31.8.21

A Symphony of Noise


BRD 2021 Regie: Enrique Sánchez Lansch, 95 Min.

Nach „Rhythm is it!" über die Berliner Philharmoniker und Sir Simon Rattle begeistert Regisseur Enrique Sánchez Lansch nun mit einem Porträt des britischen Musikers und Klangkünstlers Matthew Herbert. Er schrieb Filmmusik für Ridley Scott und bespielt das Berghain mit Tanzmusik, die allerdings auch ein irritierendes Sample vom Ziehen seines Backenzahns enthält. „A Symphony of Noise" erinnert in der faszinierenden Machart an die wunderbare Fred Frith-Dokumentation „Step across the border". Zu der Gemeinsamkeit verrückter Ideen zur Entdeckung besonderer Klänge kommt bei Herbert eine philosophische Ebene hinzu. Sowie ein waches Bewusstsein von der politischen Situation unserer Welt. Ein außergewöhnlicher Künstler vermittelt umfassendes und analytisches Hören wie man es nie zuvor erlebt hat.

Räuberhände


BRD 2020 Regie: Ilker Çatak, mit Emil von Schönfels, Mekyas Mulugeta, Katharina Behrens 93 Min. FSK 16

Wild und jung, gleichzeitig erwachsen und klug, erzählt „Räuberhände" eine unübliche Coming-of-Age-Geschichte nach dem beliebten gleichnamigen Roman von Finn-Ole Heinrich: Janik und Samuel leben zusammen im Gartenhaus von Janiks wohlhabenden Eltern. Die unterstützen sogar noch Samuels drogenabhängige Mutter. Die Freunde aus unterschiedlichen Familien wollen nach dem Abi nach Istanbul, wo der dunkelhäutige Samuel mit den Dreadlocks seinen Vater vermutet. Im amerikanischen Film würde man diese Freundschaft zwischen (jungen) Männern „Bromance" nennen. Über ungewöhnliche Wendungen, kleine und große Krisen wird sie ausgetestet. Im Vergleich zum anderen Jugendfilm im Bundesstart - dem ebenfalls interessanten „Ein wenig bleiben wir noch" – wirkt „Räuberhände" dabei trotz Drogensucht und einiger anderer Themen nicht überladen. Emil von Schönfels und Mekyas Mulugeta überzeugen in den Hauptrollen, Ýlker Çatak („Es gilt das gesprochene Wort") erweist sich erneut als bemerkenswerter Regisseur.

Hilfe, ich hab meine Freunde geschrumpft


BRD, Italien/Österreich 2020 Regie: Granz Henman, mit Oskar Keymer, Lina Hüesker, Anja Kling, Axel Stein, Andrea Sawatzki, 98 Min. FSK ab 0

Andrea Sawatzki als Mischung aus Dr. Seltsam und der Mutter von Psycho-Hotelier Norman Bates in beschaulicher deutscher Schule? Der bescheidene Trick-Spaß „Hilfe, ich hab meine Freunde geschrumpft" macht es möglich. Im dritten Teil der deutschen Schulfilm-Serie (nach „Hilfe, ich hab meine Lehrerin geschrumpft" und „Hilfe, ich hab meine Eltern geschrumpft") ereignet sich erneut ein kleines Abenteuer rund ums Otto-Leonhard-Gymnasium: Felix und seine Freunde sollen auf Klassenfahrt. Und bevor das magische Wissen von Otto Leonard (Otto) bedroht wird, entwickelt sich ein Eifersuchtsdrama um die neue Schülerin Melanie. Sie verdreht Felix den Kopf, dessen alte Freundin Ella und Felix' Gang sind wenig begeistert. Es dauert fast die Hälfte des Films, bis der Serien-Clou, das Schrumpfen, angewandt wird. Beim uralten Kintopp-Effekt der „verkleinerten" Figuren - ziemlich unverändert einer der ältesten Tricks des Films - macht „Hilfe, ich hab meine Freunde geschrumpft" tricktechnisch für heutige Verhältnisse nicht immer eine gute Figur.

Aber die beliebte Film-Reihe spielt mit Coming-of-Age-Komödie, Teenie-Eifersucht, Kinder-Grusel und den Lachkanonen der Eltern-Generation (Otto, Axel Stein) bewährt ihre Trümpfe aus. Otto gibt den Otto mit Versprechern wie „Ihr Scheusal liegt in deiner Hand". Die Hauptfigur Felix ist, gespielt von Oskar Keymer, so ein langweiliger künftiger Schwiegersohn, der später sicher Fernsehshows bei den Senioren-Sendern moderieren darf. Also alles wie bewährt und ohne Aufreger – so sollte es wohl sein.


25.8.21

Bigfoot Junior


Belgien, Frankreich 2020 (Bigfoot Familiy) Regie: Ben Stassen, Jérémie Degruson, 89 Min. FSK ab 6

Der wallonische Walt Disney Ben Stassen räubert wieder raffiniert bekannte Geschichten zu einem anständig animierten Abenteuer zusammen. Bigfoot als Familienvater begleitet vor allem die Teenager-Wirrungen des Sohns Adam, bevor es wieder zur Action-Achterbahn in der Wildnis losgeht. Effektive Zweitverwertung von Ideen und Animationen.

Martin Eden


Italien, Frankreich 2019 Regie: Pietro Marcello, mit Luca Marinelli, Jessica Cressy, Denise Sardisco, 129 Min. FSK ab 6

Faszinierend zeitlos ist Regisseur Pietro Marcellos Adaption von Jack Londons autobiografisch gefärbtem Roman „Martin Eden" in mehrfacher Hinsicht. Zum einen scheint die Geschichte des ungebildeten Matrosen, der sich in die großbürgerliche Elena Orsini verliebt, in der dritten Kinoverfilmung seit 1914 nirgendwo anders als in der Armut neapolitanischer Viertel denkbar. Dabei spielte der 1909 veröffentlichte Roman im kalifornischen Oakland. Die Auseinandersetzungen des mittlerweile als Autodidakt zum Schriftsteller gewordenen Eden mit der Arbeiterbewegung wirkt typisch italienisch, zumindest europäisch.

Neben der immer wieder starken (Klassen-) Geschichte fasziniert der bisherige Dokumentarist Pietro Marcello mit wechselnden Zeit-Koloriten: Die Farben alter Filme versetzen die Handlung in die 70er Jahre, die Orsinis wirken wie aus dem vorletzten Jahrhundert, eine Revue-Show sieht nach 30ern aus. Martin Edens eigene Geschichten, Erinnerungen und Träume stammen aus (Stummfilm-) Archiven, Dokumentarisches verstärkt den Eindruck von Authentizität. Dabei lässt das packende Drama eines scheiternden „Emporkömmlings" nie vergessen, dass es große Filmkunst ist. Luca Marinelli gewann mit seiner Darstellung in Venedig 2019 den Coppa Volpi als Bester Schauspieler.

