29.12.21

Das Buch von Boba Fett / Disney+


USA 2021 (The Book of Boba Fett) Regie: Robert Rodriguez, mit Temuera Morrison, Ming-Na Wen, Jennifer Beals, Folgen je 38 Min.

In der „Großen Grube von Carkoon" auf dem Wüstenplaneten wühlt sich ein Storm Trooper nach Jahrzehnten aus den Gedärmen des Sandwurms Sarlacc. Was da von Disney und dem Über-Produzenten Jon Favreau aus dem Verdauungs-Track ausgegraben wurde, ist die Nebenfigur des Kopfgeldjägers Boba Fett, der beim Kampf mit Luke Skywalker in die Grube stürzte und unter „Star Wars"-Fans Kult wurde. Mit dem unsinnigen T-förmigen Sichtschlitz im Helm entstand ein „Super-Trooper" (George Lucas) mit eigentlich lächerlichen technischen „Fähigkeiten": So muss dieser „Kämpfer" in die Knie gehen, um Raketen aus dem Rucksack abzuschießen! James Bond fliegt da vor Lachen aus dem Schleudersitz. 

Nun will das stiernackige Pummelchen Bobo Fett (Temuera Morrison) mit seiner Assistentin, der Meister-Attentäterin Fennec Shand (Ming-Na Wen), in Nachfolge von Jabba the Hutt und Bib Fortuna Gangsterboss des Wüsten-Planeten Tatooine werden. Zwischendurch erinnert er sich an seine Gefangenschaft bei den Tusken-Sandleuten.

Mehr passiert in den ersten 38 Minuten von „Boba Fett" nicht. Im Sinne einer korrekten Berichterstattung, die von Disney in keiner Weise unterstützt wird, kann man zu nur einer Folge dieser Fan-Veranstaltung eigentlich nichts sagen. Nach dem Rezept von „The Mandalorian" gibt es eine verstaubte Spielekiste voll alter Figuren und „Star Wars"-Kram, der mit digitalen Putzmitteln auf Hochglanz gebracht wird.

So kann man nur weiter auf das Genie von Jon Favreau hoffen, der als kreativer Kopf hinter „Iron Man" und „The Mandalorian" steht. Er bemüht sich, der „Trooper"-Rüstung von Boba Fett ein Gesicht und eine Geschichte zu geben. Im Gegensatz zum sensationellen Vorgänger ist diese Wiederverwertung einer Western-Stadt im Weltall unter der Regie von Robert Rodriguez erschreckend charakterlos. Selbst die Musik von Ludwig Göransson findet kein Motiv für einen banalen Dickschädel.

Die kurzen Kapitel zu „Das Buch von Boba Fett" werden mittwochs auf Disney+ gezeigt.

28.12.21

Macbeth (2021)


USA 2021 (The Tragedy of Macbeth) Regie: Joel Coen, mit Denzel Washington, Frances McDormand, Bertie Carvel, 105 Min.

Das Solo-Regiedebüt „Macbeth" von Joel Coen ist mal ein Coen-Film, bei dem es nichts zu lachen gibt. Freude kommt trotzdem auf, bei der exquisiten Darstellerriege und der erlesenen Gestaltung.

Man könnte eine in der Art von „Fargo" lustige Szene schreiben, in der die Frau (Frances McDormand als Frances) eines mit seinem Bruder erfolgreichen Regisseurs (Joel Coen als Joel) dem Gemahl im Stile der Lady Macbeth einflüstert, doch mal was Eigenes zu machen. Und sie selbst dann gleich prominent zu besetzen. Wie es zu dem ersten Coen-Solo überhaupt kam, interessiert aber eigentlich nicht. Wichtig ist, dass „Macbeth" ein großer Wurf mit eigener Handschrift ist!

