30.4.12

Tomboy

Frankreich 2011 (Tomboy) Regie: Céline Sciamma mit Zoé Héran, Malonn Lévana, Jeanne Disson, Sophie Cattani, Mathieu Demy 84 Min. FSK ab 6

Sie gleiten durch den prallen Sommer fast wie im Traum: Ein Vater (Mathieu Demy) lässt sein Kind auf dem Schoß lenken, eine Hand segelt im Fahrtwind, Beine baumeln über der Tiefe. Die Figuren in Céline Sciammas schönem Film sind direkt nah und sehr präsent. Die Familie ist umgezogen, es gibt ein neues Kinderzimmer mit blauen Wänden. Draußen warten schon die anderen Kinder vom Wohnblock. Mickaël findet in Lisa schnell eine Freundin. Es wirkt androgyn, dieses Kind, das Lisas Einordnung als Junge gerne aufgreift, denn zuhause nennt man sie Laure. Der Film muss sich da nicht so schnell festlegen, kann das Geschlecht länger reizvoll in der Schwebe halten als die Sprache.

Weil die hochschwangere Mutter im Bett liegen bleiben muss, kümmert sich Laure (Zoé Héran) liebevoll um die kleinere Schwester Jeanne (Malonn Lévana). Die mit rosa Ballett-Tüll die Rolle voll erfüllt. Draußen imitiert Mickaël nach netten Bewegungs- und Veraltensstudien die Jungs, zieht sich das T-Shirt beim Fußball aus und spuckt maskulin auf den Platz. Nur beim Stehend-Pinkeln gibt es Probleme. Der unerlässliche Blick in den Spiegel kopiert die abgeguckten Gesten. Fürs Schwimmen schneidet Laure den Badeanzug ab und stopft sich ein Genital aus Knete in die Hose. Das Ersatz-Geschlecht kommt abends zu den ausgefallenen Milchzähnen - es gibt einige Umbrüche im Leben eines Kindes. Eine Menge Mühen für den richtigen Platz im Leben und alles muss Laure alleine regeln. Nur die kleine Jeanne lügt irgendwann für ihr Alter erstaunlich raffiniert mit. Aber es sind Ferien, kein Erwachsener will richtige Namen wissen und auch der Film erzählt leicht und undramatisch. Erst als Lisa „ihn" verliebt küsst, wird es komplizierter mit der Geschlechts-Identität.

Transvestit oder transsexuell - großen Worte passen nicht zur Leichtigkeit dieser Geschichte. „Tomboy" ist kein „Problemfilm". Viel zu sehr packt das faszinierend androgyne Spiel von Zoé Héran, wie überhaupt die tollen Kinderdarsteller mit ihrem sehr natürlichen Verhalten der Regisseurin Céline Sciamma besonders hoch anzurechnen sind. Bei all den weichen, hellen Bildern sticht eines heraus, das die Sorgfalt hinter den so selbstverständlich wirkenden Kompositionen verrät: Im Wald hängt das zurückgelassene Kleid über einem quer liegenden, abgestorbenem Baum während Laure in Jungenklamotten weg geht.

Schon mit „Water Lilies", der ersten Liebe von zwei Synchronschwimmerinnen, beobachtete Sciamma sanft, wie Gefühle nicht zu Konventionen passen. Damit ist „Tomboy" eher mit Alain Berliners Komödie „Mein Leben in Rosarot" verwandt als mit dem dramatischen „Boys dont cry", dem Oscar-Film 2000 mit Hilary Swank. Erst die Grausamkeiten der Kinder und der in ihrer Liebe verletzten Lisa deuten die schrecklichen Kämpfe an, die Laure vielleicht bevorstehen. Doch die letzte Szene eines Neuanfangs kurz vor Schulbeginn gibt mit einem Lächeln Hoffnung.

Tomboy

Frankreich 2011 (Tomboy) Regie: Céline Sciamma mit Zoé Héran, Malonn Lévana, Jeanne Disson, Sophie Cattani, Mathieu Demy 84 Min. FSK ab 6

Sie gleiten durch den prallen Sommer fast wie im Traum: Ein Vater (Mathieu Demy) lässt sein Kind auf dem Schoß lenken, eine Hand segelt im Fahrtwind, Beine baumeln über der Tiefe. Die Figuren in Céline Sciammas schönem Film sind direkt nah und sehr präsent. Die Familie ist umgezogen, es gibt ein neues Kinderzimmer mit blauen Wänden. Draußen warten schon die anderen Kinder vom Wohnblock. Mickaël findet in Lisa schnell eine Freundin. Es wirkt androgyn, dieses Kind, das Lisas Einordnung als Junge gerne aufgreift, denn zuhause nennt man sie Laure. Der Film muss sich da nicht so schnell festlegen, kann das Geschlecht länger reizvoll in der Schwebe halten als die Sprache.

Weil die hochschwangere Mutter im Bett liegen bleiben muss, kümmert sich Laure (Zoé Héran) liebevoll um die kleinere Schwester Jeanne (Malonn Lévana). Die mit rosa Ballett-Tüll die Rolle voll erfüllt. Draußen imitiert Mickaël nach netten Bewegungs- und Veraltensstudien die Jungs, zieht sich das T-Shirt beim Fußball aus und spuckt maskulin auf den Platz. Nur beim Stehend-Pinkeln gibt es Probleme. Der unerlässliche Blick in den Spiegel kopiert die abgeguckten Gesten. Fürs Schwimmen schneidet Laure den Bikini ab und stopft sich ein Genital aus Knete in die Hose. Das Ersatz-Geschlecht kommt abends zu den ausgefallenen Milchzähnen - es gibt einige Umbrüche im Leben eines Kindes. Eine Menge Mühen für den richtigen Platz im Leben und alles muss Laure alleine regeln. Nur die kleine Jeanne lügt irgendwann für ihr Alter erstaunlich raffiniert mit. Aber es sind Ferien, kein Erwachsener will richtige Namen wissen und auch der Film erzählt leicht und undramatisch. Erst als Lisa „ihn" verliebt küsst, wird es komplizierter mit der Geschlechts-Identität.

Transvestit oder transsexuell - großen Worte passen nicht zur Leichtigkeit dieser Geschichte. „Tomboy" ist kein „Problemfilm". Viel zu sehr packt das faszinierend androgyne Spiel von Zoé Héran, wie überhaupt die tollen Kinderdarsteller mit ihrem sehr natürlichen Verhalten der Regisseurin Céline Sciamma besonders hoch anzurechnen sind. Bei all den weichen, hellen Bildern sticht eines heraus, das die Sorgfalt hinter den so selbstverständlich wirkenden Kompositionen verrät: Im Wald hängt das zurückgelassene Kleid über einem quer liegenden, abgestorbenem Baum während Laure in Jungenklamotten weg geht.

Schon mit „Water Lilies", der ersten Liebe von zwei Synchronschwimmerinnen, beobachtete Sciamma sanft, wie Gefühle nicht zu Konventionen passen. Damit ist „Tomboy" eher mit Alain Berliners Komödie „Mein Leben in Rosarot" verwandt als mit dem dramatischen „Boys dont cry", dem Oscar-Film 2000 mit Hilary Swank. Erst die Grausamkeiten der Kinder und der in ihrer Liebe verletzten Lisa deuten die schrecklichen Kämpfe an, die Laure vielleicht bevorstehen. Doch die letzte Szene eines Neuanfangs kurz vor Schulbeginn gibt mit einem Lächeln Hoffnung.

29.4.12

Project X

USA 2012 (Project X) Regie: Nima Nourizadeh mit Thomas Mann, Oliver Cooper, Jonathan Daniel Brown, Dax Flame 88 Min. FSK ab 16

Thomas (Thomas Mann, sic!), ein völlig blasser Schüler, den selbst sein Vater ihn für einen ‚Loser' hält, wird 17. Er will sich mit einer großen Party etwas Ansehen verdienen und selbstverständlich „seine Jungfräulichkeit verlieren" - gibt es ein lahmeres und mehr ausgelutschtes Thema? Was in meisten US-Jugendfilmen eine Episode ist, füllt hier den ganzen Film. „Project X", die Mega-Party bei abwesenden Eltern, ist ein alkohol- und pool-feuchter Kleinjungen-Traum, bei dem pünktlich zum Anfang der Party (wie uncool!) rudelweise Models einfallen und sich die Tanzfläche in Sekunden fröhlich bevölkert (wie unrealistisch!). Zuerst fliegt Muttis dämlicher Köter weg, Junior versucht noch nüchtern, den Wagen von Daddy zu retten. Dann kommt der Werbefilm für Koma-Saufen und Ecstasy groß in Fahrt. Die anarchische Zerstörungswut greift exponential um sich, am Ende steht die Polizei einem Viertel in Aufruhr gegenüber, ein Drogendealer fackelt alles mit einem Flammenwerfer ab und aus der Party wurde ein Katastrophenfilm. Die Kontrollanrufe der Eltern zwischendurch, während im Hintergrund der Garten entflammt, tragen zum Spaß bei; eine ganze Reihe nackter Brüste muss wohl bei der Altersgruppe sein. Denn es geht um 17-Jährige, die sich wie 11-Jährige verhalten, was die meisten 16-Jährigen, welche erst diesen Film sehen dürfen, auch kindisch finden werden.

Nach dem Positiv-Beispiel „Chronicle" zeigt „Project X" mal wieder unnötigen, sinnlosen Gebrauch von subjektiver Kamera. Trotz der behaupteten Amateur-Aufnahmen sind die Bilder vor allem im Partygewühl hochprofessionell, ebenso wie die „spontanen" Aktionen bei der sehr lässig ein paar Stunden organisierten Feier. Die persönliche Entwicklung der Jungs ist selbstverständlich gleich Null, aber es passiert schön viel, was in einem guten Rhythmus montiert wurde. Da gibt es auch mal einen stillen Moment, während die Polizei vor der Tür steht und sich an die Tausend Gäste (?) im Garten verstecken. Nun halt man so was tatsächlich früher mal selber gemacht und es wurde vielleicht auch mal etwas voller als geplant. Doch so was haben eindeutig die wenigsten in ihrer Jugend miterlebt. Und irgendwie misstraut man nach diesem tatsächlich stellenweise spaßigen Film-Erlebnis jedem Teenager, der behauptet, er hätte „aus Versehen" bei Facebook bei der Einladung auf den Button „öffentlich" gedrückt.

Bel Ami

Großbritannien 2011 (Bel Ami) Regie: Declan Donnellan und Nick Ormerod, mit Robert Pattinson, Uma Thurman, Christina Ricci, Kristin Scott Thomas, Colm Meaney, Philip Glenister 102 Min. FSK ab 12

Pattinson oder Maupassant. Vampire oder ein noch älterer, französischer Autor. Es hängt alles davon ab, von welcher Kultur-Ecke man sich diesem „Bel Ami" nähert. Eine mäßige Literaturverfilmung mit einem schwachen Hauptdarsteller sehen die einen, den „Twilight"-Helden Edward Cullen in komischen Kostümen die anderen. Aber die wissen ja, dass ihr Liebling schon einige Epochen überlebt hat. Also wird ihm auch dieser Ausflug in eine halb-seriöse Produktion nichts anhaben.

Der junge Kriegsveteran Georges Duroy (Robert Pattinson) darbt verarmt im rauschenden Paris. Algerien oder Afghanistan, irgendeiner dieser Kriege spuckte ihn ohne Bildung oder Vermögen aus, mit dem letzten Geld will er sich im Variete etwas Sex kaufen und trifft einen ehemaligen Vorgesetzten. Diese Begegnung wird Georges Leben nachhaltig verändern. Der Zeitungsredakteur Charles Forestier (Philip Glenister) stellt ihn ein, den Text über seine Algerien-Erfahrungen - es ist um 1890, Frankreich musste noch um diese Kolonie kämpfen - schreibt praktischerweise direkt Forestiers Ehefrau Madeleine (Uma Thurman). Überhaupt sind es die Frauen, die alle Fäden in den behandschuhten Händen halten. Bis hin zum Regierungswechsel - die man zwar noch in Herrenrunde bei Zigarrenrauch beschließt, doch die Entscheidung fiel längst in Madeleine Forestiers Salon.