24.8.21

Die Unbeugsamen (2020)

BRD 2020 Regie: Torsten Körner 100 Min. FSK ab 0

Die Polit-Doku „Die Unbeugsamen" erzählt als Verfilmung des Sach-Buches „In der Männer-Republik: Wie Frauen die Politik eroberten" von Regisseur und Autor die Geschichte der Frauen in der Bonner Republik nach. Was zuerst das Männer-Geschäft Politik aufzeigen muss, bevor sich die Frage stellte, ob es Frau Minister oder Frau Ministerin heißen soll. Mit Originalaufnahmen und Interviews wird ein schwerer Kampf nachgezeichnet. Herta Däubler-Gmelin (SPD), Christa Nickels (Die Grünen), Ingrid Matthäus-Maier (FDP/SPD), Renate Schmidt (SPD) und Rita Süssmuth (CDU) berichten. Dazu historische Aufnahmen mit Hildegard Hamm-Brücher (FDP), Waltraud Schoppe und Petra Kelly (Die Grünen). Dass selbstverständlich schon damals immer nur Frauen die Frage gestellt wurde, wie sie es dann schaffen, Politik und Familie zusammen zu bewältigen, gehört zu den vielen erschreckenden Erkenntnissen von geringem Fortschritt. Heftigste Übergriffe von bekannten Politikern gehörten zur Tagesordnung. Filmisch am reizvollsten die ironisch einmontierten Fotos und Filmaufnahmen, die direkt etwas von den damaligen Verhältnissen erzählen.

Now


BRD 2020 Regie: Jim Rakete 79 Min. FSK ab 6

Jim Rakete, bekannt als Fotograf einiger Bands und Pop-Ikonen, feiert in seiner Film-Dokumentation die „Generation Greta". In dem enthusiastischen wie einseitigen Dokumentarfilm werden neben mittlerweile „historischem" Material etwa der Proteste von „Ende Gelände" an den RWE-Baggerlöchern, Luisa Neubauer (Fridays for Future), Felix Finkbeiner (Plant for the Planet), Nike Mahlhaus (Ende Gelände) und Zion Lights (Extinction Rebellion) interviewt. Dazu lässt Rakete auch seine „alte" Klientel Punk-Legende Patti Smith oder Autorenfilmer Wim Wenders zu Wort kommen. Das freut und motiviert Aktivisten, ist aber eher Werbefilm als gelungene Doku.

Tides


BRD, Schweiz 2021 Regie: Tim Fehlbaum, mit Nora Arnezeder, Iain Glen, Sarah-Sofie Boussnina, Sope Dirisu, Sebastian Roché, Joel Basman, Bella Bading, Eden Gough 104 Min. FSK ab 12

Die Aliens in „Tides" sind die Menschen, die eine unbewohnbare Erde wieder erobern wollen. Eine Elite besiedelte einst den Planeten Kepler 209, dessen Atmosphäre allerdings die neuen Bewohner unfruchtbar macht. Zwei Generationen später landet Mission Ulysses II unsanft. Die Astronautin Blake (Nora Arnezeder) entdeckt, dass sie auf der Erde nicht alleine ist. Letztlich wird sie begeistert empfangen, doch der Anführer der Überlebenden – ein Freund ihres verschollenen Vaters – hat ein düsteres Geheimnis.

Die Dystopie „Tides" des Schweizers Tim Fehlbaum („Hell") beeindruckt mit Atmosphäre und Ästhetik: Es ist grandios, wie ziemlich normale und heutige „Motive" zu faszinierenden Zukunftslandschaften werden, in der eine starke Heldin vom Planeten Kepler um die Zukunft der Menschheit kämpft. Im Wattenmeer machen Quallen auf „Alien" und das Ganze sieht mit seinen Tribes (Stämmen) aus wie das bessere „Tribes of Europa". Beim Bayerischen Filmpreises 2021 wurden Tim Fehlbaum und Markus Förderer in den Kategorien „Beste Regie" und „Beste Kamera" ausgezeichnet.

The Father


Großbritannien, Frankreich 2020 Regie: Florian Zeller, mit Anthony Hopkins, Olivia Colman, Imogen Poots, 97 Min. FSK ab 6

Florian Zellers Verfilmung des eigenen Theaterstücks „Le père" (Der Vater) ist nicht nur noch mal eine Feier von Anthony Hopkins großer Schauspiel-Kunst. Es ist auch das Debüt eines Regisseurs, der bisher für seine Fähigkeiten als Autor berühmt war. Kunstvoll und sehr berührend wird in „The Father" der geistige Verfall im frühen Stadium einer Demenz nachvollziehbar gemacht.

„Das ist mein Appartement! Oder nicht?" Zweifel gibt es eigentlich selten beim stolzen alten Anthony (Anthony Hopkins). Der 80-Jährige ist Herr im Hause, weiß alles besser und die geliebte Armbanduhr hat ganz bestimmt die diebische Pflegekraft mitgehen lassen. Doch Kleinigkeiten irritieren den Zuschauer: Sah die Küche eben nicht ganz anders aus? Wieso ist die Tochter Anne (Olivia Colman) plötzlich eine andere Person. Ist es mit den Veränderungen in Licht und Ausstattung wirklich die gleiche Wohnung?

Neun Jahre nach der Pariser Theaterpremiere, dem Beginn einer preisgekrönten Aufführungs-Serie in 45 Ländern bis zum Broadway, kann wahrscheinlich verraten werden, dass Feller seine Geschichte konsequent aus der Perspektive des Vaters erzählt. Seine Irritation über den fremden Mann in seiner Wohnung wird die unsere. Und dann wird der Kerl, der vorgibt, Annes Mann zu sein, auch noch unverschämt! Oder gar gewalttätig?

Dabei wollte Anne doch zu ihrem neuen Freund nach Paris ziehen. Womit der ganze Ärger begann. „Und außerdem sprechen sie in Paris nicht mal Englisch", wie Anthony immer betont. Nun soll er also in der – ebenfalls nicht bescheidenen – Wohnung seiner Tochter sein und eine neue Pflegekraft müsse ausgesucht werden, wie sich in einer nicht chronologischen und schon gar nicht logischen Abfolge von Szenen ergibt. Es gibt sogar Varianten der gleichen Szene.

Als sich Laura (Imogen Poots) am Morgen vorstellt, läuft Anthony zu ganz großer Form auf: Sogar eine Stepptanz-Einlage legt der ehemalige Tänzer aufs Parkett. Dass er früher tatsächlich Ingenieur war und auch weniger nette Seiten hat, verrät Anne der jungen Pflegerin später. Die Begeisterung des Vaters hat einen Grund: Er sieht in Laura seine geliebte, aber abwesende jüngere Tochter Lucy. Aber über deren Verbleib schweigt Anne genauso betreten wie bei Anthonys Nachfrage, ob dies seine Wohnung sei.

Olivia Colman (die Queen aus „The Crown") hat als die Tochter die andere großartige Rolle des ungemein eindringlichen und exzellent inszenierten Films „The Father": Zwischen Schuldgefühl, seinen Unverschämtheiten und Druck versucht sie ihr Möglichstes und erhält dabei keine Unterstützung vom Ehemann. Ganz groß als Meister des Ausdrucks spielt Hopkins auf, der einen der beiden Oscars für „The Father" erhielt. Der zweite galt dem Drehbuch. Die Irritationen im Blick, der Verlust der Überlegenheit, die Gemeinheiten – in vielen Facetten kann er sein Vermögen breit ausspielen. Dazu sind auch Kamera, Licht und Ausstattung raffiniert exquisit.

Aber der eigentliche Clou von Theaterstück und Film bleibt die Technik, die Geschichte konsequent aus der Perspektive des Vaters zu erzählen. Diese überzeugende Idee fürs Mitgefühl und fürs Verstehen wurde von Christopher Hampton für die englische Bühnen-Fassung übersetzt. In New York bekam Frank Langella einen Tony Award für die Hauptrolle. In Paris gab es schon 2014 einen Moliere für das Stück. Zellers Idee funktioniert so gut, dass man, wenn Anthony am Ende in einer sehr guten und teuren Pflegeeinrichtung nach seiner „Mami" weint, so viel Außenperspektive als Auflösung gar nicht haben wollte.

