wenige, übersichtliche Reihen konzentrierte Mostra bleibt derweil ein idealer Ort für Austausch und Diskussion. Da braucht es nicht solcher Mätzchen wie das Online-Streaming der Orrizonti-Filme.

Venedig 2012 Pieta / Kim Ki-Duk

Den längsten Applaus in den Pressevorführungen erntete bislang Kim Ki-Duk ("Frühling, Sommer ....", "Bin-Jip") bei seinem Comeback nach jahrelanger Festivalabwesenheit und seinem ergreifenden Depressionsfilm "Arirang". Der Titel seines 18. Werkes "Pietà" klingt wieder nach einem dieser religiösen und quasi-religiösen Themen, die der Wettbewerb auffallend oft präsentiert. Doch die Geschichte um einen kleinen gemeinen, eiskalt sadistischen Kredithai, der verschuldete Handwerker mit ihren eigenen Maschinen verkrüppelt, um die Versicherungssumme zu kassieren, ist eine besonders raffinierte Form von Schuld und Sühne. Denn als die Mutter des Sadisten, die er nie kannte, auftaucht, wird der ganz schnell weich. Die vermeintliche Mutterliebe nimmt extreme, ja sogar perverse Formen an, wobei der Koreaner den Begriff Pieta umstülpt. Hier ist er ganz nah beim Österreicher Seidl mit seinem "Paradies: Glaube".

Late Bloomers

Frankreich, Belgien, Großbritannien 2011 (Late Bloomers) Regie: Julie Gavras mit William Hurt, Isabella Rossellini, Doreen Mantle, Kate Ashfield, Aidan McArdle 90 Min.

Die Kinder sind aus dem Haus, er bekommt einen Preis als Architekt, das Leben in London und im Wohlstand könnte wunderbar sein für Adam (William Hurt) und Mary (Isabella Rossellini). Doch dann will sie sich und die Wohnung auf das Alter vorbereiten, das Telefon bekommt große Tasten, das Bad einen Haltegriff. Adam, dem schon die Auszeichnung als Abschreibung ins Altenteil vorkam, stürzt sich mit jungen Studenten noch einmal in ein geheimes, nicht genehmigtes Projekt. Eifersucht kommt auf, Mary schaut sich nach einem jungen Mann um. Die erwachsenen Kinder des Paares wundern sich nur noch...
Ausgerechnet die Tochter von Alt-Meister Costa Gavras, Julie, inszenierte diese leise und treffende Altskomödie. Sie kann ganz auf ihre Stars William Hurt und Isabella Rossellini vertrauen, obwohl etwas mehr Pepp nicht nur im Dialog, sondern auch in den Szenen hätte dem Film gut getan. Wobei William Hurt mal nicht die Mutter allen Weltschmerzes gibt, was ihm sehr gut bekommt. Obwohl zwischendurch etwas Geduld vonnöten ist, gelang Julie Gavras ein nettes, kluges „Alterswerk".

Heiter bis wolkig

BRD 2012 Regie: Marco Petry mit Max Riemelt, Anna Fischer, Jessica Schwarz, Elyas M'Barek 100 Min. FSK ab 6

„... eigentlich ein ziemlich trauriges Thema; wir haben uns bemüht, den Film so lustig und spannend zu machen, wie es geht." So beschreibt Regisseur Marco Petry seinen dritten Kinofilm, der erst als einfache Buddy-Komödie daherkommt: Koch Tim (Max Riemelt) und sein Kumpel Can (Elyas M'Barek) verstehen unter Spaß, Frauen für eine Nacht rumzukriegen. Im Repertoire ihrer Maschen gibt es auch den unheilbar Kranken - einer erzählt einer Frau an der Bar, sein Freund sei doch noch so jung und hätte nur noch kurze Zeit zu leben... Krebs halt... Über diese dreiste Aufreiß-Methode lernt Tim die naive Marie (Anna Fischer) kennen. Doch bevor bei ihr zuhause etwas passiert, kotzt Maries Schwester Edda im Bad herum. Sie hat wirklich Krebs, quält sich mit den Folgen der Chemotherapie und nimmt ab jetzt den Neuen der kleinen Schwester ganz scharf unter die Lupe.

„Heiter bis wolkig" ist hier wieder Buddy-Film, aber es ist ein neues, ungewöhnliches Pärchen, das auf Antrieb Eddas ziemlich verrückte Dinge anstellt. Sie hat nichts mehr zu verlieren und pickt sich Tim raus, um sich am Ex und der Ex-Chefin zu rächen. Ein paar Ziegen im Blumenladen und eine (Geld-) Bombe in der Bank sind nur einige der spaßigen Ideen, mit denen sich Edda ablenkt und Tim entsetzt.