So schläft sich Georges durch die Damenriege und über sie hoch. Clotilde de Marelle (Christina Ricci) liebt ihn aufrichtig, Madame Rousset (Kristin Scott Thomas), die Frau des Herausgebers Monsieur Rousset (Colm Meaney), kann den Avancen des jüngeren Mannes nicht widerstehen. Und selbst die sehr kluge Madeleine lässt sich vom immer gerissener werdenden Intriganten vormachen, er hätte ein Herz. Nach dem Tod ihres Mannes geht sie aus rein praktischen Gründen eine Ehe mit dem neuen Klatschspalten-Schreiberling Georges ein. Er wird gebraucht, weil die intelligentere Frau nicht selbst veröffentlichen kann. Dass er glaubt, endlich am Ziel seines Schmachtens zu sein, dass er die überlegene Frau gegen alle Vernunft als Liebesobjekt besitzen will, macht seine verletzte Rache später um so brutaler. Doch der ungebildete Emporkömmling, der immerhin schnell lernt, wird noch ein Opfer zugrunde richten. Jetzt starrt die (Salon-) Gesellschaft mit Schrecken auf das Monster, das sie geschaffen hat. Das mit den herzlosen Wesen kennen wir wiederum schon von den Vampiren...

Wieder ist Pattinson schön, bemerkenswert schön. Zwar glitzert diesmal nicht seine Haut wie beim Vampir Edward, doch es glänzen die Augen der Damen in den Salons. Die Kriege für Öl oder Ähnliches, der unverschämte Reichtum, die schnellen Erfolge mit Börsen-Spekulationen, Politiker, die vor allem an den eigenen Reichtum denken - dieser „Bel Ami" von den Kinoregie-Debütanten Declan Donnellan und Nick Ormerod nach dem Roman von Guy de Maupassant ist eigentlich sehr aktuell. Doch diese Themen laufen nur als Dekoration mit, während die Dekoration zur Hauptsache wird: Pattinson mit nacktem Oberkörper und langen Unterhosen, die tollen Kostüme. Da „Bel Ami" vor allem wegen Robert Pattinson gesehen wird und nicht wegen einem Guy de Maupassant, könnte man sich die Ausstattung eigentlich sparen. Aber das forderte doch zuviel Transferleistung und würde bedeuten, es ginge um die Essenz einer Literatur und nicht um den Schein des „Twilight"-Stars. Wobei, wie schnell der Schnösel arrogant wird, das steht ihm. Existenzielles Drama hingegen müssen exzellente Schauspiel-Kollegen wie Kristin Scott Thomas übernehmen. Uma Thurman kann bei dem ersten Treffen Staunen und Verachtung gleichzeitig im Blick spiegeln. So lohnt es sich in einer doppelten Umkehrung der Verhältnisse dann doch wieder für die exzellente „Staffage" der Nebendarsteller diesen oberflächlichen Glanz von „Bel Ami" zu ertragen.

24.4.12

Totem

BRD 2011 Regie: Jessica Krummacher mit Marina Frenk, Natja Brunckhorst, Benno Ifland, Alissa Wilms, Cedric Koch, Fritz Fenne, Dominik Buch, Irmgard Pethke 86 Min.

Familie Bauer wohnt im Ruhrgebiet und wartet auf eine junge Frau. Fiona soll dort als Haushaltshilfe arbeiten. Die Art der Ausbeutung, die Inanspruchnahme der fremden Frau durch alle, nimmt bald sehr seltsame Züge an. Vater, Mutter, Tochter, Sohn leben für sich, Kommunikation untereinander findet nicht statt. Keinem fällt auf, dass Fiona einen Entschluss gefasst hat. „Totem" zeigt den Alltag im Leben einer Familie, der mit Erscheinen eines fremden Menschen aus den Fugen gerät.

Das Spielfilmdebüt von Jessica Krummacher feiert auf dem 68. Venedig Film Festival 2011 seine Weltpremiere. „Totem" wurde als Low Budget mit weniger als 30.000 Euro Barmittel in Bochum realisiert. Rätselhaft sind darin Auftauchen und Handeln der jungen Fiona, die als modernes Hausmädchen alles (mit-) macht. Die nicht richtig funktionierende Familie erhofft sich eine Veränderung, doch die Selbstaufgabe Fionas hat ein anderes Ziel. Ein gelungener Abschlussfilm mit reizvoll verschrobenem Hauskonzert der Psyche.

Das Leben gehört uns

Frankreich 2011 (La guerre est déclarée) Regie: Valérie Donzelli mit Valérie Donzelli, Jérémie Elkaïm, César Desseix, Gabriel Elkaïm 100 Min. FSK ab 6

Ungewöhnlich lebendig konfrontiert dieser sensationell erzählte Film mit schwerer Krankheit: Ein junges Paar kämpft in Paris um das Überleben ihres krebskranken kleinen Sohnes. Die autobiographische Geschichte der Autoren und Hauptdarstellern trifft ohne Larmoyanz ins Herz.

Stark schon die Rückblende auf ein sehr romantisches Kennenlernen von Romeo und Juliette, die tatsächlich so heißen. Ein Sommer mit Paradies-Äpfeln und Zuckerwatte, dann wird Adam geboren. Die als ganz groß gefühlten Probleme des ersten Kindes und das junge Glück mit begrenzten finanziellen Mitteln sind humorvolles Vorspiel. Irritierend eingeblendete Mikroskop-Aufnahmen von wachsenden Zellen und Körperinnerem deuten zunehmend bedrohlich voraus. Auch der ernste Blick der ansonsten hochkomödiantisch eingesetzten Kinderärztin trifft direkt. Der kleine Adam hat einen riesigen Tumor im Kopf, muss operiert werden.

Wie sich die schreckliche Nachricht in der Familie (mit Elina Löwensohn Schwester Juliettes) verbreitet, ist noch so eine grandiose Szene - diesmal wählt die breit gefächerte Musikklaviatur intensive Klassikbegleitung. Die Zusammengehörigkeit des räumlich getrennten Paares drückt sich direkt danach durch ein Liebesduett im Stile eines Musicals aus. Dann wird es verrückt romantisch, wenn Romeo und Juliette aus dem Marseiller Krankenhaus abhauen, um am Meer zu spazieren. Einem aufgepeitschten, grauen Meer.

„Das Leben gehört uns" ist autobiographisch inspiriert: Valérie Donzelli und Jérémie Elkaïm waren ein Paar und hatten ein Kind, das schwer krank wurde. Zusammen schreiben sie das Drehbuch. Donzelli inszenierte und beide spielten sich nun selber. Also ein Volltreffer in Sachen Authentizität, doch notwendige Bedingung für guten Film war dies noch nie. Was diese „Kriegserklärung" (so der Originaltitel) an die Krankheit zu einer Sensation macht, ist die eindrucksvolle Beherrschung der filmischen Mittel. Vieler verschiedener filmischer, musikalischer, inszenatorischer und erzählerischer Mittel. Valérie Donzelli zeigt ein enorm kraftvolles Kino, wie es Leo Carax früher machte. Gleichzeitig verspielt und fein. Da öffnen sich runde Blenden, die Truffaut in den Antoine Doinell-Filmen gebrauchte, auch die sachliche Off-Erzählung ist eine schöne Referenz in diese Richtung. Adams Spieluhr klimpert mit der Internationalen, überhaupt ist alles anders als man bei den üblich kitschig-rührseligen Filmen ähnlicher Thematik wie etwa „Lorenzos Öl" erwartet. Beim ersten CT-Scan wird Juliettes äußerst expressives, panisches Rennen von einem gescratchten Sound begleitet. „Der Triumph des Lachens" lautet eine Zeitungs-Schlagzeile und der Film baut auf diese Hilfe in schwersten Lebenslagen: In der Nacht vor der Operation erzählen sich Romeo und Juliette von ihren Ängsten: Dass Adam erblindet. Dass er taub wird. Und stumm, kleinwüchsig, schwul, schwarz und noch Front National wählt.

Derweil werden die Diagnosen nur noch schlimmer, die Chemotherapie härter. Auch wenn sich die beiden auf einen langen Kampf vorbereitet haben, kommen sie an ihre Grenzen. Lakonisch folgen Besuche in Adams sterilem Krankenzimmer und kurze Ausflüge aufeinander. Dann ziehen sie in ein Elternheim direkt beim Krankenhaus, verkaufen ihre Wohnung. Beiläufig wird dann von der Trennung erzählt, während Romeo und Juliette auf dem Karussell über Paris fliegen und Lori Anderson „O Superman" singt. Superkräfte haben sie keine, doch diese außergewöhnlich und doch ganz normale Geschichte, berührt und beeindruckt enorm mit dem Überleben an sich.

American Pie: Das Klassentreffen

USA 2012 (American Pie Reunion) Regie: Jon Hurwitz, Hayden Schlossberg mit Jason Biggs, Alyson Hannigan, Chris Klein, Thomas Ian Nicholas 113 Min. FSK ab 12

Der Zoten- und Quoten-Hit „American Pie" war mit seinen noch schlechteren Fortsetzungen seit 2005 nur noch auf dem DVD-Sektor gefragt, es gab also Hoffnung auf Entwicklung der Menschheit und sogar des Kinopublikums. Doch jetzt wird das komödiantische Weichteil aus Anlass eines Klassentreffens (was ist schlimmer: American Pie oder Klassentreffen?) wieder aufgewärmt.

Die „American Pie Reunion" geht davon aus, dass sich pubertäre, hormonüberflutete Teenager dreizehn Jahre später wie pubertäre, hormonüberflutete Twens verhalten. Ehe bedeutet aus dieser Perspektive verkrampfter, heimlicher Sex, den jeder für sich allein betreibt, während das Kind stört. Auch das Bemühen, die für das Genre typisch peinlichen sexuellen Situationen zu erzeugen, wirkt sehr angestrengt. Da muss Jim Levinsteins (Jon Hurwitz) Unten ohne in der Wohnung rumstehen als „witzige" Szene herhalten. Am Strand auf Oben ohne schielen, füllt weitere Minuten und lockt vielleicht ein paar pubertäre, hormonüberflutete Teenager - die noch nie TV, Kino oder Internet hatten. Jim will nebenbei für seinen tatsächlich trocken komischen Vater, der nun Groucho Marx-Augenbrauen trägt, online eine neue Freundin besorgen. Papa macht dann noch die Besoffenen-Nummer und später Eheberatung. Zwischendurch denkt man, „kann das noch lahmer werden?" und selbst die Figuren bei der Wiedersehens-Party sagen genau das. Zwischen all ihren Beziehungs-Problem-Gesprächen.

Als Quintessenz des quälend uninspirierten Films müssen sich die Freunde gegenseitig klar machen, dass Leben auch nach der Highschool noch erfüllt sein kann. Was tatsächlich schwer zu verstehen ist, weil Jungs sich immer noch dauernd besaufen und prügeln, während die meisten Frauen weiterhin auf blond machen und kaum zu unterscheiden sind. Im Vergleich zu dieser „Reunion" waren Adam Sandlers „Kindsköpfe" hochphilosophisch darin, wie sie das Älterwerden auf den Arm und annehmen. Und „Alles erlaubt - Eine Woche ohne Regeln" wirkte in der Dialektik von virilen Jugendträumen zu der harten Aufreißer-Realität geradezu wie ein erkenntnisreicher Geniestreich. „American Pie" ist noch viel vorgestriger als 1999.