Schon die Hexen-Szene zum Auftakt erweist sich als cineastisches Festmahl im Gegensatz etwa zu Polanskis berühmtem Vorgänger von 1971 mit viel nackiger Maske und Hippie-Einflüssen, beeindruckt die zentrale Prophezeiung zum Schicksal des gerade siegreichen schottischen Lehensmannes Macbeth (Denzel Washington) durch Reduktion: Die bekannte britische Schauspielerin und Theaterregisseurin Kathryn Hunter spielt eine dunkle Hexe mit heftigen Verrenkungen, die anderen beiden kommen durch Schatten hinzu, bevor alle als digital getrickste Raben davonfliegen. Schwarzweiß ist übrigens der ganze Film (siehe der Coens „The Man Who Wasn't There", 2001), dazu im strengen, altmodischen Academy-Format fast quadratisch.

Zuhause macht eine eiskalte Lady Macbeth (Frances McDormand, auch Koproduzentin) dem schlaffen Gatten mit Shakespeares fein geschliffenen Dialogen kräftig Druck, doch zuerst den großzügigen König und dann gleich wahnsinnig viele andere Konkurrenten umzubringen. Der Rest ist nicht Schweigen, sondern feinste Schauspielkunst. Denzzzzel versucht sich gar nicht erst an schottischem Dialekt, er ist in Artikulation und gestischen Manierismen lange er selbst und dann im überwältigenden Wahn nur noch großartig. Coen beließ es beim Originaltext, kürzte aber kräftig ein.

Auch Lady Coen, vulgo: Frances McDormand, hat schöne Szenen. Doch bemerkenswerter ist die gemeinsame Arbeit von Setdesign und Kamera (Bruno Delbonnel): Die kunstvollen Kulissen und Kameraideen werfen harte Schatten wie im Expressionistischen Film. Das Schloss ist eher eine reduzierte Idee, eine Skizze des Gebäudes, denn ein Abbild. Perfekte Umgebung für ein starkes und kurzweiliges Stück Theaterverfilmung, das ganz weit weg von der Bühne ist.

Kinostart ab 26. Dezember in vereinzelten Kinos, nicht in unserer Region. Ab 14. Januar auf Apple TV+

Schwanengesang (2021) / Apple TV+


USA 2021 (Swan Song) Regie: Benjamin Cleary, Mahershala Ali, Glenn Close, Naomie Harris, 116 Min.

Wie in der „Solos"-Episode mit Anthony Mackie (auf Amazon) dreht sich auch im Spielfilm „Schwanengesang" alles um einen Todkranken, der einen Klon „anlernt", damit dieser bei unwissender Frau und Kind seinen Platz einnimmt. Der Zeichner Cameron (Mahershala Ali) wird von Anfällen gequält und schon der nächste könnte tödlich sein. Deshalb „bucht" der Ehemann und Vater bei der Chefin des „Kopier-Ladens" Dr. Scott (Glenn Close) eine gesunde genetische Kopie seiner selbst. Nach viel Zweifeln und ethischer Diskussion am Küchentisch folgt ein tagelanger Erinnerungs-Abgleich mit emotionaler Achterbahn. Vor allem der romantische und witzige Moment der ersten Begegnung mit seiner zukünftigen Frau Poppy (Naomie Harris) macht Cameron den Abschied schwer.

Trotz Eifersucht gegenüber dem Double ist „Schwanengesang" nur kurz dramatisch. Die Situation eines doppelten Schwarzenegger aus „The 6th Day" ergibt hier einen friedlichen Abschied. Die Originale bleiben danach einsam zum Sterben zurück auf dem Wellness-Gelände des Unternehmens. Glenn Close spielt souverän die ruhige Übermutter neuer Kunstmenschen. Mahershala Ali („Moonlight", „The Green Book") zeigt in Doppelrolle viele Gesichter.

Mit Holz und warmen Farben - statt Stahl und Glas - zeigt „Schwanengesang" eine in Ausstattung und Technik reizvolle Zukunft. In der die Idee eines Ersatzkörpers monothematisch bedacht und in Momenten der Eifersucht auf sich selbst dramatisiert wird. Letztlich verläuft der Abschied von den nichtsahnenden Liebsten etwas tröstlicher, doch immer noch schmerzlich.