Zeller dreht übrigens gerade den zweiten Teil seiner Trilogie (The Father, The Son, The Mother) mit Hugh Jackman, Vanessa Kirby und Laura Dern.

Der Hochzeitsschneider von Athen



Griechenland, BRD, Belgien 2020 (Raftis) Regie: Sonia Liza Kenterman, mit Dimitris Imellos, Tamila Koulieva, 100 Min. FSK ab 0

Der Rhythmus der Nähmaschinen in einem Geschäft voller Spinnweben. Zuschnitte von Kunden, die meist schon tot sind. Und ein freundlicher, mittelalter Schneider mit Cary Grant-Gesicht. Seine verschrobenen Mechaniken für das Leben auf engstem Raum, die stille Freude am Funktionieren, charakterisieren einen skurrilen Menschen. Doch anders als bei den neuerlich populären griechischen Festivalfilmen steht Nikos (Dimitris Imellos) in seinen schicken Anzügen altmodisch neben dem Leben. Als sein Vater erkrankt und Banken drängen, baut sich der geschickte Schneider einen fahrenden Handkarren und verkauft seine Stoffe auf Märkten, bei Krankenschwestern und Zufallsbekanntschaften. Die Frage nach einem Hochzeitskleid bringt Nikos mit seiner verheirateten Nachbarin Olga (Tamilla Koulieva) zusammen.

Es ist ein wunderbares Bild, wie Nikos auf dem Motorrad im Anzug seinen farbenfrohen Karren voller Kleider hinter sich herzieht. Eines von vielen in diesem zweiten „Griechenland-Film" dieser Woche neben „Killer's Bodyguard 2". Die Sympathie für den sehr schön gespielten Sonderling mit großer Neugierde und unerschütterlichem Optimismus trägt den „Hochzeitsschneider von Athen". Wie der Film kommt er mit wenigen Worten aus. Dafür macht die äußerst nette Musikbegleitung einen großen Teil des Vergnügens aus. Die Probleme bei der Pflege seines Vaters im staatlich brutal runtergekürzten Krankenhaus sind Hintergrund, teure Medikamente besorgt ja eine Krankenschwester gegen neue Kleider. Emanzipation vom Vater und bei Olga vom ignoranten Taxifahrer und Ehemann geschieht fast beiläufig zum Schwelgen bei schönen Bildern und herzlichen Situationen.

23.8.21

Killer's Bodyguard 2


USA, Großbritannien 2021 (The Hitman's Wife Bodyguard) Regie: Patrick Hughes, Ryan Reynolds, Samuel L. Jackson, Salma Hayek, Antonio Banderas, Morgan Freeman 117 Min. FSK ab 16

Wie Ryan Reynolds als pedantischer Bodyguard Michael Bryce ausgerechnet den völlig unkontrollierbaren „Hitman" Darius Kincaid (Samuel L. Jackson) beschützen sollte, war in „Killer's Bodyguard" dank extremer Gegensätze und klasse Schauspieler ein Hit. Nun fügten die Produzenten Salma Hayek als hysterisch überdrehte Gattin Sonia hinzu. So ist „Des Hitmans Fraus Bodyguard" (so der übersetzte bessere Originaltitel) zwar zeitweise extrem übergeschnappt, aber das Grundkonzept der sehr komischen Action-Komödie funktioniert immer noch.

Bodyguard Michael Bryce (Ryan Reynolds) wird den Auftragskiller Darius Kincaid (Samuel L. Jackson) nicht los – selbst in seinen Albträumen. So rät seine Psychiaterin zu einem Sabbatical - ohne Waffen! In das platzt ausgerechnet die international gesuchte Verbrecherin Sonia (Salma Hayek). Ihr Mann wurde in der Hochzeitsnacht entführt und Bryce soll helfen...

Wie der abstinente Bodyguard am Pool seinen Cocktail schlürft und über Kopfhörer Schlager genießt, während hinter ihm im Feuergefecht eine ganze Urlaubsregion – in Zeitlupe – draufgeht, ist typisch für den „verrückten" Humor auch von „Killer's Bodyguard 2". Dass Bryce ohne Waffen in der Action-Gewalt (ab 16!) überleben will, reicht als ironischer Twist gegen das übliche Action-Einerlei. Die schießwütige Sonia braucht auch für ihr Mundwerk einen Waffenschein. Wie ein irrer Bösewicht mit spanischem Akzent (Antonio Banderas) die in der EU finanziell gedemütigten Griechen rächen will, bringt weiteren Wahnsinn in die Geschichte. Doch vor allem die Gags im Minutentakt machen auch Teil 2 zum Hit.

18.8.21

Doch das Böse gibt es nicht


BRD, Tschechische Republik, Iran 2020 (Sheytan vojud nadarad) Regie: Mohammad Rasoulof, mit Ehsan Mirhosseini, Kaveh Ahangar, Mohammad Valizadegan, 150 Min. FSK ab 12

Der große Sieger der Berlinale 2020 (Goldener Bär) ist eines dieser iranischen Meisterwerke des Abwesenden: Die vier Geschichten rund um die Todesstrafe von „Doch das Böse gibt es nicht" entstanden unter den Bedingungen des Berufsverbotes und der Zensur. Regisseur Mohammad Rasoulof, der auch zur Berlinale den Iran nicht verlassen durfte, drehte den Film unter Guerilla-Bedingungen: Er ließ sich mit Freunden unter deren Namen vier Kurzfilme in vier Städten genehmigen. Wie bei dem ebenfalls mit Berufsverbot belegten Jafar Panahi („Taxi Teheran") wurde wieder viel im Auto gedreht, weil das unauffälliger ist. Doch trotzdem fängt auch dieser Film sehr genau und spannend Alltag im Iran ein.

Besonders eindrucksvoll in der ersten Episode um den sympathischen Heshmat, der nach der Arbeit Frau und Tochter abholt, mit ihnen einkauft, dann seiner Frau die Haare färbt, um mitten in der Nacht zu seinem Job zu fahren – als Henker. Was in einem grausamen Schockmoment deutlich wird. Der nächste Teil zeigt einen Soldaten im Konflikt, weil er eine Todesstrafe nicht vollziehen will. Den Wehrdienst macht er nur, um mit seiner Freundin ins Ausland zu dürfen. Die Gespräche in der überfüllten Zelle drehen sich um das Befolgen von Befehlen, um Gesetzes, um Moral und Opportunismus. Die Grausamkeit eines Staates, der die Todesstrafe zulässt, zeigt sich besonders in der dritten Episode „Geburtstag": Durch einen makabren Zufall landet der gezwungene Henker auf der Trauerfeier des Hingerichteten. Wieder musste ein Soldat „den Stuhl wegziehen". „Doch das Böse gibt es nicht" ist einer dieser intensiv ruhigen Filme, die exakt die richtige Zeit zur eigenen Beobachtung lassen.

17.8.21

Promising Young Woman


USA 2020 Regie: Emerald Fennell, mit Carey Mulligan, Laverne Cox, Bo Burnham, Alison Brie, Adam Brody, 114 Min. FSK ab 16

Eigentlich reichen die sexistischen Sprüche ekliger Typen in einer Bar schon. Doch als einer von ihnen die fast besinnungslos besoffene Frau abschleppen will, wird es richtig beklemmend. Bis diese plötzlich hellwach ist und einen Schnitt später der Name des Typen im Notizbuch von Cassie (Carey Mulligan) abgehakt wird. Doch die roten Flecken auf ihren Klamotten sind nur Ketchup, scheinbar erteilt Cassie nur harmlose Lektionen.