18.4.12

Friede, Freude, Eierkuchen

BRD 2012 Regie: Miriam Pucitta, Michael Chauvistré 87 Min.

Die Pose der Provinz beginnt mit einem Fußball-Verein, der ein riesengroßes Stadion haben wollte. Alle Politiker nicken trotz leerer Kassen ab, denn grinsenden Projektmanager versprechen und grinsen. Der Oberbürgermeister ist auch gleichzeitig Fußballvereinsvorsitzender und wohl über noch ein paar Pöstchen mehr involviert. Doch ein wackeres Häuflein, deren schöne Wiesen zu Parkplätzen für die Fußball-Zuschauer werden sollen, leistet Widerstand. Es sind die Menschen, die im Grünen wohnen und kleingärtnern, die auf der vierspurigen Straße dann in die Stadt zur Arbeit fahren, zu den Leuten, die es nicht so grün haben. Engagiert treffen sie sich, demonstrieren mit Traktoren, proben Protest-Balladen und erreichen, dass die Autos nun im teuren Parkhaus gestapelt werden. Die Kleingärtner werden in herzerweichenden Szenen vertrieben, einem widerspenstigen Wirt das schöne Restaurant abgefackelt, beim ersten Spiel im neuen, monströsen Stadion stirbt fasst ein gegnerischer Zuschauer und alle sind begeistert: Friede, Freude, Eierkuchen...

Diese universelle Provinzgeschichte spielte sich tatsächlich in Aachen ab, der idyllische Winkel zwischen Zentrum und Autobahn heißt Soers, der Fußballverein ist mittlerweile finanziell wie sportlich eine Katastrophe. Michael Chauvistré hat sich mit genau beobachtenden Dokumentationen wie „Mit Ikea nach Moskau" (2001), „Mal sehen, was draus wird" (1990) oder der Leihweihnachts-Mann-Komödie „Schau mich nicht so böse an (1998) und dem raffinierten Ikea-Spielfilm „Pax" (1999) einen guten Namen gemacht. Doch Chauvistré sowie seine Lebens- und Arbeitspartnerin Miriam Pucitta waren diesmal sehr nah dran am Thema und an den Menschen, denn auch sie wohnen in der Soers und sollten einen Parkplatz voller Fußball-Prolls hinters Haus bekommen.

Es hätte eine Dokumentation mit Chauvistrés Humor, der oft an der Grenze zum Bösen und Schwarzen spielt, werden können. Kurz denkt man, dies ist eine heitere Lehrstunde in Sachen Graswurzelpolitik, Occupy Soers sozusagen. Investigativer Journalismus hätte ausgeleuchtet, wieso solch lokale Politiker sich ein Millionen-Grab nach dem anderen von mittlerweile nicht mehr so breit grinsenden Investoren andrehen lassen. Doch in diesem Film haben sich am Ende alle lieb. Selbst der mittlerweile abgesägte Obergrinse-Bär darf noch mal putzig vor den Kameras posieren. Der (beabsichtigte?) Effekt ist trotzdem eine nachhaltige Übelkeit angesichts dieser Zustände.

My Week With Marilyn

Großbritannien, USA 2011 (My Week With Marilyn) Regie: Simon Curtis mit Michelle Williams, Eddie Redmayne, Kenneth Branagh, Julia Ormond, Judi Dench, Emma Watson 104 Min. FSK ab 6

Man glaubt sie zu kennen und doch hält sich die Medienwelt dran, auch Jahrzehnte nach ihrem Tod im August 1962, irgendwelche Rätsel um Marilyn Monroe entschlüsseln zu wollen. Simon Curtis nähert sich in seinem wunderbaren Film „My Week With Marilyn" der Ikone geschickt von einer unverdächtigen Seite. Der junge, aufgeweckte und gebildete Colin Clark (Eddie Redmayne) aus bester britischer Familie will zum Kino und belagert 1954 hartnäckig die Schauspiellegende Sir Laurence Olivier (Kenneth Branagh). Endlich bekommt er die völlig unbedeutende Stelle des dritten Regie-Assistenten bei der Komödie „Der Prinz und die Tänzerin". Schnell dreht sich alles um den Filmstar Monroe (Michelle Williams), der nicht nur mit den üblichen Presse-Hyänen und einem Haufen Britishness konfrontiert wird, es muss auch größte Schwierigkeiten mit der Persönlichkeit von Laurence Olivier geben. Denn hier trifft der vielleicht größte Schauspieler seiner Zeit (meinen auf jeden Fall Shakespeare-Fans), der ein Star sein will, auf den größten Star, nicht nur seiner Zeit, der ernsthaft schauspielern will. Die unsichere, immer mal wieder von Tabletten oder Alkohol außer Gefecht gesetzte Marilyn wappnet sich zwar mit der wiederum auf ihrem Gebiet berühmt - und berüchtigten - Method Acting-Beraterin Paula Strasberg (Zoë Wanamaker), doch die Aufnahmen sind eine Katastrophe. Super-Ego und oft auch -Ekel Olivier macht immer genau das Richtige, um den letzten Rest Selbstbewusstsein des Sexsymbols zu untergraben. Beispielsweise indem er sie als solches bezeichnet. Der junge Colin hingegen scheint die auch erst Dreißigjährige zu verstehen und lässt sich verstehen, dass er „auf ihrer Seite ist". Zum anfänglichen Entsetzen aller Beteiligten wird Colin für ein paar Tage zu Monroes Ersatzdroge - Arthur Miller hat gerade aufgegeben. Der reale Colin beschreibt dies vierzig Jahre später in „The Prince, the Showgirl and Me" als seine erste Liebe.

„My Week With Marilyn" erzählt an sich schon eine sehr schöne Geschichte von den Kinoträumen, den scheinbaren Realitäten dahinter, die wiederum neue Träume werden. Dabei kann Regisseur Simon Curtis neben den gespielten Legenden auch ein paar aktuelle wie Judi Dench als grandiose Dame mit rührender Menschenkenntnis, Derek Jacobi als Bibliothekar und Kenneth Branagh als Laurence Olivier auf die Leinwand bringen. Der Shakespeare-Darsteller und -Regisseur Branagh arbeitet sich noch ein wenig an seinem großen Idol ab, dem er mittlerweile als Schauspieler, aber ganz sicher als Regisseur ebenbürtig wurde. Die Sensation von „My Week With Marilyn" ist jedoch, neben dem eindrucksvollen Jung-Darsteller Eddie Redmayne, eindeutig Michelle Williams. Sie setzt nach „Wendy and Lucy" (2008), „Synecdoche, New York" (2008) und „Blue Valentine" (2010) ihre Reihe eindrucksvoller Rollen fort. (Der Western „Meek´s Cutoff" wartet nach einem kleinen Kinostart im letzten Jahr noch auf die DVD-Auswertung.) Williams gelingt es gleichzeitig, die Illusion Marilyn zu erschaffen und eine eigenständige Figur für diesen Film zu kreieren. Ihre Selbstzweifel, die Verführungskünste, die echte oder gespielte Hilflosigkeit und Suche nach dem beschützenden Daddy, all das stimmt und bekommt mit einer recht bewussten Entscheidungen der Marilyn für die Rolle der Monroe noch eine besondere Note. So beglückt die Filmgeschichte mit schönen Anekdoten aber vor allem mit glaubwürdigen Menschen. Was in diesem Fall besonders schwierig war, gehören doch zwei von ihnen zu den sogenannten Ikonen des Kinos.

16.4.12

Im Reich der Raubkatzen

USA 2011 (African cats - Kingdom of courage) Regie: Alastair Fothergill , Keith Scholey 93 Min. FSK ab 6

Im Herzen Afrikas schießen spanische Könige aus der nun künstlichen Hüfte Elefanten und deutsche Neubauers filmen auf jeder dritten Farm. Noch ein „Naturfilm" mit atemberaubenden Aufnahmen macht die Steppe zur Region der Welt mit der größten Dichte an Naturfilmern seit Menschengedenken. Tatsächlich ist Ko-Regisseur Alastair Fothergill auch der Macher von den eindrucksvollen Dokumentationen „Unsere Erde" (2007) und „Deep Blue" (2003). Dass es noch mehr „menscheln" kann, wollte man sich nicht vorstellen, doch Disney macht's möglich: „Im Reich der Raubkatzen" werden Tiere nicht nur vermenschlicht, sondern auch zu Laien-Schauspielern in hochdramatischen Geschichten gemacht. An den beiden Ufern eines nur saisonal reißenden Flusses spielen sich die Sozialdramen zweier Raubkatzen ab: Löwenmutter Layla muss sich ihrer Konkurrentinnen erwähren, während Sita als alleinerziehende Gepardin mit fünf Kindern und ohne Hartz IV ihre eigenen Probleme hat. Das führt lakonischen Binsenweisheiten über den ewigen Kreislauf des Jagen und Gejagtwerdens für die Abteilung „Pädagogisch wertvoll" sowie zu ziemlich spannenden Szenen. Erstaunlich dabei immer wieder die Nähe zu den Subjekten vor der Kamera in faszinierenden Aufnahmen. Und ein Kunstwerk für sich ist im Original der sehr lebhafte Off-Kommentar von Samuel L. Jackson, mit stellenweise so pathetischen Phrasen, dass es an sich eine Lachnummer wird. (Einige Sätze hätten locker in „Pulp Fiction" gepasst.) Und ziemlich primitiv in den Legenden von Beschützern, Ernährern, folgsamen Weibchen und mutigen Müttern, deren Verdienstkreuz fast aus dem Fell aufblitzt.

In dieser erschreckenden Vermenschlichung und demagogischer Ausrichtung liegt „Im Reich der Raubkatzen" damit tatsächlich in der Tradition von „Die Wüste lebt" (1953), den die Produzenten beschwören: Packende Tiergeschichten gegen den Willen der unterbezahlten Protagonisten und zum Entsetzen von ernsthaften Natur-Dokumentaristen - so sie denn noch nicht ausgestorben sind.

Chronicle

USA, Großbritannien, 2011 (Chronicle) Regie: Josh Trank mit Dane DeHaan, Alex Russell, Michael B. Jordan, Michael Kelly, Ashley Hinshaw 84 Min. FSK ab 12

Es gibt untrügliche musikalische Marker für besondere Geisteszustände: Sollte jemand im Film (oder auch in ihrer Umgebung) plötzlich „Favorite Things" aus „Sound of Music" trällern, ist der Wahnsinn nahe. Siehe Björk in Lars von Triers „Dancer in the Dark". Erklingt Bowies „Ziggy Stardust", weiß man, dass es um Hybris geht: „But made it too far, Became the special man". Bis durch diese Selbstüberschätzung Andrew (Dane DeHaan) gefährlich abhebt, zeigt „Chronicle" Superhelden mal wirklich menschlich: Andrew, Matt und Steve wollen einfach nur spielen, nachdem sie von einer unbekannten Struktur in einem Erdloch mit Superkräften ausgestattet wurden.