Being the Ricardos

USA 2021 (Being the Ricardo's) Regie: Aaron Sorkin, mit Nicole Kidman, Javier Bardem, J.K. Simmons, 126 Min., FSK: ab 12

Die überaus erfolgreiche 1950er-Jahre Sitcom „I Love Lucy" hätte man ruhig in „Alle lieben Lucy" eindeutschen können. Immerhin waren die albernen Episoden rund um Lucille Désirée Ball (1911-1989) so erfolgreich, dass in den USA Shopping-Abende den Wochentag wechselten. Wurde „I Love Lucy" ausgestrahlt, kam niemand. Nun zeigt Aaron Sorkin (Schöpfer „The West Wing", Drehbuchautor des David-Fincher-Films „The Social Network") unterhalt- und einfühlsam, was hinter der lächerlichen Nichtigkeit, von 1951–1957 in 180 Folgen ausgestrahlt, steckte: Eine ehrgeizige und kluge Hauptdarstellerin. Sowie ein untreuer Ehemann und Produzent.

Die Figur der Lucy (Ball) war in den 50er derart erfolgreich, die seltsam naiv-gewitzte Hausfrau derart ikonisch, dass sogar heute noch Nachbeben in der Medienwelt existieren: In Neil Gaimans Roman und Verfilmungs-Serie „American Gods" ist Lucy (gespielt von Gillian Anderson) neben Monroe eine der modernen Medien-Götter des heutigen Amerikas. Dort nennt sie sich Lucy Ricardo, in der Show „I love Lucy" sind Lucy und Ricky Ricardo die ewig kebbelnden, aber glücklichen „Ricardos" des Titels. Privat sah es zwischen Lucille Ball (Nicole Kidman) und ihrem schillernden Show- und Ehepartner Desi Arnez (Javier Bardem) anders aus. Der hervorragende Autor und gute Regisseur Aaron Sorkin komprimiert in „Being the Ricardos" eine Woche Vorbereitung auf die vor Publikum aufgenommene Show mit einer politischen, dramaturgischen und privaten Krise.

Ein beiläufiger Satz in einer nebensächlichen Talkshow versetzt die Welt um Lucille Ball in Panik: Lucy war Mitglied der kommunistischen Partei! Anfang der 50er war Höhepunkt der menschenverachtenden Hexenjagd des Senators McCarthy und des späteren Präsidenten Nixon. Allein ein Verdacht oder die Vorladung vom „Komitee für unamerikanische Umtriebe" zerstörten Karrieren und Leben. So warten Lucille und Desi, das ganze Team und vor allem Sender und Sponsoren gespannt, ob die Erwähnung zu einem „Shitstorm" in den Medien wurde. Eine andere Meldung interessiert Lucy fast mehr, groß macht eine Zeitung mit dem Foto von Desi und einer anderen Frau auf. Auch wenn es sich als alte Geschichte herausstellt, bleibt der Schmerz, dass der charismatische Musiker und Entertainer seine Nächte in Clubs durchmacht. Lucille hat drei Häuser, aber kein Zuhause.

Gegen das zeitgemäße Image der naiven Hausfrau schreibt nicht nur die Haupt-Autorin an. „Being the Ricardos" zeigt Lucille in Rückblenden als talentierte Schauspielerin, erfolgreiche Komödiantin im Radio und schließlich als Star, der für jede Kleinigkeit bei den Proben kämpft, damit der Witz anständig funktioniert. Vielschichtig schaut Sorkin genau auf die Psychologie des produktiven Paares: Um ihre Ehe zu retten, will Lucille ihrem Desi, der inoffiziell Manager, Produzent und wichtige Figur ist, dem immer noch nicht ganz angekommenen Kubaner einen offiziellen Produzenten-Titel zuschanzen. Medienhistorisch platzt noch eine Schwangerschaft in die Langzeitplanung und eine puritanische TV-Welt, die nicht mal das Wort „schwanger" erlaubt, geschweige dann in der Serie auftauchen lässt.