Es sind diese überraschenden Wenden im eindrucksvollen Spielfilmdebüt von Emerald Fennell (die Camilla Parker Bowles aus „The Crown"), die „Promising Young Woman" zu einem großartigen und ganz anderen Rachefilm machen. Obwohl es tatsächlich um eine Vergewaltigung geht und sich Cassies Freundin Nick umbrachte, als ihr Vergewaltiger freigesprochen wurde. Denn die Bitterkeit, wegen der Cassie ihre Karriere als hoffnungsvolle Medizinerin aufgab, bei den Eltern einzog und bei miesem Job vor allem Männer bloßstellt, legt sich, als sie den Ex-Kommilitonen Ryan Cooper (Bo Burnham) wiedersieht. Ein netter und vor allem rücksichtsvoller Typ, der genau so viel Humor hat wie sie. Kurz bevor sie den Junggesellen-Abschied des Vergewaltigers sprengen will, gibt sie ihren ernsten Rachefeldzug auf. Doch dann folgt wieder eine Überraschung – eine böse.

„Promising Young Woman" erhielt 2021 den Oscar für das beste Drehbuch, ist aber nicht nur originell, witzig und sehr klug geschrieben. Carey Mulligan („Die Ausgrabung", „Suffragette", „Der große Gatsby", „Drive") findet in der „süßen" Frau, die gewitzt zurückschlägt, eine ihren Fähigkeiten entsprechende Rolle. Dass Emerald Fennell ihren Star-Ruhm einsetzt, um auf allgegenwärtige und oft nicht geächtete Gewalt gegen Frauen hinzuweisen, verdient viel Respekt.

Unter den Sternen von Paris


Frankreich 2019 (Sous les Etoiles de Paris) Regie: Claus Drexel, mit Catherine Frot, Mahamdou Yaffa, Dominique Frot 86 Min. FSK ab 12

Die Szenen eines Feuers am Anfang und Ende des rührenden Films verraten auch nicht wirklich, weshalb die Obdachlose Christines (Catherine Frot) einsam unter einer Pariser Brücke lebt. Als sich in einer kalten Winternacht ein achtjähriger Junge in ihr Versteck verirrt, versucht sie zuerst, ihn los zu werden. So bekommt er seinen Namen „Moi-la. Toi-la" Ich hier, du da! Dann schließt sie den kleinen Suli (Mahamadou Yaffa) aus Eritrea, der kein Wort Französisch spricht, ins Herz und sucht bald mit ihm nach seiner Mutter, die abgeschoben werden soll. Obwohl „Moi-la" wegen ihm das fast luxuriöse Versteck und die Taschen mit alle ihrem Hab und Gut verloren hat.

Die Odyssee zeigt viele Camps von Obdachlosen und Einwanderern – ohne dass einem das wirkliche Elend von der Leinwand anspringen würde. Es gibt Körperpflege unter erbärmlichen Bedingungen, aber auch Schubert-Lieder in der Nacht. Wir sind schließlich in Paris! Christine, die einst als Wissenschaftlerin arbeitete, spricht nicht viel, aber mit Vögeln! Das gibt der Figur von Catherine Frot („Madame Marguerite oder Die Kunst der schiefen Töne", „Typisch Familie!") etwas leicht Verschrobenes.

Beim Zusammentreffen einer Obdachlosen und eines Flüchtlingskindes aus Afrika droht heftiger Elends-Kitsch. Doch „Unter den Sternen von Paris" kann als Mischung von Rührstück und Intersektionalitäts-Lehrgang unterhalten, ohne wirklich politisch zu sein. Denn egal, weshalb wir diskriminiert werden, wegen Armut, Hautfarbe oder allem zusammen ... Hauptsache wir bleiben nette Menschen (und wehren uns nicht).

Der Masseur


Polen, BRD 2020 (Sniegu juz nigdy nie bedzie) Regie: Malgorzata Szumowska, mit Alec Utgoff, Maja Ostaszewska, Agata Kulesza, Weronika Rosati, 113 Min.

Seine magischen Hände bahnen ihm den Weg zur Arbeitsgenehmigung. Zhenia (Alec Utgoff, bekannt aus „Stranger Things" und „Jack Ryan: Shadow Recruit") marschiert durch eine Masse Wartender. Der Beamte, ein alter Herr mit Vampir-Ausstrahlung, meint den Antragsteller zu kennen. Dieser bietet kurz seine Hilfe beim deutlich steifen Nacken an, der Beamte entschlummert sanft, Zhenia stellt sich die Urkunde selbst aus.

Nun kann der Mann mit den weichen Zügen in einer „Gated Community", einer umzäunten und protzigen Villensiedlung seine Wunder vollbringen: Eine überforderte und betrogene Mutter, der krebskranke Naturheilmittel-Spinner, ein stahlharter Blauhelm-Militär und die Bulldoggen-Mama. Bei allen fast identischen Häusern erschallt die furchtbare Türklingel, Zhenia klappt seine Liege aus und die Menschen werden sich im Laufe der erstaunlich undramatischen Handlung traumhaft in einem hohen Wald wiederfinden. Das liegt nicht nur an der Hypnose, die der Masseur auf Nachfrage seinen vielen Fähigkeiten hinzufügt. Während die Kundinnen schlafen, schaut sich der gleichzeitig Naive und seiner Fähigkeiten Unbewusste in ihren Wohnungen um. Er kann Piano spielen, Ballett, und auch telekinetische Kräfte gehören zu seinen Talenten. Doch selbst wohnt Zhenia in einer Hochhaussiedlung.

Małgorzata Szumowska („Leben in mir", 2004), geboren 1973 in Krakau, ist eine der bedeutendsten europäischen Regisseurinnen der Gegenwart. Sie schuf ein ohne Drama enorm fesselndes Gesellschaftsporträt Polens. Das Psychogramm des Wohlstands hat kuriose Tati-Momente, wenn alle rauchen und überall lebens-gefährliche Hunde attackieren - „keine Angst, die wollen Sie nur begrüßen". Aber es liegt vor allem eine tiefe Traurigkeit auf dieser Siedlung, in der auch Erwachsene auf den seit Jahren ausbleibenden warten und die Kinder unbedingt Französisch sprechen sollen.

Dabei stammt der fremde Masseur mit dem eigenartigen Akzent selbst aus Tschernobyl. Er wurde sieben Jahre vor der Katastrophe geboren, genau am selben Tag. In seinen Erinnerungen kämpft die Mutter ums Überleben, durch die Bilder schweben Flocken, die kein Schnee sind. „Wie soll ich spüren eines fremden Landes Unbehagen, wenn ich mein eigenes schon nicht mehr seh?" wird einmal gesagt.

Wenn die Kamera grandios den Masseur und die Ehefrau des Massierten über eine Spiegelung zusammenbringt, ist das die kunstvolle Form des Offensichtlichen: Die meisten Frauen wollen mehr als körperliche und seelische Heilung von ihm. Eifersucht auf die anderen Kundinnen schwebt immer mit. Doch an solchen Banalitäten hält sich die seit langem von der Film- und Medienstiftung NRW geförderte Autorin und Regisseurin Małgorzata Szumowska nicht auf. „Der Masseur" ist ein faszinierendes modernes und magisches Märchen, poetisch mit tödlicher Drohung im Hintergrund.