Telekinetischer Spaß hält fortan das Trio zusammen, erst heben, dann schleudern sie Gegenstände, ohne sie anzufassen. Auf dem Supermarkt-Parkplatz verschieben sie Autos und lachen sich über die Suchaktionen der Fahrer schief. Irgendwann heben sie völlig losgelöst (ohne Drogen, Major Tom) ab, Matt hat herausgefunden, wie man sich selbst schweben und fliegen lassen kann. Der Trip durch die Wolken ist atemberaubend! Dass es doch noch super-dramatisch wird, liegt an den persönlichen Anlagen der Teenager, mit denen sie sorgfältig eingeführt wurden: Während Steve (Michael B. Jordan) als charmanter Typ im Mittelpunkt seiner Stufe steht und Matt (Alex Russell) sehr entspannt auf Philosoph macht, ist Andrew der stille Außenseiter mit einem Haufen Problemen. Die Mutter schwer krank, der Vater meist besoffen und gewalttätig. So rastet auch Andrew aus, als ein Raser ihr Auto bedrängt. Der Rüpel landet ferngesteuert in einem See neben der Straße. Danach wird Andrews Vater mit ganz neuen Kräften konfrontiert, von nun an lässt sich der Junge von niemandem mehr etwas gefallen. Selbst von seinen Freunden nicht. Ein weiterer cholerischer Akt und Steve fällt wie vom Blitz getroffen aus allen Wolken. „When the kids had killed the man, I had to break up the band"

„Chronicle" überzeugt nicht nur, weil ganz bodenständige Typen sehr nachvollziehbar mit ihren Superkräften umgehen. Die Entscheidung zwischen Gut und Böse bleibt die gleiche wie in „X-Men: Erste Entscheidung", nur während dort die Effekte überhand nehmen, bleibt die Kamera hier nahe bei den Figuren. Die Kamera, die übrigens fast komplett subjektiv von Andrew geführt wird. Doch diesmal ist dieser eigentlich überkommene Gag (siehe „Cloverfield") stimmig und die „Fliegende Kamera" ganz einfach nachvollziehbar, weil Andrew mit seinen telekinetischen Fähigkeiten die Kontrolle über die Kamera behält, auch wenn sie über ihm schwebt und ihn beobachtet. Das Video-Tagebuch, als das der Film angelegt ist, erobert neue Dimensionen, ohne dass die Logik dieser Perspektive überstrapaziert wird. (Zwischendurch helfen mal die Kamera einer netten Bloggerin und Überwachungsobjektive aus.) Auf der nächsten Ebene beschreibt „Chronicle" gar die Welt als Wille und Vorstellung, lässt aber Schopenhauer mit dem unbedingten Willen von Andrew gewaltig gegen die Wand knallen. Das eindrucksvoll getrickste Finale zeigt Teenage-Rebellion zerstörerischer als Aliens. Und behauptet, nur der Philosoph kann mit Superkräften umgehen. Den beiden jungen Kaliforniern Josh Trank und Max Landis (Jahrgang 1985) gelang ein bei aller Bodenhaftung sagenhafter Film mit „Donnie Darko"-Potential.

Chronicle

USA, Großbritannien, 2011 (Chronicle) Regie: Josh Trank mit Dane DeHaan, Alex Russell, Michael B. Jordan, Michael Kelly, Ashley Hinshaw 84 Min. FSK ab 12

Es gibt untrügliche musikalische Marker für besondere Geisteszustände: Sollte jemand im Film (oder auch in ihrer Umgebung) plötzlich „Favorite Things" aus „Sound of Music" trällern, ist der Wahnsinn nahe. Siehe Björk in Lars von Triers „Dancer in the Dark". Erklingt Bowies „Ziggy Stardust", weiß man, dass es um Hybris geht: „But made it too far, Became the special man". Bis durch diese Selbstüberschätzung Andrew (Dane DeHaan) gefährlich abhebt zeigt „Chronicle" Superhelden mal wirklich menschlich: Andrew, Matt und Steve wollen einfach nur spielen, nachdem sie von einer unbekannten Struktur in einem Erdloch mit Superkräften ausgestattet wurden.

Telekinetischer Spaß hält fortan das Trio zusammen, erst heben, dann schleudern sie Gegenstände ohne sie anzufassen. Auf dem Supermarkt-Parkplatz verschieben sie Autos und lachen sich über die Suchaktionen der Fahrer schief. Irgendwann heben sie völlig losgelöst (ohne Drogen, Major Tom) ab, Matt hat herausgefunden, wie man sich selbst schweben und fliegen lassen kann. Der Trip durch die Wolken ist atemberaubend! Dass es doch noch super-dramatisch wird, liegt an den persönlichen Anlagen der Teenager, mit denen sie sorgfältig eingeführt wurden: Während Steve (Michael B. Jordan) als charmanter Typ im Mittelpunkt seiner Stufe steht und Matt (Alex Russell) sehr entspannt auf Philosoph macht, ist Andrew der stille Außenseiter mit einem Haufen Problemen. Die Mutter schwer krank, der Vater meist besoffen und gewalttätig. So rastet auch Andrew aus, als ein Raser ihr Auto bedrängt. Der Rüpel landet ferngesteuert in einem See neben der Straße. Danach wird Andrews Vater mit ganz neuen Kräften konfrontiert, von nun an lässt sich der Junge von niemandem mehr etwas gefallen. Selbst von seinen Freunden nicht. Ein weiterer cholerischer Akt und Steve fällt wie vom Blitz getroffen aus allen Wolken. „When the kids had killed the man, I had to break up the band"

„Chronicle" überzeugt nicht nur, weil ganz bodenständige Typen sehr nachvollziehbar mit ihren Superkräften umgehen. Die Entscheidung zwischen Gut und Böse bleibt die gleiche wie in „X-Men: Erste Entscheidung", nur während dort die Effekte überhand nehmen, bleibt die Kamera hier nahe bei den Figuren. Die Kamera, die übrigens fast komplett subjektiv von Andrew geführt wird. Doch diesmal ist dieser eigentlich überkommene Gag (siehe „Cloverfield") stimmig und die „Fliegende Kamera" ganz einfach nachvollziehbar, weil Andrew mit seinen telekinetischen Fähigkeiten die Kontrolle über die Kamera behält, auch wenn sie über ihm schwebt und ihn beobachtet. Das Video-Tagebuch, als das der Film angelegt ist, erobert neue Dimensionen, ohne dass die Logik dieser Perspektive überstrapaziert wird. (Zwischendurch helfen mal die Kamera einer netten Bloggerin und Überwachungsobjektive aus.) Auf der nächsten Ebene beschreibt „Chronicle" gar die Welt als Wille und Vorstellung, lässt aber Schopenhauer mit dem unbedingten Willen von Andrew gewaltig gegen die Wand knallen. Das eindrucksvoll getrickste Finale zeigt Teenage-Rebellion zerstörerischer als Aliens. Und behauptet, nur der Philosoph kann mit Superkräften umgehen. Den beiden jungen Kaliforniern Josh Trank und Max Landis (Jahrgang 1985) gelang ein bei aller Bodenhaftung sagenhafter Film mit „Donnie Darko"-Potential.

Die Königin und der Leibarzt

Dänemark, Tschechische Republik, Schweden, BRD 2012 (En Kongelig Affære) Regie: Nikolaj Arcel mit Mads Mikkelsen, Alicia Vikander, Trine Dyrholm, David Dencik, Mikkel Boe Følsgaard 130 Min.

Da reist in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine aufgeweckte englische Adelige per Kutsche durch Dänemark, um ihren Gatten den dänischen König kennenzulernen. Bisher hat Caroline Mathilde (Alicia Vikander) nur ein Foto gesehen und nun muss sie bei der ersten Begegnung einen kindischen Typen erleben, der mehr an seinem Hund als an der Frau interessiert ist. Doch Christian VII (Mikkel Boe Følsgaard) erweist sich nicht als das Schlimmste an der neuen, von bigotten Priestern beherrschten Heimat. Ihre geliebten Bücher werden zensiert, schnell leidet auch Caroline Mathilde unter den Intrigen von Christians Stiefmutter, die ihren eigenen Sohn auf den Thron schieben will.

Diese Konstellation durchbricht dank eines Zufalls der Altonaer Arzt Johann Friedrich Struensee (Mads Mikkelsen). Der aufgeklärte Freidenker unterscheidet sich angenehm von den Höflingen Christians und wird zum Leibarzt, ja zum Freund, wie der kindische König meint. Struensee diagnostiziert auch schnell, dass die Schwachsinnigkeit nur Selbstschutz des von einem Pfaffen-Parlament zur Untätigkeit verdammten Königs sei. Mit Hilfe der Schauspiel-Leidenschaft des schwachen Herrschers, lehren ihn Struensee und die Königin, seine Rolle neu zu spielen. Angeleitet vom Aufklärer und Arzt setzt Christian Presse- und Meinungsfreiheit durch, schafft Folter und Leibeigenschaft ab, reformiert das Schulwesen und beschneidet die Privilegien des Adels. Sogar Voltaire schickt Fanpost an diesen plötzlich fortschrittlichen Staat. Der Adel schlägt jedoch zurück. Unter Führung der bösen Stiefmutter nutzt er die Affäre von Königin und Leibarzt, die sich nicht nur in der gemeinsamen Leidenschaft Literatur gefunden haben, um die Rebellion von oben zu stürzen. Die Affäre kostet Struensee schließlich den Kopf und drückt die Pausetaste in Sachen Fortschritt.

„Die Königin und der Leibarzt" erzählt von Johann Friedrich Struensee, Armenarzt im damals dänisch regierten Altona, der 1768 zum Freund des infantilen Königs Christian VII. und schließlich als Aufklärer zum heimlichen Herrscher wird. Freundschaft, Liebe und Macht bestimmt und zerstört das ungleiche Dreieck aus Leibarzt, Königin und Herrscher. Der Erfolg des Trios begeistert, die Naivität - oder ist es ein Machtrausch - mit der die Affäre gelebt wird, erstaunt, die unvermeidliche Tragödie kann daraufhin nicht mehr so hart treffen. Regisseur und Ko-Autor Nikolaj Arcel gelang ein guter, aber kein herausragender Kostümfilm. Dabei beeindruckt vor allem Bond-Bösewicht Mads Mikkelsen als Leibarzt. Der auffälligere Part des Mikkel Boe Følsgaard, des tragischen Narren im Königs-Kostüm, bekam den Darstellerpreis der Berlinale. Den Drehbuchpreis gab es zudem für Rasmus Heisterberg sowie seinen Ko-Autor und Regisseur Nikolaj Arcel.

Einmal ist keinmal

USA 2012 (One for the money) Regie: Julie Anne Robinson mit Katherine Heigl, Jason O'Mara, Daniel Sunjata, John Leguizamo 93 Min.

Katherine Heigl ist pleite, wie schön! Dass bedeutet, man würde sie nicht mehr auf der Leinwand sehen müssen. Nein, es ist nur ihre Figur Stephanie, die sich nie so richtig von der in einer gewissen Altersstufe wohl beliebten Klamauk-Schauspielerin lösen kann. Heigl („Beim ersten Mal") ist schauspielerisch überfordert mit allem, was mehr als Ulknudel sein soll. So dient die abgebrannte Stephanie erst als Scherzvorlage für ihre schräge Familie. Dann stolpert sie ohne Qualifikation in den Job einer Kopfgeldjägerin und ihr erster Auftrag ist ausgerechnet der Ex Joe Morelli (Jason O'Mara). Der ließ sie einst nach einer Nacht sitzen. Sie legte ihn danach flach - mit dem Auto und einem komplizierten Beinbruch. Nun ist Joes Kaution die höchste, der Polizist wird des Mordes verdächtigt. Völlig unbedarft stolpert Stephanie in ein gefährliches Milieu aus Zuhältern und Kampfsportlern, abwechselnd wird sie vom freundlichen Kautions-Kollegen Ranger (Daniel Sunjata) und ausgerechnet von Joe aus misslichen Situationen gerettet.

„Einmal ist keinmal" sollte ein erotisch aufgeladenes Katz- und Maus-Spiel werden. Dass schon ein mieses Drehbuch der Heigl keine Chance auf Rehabilitierung gibt, zeigt treffenderweise eine Duschszene: Von Joe mit Handschellen nackt an die Duschstange befestigt, befreit sie Ranger schließlich mit einem Dietrich. Nicht allein die Abwesenheit jeglichen Knisterns lässt die Szene scheitern, man fragt sich auch, wie massiv Duschstangen in den USA wohl eingemauert sind, dass selbst die blödeste Frauenfigur sich nicht selbst befreien könnte. Wie es der gefesselte Joe in der Schlussszene übrigens in Sekunden schafft. Das einzig Erstaunliche an diesem Film ist, wie er in jeder Hinsicht langweilt und scheitert: Angefangen beim Szenen-Geholpere des Drehbuchs geht dramaturgisch, schauspielerisch und vor allem romantisch-komödiantisch alles schief. Das macht Hoffnung auf ein baldiges Karriereende der Katherine Heigl.