„Schule war gestern, Leben ist jetzt" - der Untertitel seines zweiten Films von Marco Petry könnte das Motto sein, für einen reiferen Film des früheren Spezialisten für Jugendkomödien. Es geht um etwas Ernstes, sogar todernst wird es. Bei viel Kölner Hinterhof-Romantik kann eine verrückte Aktion nach der anderen letztendlich nicht die Angst vor dem Tod überspielen. Und da ist Tim echt, wenn auch seine erlogene Krankheit nur noch sehr schwer vor Marie aufrecht zu erhalten ist. „Heiter bis wolkig" hat einige gute Momente, ist aber kein Feuerwerk toller Szenen. Jessica Schwarz jedoch spielt großartig, trägt den Film und stellt sogar den ebenfalls ausgezeichneten Max Riemelt in den Schatten.

Was bleibt

BRD 2012 Regie: Hans-Christian Schmid mit Lars Eidinger, Corinna Harfouch, Sebastian Zimmler, Ernst Stötzner, Picco von Groote 84 Min.

Das Wochenende führt den Berliner Autoren Marko (Lars Eidinger) zu den Eltern ins Bergische Land. Der kleine Sohn kommt mit, auch wenn die Beziehung zur Mutter nur noch schwierig ist. Doch daheim wird es erst richtig turbulent, als Mutter Gitte (Corinna Harfouch) sehr freudig bekannt gibt, sie habe nach dreißig Jahren das Medikament gegen ihre manisch-depressiven Schübe abgesetzt. Entsetztes Schweigen. Sie hätte die Wahl, zwischen „Duracell-Hase oder Tabletten-Zombie". Solche Treffer-Versenkt-Sätze bestimmen auch die weitere Entwicklung, in der Markos Bruder eingesteht, die heftig von den Eltern bezuschusste Arzt-Praxis läuft überhaupt nicht. Und Verleger-Papa (Ernst Stötzner) stellt sich seinen Ruhestand so vor, dass er nach Afrika reist - mit der langjährigen Geliebten, die er bei dieser Gelegenheit auch mal rauskramt.
Es ist dem großartigen Spiel vor allem von Lars Eidinger und Corinna Harfouch zu verdanken, dass dieses Familienfest mit Schwierigkeiten immer glaubhaft bleibt. Regisseur Hans-Christian Schmid („Crazy", „Requiem", „Sturm") zeigt (zusammen mit dem Drehbuchautor Bernd Lange) die Folgen eines jahrelangen Versteckspiels in kleinen, genauen Nuancen und großen Szenen. Szenenapplaus gab es für Erdinger und Harfouchs Version von Aznavours "Du lässt dich geh'n". Ein feines Stück Kino und Familien-Analyse.

2.9.12

Venedig 2012 Love is all you need von Susanne Bier

Ex-Agent gewinnt Herzen

Der Beginn einer neuen Liebe mit traumhaft italienischem Küstenblick könnte kitschig werden, doch ein sagenhafter Pierce Brosnan und Susanne Bier, hochverehrte dänische Regisseurin von „In einer besseren Welt", „Nach der Hochzeit" und „Brothers - Zwischen Brüdern", vermeiden in der lebensechten Romanze alle Klischee-Klippen. Bei der Hochzeit eines jungen Paares verlieben sich Philip (Brosnan), der verschlossene Vater des Bräutigams, und Ida (Trine Dyrholm), die Mutter der Braut, in einer Villa mitten im Olivenhain. Der eher steife Brite und reiche Chef eines Obstgroßhandels lebte mit seiner verstorbenen Frau hier. Die gradlinige Friseuse Ida wurde gerade von ihrem Mann verlassen, der während ihrer Chemotherapie fremdging. Noch ein Familienfest mit Schwierigkeiten, noch eine Hochzeit für Bier, doch zusammen mit ihrem Autor Anders Thomas Jensen sorgt sie dafür, dass sich dieser wohl abgewogene Wohlfühlfilm nie falsch anfühlt. „Love is all you need" - und eine gute Dosis Lebensfreude und Humor zur Festivalmitte.