Szumowskas Spielfilmdebüt „Happy Man" (2000) wurde in der Kategorie „Bester Nachwuchsfilm" für den Europäischen Filmpreis nominiert. Ihr zweiter Spielfilm „Leben in mir" (2004) wurde beim Sundance Film Festival und bei den Internationalen Filmfestspielen in Berlin präsentiert, für „33 Szenen aus dem Leben" (2008) erhielt sie den Sonderpreis der Jury auf dem Festival von Locarno. Es folgten die Langfilme „Das bessere Leben" (2011) mit Juliette Binoche und „Im Namen des ..." (2013), der auf der Berlinale mit dem Teddy Award gekürt wurde. 2015 kehrte sie mit „Body" nach Berlin zurück und gewann den Silbernen Bären für die beste Regie, 2018 folgte der Große Preis der Jury für „Die Maske". Ihr erster englischsprachiger Spielfilm „The Other Lamb" (2019) lief auf den Festivals in Toronto, San Sebastian und London. Zuletzt realisierte sie einen Kurzfilm für Miu Miu, der im Rahmen der Giornate degli Autori bei den Filmfestspielen Venedig 2020 gezeigt wurde.

10.8.21

Free Guy


USA 2021 Regie: Shawn Levy, mit Ryan Reynolds, Jodie Comer, Taika Waititi 115 Min. FSK ab 12

Direkt nach der Weltpremiere auf der Piazza Grande von Locarno kommt ein Action-Spaß in die Kinos, in dem Ryan Reynolds nicht nur eine Welt, sondern auch seinen Film rettet.

Man stelle sich die Rolle Jim Carreys in „The Truman Show" als Figur in einem Computerspiel vor. Dann ist die Idee von Freiheit von vornherein gestrichen. Was allen Beteiligten in „Free Guy" erst am Ende auffällt. Bis dahin wird bunt, lustig und in seltenen Momenten raffiniert selbstreferentiell viel Spaß mit aufrührigem Verhalten in Video-Spielen inszeniert. 

Guy (Ryan Reynolds) ist nur eine enervierend überfreundliche Nebenfigur im Ballerspiel „Free City". Einer, der von den Spielern gerne nebenbei „abgeknallt" wird. Bis Guy bei seinem immer gleichen Tag seiner Traumfrau (Jodie Comer) begegnet. Nun wird er selbst einer der coolen Akteure mit den Sonnenbrillen, gewinnt mit guten Taten viele Bonuspunkte und rettet – nach einem Kuss im Ballerspiel – seine digitale Welt vor dem Abschalten. Parallel läuft die übliche Handlung ab, in der idealistische Designer ihr geklautes Super-Spiel vom bösen Kapitalisten zurückerobern. (Taika Waititi grandios als rücksichtsloses Ekel.)

Von „Tron" bis zur Kinderversion „Chaos im Netz" lief schon die gleiche Handlung ab. Und auch wenn die bunte Spielewelt mit vielen Scherzchen und Zitaten nett anzusehen ist, wirkt die Idee wie aus Zeiten, als Film das Publikum noch in die Hand nahm, um das Funktionieren von Computern zu erklären. Doch zum Glück gibt es Ryan Reynolds („Deadpool", „The Voices")! Den Typen, der jedes Genre brechen kann. In einer Zeit des Superhelden-Overkills, die Brechung dringend braucht, kommt so ein flottes, nichtssagendes Späßchen gerade recht.

8.8.21

Nahschuss


BRD 2020 Regie: Franziska Stünkel, mit Lars Eidinger, Devid Striesow, Luise Heyer, 116 Min. FSK ab 12

Der Theater- und Filmstar Lars Eidinger verkörpert im ergreifenden Historienfilm „Nahschuss" einen DDR-Spion, der nach Gewissensbissen angeklagt und erschossen wurde. Die letzte Hinrichtung der DDR.

Kurz vor dem Abheben aus dem Flieger geholt. Um das Gepäck brauche er sich nicht zu kümmern, meinen die geheimnisvollen und sehr ernsten Herren. Das Jahr im Ausland endet für den DDR-Wissenschaftler Franz Walter (Lars Eidinger) bevor es los geht. Doch der Schrecken weicht einer Überraschung: Walter bekäme die begehrte Professur früher als erwartet. Ob er dafür einige Zeit in der Hauptverwaltung Aufklärung helfen könne? Also den eigenen Landsleuten hinterher spionieren. Aus lauter Freude über die Beförderung macht Walter naiv mit. Es gibt gleich eine für DDR-Verhältnisse schicke Wohnung und einen Auftrag in der Fußball-Szene, die dem Hobby-Spieler sehr vertraut ist.

Ein abtrünniger Fußballer soll mit brutalen Mitteln aus Hamburg zurückgeholt werden: Sein Freund wird verführt und mit Fotos der Untreue zur Mitarbeit gezwungen. Die in der DDR zurückgebliebene Frau des Fußballers bekommt eine falsche Krebsdiagnose und unterzieht sich grundlos einer Chemotherapie. Die „HVA" erpresst auch die eigenen Mitarbeiter mit dringenden Operationen für Familienmitglieder, die gewährt oder auf unbestimmt verschoben werden. Franz kriegt man mit der Augenoperation für seine Mutter.

Spätestens als die Verführerin im Staatsdienst schwanger ist und Walter sie zur Abtreibung überreden soll, ist es ihm zu viel. Schon vorher verhärtete er angesichts der Methoden in der Hauptverwaltung Aufklärung, wobei er für die Karriere selbst nicht zimperlich handelte. Da er nur verheiratet in den Westen kam, überredete er die Freundin Corina (Luise Heyer) zu einer lieblosen Zeremonie, bei der hauptsächlich Kollegen und Kolleginnen vom Geheimdienst anwesend sind. Federführend immer der joviale Vorgesetzte Dirk Hartmann (Devid Striesow), der ihm auch kleine Tricks wie Quittungsbetrug beibringt. So ist Walters Professorin bald überrascht, „dass er sich bei denen so schnell eingelebt hat".

Dem exzentrischen Lars Eidinger („25 km/h", „Schwesterlein") gelingt auch die blasse Figur des Karrieristen Walter exzellent. Eigentlich ein guter Kerl, einfühlsam und ehrlich in seiner Liebe zu Corina, hält er es im zynischen Geheimdienst-Betrieb nicht lange aus. Das Zerbrechen an der eigenen Tatbeteiligung ist ein langsames Entgleiten des Lachens, Kontrollverlust über Mimik und Haltung. Dass viel zu spät ein Ausstiegs-Plan folgt, der ausgerechnet unmöglich gemacht wird, weil jemand schneller abhaut, ist nicht nur tragisch, sondern eigenes Verschulden. Wie die DDR-Justiz dann an dem kleinen, kläglichen Mitarbeiter der HVA mit dem „Nahschuss" ein Exempel statuiert, ist Schreckensherrschaft pur.

Für Devid Striesow („Ich bin dann mal weg") ist der Part des Ost-Biedermanns Dirk Hartmann wieder eine Paraderolle: Scheinbar langweilig und überkorrekt nutzt er jede Gelegenheit für kleine persönliche Vorteile und Betrug.

Die Filmemacherin und Fotokünstlerin Franziska Stünkel („Vineta") nimmt die letzte Hinrichtung in der DDR, die im Jahr 1981 ausgeführt wurde, zum Anlass für ihre ergreifende Geschichte. Wie der gutgläubige Walter begeistert bei den Geheimdienstlern mitmacht, wird zügig erzählt. Sein Abgang, Gefängnishaft und die Verhandlung wirken bleiern. Da bleibt der Figur kein Entwicklungsraum mehr. Walter ist noch im Knast naiv, wenn er nachts bittet, das Licht in der Zelle zu löschen. Dabei ist dies doch Teil der Folter.