Anton Corbijn Inside Out

NL 2012 Regie: Klaartje Quirijns 80 Min.

Die exzellente Dokumentation „Anton Corbijn Inside Out" begleitet den berühmten Fotografen von bekannten Musikern wie U2 oder Johnny Cash bei seiner Arbeit, an Orten seiner Kindheit, in der Familie und auch beim Sinnieren. Dabei gelingt der Regisseurin ein intimes Porträt sowohl des vielfältigen Künstlers und Musikfans, als auch des eigentlich sehr verschlossenen Menschen Anton Corbijn. Eine Filmperle.

Der 1955 in der niederländischen Provinz Südholland geborene Anton Corbijn wurde als Fotograf weltberühmt. Seine Aufnahmen und Musikvideos von Joy Division, Depeche Mode, R.E.M, U2, Miles Davis oder Björk sind mittlerweile Ikonen des Genres. Viele kennen sie, aber nicht den Mann hinter der Kamera. Die Niederländerin Klaartje Quirijns ändert das mit ihrer intimen Dokumentation „Anton Corbijn Inside Out" auf verblüffende Weise: Wir erleben den gefeierten Fotografen-Star mit Bono, Lou Reed oder Grönemeyer, die alle von ihm schwärmen. Auf Vernissagen sind die Königsfamilie und der Ministerpräsident anwesend. Doch der große, schlaksige Mann bleibt meist still, überlegt bei Interviewfragen lange und schwätzt nie. Und doch erfahren wir im Laufe des Films nicht nur von einer Kindheit als Sohn eines protestantischen Provinz-Priesters, der für seine vier Kinder nicht viel Liebe übrig hatte. Von der einsamen Jugend eines verschlossenen Jungen, der ganz für sich einen besonderen Blick auf die Welt entwickelte und von dem Vertrauen der Eltern, einen Berufsweg zuzulassen, den sie nie richtig verstanden haben. Die Regisseurin schafft es in ihren meist auf niederländisch sehr vertraut geführten Gesprächen sogar, sehr persönliche Bekenntnisse zu erlauschen. Von einem Corbijn, der sich selbst als verschlossen beschreibt und unfähig zu tieferen menschlichen Beziehungen. In einem besonders offenen Moment gesteht Corbijn, er glaubte immer, dass er als Mensch „nicht gut genug sei", deshalb wollte er als Künstler gut sein. Die ideale Grundlage für einen Workaholic, dessen Geschwister sich in vertraulichen Gesprächen viel Sorgen machen und der selbst im Laufe der mehrjährigen Dreharbeiten den schweren Schritt zu einer Auszeit macht.

Das Porträt als Künstler und Musikfan kommt dabei mit vielen Fotos und tollen Musikeinsätzen keineswegs zu kurz. Es fing an mit der niederländischen Rocklegende Herman Brood („Saturday Night"). Heute sehen wir Corbijn auf der Motivsuche mit U2 an einer Dubliner Mauer und am Strand. Mit Lou Reed und Metallica für deren Lulu-Projekt vor einem rostigen Schiff und - tatsächlich noch nervös - bei der Auswahl der Bilder im Hotelzimmer. Und einfach als Konzertbesucher bei der jüngeren Band Arcade Fire. Diese Musiker beschreiben Corbijn treffend als „passionate in a soft spoken way" - leidenschaftlich auf leise Art. Sehr reizvoll auch der „Making of..."-Teil zu „The American" mit einem Boule spielenden George Clooney. Der nach dem Joy Division-Porträt „Control" zweite Spielfilm der vielfältigen Künstlers Corbijn wird bei der Suche nach Locations und beim Dreh einiger Szenen begleitet. Man erkennt Momente des fertigen Films wieder und erfährt, dass ein Gassenlabyrinth tatsächlich wegen des optischen Reizes für das Finale aufgenommen wurde.

Die 1967 geborene Klaartje Quirijns arbeitet für das Fernsehen und wurde vor allem mit zwei politischen Dokumentationen bekannt, „The Brooklyn Connection" (2005) und „The Dictator Hunter", der 2008 für den Europäischen Dokumentarfilmpreis „Prix ARTE" nominiert wurde. Angesichts von „Anton Corbijn Inside Out" muss man von einem unentdeckten Talent sprechen. Wobei das Subjekt trotz seiner Verschlossenheit ein dankbares ist. Unter den vielen bekannten Porträts - etwa Mick Jagger im Drag mit Perücke - finden wir auch etwas irritierend Janis Joplin oder John Lennon. Tatsächlich sind dies inszenierte Selbstporträts Corbijns, die er immer wieder macht. Da passt zur Aussage der „Kunden", die sich nicht wirklich wiedererkennen, sondern etwas, was sie vielleicht gerne wären. Oder etwas, was Corbijn gerne wäre. Hier sucht sich der protestantische Junge die Ikonen, die diese Glaubensrichtung nicht bietet, in der Popkultur. Eine Schlüsselszene in dieser faszinierenden Dokumentation für Musik-, Foto- oder Film-Fans und auch für alle anderen.

Im Garten der Klänge

Schweiz 2010 (Nel giardino dei suoni) Regie: Nicola Bellucci 85 Min.

Er schaut sich seine Umgebung mit den Ohren an: Wolfgang Fasser erblindete in seiner Jugend langsam und sammelt heute Geräusche. Der Schweizer ist ausgebildeter Musik- und Physiotherapeut. So sehen wir ihn in der Natur der Toskana mit Blindenhund und speziellem, „sprechendem" Aufnahmegerät, aber auch mit seinen jungen Patienten, die er seit 1999 im Gebäude des Vereins „Il Trillo" behandelt. Die stark autistische und blinde Lucia öffnet sich auf einem Klangbett aus einem komatösen Zustand. Der große, kaum zu bändigende Ermanno stürzte sich bei seinem ersten Besuch auf eine Rehfiepe und kann nun immer wieder mit verschiedenen Instrumenten besänftigt werden. Der dreizehnjährigen Jenny lehrt Wolfgang Fasser, ihren Körper zu beherrschen und zu sprechen. Nur Andrea ist ein besonders schwieriger Fall, er beginnt immer zu weinen, wenn er das Akkordeon hört.

Fasser war in Zürich als Physiotherapeut erfolgreich, hatte ein gutes Einkommen. Doch er zog nach Italien, um etwas Neues anzufangen. Man sieht dem eher unscheinbaren, bescheidenen Endfünfziger keine besonderen Fähigkeiten an. Er spielt etwas Musik, ist im Dorf wohl bekannt. Wesensverwandt fügt der Film „Im Garten der Klänge" ohne großes Aufsehen die Leidenschaften des Therapeuten zusammen, der meint, er verstehe die autistischen Kinder nur, weil er blind ist. Fasser sucht die Antwort auf das Seufzen oder Stöhnen eines Kindes in den Geräuschen der Natur. Sobald er die richtige Resonanz findet, entsteht für das Kind eine neue Harmonie mit der Welt. Der Therapeut sagt es einfacher: „Jedes Kind kommt so daher, wie es ist, und wir machen zusammen die Musik, die dann erklingt." Das Glücksgefühl einer Verbindung von eigener Bewegung mit dem dadurch ausgelösten Klang am Klavier überträgt sich bis in den Zuschauer.

Dabei ist Fassers Aufmerksamkeit und Sorgfalt für kleinste Regungen der behinderten Kinder rührend. Gleichzeitig beeindruckt, wie der Blinde das eigene Leben meistert. Er lässt sich selbst nicht den Mut nehmen, als er auch noch schlechter hört und ein Hörgerät braucht. Traurigkeit klingt nur ganz indirekt aus seinem Inneren, als sein alter Blindenhund stirbt. Weiterhin macht er in einer eine Band mit, in der die Sehenden mit verbundenen Augen spielen.

Die preisgekrönte Dokumentation zeigt den blinden Schweizer Musik- und Physiotherapeuten Wolfgang Fasser bei seiner außergewöhnlichen Behandlung stark behinderter Kinder und beim unerschütterlichen Meistern des eigenen Lebens. Ganz auf diese faszinierende Figur und sein reiches Leben vertrauend, überzeugt der Film ohne weitere Kommentare. Er reiht sich ein in auffällig viele Schweizer Filme zum Thema Musik, von denen nur der herausragende „Across the Borders" über den Experimental-Musiker Fred Frith genannt werden soll.

Der berührende „Im Garten der Klänge" mit ein paar atemberaubend schönen Bildern gehört nicht zu den Dokumentationen, die sich toterklären. Einiges bleibt offen, so sehen wir immer wieder die Wirkung der Musik im Moment. Die fast wundersamen Erfolge in der Entwicklung der Kinder laufen über längere Zeitspannen ab und werden meist von den Eltern referiert. Mit Ausnahme der 13-jährigen Jenny, die im Laufe des Films lernt, verständlich zu artikulieren und schließlich auch alleine zur Schule geht. Dabei war dies in den ersten Szenen nur ein ferner Traum, denn nur mühsam bewegte sie sich an der Hand von Wolfgang in einem holperigen Tanz zur Musik durch den Raum.

Auch überlässt der Film die Einschätzung des besonderen aber sicher auch sonderbaren Menschen Wolfgang Fasser den Zuschauern. Als Einzelgänger ist er zwar im Dorf bekannt, beim Einkauf fragen ihn die Menschen um Rat, aber es ist keine intensivere Beziehung im Film zu sehen. So muss er letztlich wieder ohne Hund mit seinem Blindenstock die Resonanz mit der Welt finden und als Antwort Töne erhalten, die ihn weiterbringen. Das Publikum wird diese besondere Begegnung mit einem Mann und seiner eindrucksvollen Methode auf jeden Fall weiterbringen.

Der zerbrochene Klang

BRD 2011 Regie: Yvonne Andrä, Wolfgang Andrä 122 Min.

Zusammen mit dem deutsch-amerikanischen Musiker Alan Bern versucht die Musik-Dokumentation „Der zerbrochene Klang", eine Tradition des Zusammenspiels von jüdischen und Roma-Musikern wiederzubeleben, die in den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts im osteuropäischen Bessarabien Realität war. Anders als übliche „Tour-Dokus" hält dieser Film auch das partielle Scheitern seines Protagonisten fest, der nur schwer Theorie und Praxis zusammenbringen kann.

„Noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts lebten jüdische und Roma-Musikerfamilien in Bessarabien (dem heutigen Moldawien) zusammen, heirateten untereinander und musizierten gemeinsam. Diese jüdischen Klezmer- und Roma-Lautarmusiker formten eine einzigartige Musikkultur, die durch den Zweiten Weltkrieg zerstört wurde." Mit diesem Insert startet die Dokumentation „Der zerbrochene Klang" von Yvonne und Wolfgang Andrä ihre Suche nach einer vergessenen Art, zu spielen. Initiiert vom Amerikaner Alan Bern, der auch in Deutschland musikalisch tätig ist, und finanziert von der Europäischen Union, versuchen 14 Musiker, die sich 2008 als „The Other Europeans" neu zusammenfinden, den Klang eines idealisierten Bessarabiens zu rekonstruieren. In der multi-ethnischen Region am Schwarzen Meer, die von 1918 bis zur sowjetischen Besatzung 1940 Teil Rumäniens war und heute größtenteils zur Republik Moldawien gehört, solle es ein Miteinander der musikalischen Strömungen und der Volksgruppen von Juden und Roma gegeben haben.