Aaron Sorkin komprimiert die Ereignisse mehrerer Jahre in diese intensive und schnelle Woche von „Being the Ricardos". Javier Bardem führt einen bis in die Nebenrollen grandiosen Cast an. Kidman spielt über die irritierende Maske hinweg, die sich über ihr Botox-Gesicht legt. Bis zur großen Shownummer im Finale, mit J. Edgar Hoover als Ass im Ärmel, packen die lebendigen Figuren, amüsieren die spritzige Dialoge und fasziniert die ungemein faszinierende Hintergrund-Geschichte.

27.12.21

Kitz / Netflix ab 30.12.


BRD 2021, Regie: Maurice Hübner, Lea Becker, mit Sofie Eifertinger, Bless Amada, Valerie Huber, 6 Folgen je ca. 40 Min.

Kids und Kitzbühel – die hemmungslose Party namens Après-Ski ist eine gefährliche Mischung, wie man nicht erst seit dem Infektionsherd Ischgl weiß. Die 19-jährige Lisi (Sofie Eifertinger) gibt in der Welt der ganz schön Reichen das Aschenputtel. Allerdings wartet die ehrgeizige Modedesignerin mit einer deftigen Überraschung im Stil von „Ich weiß, was du letzten Winter getan hast" auf. Da starb ihr Bruder und Lisi gibt der 19-jährigen Münchener Millionärstochter Vanessa (Valerie Huber) die Schuld. Nun tut die Kitzbühelerin erfolgreich alles, um in die Clique der blonden Influencerin aufgenommen zu werden. Der Clash von jungen, reichen Invasoren wie dem süchtigen Hotelerben als Freddy Mercury-Verschnitt und den Einheimischen in Form seines Geliebten, eines Bauernsohnes, könnte TV-Soap aus dem Alpenland sein. Doch die sichere Inszenierung mit viel Party-Getue und Hedonismus zeigt sich nicht ganz unterkomplex, führt nicht nur Stereotype vor. Klasse ambivalent ist der Sechsteiler „Kitz" (Showrunner: Nikolaus Schulz-Dornburg, Vitus Reinbold) vor allem in der Hauptrolle.

Das „Party-Drama" für Kids startet am 30.12. auf Netflix.

22.12.21

The Lost Leonardo


Dänemark, Frankreich 2021, Regie: Andreas Koefoed, 100 Min., FSK: ab 0

Der Kunst-Thriller mit gesund skeptischem Blick auf den Kunst-Markt dokumentiert die Geschichte des Gemäldes Salvator Mundi, das 2017 für 450 Millionen verkauft wurde. Es ist Politikum, dass Mohamad bin Salman, Kronprinz von Saudi-Arabien, der für den Khashoggi-Mord verantwortlich gemacht wird, der Käufer ist. Doch die spannende Frage des ganzen Films mit seinen vielen Interviews und „Talking Heads" lautet: Ist es wirklich ein lange verschollenes Meisterwerk Leonardo da Vincis? Detailvergleiche machen „The Lost Leonardo" optisch reizvoll. Während auch nach Fertigstellung des Films immer mehr Kunsthistoriker zweifeln und das Louvre 2019 auf eine Zurschaustellung verzichtet hat, sind gerade die Mechanismen der Entwicklung eines solchen Hypes gut zu folgen. Besonders interessant bei schillernden Figuren wie der Kunstrestauratorin Dianne Modestini, die den Tod ihres Partners mit der Entdeckungsarbeit am vermeintlichen Leonardo verband.

La Fortuna / Sky


Spanien 2021 Regie: Alejandro Amenábar, Álvaro Mel, Ana Polvorosa, Stanley Tucci, sechs Folgen je ca. 45 Min.

Nach den grandiosen Erfolgen von „Abre los ojos" (1997), „The Others" (2001) und „Das Meer in mir" (2004, Oscar für den besten fremdsprachigen Film) wurde es still um den spanischen Regisseur Alejandro Amenábar. „Agora - Die Säulen des Himmels" (2009) war noch interessant, „La Fortuna" ist nun die erste Fernsehserie des Oscar-Preisträgers. Ein überzeugender Kulturkampf um altes Gold, mit dem auch Neue Medien gemeint sein können.