Es bleibt schockierend, dass der Geheimdienst wirklich alles wusste und scheinbar standardmäßig auch direkt die Ehefrauen der Schnüffler einstellte. Wenn man allerdings Filme über die Ost-Spionage am eigenen Volke vergleicht, ist das Weiter-Leben der Anderen eindeutig die dramatischere Strafe.

7.8.21

Die Welt wird eine andere sein


BRD, Frankreich 2021 (Copilot) Regie: Anne Zohra Berrached, mit Canan Kir, Roger Azar, 119 Min. FSK ab 12

Mit „Die Welt wird eine andere sein" von Anne Zohra Berrached („24 Wochen") bekommen wir genau und einfühlsam die weibliche Perspektive auf einen der Attentäter von 9/11. Einer „Kopilotin", wie der englische Titel andeutet. Es ist Liebe auf den ersten Blick zwischen der Medizinstudentin Asli und dem charismatischen Saeed und diese überwindet in Deutschland die unterschiedliche Herkunft aus türkischen und libanesischen Familien. Heimlich heiraten sie. Doch als der radikalisierte Saeed einige Jahre später ohne Erklärungen in den Jemen zieht, versteht Asli nichts mehr. Bei einer Reise zu seiner sehr reichen libanesischen Familie ist diese entsetzt von den Veränderungen des Sohnes. Zur Polizei will die junge Frau allerdings nicht. Als ihr innerlich und äußerlich völlig veränderter Ehemann später in Florida einen Flugschein macht, wird klar, wo der Film landen wird.

Ohne Erklärungsversuche dem Leben des tatsächlichen libanesischen Entführers des United-Airlines-Fluges 93 Ziad Jarrah folgend, gelingt Anne Zohra Berrached im persönlichen Drama von Asli ein packender Film. Sie erweist sich nach „Zwei Mütter" und dem Abtreibungs-Drama „24 Wochen" mit einem ganz anderen Thema wieder als exzellente Regisseurin. Die Perspektive der Liebenden eines Extremisten irritiert kurz, bleibt aber schlüssig. „Die Welt wird eine andere sein" schaut einfühlsam und ohne Vorverurteilungen auf das Verhältnis von Politik und Privatem. Was zu einem sehr interessanten Film führt. Canan Kir ist mit ihrer Interpretation der zwischen hellem Verstand und ihren Gefühlen zerrissenen Hauptfigur eine Entdeckung.

Dream Horse


Großbritannien, USA 2020 Regie: Euros Lyn, mit Toni Collette, Damian Lewis, Owen Teale, 114 Min. FSK ab 6

Es ist das Kunststück guter britischer Komödien, auch die elendsten festgefahrenen Lebenssituationen mit Humor zu nehmen. Aber was bleibt Jan (Toni Collette) auch übrig nach einem Tag an der Supermarktkasse, wenn der Mann Brian (Owen Teale) frisch aus dem Viecher-Stall, entspannt ohne Gebiss oder zivilisierte Kleidung, nur Blick für Zuchtvideos auf dem Fernseher hat. Der Pub des kleinen walisischen Dorfes, in dem sie abends aushilft, liefert auch keinen besseren Anblick, aber immerhin eine Idee: Der angeberische Anzugträger Howard Davies (Damian Lewis) faselt so viel über Wettgewinne, dass Jan selbst ein Rennpferd aufziehen will. Es folgt eine spannende Casting-Phase in der kleinen Dorfgemeinschaft, bis zwanzig witzige, tragische, einsame oder skurrile Gestalten Eigner eines Erfolgs-Pferdes sind, das allerdings noch gezeugt werden muss.

Dieses heruntergekommene walisische Kaff mit den verwahrlosten Pferden auf der Straße ist allein schon eine Nummer, auf dem Tiertransporter reicht es selbst für den komplette Schriftzug „(H)orse" nicht. Vor allem Toni Collette in der Rolle der Jan Vokes macht diese wahre Geschichte zu einem echten Gutfühl-Film. „Dream Horse" ist dabei kein Pferde-, sondern ein Menschenfilm. Der Säufer mit seinen Bierdosen, der frustrierte Steuervermeidungs-Berater, die einsame Dame, das auseinander gelebte Ehepaar – alle wachsen einem ans Herz und machen Freude, wenn sie bei berühmten Pferde-Rennen die snobistischen Reitstall-Millionäre provozieren. Der Spaß wird ernst und dramatisch, als in einem dieser Tierquälerei-Hindernisrennen Dream Horse das Opfer wird. In einem aufgeregten Gespräch entscheidet sich die Gruppe dagegen, das Pferd töten zu lassen. Weil es ihnen Gemeinschaft, Hoffnung und ein Ziel ein Lebensziel wiedergegeben hat. Und ein Happy End gibt es auch noch.

Tom & Jerry (2021)


USA, Großbritannien, Frankreich, BRD 2021 Regie: Tim Story, mit Chloë Grace Moretz, Michael Peña, Jordan Bolger 101 Min. FSK ab 0

Die Zeichentrick-Promis Tom und Jerry setzen ihre ewige Fehde diesmal in der realen Welt fort: Wohnungs- und joblos kommen sie in einem Luxushotel unter – unerwünscht selbstverständlich. Die ebenfalls arbeitslose Kayla (Chloë Grace Moretz), die mit üblichen Tricksereien ohne Qualifikation zur Assistentin der Hotelleitung wurde, holt sich Tom zu Hilfe, um Jerry wieder aus dem Edel-Schuppen zu verjagen. Eine extravagante Hochzeit sorgt für lahme menschliche Nebenhandlung und grandiose Zerstörungs-Orgien. Kater Tom und Maus Jerry schlagen sich die Köpfe ein, und das mit großer Detailfreude an sadistischen Verletzungen. Also nichts Neues, seit in den Vierzigern die Zeichentrick-Episödchen „Tom & Jerry" ihren Erfolg starteten. Nur trick-technisch gibt es Fortschritt bei diesem „Spaß" und so ist das Immergleiche allein in ein paar Action-Details raffiniert.

5.8.21

Locarno 2021 Eröffnung

Locarno. Die Gewitter kommen erst später, doch heute Abend eröffnet das 74. Locarno Film Festival (4.-14. August) mit einem Knall: Während sich Cannes strickt gegen Filme wehrt, die nur bei Streaming-Anbietern und nicht im Kino zu sehen sind, eröffnet Locarno direkt mit dem Netflix-Film „Beckett" !

Nach einem Jahr ohne Piazza Grande beim stark reduzierten Hybrid-Festival 2020 gibt es wieder Action im nicht größten, aber atmosphärisch eindrucksvollsten Open Air-Kino Europas im kleinen Schweizer Ort am Lago Maggiore. Vor bis zu 9000 ZuschauerInnen erzählt Eröffnungsfilm „Beckett" von Ferdinando Cito Filomarino die Geschichte des amerikanischen Touristen Beckett, der während eines Griechenlandurlaubs nach einem Unfall zur Zielscheibe einer Menschenjagd wird. Der Thriller mit John David Washington, Boyed Holbrook, Vicky Krieps und Oscar-Gewinnerin Alicia Vikander wird ab dem 13. August exklusiv auf Netflix verfügbar sein.

Einen Kinostart am 7. Oktober sicher hat der aus deutsch-nationaler Sicht interessanteste Piazza-Starter „Hinterland" von Oscarpreisträger Stefan Ruzowitzky mit Murathan Muslu, Liv Lisa Fries, Maximilian von der Groeben, Stipe Erceg und als Gast Matthias Schweighöfer: Die österreichisch-luxemburgische Produktion ist ein historischer Thriller zwischen „Sin City" und „Babylon Berlin".