Es ist die bekannte Suche nach einer ursprünglicheren Melodie, nach einem alten Motiv, vertraut auch aus Tony Gatlifs im ähnlicher Umgebung verorteten Spielfilm „Gadjo Dilo" oder ganz generell vom Ton-Ethnologen Alan Lomax. Alan Bern referiert mit alten Aufnahmen jüdischer Musik aus dieser Zeit, nur von der Lautar genannten Roma-Musik gibt es keine Dokumente. Sie seien sogar noch vor 20, 30 Jahren gelöscht worden, erzählt einer der Musiker im Film. So bauen sich die - wie Paul Brody - teilweise international bekannten Vertreter des Klezmers und der Lautar-Musik etwas aus gehörten Überlieferungen zusammen. Dabei gibt es allerdings nicht nur beim ersten Zusammentreffen Verständigungsprobleme, die sich auch nicht auflösen, als die Instrumente loslegen.

Man könnte ergründen, ob „Der zerbrochene Klang" als begleitender Feier-Film zu Tournee und CD von „The Other Europeans" geplant war. Herausgekommen ist zum Glück etwas anderes, eine Musikdokumentation mit mehr Text- als Musik-Anteilen sowie das Dokument des teilweisen Scheiterns eines Projekts, das trotzdem noch weiterläuft. Zentrale und tragische Figur ist Initiator Alan Bern. Schon bei den ersten Proben, noch in Klezmer- und Roma-Gruppe getrennt, steht eine Frage in beiden Räumen: „Was wollen wir eigentlich?" Vor allem die genial und in unfassbarer Geschwindigkeit improvisierenden Künstler der Gypsy-Musik, die durch Komponisten wie Goran Bregovic oder Bands wie „Taraf de Haidouks" weltweit populär wurde, lassen sich nur schwer auf eine weniger kapriziöse, ältere Form ihrer Musik runterbremsen. Der ungarische Cimbalom-Virtuose Kálmán Balogh zweifelt konstant, wenn seine Hände nicht über die Saiten fliegen. Den Praktikern Osteuropas, die immer noch spielen, um Geld zu verdienen, steht die Fraktion der Amerikaner gegenüber, die sich den Luxus einer Identitätssuche erlauben können. Das wird in intensiveren Porträts von vier beteiligten Musikern deutlich. Alan Bern begibt sich gleichzeitig auf die Suche nach den Wurzeln seiner jüdischen Familie in Edinet, im Norden Moldawiens. Dort, wo an den ersten zwei Tagen der deutschen Besatzung 1030 Juden erschossen wurden und nur noch 37 von ursprünglich 5000 Juden leben.

Deutlich wird, dass dieser Film wie auch das Projekt dem ausgeprägten jüdischen Traditionsbewusstsein entspringt. Nur scheitert der dozierende Akademiker Bern bei seinen vielen Ansprachen daran, seine aus der jüdischen Identität gründenden Gefühle von den Mitspielern im Klezmer erfolgreich einzufordern. Konzerte gibt es nach langen Auseinandersetzungen und Pausen trotzdem, die Musik macht großen Spaß und berührt. Hintergründe etwa zum Alltag der Roma-Musiker werden nicht referiert, sondern lassen sich entdecken, was angesichts der Hauptfigur des Films sehr angenehm ist. Wobei Berns akademische Ansprachen durchaus informativ sind, nur stimmt man seinem Kontrabass- und Tuba-Spieler Mark Rubin gerne bei, dass sowohl Klezmer als auch Lautar als Hochzeitsmusik, also Gebrauchsmusik von gesellschaftlichen Randgruppen beliebt wurde und in ihrer natürlichen Umgebung stärker wirkt, als in intellektuell oder kulturell überhöhten Kontexten.

11.4.12

Knerten traut sich

Norwegen 2010 (Knerten gifter seg) Regie: Martin Lund mit Adrian Grønnevik Smith, Pernille Sørensen, Jan Gunnar Røise, Petrus A. Christensen 81 Min.

Nach den Eingewöhnungsproblemen des kleinen Lillebror und seiner Familie im kleinen Dorf dreht sich diesmal alles um einen Fahrradunfall der Mutter und der detektivischen Aufklärungsarbeit. Mit Hilfe seines Gefährten Knerten - fantasielose Menschen meinen, das sei einfach ein Ast - findet Lillebror am Unfallort ein Stück zerstörten Blinker. Die vermutete Verschwörung gegen alle Radfahrer wird wahrscheinlich vom Bus-Chauffeur angeführt, der fährt wie eine Ramm-Sau. Und auch noch Mundharmonika spielt wie Charles Bronson einmal im Wilden Westen. Auch Karsten, der neue Junge im Ort, wird mit Western-Musik eingeführt und ist direkt verdächtig. Denn während Lillebror es sich kaum traut, mit dem Fahrrad zu fahren, setzt sich Karsten einfach ans Lenkrad eines Autos.

Der zweite Kinder-Film nach der Buchvorlage von Anne-Cath Vestly (in Norwegen sind beide ein riesiger Erfolg) bietet nicht nur den Spaß von zwei Perspektiven, in denen Knerten einmal nur ein Stück Holz und dann eine lebendige Figur ist. Passend zur königlichen Hochzeit im Fernsehen, lernt Knerten den Birkenzweig Karoline kennen. Die Liebesgeschichte zwischen den zwei Zweigen ist auch ein doppelter Identifikations-Boden für die kleinen Zuschauer. „Knerten traut sich" wurde sehr sorgfältig und liebevoll auf eine Weise inszeniert, die Kinder ernst nimmt und nicht unterfordert. Das Drehbuch wurde von Birgitte Bratseth ganz toll geschrieben, witzig, spannend und sympathisch. Nebenbei gibt es noch ernste Themen wie Fahrerflucht und Schuld sowie für den absurden Spaß eine herrlich verrückte Automechanikerin.

Sleeping Beauty DVD

Regie: Julia Leigh

Das Erstlingswerk von Julia Leigh erlebte seine Premiere im Wettbewerb von Cannes: Lucy, eine junge, attraktive Universitätsstudentin, finanziert sich ihr Studium mit allerlei Nebenjobs: Putzen im Café, Bürounterlagen kopieren, zu medizinischen Testzwecken Magensonden verschlucken. Auch Prostitution gehört in ihr Arbeits-Repertoire. Über eine Anzeige in einer Studentenzeitung gelangt sie zu einem außergewöhnlichen, aber lukrativen Job, in eine Welt erotischer Fetische. Alte Herren dürfen ihre Sexphantasien mit einer einzigen Einschränkung an ihr ausleben - keine Penetration. Lucy ist dabei betäubt. Doch schon bald überwältigt sie die Neugier, was in jenen Nächten mit ihr angestellt wird…
Die 1970 geborene Australierin Leigh sieht nur eine Weile nach Altherren-Film oder erinnert an Buñuels „Obskures Objekt der Begierde". Aber da gibt es auch die schwer einzuordnende junge Frau. Was treibt Lucy an? Sie weiß nicht, was mit ihr passiert, während sie schläft und in den Händen reicher, meist impotenter Männer ist, und doch verändert es sie. So gelang Leigh mit ihrer eindrucksvollen Hauptdarstellerin Emily Browning (Baby Doll aus „Sucker Punch") ein heftig packender und nachhaltig wirkender Film.

10.4.12

Monsieur Lazhar

Kanada 2011 (Monsieur Lazhar) Regie: Philippe Falardeau mit Fellag , Sophie Nélisse, Émilien Néron, Danielle Proulx 94 Min.

Monsieur Lazhar (Fellag) ist der neue Lehrer einer Grundschule in Montreal. Der 55-Jährige ist aus Algerien geflüchtet und seine Vorgängerin hat sich das Leben genommen. Sein pädagogisches Talent hält sich allerdings in Grenzen, er überfordert die Kinder beim Diktat und verändert nicht nur die Sitzordnung. Doch während alle Kollegen emsig unterdrücken, dass sich eine Lehrerin umgebracht hat, lassen ihn die traumatischen Folgen bei den Kindern nicht in Ruhe. Vor allem Simon (Émilien Néron), der die tote Lehrerin fand, und Alice (Sophie Nélisse) reagieren sehr auffällig. Dass Lazhar einen Weg aufzeigen kann, mit diesen Gefühlen umzugehen, liegt auch an seiner eigenen Vergangenheit, die er wiederum verschweigt.

Der Hauptdarsteller Fellag ist ein in Algerien bekannter Komiker und Schriftsteller, der in dieser Filmrolle direkt Herzen gewinnt. Dabei bleiben er und auch die Kinder sehr gewöhnlich im besten Sinne. „Monsieur Lazhar" ist nicht „bigger than life", er erzählt glaubhaft etwas vom Leben und dem schweren Umgang mit dem Sterben. Dies allerdings überraschend leicht und schön berührend.

Krieg der Knöpfe

Frankreich 2011 (La nouvelle guerre des boutons) Regie: Christophe Barratier mit Laetitia Casta, Guillaume Canet, Kad Merad, Jean Texier, Clément Godefroy, Ilona Bachelier 100 Min. FSK ab 6

Auf sie mit Gebrüll! Ganz kurz kann man noch lächeln über den Streit der Kinder aus den Nachbardörfern Longeverne und Velrans. Und staunen: Nachdem der große Lebrac (Jean Texier), bald Anführer der Longeverne-Bande, einige von Velrans beim Wildern erwischte, fliegt erst ein deftiges Schimpfwort hin und her. „Ihr Schlappschwänze!" Das muss sich der kleine Gibus (Clément Godefroy), der Zwerg der Truppe, erst mal erklären lassen. Doch Hauptsache, es gibt einen Grund, einander aufzulauern und zu verprügeln. Von nun an trifft man sich dazu jeden Donnerstag.

Es ist März 1944 in Südfrankreich, Vichy blickt im Klassenzimmer streng von der Wand herunter. Der besonnene, junge Lehrer Paul (Guillaume Canet) versucht Verantwortung füreinander und sozialen Umgang zu vermitteln. Der faschistische Museums-Führer sabbert beinahe vor Begeisterung bei seiner Hymne auf ein gestähltes klassisches Körperideal. Die nächste Attacke führen die Jungs von Lebrac deshalb in Unterwäsche aus - fast wie die alten, nackten Griechen. Obwohl das Großmaul Lebrac jede Bildung verweigert, interessiert ihn plötzlich die Lektüre der Punischen Kriege. Aus taktischen Gründen und wegen der neuen Schülerin Violette (Ilona Bachelier), die aus Paris kommt und eigentlich nichts mit den „Affen" vom Land zu tun haben will.

Doch längst zeigt die im großen Stil inszenierte Neuadaption eines Kinderklassikers, dass die Kriegsspiele kein Spaß mehr sind, auch wenn man weiter über den niedlichen Zwerg Gibus lachen kann. Die titelgebende Entfernung von Knöpfen der „Gefangenen" wird von Lebrac als Folter angekündigt und meist so gefilmt, dass die Messer auch Grausames anrichten könnten. Der richtige Krieg kommt schließlich richtig im Bewusstsein der Kinder an, als eine jüdische Familie abtransportiert wird. Das Kommando wollen Rabauken und ehemalige schlechte Schüler von Paul haben, denen selbst die Vichy-Uniform deutlich zu groß ist. Als der dicke Sohn vom dicken Bürgermeister seinen zweiten Verrat begeht und nun alle wissen, dass Violette eine geflohene Jüdin ist, muss der Widerstand aus dem Untergrund kommen und die Dorfgemeinschaft verbündet sich ebenso wie die Jugendbanden.