Álex Ventura (Alvaro Mel), der sehr junge Absolvent einer spanischen Diplomaten-Schule, und der erfahrene US-amerikanische Abenteurer Frank Wild (Stanley Tucci) sind gänzlich gegensätzliche Typen. Der eine scheint seine Hoffnungen auf den Traumjob in einem Berg von Briefen begraben zu müssen. Der andere hat gerade den größten Schatz aller Zeiten in einem versunkenen Schiff bei der Meerenge von Gibraltar entdeckt. Gold- und Silbermünzen im Wert von einer halben Milliarde. Trotzdem werden Álex und Frank erbitterte Gegner im Kampf um den Schatz der „Fortuna".

Der jugendlich naive Álex wollte eigentlich am ersten Arbeitstag im Kulturministerium beim Minister vorsprechen. Doch es dauert ein paar lustige bis peinliche Szenen, bevor er tatsächlich mit beschwipstem Koreanisch auf sich aufmerksam macht. Der unerfahrene Diplomat überwindet die Trägheit seiner Kollegen und weckt den Kämpfergeist des linken Ministers. Álex soll für Spanien einen Schatz beanspruchen, den der berüchtigte Plünderer Frank Wild aus dem Meer geborgen hat. Dafür muss laut US-Recht innerhalb von sieben Tagen bewiesen werden, dass die Münzen von einem spanischen Wrack stammen. Wir haben zwar in einer Rückblende gesehen, wie hinterhältige Briten 1804 die Fortuna mit seinen zivilen Passagieren versenkt haben, doch bei hunderten Wracks vieler Seeschlachten rund um Gibraltar wird der Beweis zur Nadelsuche im Heuhaufen. 

Das Drehbuch zur spanischen Serie basiert auf der Graphic Novel „El Tesoro del Cisne Negro" („Der Schatz der Black Swan") von Paco Roca und Guillermo Corral, die wiederum von der wahren Geschichte der spanischen Fregatte „Nuestra Senora de las Mercedes" inspiriert ist. 1804 von der britischen Marine versenkt, wurde ihr Schatz 2007 vom amerikanischen Unternehmen Odyssey Marine Exploration geborgen. Die spanische Regierung führte über mehrere Jahre hinweg eine Reihe von Rechtsstreitigkeiten, um schließlich die mehr als 500.000 Gold- und Silbermünzen zurückzuerhalten.

„La Fortuna" zeigt sich in der ersten beiden Folgen, die zur Sichtung freigegeben waren, als Kultur-Thriller mit interessanten Figuren, ansprechender Inszenierung und spannender Kulturgeschichte. In dem Sinn, dass aufgezeigt wird, welchen Wert Kultur in der spanischen Gesellschaft hat, und nicht nur dort. Die alten Fronten zwischen Spanien und England sowie den Vereinigten Staaten sind immer noch da und es ist ganz klar, auf welcher Seite die Serie steht. Auch wenn sie nicht an Kritik gegenüber der eigenen verstaubten und korrupten Kultur-Politik spart.

Es ist natürlich nicht nur ein wenig ironisch, dass der Schatzraub genau das beschreibt, was in Sachen Film und Serie aktuell weltweit passiert: Der imperiale Konzern Netflix beutet die Medienschaffenden kleinerer Film-Nationen aus, um deren Produkte weltweit zu verwerten. Ob das jetzt gut für die „Kleinen" oder nur gut für Netflix ist, bleibt umstritten. Wobei direkt eine Entschuldigung in Richtung Spanien fällig ist, dies Land ist eine große Film-Nation, was diese Serie wieder belegt.

Ab 24. Dezember ist „La Fortuna" täglich ab 18.25 Uhr in Doppelfolgen auf Sky One zu sehen. Ab 24. Dezember ist die komplette Staffel auf Sky Ticket und über Sky Q auf Abruf verfügbar. 