Locarno-lokalpatriotisch wird es bei der Piazza Premiere von „Monte Verità" (Kinostart Ende 2021) des Schweizer Regisseurs Stefan Jäger: Max Hubacher, Hannah Herzsprung und Julia Jentsch spielen die Aussteiger, die Anfang des 20. Jahrhunderts das Paradies im Süden der Schweiz auf dem berühmten Berg Monte Verità suchten. Neben dem jungen Hermann Hesse (Joel Basman) gehörten die Tänzerin Isadora Duncan, die Gründerin des Monte Verità Ida Hofmann (Julia Jentsch) und Lotte Hattemer (Hannah Herzsprung), die Tochter des Berliner Bürgermeisters, zum veganen Kreis der ersten „Hippie-Kommune" der Welt. Der Monte Verità in Ascona, nur wenige Minuten von Locarno entfernt, ist heutzutage touristische Attraktion und auch Treffpunkt für Festivalgäste.

Im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden, der am übernächsten Samstag verliehen wird, ist unter den 16 Startern Abel Ferrara mit „Zeros and Ones" und Ethan Hawke in der Hauptrolle der einzige prominente Regisseur. Größere deutsche Produktions-Beteiligungen gibt es hier nicht.

Beim mutigen Neustart in der Öffnung vor der Delta-Welle steht nicht allein das Programm des nächsten neuen Festival-Direktors, des italienischen Kritikers Giona A. Nazzaro, unter besonderer Beobachtung. Nur zwei Wochen nach dem Cannes-Festival mit übervollen Sälen und teils laxen Corona-Maßnahmen werden viele schräge Blicke zu hustenden oder niesenden Fachgästen in den Kinoreihen gehen.

4.8.21

Locarno 2021 Beckett (Piazza Grande)


Während sich Cannes strickt gegen Filme wehrt, die nur bei Streaming-Anbietern und nicht im Kino zu sehen sind, eröffnet Locarno direkt mit dem Netflix-Film „Beckett" auf der  Piazza Grande!

Da musste der Cineasten-Himmel am Lago Maggiore einen ganzen Tag drüber weinen, aber in den regenfesten Drinnen-Kinos gab es nette und vor allem spannende Netflix-Unterhaltung: „Beckett" von Ferdinando Cito Filomarino erzählt die Geschichte des amerikanischen Touristen Beckett, der während eines Griechenlandurlaubs nach einem Unfall zur Zielscheibe einer Menschenjagd wird. Der Thriller mit John David Washington, Boyed Holbrook, Vicky Krieps und Oscar-Gewinnerin Alicia Vikander wird ab dem 13. August exklusiv auf Netflix verfügbar sein.

„Beckett" ist „Der Mann, der zu viel wusste" für das Netflix-Zeitalter. Es gibt etwas zuviel Spannung vor dem Unfall, dann folgt die klassische Geschichte einer Figur, die noch nicht weiß, was sie weiß. Denn es ist eine Kleinigkeit am Rande seines heftigen Autounfalls, die Beckett, den Programmier aus Ohio, zur Zielscheibe einer mysteriösen Frau und eines korrupten Land-Polizisten macht. Die amerikanische Botschaft in Athen glaubt die Geschichte nicht so richtig und so muss sich der Ahnungslose alleine nach Athen durchschlagen. Jeder, der ihm hilft, verringert seine Überlebens-Chancen.

Diese Hitchcock-Variation ist für heute Verhältnisse recht vorhersehbar. John David Washington zeigt gut viel körperlichen Einsatz, die interessante Film-Musik ersetzt Klassisches durch modernen Jazz. Im Ansatz ein altmodischer Politthriller, aber alles ziemlich vorhersehbar.

Hauptdarsteller John David Washington (der Sohn von ...) sagte auf der Piazza Grande, es gehe um das „Survival of the theatrical experience" (das Überleben des gemeinsamen Kinoerlebnisses). Und sogar im Nieselregen, der das Premierenpublikum nicht abgehalten hat.

Vicky Krieps, die eine deutsche Aktivistin in Griechenland spielt, meinte zu ihrer Motivation für diesen Part: „In jeder Stadt, wenn man die Menschen fragt, die auf der Straße leben, was sie über das Heute denken, über Kapitalismus, es ist einfach, sich in die Rolle zu versetzen."

Regisseur Ferdinando Cito Filomarino hatte schon 2010 einen Kurzfilm in der Nachwuchs-Sektion des Festivals „Pardi di domani". Nun konkurriert er zwar nicht um die Leoparden („Pardi"), aber eröffnet das Festival auf der Piazza Grande. Der künstlerische Leiter, Giona A. Nazzaro meinte dazu „Ein humanistischer Actionfilm". „Engagement und Unterhaltung" seien die Hauptzutaten der Piazza Grande". Etwas viel Marketing-Sprech, aber nun wissen wir, was sein Auftrag als Film-Programmier ist.

3.8.21

Fabian oder Der Gang vor die Hunde


BRD 2021 Regie: Dominik Graf, mit Tom Schilling, Saskia Rosendahl, Albrecht Schuch, Meret Becker 186 Min., FSK ab 12

Dominik Graf ist einer der begabtesten Regisseure unsere Zeit. Sogar seine Tatorte sind noch halbwegs interessant. Auch weil er mit „Im Angesicht des Verbrechens" und „München – Geheimnisse einer Stadt" so etwas wie Städte-Porträts hingelegt hat, liegt die Verfilmung des Klassikers von Erich Kästner in guten Händen. Das Bildungsbürgertum wird nicht zu sehr verschreckt, die Cineasten freuen sich über nette Details und eine ansprechende Arbeit.

Der Schriftsteller Jakob Fabian (Tom Schilling) arbeitet im Berlin des Jahres 1931 nur fürs Geld in der Werbeabteilung einer Zigarettenfabrik. Den Frust lebt er nachts mit seinem wohlhabenden Freund Labude (Albrecht Schuch) in verruchten Kneipen, schillernden Bordellen und wilden Künstlerateliers aus. Dann lernt Fabian die selbstbewusste Cornelia (Saskia Rosendahl) kennen, die beim Film arbeitet. Er verliebt sich, beide haben eine verrückt glückliche Zeit miteinander. Bis die Wirtschaftskrise zuschlägt. Fabian verliebt seinen Job und Cornelia macht Karriere als Schauspielerin, weil sie sich bei ihrem Chef und Verehrer prostituiert. Zu viel selbst für den hedonistischen Fabian, der an seiner Liebe zerbricht.

Erich Kästner, der sich mit einem fingierten Filmdreh im Tiroler Mayrhofen zu Kriegsende rettete, fing mit seinem 2013 neu betitelten Roman „Der Gang vor die Hunde" (Vorher: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten, 1931) die Zeitstimmung der frühen Dreißiger und die Vorzeichen der Diktatur ein.

Auch der Film lässt die Ruhelosigkeit der Zeit spüren. Mit vielen grandiosen Sätzen Kästners: „Krieg, Inflation, Arbeitslosigkeit. Man lagert ab, nicht nur der Körper, auch der Kopp." „Fabian" ist etwas Skandalchronik vom Sodom und Gomorra des alten Berlins. Aber auch eine wunderschöne Liebesgeschichte. Und das Porträt einer Lebenshaltung: Fabian ist ein sozialer Mensch, gibt Bettlern Geld und holt einen Obdachlosen zum Entsetzen der Kellner zu sich ins Restaurant. Sein Selbstbild hingegen: „Kein Ehrgeiz. Ich sehe zu, das ist genug. Wem ist damit geholfen? Wem ist zu helfen?" Und über seinen Job sagt er treffend vernichtend: „Blumigen Unsinn schreiben, damit die Welt noch mehr Zigaretten rauchte als zuvor. Den Untergang Europas konnte er auch woanders abwarten."