Christophe Barratiers Verfilmung von Louis Pergauds 1912 erschienenem Roman „Der Krieg der Knöpfe" schafft es trotz doppelter Kriegs-Thematik, ein „netter" Kinderfilm zu sein. Fast ein Wohlfühlfilm. Die neue Adaption, nach dem Klassiker von Yves Robert aus dem Jahre 1961, ist Großes Kino mit Kranfahrten für die weiten Landschaften, mit dickem Orchester für die kleinen Schlachten, mit tollen Schauspielern auch bei den Jugendlichen. Vor allem das Buch ist mit dem schwierigen Verhältnis von Lebrac zu seinem Vater (Kad Merad), mit der kleinen sowie der großen Liebesgeschichte zwischen Paul und Violettes „Patin" sehr sorgfältig geschrieben. Doch „Der Krieg der Knöpfe" ist kein Anti-Kriegsfilm, denn die Jungens aus den beiden Dörfern einigen sich nur auf einen Waffenstillstand, um den gemeinsamen Feind zu bekämpfen. Danach kann es wieder fröhlich weitergehen mit dem hirnlosen Köpfe-Einschlagen. Der skeptische Blick der Vorlagen auf ein unmögliche Zivilisation der kriegerischen Gattung Mensch ist völlig getilgt. Nur das Ziel, die Eroberung von Knöpfen, bleibt schön absurd. Übertragen lässt es sich auf alles, bis hin zum Spiel der Nachbarn Israel und Iran, die jeder für sich Atombomben sammeln wollen. Dann doch lieber Knöpfe.

9.4.12

Martha Marcy May Marlene

USA 2011 (Martha Marcy May Marlene) Regie: Sean Durkin mit Elizabeth Olsen, Christopher Abbott, Brady Corbet, Hugh Dancy 102 Min. FSK ab 16

Nur weg, schnell weg. Als die junge Martha (Elizabeth Olsen) in aller Stille von einer einfachen Farm flieht, weiß man noch nicht, weshalb. Doch man fürchtet sich sofort mit ihr. Martha landet bei ihrer älteren Schwester Lucy (Sarah Paulson) und deren Mann Ted (Hugh Dancy) in einem großen, abgelegenen Ferienhaus am See. Die Verängstigte wird aufgepäppelt, erzählt aber nichts. Nach einigen schwer verständlichen und extremen Reaktionen in dieser zivilisierten Umgebung erleben wir ihre Erinnerung mit. Die Farm auf der Martha zufällig landete, wirkt idyllisch. Männer und Frauen leben entspannt in einfacher Kleidung, teilen sich die Arbeit, genießen, musizieren. Von Patrick (John Hawkes), dem Anführer Landkommune, wird sie Marcy genannt. Doch es beginnt eine heftige Manipulation - anfangs ohne sichtbare Gewalt. Erst essen die Männer, die schweigenden Frauen bekommen die Reste. Ein Initiationsritual ist im Prinzip eine Vergewaltigung unter Drogen, aber die Psycho-Sekte schafft es, die Misshandelten trotzdem an sich zu binden. Flucht wird allerdings nicht toleriert. Nun sitzt Martha nur einige Stunden von ihrem ehemaligen Gefängnis entfernt bei der Schwester, in einem Haus, wie es früher von der Gang ausgeraubt wurde. Menschenleben waren den Anführern dabei egal. Und es häufen sich die Zeichen, dass sie die Spur von Martha entdeckt haben...

Regisseur und Autor Sean Durkin gelingt es auf sehr sublime Weise, seine spannende Geschichte zu erzählen, die von intensiven Atmosphären zwischen verträumt und „psycho" lebt. Geschickt zeigt er parallel, wie Martha sich zwei mal nacheinander anpassen muss: Auf der Farm und aber nach zwei Jahren „Freiheit" auch im engen bürgerlichen Leben, das sich selbst über Nacktbaden aufregt, geschweige über einen offenen Umgang mit Sexualität. So ist der Flüchtling mit seiner anderen Lebensphilosophie eine Bedrohung für das arrivierte Paar. Zudem steht zwischen den Geschwistern eine Kindheit ohne Mutter, in der Lucy für Martha sorgen musste. „Martha Marcy May Marlene" gibt nicht nur den Menschen andere Namen, er blickt auch aus veränderten Perspektiven auf feste Formen des Lebens. Die Klischees greifen dabei nicht - weder das Leben der Hippies noch Wohlstand bedeuten hier Freiheit.

The Grey

USA 2012 (The Grey) Regie: Joe Carnahan mit Liam Neeson, Frank Grillo, Dermot Mulroney, Dallas Roberts 117 Min. FSK ab 16

„Männer, die nicht in menschliche Gesellschaft passen". Schicksalsschwer erzählt der Wolfjäger Ottway (Liam Neeson) auf der Tonspur von seinem Hadern mit dem Leben. „Lebe und stirb heute Nacht, einmal noch in die Schlacht ein letztes Gefecht" lauten die wiederholten Zeilen eines Gedichts. Für einen Ölkonzern erschießt er im eisigen Alaska die Wölfe, setzt sich aber auch lange zum sterbenden Tier, um ihm den Tod ohne Angst zu ermöglichen. Nicht nur in den Gedanken, auch in den Bildern taucht immer wieder das Gesicht einer Frau auf. Ungewöhnlich für einen Film, der in vielen Momenten einfach Action sein könnte, fließen offene Assoziationen ein. Wer die Frau ist, wird einstweilen nicht beantwortet. Die auch bei den Stimmen nicht besonders gelungene deutsche Synchronisation bietet ein „Du bist gegangen...." an und man rätselt rückübersetzend, ob das englische „gone" für das Sterben gemeint sein könnte.

Dann geht es beim Rückflug ganz schnell nach unten. Aus einem Traum gerissen, stürzt Ottway eindrucksvoll ab. Es gibt nicht die vollen 10 Punkte, aber locker 9 1/2 bei den Haltungsnoten für diese Katastrophe. Ottway sammelt in einer Eiswüste die Überlebenden zwischen den Trümmern ein, denn den
Wolfsjäger greifen bald die Wölfe an, ein ganzes Rudel von Augen starrt das Häuflein gar nicht mehr so harter Bohrarbeiter aus der Dunkelheit an. Ottway weiß Einiges über Wölfe. Das meiste ist nicht ermutigend. Die erste Flucht durch tiefen Schnee geht zu einem weit entfernten Waldstück, der Wind pfeift und die Dämmerung naht. Das Rudel schlägt schnell zu, der Trupp wird dezimiert...

Liam Neeson, der Darsteller des Oskar Schindler, des Qui-Gon Jinn aus „Star Wars" und eines ehemaligen IRA-Attentäters in Hirschbiegels „Five Minutes of Heaven", ist ein sagenhafter Schauspieler, einer der allerbesten. Die eindrucksvolle Statur dieses Mannes kommt unter der dicken Winterkleidung nicht zur Geltung, doch packend der Kerl, der entschlossen mit den Wölfen kämpft, aber gleichzeitig zu viel Leid im Gesicht trägt, um noch weiter leben zu wollen. Dass ausgerechnet so ein Zerrissener, einen Haufen harter Männer anführt, damit sie nicht von den Wölfen zerrissen werden, ist ein schöner Hohn.

Dem Abschiedsbrief an seine Frau gesellen sich bei der verzweifelten Flucht immer mehr Brieftaschen und Familienfotos von Verstorbenen bei. Am schützenden Lagerfeuer tauscht man ein paar Geständnisse und Geschichten von Zuhause aus. Doch wenn es weiter gehen muss, ist letztendlich der Film wie die Wölfe zu gnadenlos: Nach einigen, teilweise wieder atemberaubenden Szenen bleibt nur Ottway übrig, das ist fast wie fast wie bei „Final Destination" einem wesentlich minderwertigerem Film. Die Geschichte kommt zu ihrem mythischen Kern erst am Ende. Schade dass diese Ebene zu unauffällig mitlief.

Regisseur Joe Carnahan, der bislang für hirnlose Action verantwortlich war („Smokin' Aces", „Das A-Team"), überrascht trotzdem mit diesem vielfältig spannenden und mehrschichtigen Männerfilm nach eigenem Buch auf Basis von Ian Mackenzie Jeffers' Kurzgeschichte „Ghost Walker".

Einer wie Bruno

BRD 2012 Regie: Anja Jacobs mit Christian Ulmen, Lola Dockhorn, Lucas Reiber 100 Min.

Bruno war einst ein Problem-Bär. Abgeschossen wurde das Thema, als man den dazugehörigen Problem-Ministerpräsident Stoiber nach Brüssel abschob. Nun ist Bruno ein Problem-Film. (Wohin kann man den Problem-Schauspieler Ulmen abschieben?) Der Komiker wagt sich als Bruno an eine dieser typischen Oscar-Rollen, wobei dies bei weitem kein Oscar-Film ist. So guckt er groß und simpel in die Kamera, bewegt den Mund langsam, quiekt aber auch zwischendurch sehr freudig. Kurz: Ulmen nervt, dies ist eine Nummer zu groß für ihn.

Bruno (Christian Ulmen) und Radost (Laura Dockhorn) leben zusammen. Bruno geht gerne in den Zoo, spielt Kaufladen und hat seinen Stofflöwen total gern. Radost kümmert sich um den Haushalt, kauft ein, kocht und streitet sich mit den Behörden. Radost ist die 13-jährige Tochter und Bruno der behinderte Vater. Da springt einem das Problem „Zu früh erwachsen, zu viel Verantwortung" direkt an und mindestens eine Stunde lang erzählt Anja Jacobs' Film vor allem „Problem, Problem, Problem". Das ist besonders problematisch für den Unterhaltungswert, was selbst die eingefleischtesten Ulmen-Fans bemerken werden.

In einem Hochhaus am Rande von Stuttgart spielen Bruno und Radost also nun normale Eltern für Frau Corazon von der Lebenshilfe. (Wird sie Herz zeigen?) Das „Sorgenkind" ist dabei das Mädchen, das in der Schule zu ernst und zu erwachsen ist. Erst als sich Radost in den blasierten Musiker Benny (Lucas Reiber) aus der Klasse verliebt, bricht Rebellion aus und der Film wird halbwegs interessant. Wenn das brave Mädel als echte Pubertierende das lustig dekorierte Bonanza-Rad des Vaters vom Balkon schmeißt, den jammernden Erwachsenen wieder vom Landschulheim nach Hause verfrachtet und sich beide schließlich parallel besaufen, bekommt der Film Intensität und Lebendigkeit.

Nun mag Bruno ja auch seine Tochter nerven, obwohl Radost eine Stunde lang nichts davon zeigt. Geduldig und still macht sie ihren Job. Aber das Aktieren von Ulmen fällt aus dem Film, dient ihm nicht und man glaubt auch nicht, dass die Filmemacherin Anja Jacobs besonders viel Recherche betrieben habe. „Freunde meiner Eltern (haben) einen geistig behinderten Sohn"... Na dann!

Bremsend demonstrativ wird derweil zum Nachdenken über Worte angeregt: Spacko, Sorgenkind, Forrest und Hirni hängt der Film quasi in Fettdruck in die Kamera. Dabei haben wir schon längst kapiert, aber noch lange nichts gefühlt. Es hilft auch nicht, dass die Musik kräftig nachhelfen muss, bei Nachhilfe für Benny und auch ansonsten bei jeder Stimmung. Ein Glanzlicht in Sachen Komik gibt es immerhin - als Radost und Benny samt aller Elternteile und Geschwister auf der Szene sind. Bezeichnenderweise sind die Nebenrollen stärker, wie der idiotische und gehässige Kollege Brunos im Supermarkt, der ihn mit dem Stapler vor die Wand fahren lässt. „Staplerfahren ist die echte Formel 1!" Auch der ganz unverklemmt verständnisvolle Chef ist ein Lichtblick, wenn er erklärt, dass solche Probleme ganz „normal" sind zwischen Vätern und Pubertierenden. Schade - einen tollen, unkonventionellen „Problemfilm" im Stile von „Renn, wenn du kannst" hätte man gerne gesehen. „Bruno" hat zu viele filmische Probleme.