The Matrix Resurrections


USA 2021, Regie: Lana Wachowski, mit Keanu Reeves, Carrie-Anne Moss, Yahya Abdul-Mateen II, 148 Min., FSK: ab 16

Matrix-Reboot als Liebesfilm

Was war das Einzigartige an „Matrix"? Fragt sich ein krampfhaft bunt zusammengewürfeltes Kreativen-Team, das für den Konzern Warner gezwungenermaßen einen vierten Teil entwickeln soll. Unter ihnen der legendäre Spiele-Designer Thomas Anderson (Keanu Reeves), der nur durch die tägliche blaue Pille davon abgehalten wird, seine Schein-Existenz zu erkennen. Sich zu erinnern, dass er selbst der Held Neo seines Spieles ist. Zum Song „White Rabbit" von Jefferson Airplane („One pill makes you larger, And one pill makes you small") setzt diese grandiose Sequenz selbstreferentiell und kongenial die legendäre „Matrix"-Trilogie fort. 

Während andere Neustarts und Fortsetzungen sich meist mit dem Ballast des Kultstatus schwertun, reflektiert „Matrix" raffiniert und witzig die eigene Situation, den ganzen nachträglich reingedichteten philosophischen Überbau und sogar den Druck des Konzerns Warner, unbedingt doch noch den nie beabsichtigten vierten Teil zu machen. „The Matrix Resurrections", die späte Fortsetzung von „Matrix" (1999) und den ersten Fortsetzungen „Matrix Reloaded" (2003) sowie „The Matrix Revolutions" (2003), ist lange ein Arthouse-Film über einen Actionfilm-Erfolg. 

Ein neues, junges Rebellen-Team und ein anderer Morpheus holen Neo nach einigen Auseinandersetzungen zurück in den Kampf gegen die Maschinen. Laurence Fishburnes Morpheus und wird in „Matrix: Resurrections" von Abdul-Mateen II ersetzt. Und der Kampf durch die Liebe. Denn die Matrix und der Film „Matrix 4" leben durch die – wortwörtliche – Energie nicht eines Einzelnen, sondern eines messianischen Paares. Liebe ist hier nicht nur die Kraft der Veränderung: Wunderbar zynisch erklärt der Gegner/Psychiater (Neil Patrick Harris) während einer grandios gedehnten Verkehrung des berühmten Bullet Time-Zeitraffers, dass liebende Menschbatterien viel mehr Strom generieren.

Weitere „Game-Changer" sind für SciFi-Fans faszinierende neue Figuren und Techniken, dazu hat sich die Mentalität geändert: Die Rebellen kooperieren teilweise mit den bedrohlichen Maschinenwesen der Trilogie. „Matrix: Resurrections" betont letztlich, dass alles möglich sei - Neo und Trinity könnten den Himmel mit Regenbogen bemalen. Also ist auch Wandel möglich – wohl die unzeitgemäß hoffnungsvolle Kernaussage dieser intelligenten Action-Kreatur.

Neben aller Filmhistorie ist die ganze „Matrix"-Geschichte ein faszinierendes Gender-Spiel: Heute firmieren die Schwestern Lana Wachowski und Lilly Wachowski als Regisseurinnen. Zum Zeitpunkt der Trilogie hießen sie Andy beziehungsweise Larry Wachowski und galten als Männer. Theorien über Männer- und Frauen-Filme könnten nach diesem Geschlechterwechsel der Regie-Stars etwas durcheinandergeraten. Oder das Genre der Transgender-Action neu entwickelt werden.

Lana Wachowski beweist, dass sie immer noch Visionäres auf die Leinwand bringen kann. Die Action zitiert sich eher selber, ist aber generell nicht mehr so wichtig. Keanu Reeves lässt seine berüchtigte Lässigkeit in die alte und neue Rolle einfließen. Zum Wandel gehört auch, dass beim legendären großen Sprung diesmal nicht Neo, sondern Trinity (Carrie-Anne Moss) für eine Überraschung sorgt. Bekannt kommen einem nicht immer wieder die kurzen „Déjà-vu" aus „Matrix 1-3" vor. Déjà-vu heißt übrigens die Katze von Andersons Psychiater. Max Riemelt bekannt aus der Wachowski-Serie „Sense8" spielt einen der Rebellen. Tom Tykwer, ansonsten auch schon mal Ko-Regisseur der Wachowskis versorgte die Musik mit.