Graf führt sein Können in vielfältigen Darstellungsformen vor: Alte Dokus. Split Screen, Stadtkarten und Stummfilm-Titel. Tom Schilling zieht wieder wie in „Oh Boy" durch die Nacht, nur diesmal sieht vieles nach „Babylon Berlin" aus. Allerdings mit dem speziellen, besonders echt wirkenden Graf-Touch. Über einen Gang der heutigen U-Bahn taucht der Film elegant in die Vergangenheit ein und findet noch viel Zeitgemäßes in Architektur und Kunst.

Saskia Rosendahl brilliert als tragisches Herz des Films mit pragmatischem Überlebenswillen. Ein Stehauf-Mädchen und ähnlicher Typ wie die Charlotte „Lotte" Ritter von Liv Lisa Fries in „Babylon Berlin" nur mit gebrochenem Herzen. Eine großartige Meret Becker bringt als Zuhälterin für schöne Jungs wunderbare Sätze, die wie für sie gemacht scheinen – „Verhungern ist Geschmacksache". Und auch im ironischen Off-Kommentar schwingt eine Haltung mit, der vorgeblich alles egal ist. Während die SA schon Leute auf der Straße verhaftet.

Das alles ist auch über mehr als drei Stunden Länge nett anzusehen. Wobei Fabian selbst am zynischsten die Sinnfrage gestellt hätte: Wozu all der Aufwand? Vor dem Faschismus warnen wie gehabt? Die Gefahren für heute liegen woanders und werden in anderen Filmen gezeigt.

Quo Vadis, Aida?


Bosnien-Herzegowina, Österreich, Rumänien, Niederlande, BRD, Polen, Frankreich, Norwegen, Türkei 2020 Regie: Jasmila Žbanić, mit mit Jasna Đuričić, Izudin Bajrović, Boris Ler, Dino Bajrović 104 Min. FSK ab 12

Wie die bosnische UN-Dolmetscherin Aida mitten im Massaker von Srebrenica versucht, ihre Familie zu retten, ist nicht nur der erschütterndste, sondern auch der wichtigste Film des Jahres.
Nach vier Jahren Jugoslawien-Krieg nehmen die serbischen Heerscharen im Juli 1995 die bosnische Kleinstadt Srebrenica ein. Sie ermorden direkt alle Politiker, deren Name auf irgendwelchen Listen stehen. Ein paar hundert Bewohner retten sich in das UN-Lager, davor warten 25.000 unter extremen Bedingungen auf den zugesagten Schutz. Doch die versprochenen Bombardements bleiben aus, die brutalen Killer von General und mittlerweile verurteiltem Kriegsverbrecher Ratko Mladić haben freie Hand und am Ende werden über 8000 Männer hinterhältig ermordet, statt in Bussen in die Freiheit gebracht.
Inmitten dieser historischen Katastrophe Europas und der europäischen Politik versucht die ehemalige Lehrerin Aida (Jasna Đuriči) zu helfen. Als Übersetzerin für die Blauhelme ist sie am Rande der großen Politik und von deren Folgen direkt betroffen, da ihr Mann und zwei erwachsene Söhne draußen in der Menge auf Rettung hoffen.
Regisseurin Jasmila Žbanić, geboren 1974 in Sarajevo, beschäftigt sich in ihren Filmen immer wieder mit diesen schwersten Kriegsverbrechen in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs. 2006 erhielt sie den Goldenen Bären für „Esmas Geheimnis – Grbavica". Nun spiegelt sie klug Tausende Schicksale einer ganzen Bevölkerungsgruppe in einem persönlichen Drama. Selbst wenn die Morde nie direkt gezeigt werden und Žbanić auch die Lager auslässt, wo gefangengenommene Frauen systematisch vergewaltigt und prostituiert wurden, ist „Quo Vadis, Aida?" trotzdem oder gerade deshalb eine erschütternde Anklage der laienhaften EU-Politik.


2.8.21

Die perfekte Ehefrau


Frankreich, Belgien 2020 (La bonne épouse) Regie: Martin Provost, mit Juliette Binoche, Yolande Moreau, Noémi Lvovsky 110 Min., FSK ab 12

Juliette Binoche, Yolande Moreau und Noémi Lvovsky leiten in der teilweise skurrilen Komödie „Die perfekte Ehefrau" eine Erziehungsanstalt für schlechter gestellte Töchter. Ein schauspielerischer Leckerbissen und letztlich eine begeisternde Geschichte von Frauen-Befreiung.

De Gaulle schaut streng von der Wand und Adamo schmettert vom Plattenspieler seine Schnulze „Tombe la neige". Zusammen mit ihrer Schwägerin Gilbert (Yolande Moreau) und der Nonne Schwester Marie-Thérèse (Noémie Lvovsky) führt Paulette Van der Beck (Juliette Binoche) Ende der 1960er-Jahre eine Haushaltsschule im Elsass. Der eigentliche Schulleiter Robert Van der Beck (François Berléand) schaut lüstern den Schülerinnen hinterher. Sein Dahinscheiden an einem Stückchen seines Lieblingsessens - flambiertes Kaninchen - wird herrlich komisch aus der Distanz gefilmt. Auch die Charakterisierung der drei Hausherrinnen macht sich deftig lustig: Paulette hält im eleganten Kostümchen Vorträge über Vernunftehe und wiederholt die Regeln der perfekten Hausfrau, wie das Staubsaugen immer im Uhrzeigersinn! Die kindliche Gilbert lebt nur in der Küche auf und macht begeistert das Köpfen von Hühnchen vor. Selbst Schwester Marie-Thérèse wird ihre Haltung als knallharte Antikommunistin und alte Widerstandskämpferin angesichts der umwälzenden Veränderungen ablegen. Denn als Paulette nun die katastrophalen Finanzen der Schule übernimmt und gegen ihre Regeln selbst Geld bekommt, trifft sie in dem Banker auf ihre Jugendliebe. Während in Paris Unruhen auflodern, übernehmen Leidenschaften und Frauenbefreiung im fernen Elsass das Zepter. Ein grandios gespielter und stilistisch oft überbordender Spaß.

Abseits des Lebens


USA 2020 (Land) Regie: Robin Wright, mit Robin Wright, Demián Bichir, Kim Dickens, 90 Min. FSK ab 6

Nach einem tragischen Ereignis zieht sich Edee (Robin Wright) zurück in die Einsamkeit der Rocky Mountains. Sehr weit zurück, das Telefon landet im Müll, selbst den Wagen, mit dem sie dorthin kam, ließ sie abholen. Recht ungeschickt und sich selbst überschätzend geht das „Zurück zur Natur" gründlich schief: Holzfällen klappt gar nicht, das Gemüse geht ein, ein Bär verwüstet die Hütte und frisst die restliche Nahrung. Und dann kommt erst der Schnee. In letzter Minute rettet sie ein einheimischer Jäger (Demián Bichir), obwohl Edee nichts mit anderen Menschen zu tun haben, selbst nicht gerettet werden wollte.

Die Schauspielerin Robin Wright („House of Cards", „Wonder Woman") erzählt in ihrem Kino-Regiedebüt von einer extremen Lebenssituation in viel freier Natur. Witzigerweise wird der Film trotz Wrights Können erst interessant, als eine zweite Figur auftaucht und eine vorsichtige Annäherung stattfindet. Einige rührende Szenen und eindrucksvolle Landschaftsaufnahmen helfen über zu viel Trauer-Einerlei hinweg.