Venedig 2012 To the Wonder von Terrence Malick

Auftakt und Ende einer Liebe zwischen den Kontinenten - ist das als Thema zu klein für Terrence Malick, der in seinem sensationellen Cannes-Sieger „The Tree of Life" gleich die ganze Schöpfung mit verfilmte? „To the Wonder" erzählt vom Mont St. Michel (das Wunder) bis zu irgendeiner amerikanischen Vorstadtsiedlung, wie sich die lebhafte Ukrainerin Marina (Olga Kurylenko) und der zurückhaltende Amerikaner Neil (Ben Affleck) verlieben, auseinanderleben, im Streit zerfleischen und trennen. Javier Bardem überdenkt als Pater Quintana derweil Verhältnis zu Gott. Malick, der nie öffentlich auftritt, stellte den betörend schönen Film für seine Verhältnisse rasend schnell fertig (und hat gleich noch drei andere Projekte in den letzten Zügen). Seine Filme sind keine bebilderten Geschichten, sondern Gedichte, bestenfalls Sonette, die nebenher neben ihren eigenen optischen Harmonien auch etwas erzählen. „To the Wonder" ist wieder komplett von einem symphonischen Score unterlegt. Figuren sprechen selten vor der Kamera, brauchen sie auch nicht, denn die kurzen, manchmal traumhaft schönen Einstellungen ergänzen sich zu intensiven Gefühlen. Vielleicht tatsächlich ein schwächerer Malick, aber immer noch einzigartig und herausragend.

1.9.12

Venedig 2012 The Master / Wes Anderson

Ein Meisterwerk? Es war auf jeden Fall nicht nur ein Meister am Werke bei Paul Thomas Andersons „The Master" im Wettbewerb der 69. Mostra von Venedig. Der Regisseur, der seinen ersten Film nach „There Will Be Blood" vor fünf Jahren abliefert. Auch mit „Punch-Drunk Love" (2002), „Magnolia" (1999) und „Boogie Nights" (1997) hatte er es nicht wahnsinnig eilig. Trotzdem wird der Kalifornier zu den besten Regisseuren überhaupt gezählt, was auch jetzt wieder Bilder, Szenen und Stimmungen belegen. Zudem dreht sich der Film um eine seltsame Beziehung zwischen einem spirituellen Führer - oder Scharlatan? - und einen kaum zähmbaren Trinker und Choleriker. Also Philip Seymour Hoffman und Joaquin Phoenix, der von einer vierjährigen, selbst auferlegten Drehpause zurückkehrt.

Das erste Lob für „The Master" ist, dass man ihn nicht mal schnell in einem Blog abfeiern kann. Gut, wenn eine Menge sehr kreativer und intelligenter Menschen Monate und Jahre ihrer Lebenszeit in etwas stecken und es nicht in ein paar Sätzen - auf dem Weg zum nächsten Festivalfilm - zu fassen ist.

Joaquin Phoenix ist der rastlose Freddie Quell, 1950 mit nervösen Störungen aus der Navy entlassen. Liegt es an den „Japsen", die er umgebracht hat? Oder an den Drinks, die er sich immer und aus allem Möglichen, sogar aus Torpedo-Brennstoff, zusammen mixt? Egal, denn Freddie gehört zu den Menschen, die sich darüber keine Gedanken machen. Rasch rafft der Film ein paar Stationen des lüsternen Säufers zusammen, bis er eher aus Versehen auf dem Schiff von Lancaster Dodd (Philip Seymour Hoffman) landet. Der Autor und Sekten-Führer nimmt den wilden Streuner wie einen Sohn auf, denn Freddie ist „der mutigste Junge, den er je gesehen hat". Neben den Drinks des immer Betrunkenen geht es dem freigiebigen, freundlichen und sympathischen Mann auch um die Zähmung seines neuen, ihn stimulierenden Protegés. Freddie wird in psychoanalytischen Sitzungen und Rückführungen in vergangene Leben zum Versuchskaninchen, bleibt aber ein Schoßhündchen mit Tollwut. Bei der Entourage vom „Master", bei Frau, Tochter, Sohn und Schwiegersohn, ist der ungebildete Neue nicht gut gelitten. Vor allem weil er, immer wenn die Methode des Meisters angefeindet wird, einfach mal losprügelt. Dabei will die Gemeinschaft mit dem Namen „Cause" (Ursache) doch gerade durch Überwindung der Traumata aus früheren Leben solche „Millionen Jahre alten" Verhaltenweisen hinter sich lassen. Aber Dodd hält zu seinem Quell und in seinem bald veröffentlichten zweiten Buch kommt der Begriff „Quelle" auffällig häufig vor - ein sinnreiches Wortspiel, das im amerikanischen Original nicht ganz so offensichtlich ist...

Der lang erwartete neue Film von P.T. Anderson ist großes, intensives Kino. Gedreht im königlichen 70mm-Format, für das sich wohl kaum noch ideale Abspielkinos finden lassen. „The Master" ist außerdem keine Abrechnung mit den Scientologen oder die Demontage eines Sekten-Führers. Dodds Ideen, etwa dass Nackenschmerzen von Verletzungen aus früheren Leben stammen können, haben mehr Gewicht als die engstirnigen Vorwürfe seiner Gegner. Philip Seymour Hoffmans Figur ist vor allem in der Beziehung zu Freddie tragisch (und wie immer ein Schauspiel-Leckerbissen). Freddie hingegen wird von Joaquin Phoenix mit Hasenscharte, schiefem Mund und krummen Rücken so kraftvoll deformiert gegeben, dass diese Nummer ein weiterer Grund ist, „The Master" noch mal zu sehen. Neben dem durchgehend unterliegenden, mal irritierenden, mal in Schwebezustände versetzenden Score von Jonny Greenwood und den Bildern von Mihai Malaimare Jr.