2.4.12

Und wenn wir alle zusammenziehen?

Frankreich, BRD 2011 (Et si on vivait tous ensemble?) Regie: Stéphane Robelin mit Guy Bedos, Daniel Brühl, Geraldine Chaplin, Jane Fonda, Claude Rich, Pierre Richard 96 Min. FSK ab 6

Was verbindet man mit Jane Fonda und Pierre Richard? Wahrscheinlich irgendwas in Richtung Barbarella und großem Blonden. Lang vergangene Rollen also und nicht die Probleme des Alters. Dass könnte sich ändern mit „Und wenn wir alle zusammenziehen?", einem liebenswerten und zeitweilig herrlich frechen Film über eine Senioren-WG.

Der alte Linke Jean (Guy Bedos) will zwar Solidarität im Zusammenleben aber niemals einen dekadenten Pool im Garten, den Annie (Geraldine Chaplin) für die Enkel plant. Er will ausziehen, sie knöpft ihr Hemd auf, lässt ihr Haar herunter und bald ist alles wieder gut. Dass Sex und Alter keine Widersprüche sind, ist nicht erst seit Dresens „Wolke 9" bekannt. Als der Genießer Albert (Pierre Richard) immer öfter verwirrt die Orientierung verliert, zieht seine kämpferische Frau Jeanne (Jane Fonda) mit ihm zum befreundeten Paar. Auch Claude (Claude Rich) ist bei der 70+ Kommune dabei, wobei sich erst später in einer sehr komischen Szene herausstellen wird, wie aufgeladen diese Kombination ist. Als immer stärker involvierter Betreuer bekommt der Deutsche Dirk (Daniel Brühl), der eigentlich nur eine ethnologische Dokumentation über Altern in Europa erstellen wollte, seinen Raum.

Schon die vertrauten Nachbarn wie die Alten bei den australischen Ureinwohnern betrachtet zu sehen, schafft die komödiantische Distanz, um sich dem Tod (im Kino) angstfrei zu nähern. Dabei erzählt Stéphane Robelin in seinem zweiten Spielfilm nicht schamhaft: Claudes Herzinfarkt bei einer Prostituierten und Jeannes sexuelle Aufklärung für den jungen Dirk sind keineswegs eingerostet. So halten sich schöne, weise Momente mit kräftigem, frechen Humor gekonnt die Waage. Man verbringt gerne einen Abend mit dieser lebendigen, verrückten wie liebenswerten WG. Ein schöner Film, der allerdings gegen den jüngeren, aber in der gleichen Lebensphase angesiedelten „Best Exotic Marigold Hotel" verliert. Die erlesene Besetzung spielt die komödiantischen Rollen mit den nachdenklichen Momenten gekonnt runter. Vor allem Jane Fonda nutzt ihre Zeit auf der Leinwand. Das macht Spaß und berührt hin und wieder. Nachhaltig ist es nicht unbedingt.

Hinter der Tür

Ungarn, BRD 2012 (Az Ajtó / The Door) Regie: István Szabó mit Helen Mirren, Martina Gedeck, Károly Eperjes, Gábor Koncz 97 Min.

Sie lässt sich bitten. Emerenc (Helen Mirren) ist nicht irgendeine Haushälterin. Eifrig und verhärmt kehrt sie im Budapest der 60er Jahre die Bürgersteige, wäscht und kocht. Als die Schriftstellerin Magda (Martina Gedeck) mehr Zeit für ihren Roman haben will, soll Emerenc auch bei den Intellektuellen den Haushalt machen. Aber sie lässt sich bitten. Und ist ebenso stolz wie eigensinnig. Altmodisch wünscht sie beim Antrittsbesuch in der Villa mit Wänden voller Bücher „dem Gebieter einen guten Abend". Trinkgeld lehnt brüsk ab, aber eines Tages fegt sie den Schnee auch auf der Straßenseite Magdas.

Der „Gebieter", ein insgesamt eher profilloser Mini-Pascha, wird auch noch leidvoll erfahren, wen sie sich da ins Haus geholt haben. Doch die innige Konfrontation, die wechselhafte Beziehung bis über den Tod hinaus, führen von nun an Magda und Emerenc. Die Zugehfrau, wie man vielleicht im K&K-Tonfall stimmiger sagt, bleibt erstaunlich kühl, ja sogar richtig frech. Sie taucht immer wieder unerwartet im Haus der Dienstherren auf, leugnet aber, dass der Wurstteller in der Küche von ihr war. Magda lässt ihn daraufhin zu Scherben zerfallen und nimmt so den Kampf auf, was Emerenc mit einem respektvollen Lächeln quittiert. Die alte Frau lässt andere Menschen nicht nur sinnbildlich hinter einer verschlossenen Türe stehen. Sie lässt auch niemanden in ihre Wohnung. Weshalb, darüber gibt selbst die Polizei-Akte über die zickige Dame keine Auskunft. Ebenso faszinierend wie ihr Stolz ist die tragische Geschichte hinter der Tür.

Nicht so sehr Emerencs schreckliche Angst vor Gewittern, weil einst durch ihre Schuld drei Menschen starben, bestimmt diese Person. Es ist eine Episode aus dem Holocaust, in der die noch junge Frau ein jüdisches Kind als ihres ausgab und so unter großen Opfern ein Leben rettete. Der Dank blieb aus.

Besonders die kurz und trocken erzählte, schreckliche Gewitterepisode zeigt sehr schön den Stil der Autorin Magda Szabó (1917-2007), deren Roman „Die Tür" der nicht mit ihr verwandte Oscar-Preisträger István Szabó („Mephisto", „Zauber der Venus") unter anderem auch in NRW-Studios umsetzte. Die Farben haben Patina, aber auch das Licht von in der Erinnerung schöneren Sommern. Die Ausstattung gelang liebevoll und geht ganz in diese Figur auf, in diesen äußerst ungewöhnlichen und eigensinnigen Menschen. Während Helen Mirren eindrucksvoll hinter Emerenc mit ihrem Kopftuch verschwindet, gibt Martina Gedeck die eher staunende Stichwortgeberin, die Autorin, die mit arg begrenztem Mitgefühl Notiz nimmt und den Menschen für ihre Bücher verarbeitet.

Die Frauen kommen angeblich vom gleichen Landstrich, aber jetzt gehören sie eindeutig zwei verschiedenen Klassen an. Trotzdem ist die ungleiche Beziehung bewegend und auch immer wieder sehr komisch. Bald ist die Dienstmagd eigentliche Herrin und hat absolute Verfügungsgewalt über den Standplatz des hässlichen Porzellan-Boxers. Sobald Emerenc mit Kündigung droht, gehorchen ihr alle wie Magdas Hund aufs Wort.

Das historische Set bleibt zwar oft ohne weiteres Leben, ist eigentlich ein Zwei-Kammerspiel mit dazwischen liegender Straße. Doch die sichtbar begrenzten Produktionsmittel könnten durchaus gewollt und nicht Kompromiss sein. Denn die ganze Geschichte hält ihren eigenen Ton. Ein besonderer Film, ganz wie seine Hauptfigur, eigenwillig, unbedingt bemerkenswert.

Spieglein Spieglein - Die wirklich wahre Geschichte von Schneewittchen

USA 2011 (Mirror Mirror) Regie: Tarsem Singh mit Julia Roberts, Lily Collins, Armie Hammer, Sean Bean, Nathan Lane 106 Min. FSK o.A.

Ei verhext, das wird einen Aufstand geben beim Hexensabbat: Kommt da doch die Pretty Woman daher und gibt einfach die tollste, garstigste und gemeinste Hexe seit die Besen fliegen lernten! Und gut angezogen ist sie auch noch! Bei diesem sensationell durch den Wolf gedrehten Märchen-Verschnitt vergisst man glatt alles andere um Julia Roberts rum. Wie hieß noch mal die Frau bei den Sieben Zwergen? Schlumpfine?

Die Königin ist pleite, wie gegenwärtig! Eitel ist sie selbstverständlich auch und von der Bettkante stoßen würde sie den hübschen wie reichen Prinzen Andrew Alcott (Armie Hammer) auf keinen Fall, der da halb nackt vor ihr steht. Doch zu den Verwirrungen an der Bettkante kommen wir später. Vorher ist Alcotts Kampf gegen riesige Zwerge angesagt: Im winterlichen Wald, da sind die Räuber auf hydraulischen Stelzen unterwegs und selbst als der Prinz dies entdeckt, bekommt er von den kurzen Kerlen noch mächtig einen auf den Deckel. Hinter diesem fantastischen Element stecken selbstverständlich die Sieben Zwerge, die in ihrer Kostümierung an Terry Gilliams' „Time Bandits" erinnern.

Ganz in gelb und anonym kommt Schneewittchen (Lily Collins) vorbei. Die Prinzessin will mit eigenen Augen sehen, wie elend es der Bevölkerung geht, seit ihr Vater (Sean Bean) verunglückte und die böse Stiefmutter ihre Herrschaft begann. Diese Vorgeschichte erzählt der fantastische Film auch als Filmgeschichte mit Puppenspiel und -Animation. Der Spiegel, den die Königin nicht nur befragt, sondern gleich ganz in ihn eintaucht, ist komplett Cocteau. Hinter dem Glas gibt es ein ganzes Spiegel-Kabinett, nicht ganz wie bei Orson Welles, sondern mit einem noch älteren Ego der bösen Stiefmutter. Das alles ist raffiniert angerichtet von Regisseur Tarsem Singh, aber vor allem ein großer Spaß und ein noch größerer Augenschmaus. Nach dem Psycho-Märchen „The Cell" (2000) und der Fantasy-Odyssee „The Fall" (2006) erwartete man das auch von ihm, nur der Monumentalfilm „Krieg der Götter" enttäuschte 2011.

Nun erzählt Singh das grimmige Märchen mit so fantastischen, atemberaubenden und verrückten Kostümen (der kürzlich verstorbenen Designerin Eiko Ishioka) und Bildern, da können selbst wild fabulierende Handlung und Figuren nicht ganz mitzuhalten. Obwohl uns die böse Stiefmutter mit jedem Satz ihrer herrlich zynischen Kommentare, ihrer sehr spitzen und spitzfindigen Texte ans Herz wächst. Julia Roberts vermittelt ungemeinen Spaß im Spiel dieser ausgesucht garstigen und selbstverliebten Stiefmutter, die mit lebenden Figuren Schach spielt und auch sonst mit Menschen nicht nett umgeht. Lustvoll steuert sie riesige, ferngesteuerte Marionetten in den Kampf gegen Schneewittchen und die Sieben Zwerge. Nur mit dem Prinzen klappt es nicht so richtig, der falsche Zauber lässt ihn wie einen Hund auf der Bettkante winseln. Aber auch ansonsten ist „Spieglein Spieglein" toll besetzt: Nathan Lane zieht als treuer Hofdiener Brighton, wenn er die Innereien zum Beweis von Schneewittchens Tod aus dem Sack zeigt, auch aus Versehen noch ein paar Würste mit heraus.

Ganz neu in die Handlung eingesponnen wurde die Ausbildung Schneewittchens zum Räuber, so dass es zum tänzerischen Liebesduell Prinzessin gegen Prinz mit dem Schwert kommen kann. Der rettende Kuss bleibt klassisch. Obwohl diesmal sie ihn rettet. Und sich die Stiefmutter selber am vergifteten Apfel verschluckt, bevor eine Bollywood-Reminiszenz gemixt mit Baz Luhrmans „Moulin Rouge" den vollen Genuss vollendet.