21.12.21

Ein Festtag


Großbritannien 2021 (Mothering Sunday) Regie: Eva Husson, mit Odessa Young, Josh O'Connor, Colin Firth, 104 Min., FSK: ab 12

Das Dienstmädchen Jane (Odessa Young) hat diesen Sonntag frei. Es ist Muttertag 1924. Ein bitterer Muttertag in einer Zeit fast ohne Söhne den Schützengräben des „Großen Krieges". Bitterkeit ist tief und unauslöschlich ins Gesicht von Mrs. Niven (Olivia Colman) geschrieben. Mr. Niven versucht verzweifelt, die Stimmung aufrecht zu erhalten. Wie Colin Firth diesen herzensgut verzweifelnden Mann noch großartiger als sonst spielt, ist allein diese Graham Swift-Verfilmung wert.

Die Nivens wollen mit den benachbarten Sheringhams Verlobung feiern, die mit Paul (Josh O'Connor) noch einen Sohn haben. Der wird allerdings vermisst, weil auch er feiert: Die sturmfreie Bude mit Jane, dem Dienstmädchen seiner Nachbarn. Tatsächlich ein weichgezeichneter Festtag aus Liebe und Sinnlichkeit. Das Licht des Frühlings legt sich sanft auf nackte Haut. Die angekündigte Hochzeit verursacht kein Geschrei oder Tränen, sie verstärkt die Innigkeit des Moments. Nachdem Paul doch zum Treffen mit den Nivens abgefährt, erweist sich Jane beim nackten Streunen durch das verlassene Schloss erstaunlich selbstbewusst. Steckt da schon die spätere Persönlichkeit einer erfolgreichen Autorin in ihr? Denn dieser „Festtag", der Janes Leben änderte, wird in einem gleitenden Strom von Ereignissen über drei Zeitebenen auf ungemein schöne und elegante Weise erzählt.

Eine französische Regisseurin Eva Husson liefert neuen Stoff für Freunde von Ur-Britischem wie „Downton Abbey" und „The Crown" (das ja noch fast ein Jahr auf neue Folgen warten lässt). Allerdings legt sie mit ihrer Ästhetik einen eigenen Schwerpunkt. Nicht gefesselt von den überkommenen Gesellschaftsformen sprengen ihr Stil, sinnliche Bilder und die Erzählform den erwarteten Rahmen. Genau wie es die Hauptfigur tut. Der Weg des Waisenkindes Jane („wir Waisenkinder haben immer einfache Namen") zur erfolgreichen Autorin wird nicht dramatisch geschildert. „Ein Festtag" ist nicht das Sozialdrama einer Liebe, die an Klassenunterschieden des beliebten „Upstairs-downstairs"-Genre scheitert.

Nach Graham Swifts Roman „Ein Festtag", der 2017 erfolgreich erschien, umkreisen Zeitebenen die Folge eines tragischen Tages. Das Dienstmädchen Jane wird zur Buchhändlerin, bekommt eine Schreibmaschine geschenkt, verliert als angehende Autorin ihren Partner. Als alte Frau bekommt sie einen weiteren großen Literaturpreis zugesprochen. Unglaublich gut, wie Odessa Young Phasen dieses Lebens spielt, als wenn es unterschiedliche Schauspielerinnen wären. (Die ganz alte Jane wird dann tatsächlich von Glenda Jackson verkörpert.) Derweil schreibt sich die Geschichte selbst, wenn wir hören, dass sich der „Festtag" gemäß den Erwartungen der Verlegerin in einen Thriller entwickeln soll.