Wieso bei Dobbs Methode aus dem „recall" (erinnern) ein kreatives „imagine" (sich vorstellen) wird, kann man sich dann in Ruhe überlegen. Auch, ob an der herrlichen Geschichte des beleidigten Masters, er und Freddie hätten einst in einem von den Preußen belagerten Paris erfolgreich Postballon verschickt, etwas dran ist. Pur genießen kann man Dobbs Abschiedslied für seinen Seemann, „I'd love to get you on a slow boat to China, All to myself alone"...

Venedig 2012 Du hast es versprochen / Alex Schmidt

Viel versprechen brauchte man sich nicht von dem deutschen Starter „Du hast es versprochen" in der Mitternachts-Schiene. Dass die junge Berliner Regisseurin Alex Schmidt mit ihrem ersten Kinofilm überhaupt direkt in Venedig landet, war schon eine Riesenüberraschung. Dementsprechend groß das Interesse, wurde der Film vor der Gala-Premiere auch nur zwei Mal im kleinsten Festivalkino gezeigt.

Dass etwas Grausames geschehen ist und wird, zeigen die ersten Bilder im winterlichen Weiß mit blutigen Tupfern. Zwei Mädchen wagen sich in einen abgelegenen Bunker. Hanna, die gerade Geburtstag feierte, erzählt zur Spannungssteigerung eine Schaudergeschichte und tatsächlich taucht eine weitere Gestalt aus dem Dunkeln auf. Kurz darauf rennen Hannah und ihre Freundin Clarissa schreiend und blutend aus dem Wald. Zurück bleibt eine Narbe an Hannahs Hand und ihre Abneigung, den Geburtstag zu feiern. 25 Jahre später garniert die mittlerweile als Ärztin arbeitende Hanna (Mina Tander) das festliche Essen zu diesem Anlass mit der Enthüllung, sie wisse von der Geliebten ihres Mannes. Wie gerufen kommt da die Freundin Clarissa (Laura de Boer) aus der Vergangenheit zurück. Zusammen mit Hannas Tochter Lea reisen sie zur Ferien-Insel der Kindheit, heute ein ziemlich heruntergekommener, menschenarmer Ort. Es erwartet sie ein kleines Mädchen, das bedrohliche Zeichnungen hinterlässt. Ein Geist, der eine vergangene Tat rächen will? Langsam erinnert sich Hanna...

Handwerklich sehr reif bedient die 34-jährige deutsche Regisseurin Alex Schmidt das Horror-Genre. Dabei erweisen sich die sehr lauten Schocker im ersten Teil als vielleicht unnötiges Warm-Up für einen dann doch raffinierteren Psycho-Thriller mit in Nuancen überraschendem Ausgang. Dass man jedoch einen Großteil des Films dachte, das kennt man alles schon, trübt den Spaß in der Mitternachts-Schiene, die genau für solche Genre-Werke gedacht ist. Das Spiel von Mina Tander („Maria schmeckt's nicht") als Opfer und Täterin ist etwas feiner als das der Gegenspielerin Laura de Boer. Sehr viel Spaß macht Katharina Thalbach als alte Hexe, während Max Riemelt als Inselfischer nicht gefordert wird. Insgesamt ein spannendes Vergnügen auf das man sich im Kino freuen darf - Start am 1. November - und eine Regie-Entdeckung, der man noch einige andere Stoffe wünscht.

Venedig 2012 È stato il figlio / Daniele Ciprì

Gab es da nicht für frühere Touristen Warnungen vor einheimischem Essen? Auf Festivals übertragen heißt das: Vorsicht mit einheimischen Wettbewerbsbeiträgen! Also in Cannes die Franzosen meiden, in Venedig die Italiener und - ja auch - in Berlin die Deutschen. Zu ungefiltert kommen zu viele Man-kennt-sich-ja-Filme in die Auswahl. Diese persönliche Regel bestätigte sich wieder einmal mit Daniele Ciprìs „È stato il figlio": Dieser sich in Palermo volkstümlich gebende Erzähldurchfall um eine pitoresk arme Familie war unerträglich nervig und witzlos, auch weil er dauernd komisch sein wollte. Selbst die Zirkusmusik in Kopie von Piovani bläute einem das noch mal ins Ohr. Die überzeichneten Komödien-Typen waren: Dicke, Zwerge, Taube, Blöde. Dazu eine Inszenierung voll mit unnötigen Mätzchen und fertig ist das erste Ärgernis im Wettbewerb.