Die wunderbare Kamera von Jamie Ramsay erzeugt Stimmungen zum Schwelgen, vor allem in der Musik Morgan Kibbys lauert eine düstere Vorahnung. Ein Höhepunkt ist der exquisite Kameramoment der schrecklichen Nachricht, wenn sich das Schauspiel von Odessa Young und Firth in der spiegelnden Scheibe des Wagens bricht. Und Firths Niven immer noch nicht zusammenbricht. Emanzipation zeigt sich in kleinen Zeichen wie dem Buchtitel von „Ein Zimmer für sich allein" (A Room of One's Own), Virginia Woolfs feministischem Text.

„Ein Festtag" ist ein cinematografisches Fest, das erhöhte Aufmerksamkeit für den reizvoll raschen Wechseln der Ebenen mit großem Kino-Glück belohnt. Grandiose Schauspieler wie Odessa Young („Steven King's The Stand", „Shirley"), Colin Firth („The King's Speech", „Supernova") und Olivia Colman („The Crown") vollenden die exzellent umgesetzte, außergewöhnliche Geschichte.

20.12.21

Drive my Car


Japan 2021 Regie: Ryûsuke Hamaguchi, mit Hidetoshi Nishijima, Toko Miura, Reika Kirishima, 179 Min., FSK: ab 12

Eine der für die Popularität des japanischen Autors Murakami seltenen Verfilmungen macht alles richtig, weil Regisseur und Drehbuchautor Ryûsuke Hamaguchi weniger dem Text als „dem Gefühl, das er beim Lesen hatte", gefolgt ist. Eine gleichermaßen freie wie vertraute Verfilmung um die Themen Untreue und Trauer. Murakami angereichert mit etwas Tschechow.

Der bekannte Theater-Regisseur und -Akteur Kafuku (Hidetoshi Nishijima) bereitet eine Vorführung von Tschechows „Onkel Wanja" vor, während seine Frau Oto (Reika Kirishima), eine TV-Autorin, ihn betrügt. Bevor es zur Klärung kommt, stirbt sie plötzlich. Zwei Jahre später - nach 40 Minuten kommen endlich die Filmtitel - ist Kafuku auf dem Weg nach Hiroshima zu einer Gast-Regie. Doch hier darf der passionierte Autofahrer, der immer „auf der Straße" seine Texte lernt, wegen eines Unfalls einer seiner Vorgänger nicht selbst ans Lenkrad. Das Theater hat Misaki Watari für ihn engagiert. Tôko Miura wirkt in dieser Rolle, wie Murakami sie beschrieb: Unscheinbar, keineswegs attraktiv, schweigsam, wenn nicht gar derb und mit großen Augen aufmerksam blickend. Bevor es allerdings nach einer weiteren Stunde Filmzeit zur wortarmen Aussprache der beiden Trauernden kommt, entdeckt Kafuku im zu jungen Darsteller des Wanja, in dem gestürzten TV-Star, den vermeintlichen Liebhaber seiner Frau. Eine seltsame Situation, die der Film ausführlich und reizvoll auskostet.

Die hoffnungslose Stimmung von „Onkel Wanja" passt zu der Kafukus, dessen Namen im Japanischen übrigens Kafka ähnelt: Murakamis „Kafka am Strand" (jap. 海辺のカフ) heißt transkribiert „Umibe no Kafuka". Tatsächlich nicht einfach, was Kafuku widerfährt: Er sieht, wie seine Frau fremdgeht, hat einen Autounfall, ein Glaukom im Auge wird entdeckt, schon vorher ist seine kleine Tochter gestorben, und dann stirbt auch die Frau am Gehirntumor, bevor sie sich ausgesprochen haben.

Bekannt sind bislang drei größere Murakami-Verfilmungen: Die koreanische Adaption „Burning", die Modegeschichte „Tony Takitani", das trübsinnige Beatles-Cover „Norwegian Wood" und von Carlos Cuarón der Kurzfilm „The Second Bakery Attack" mit Kirsten Dunst.

Die Geschichte der besonders erotischen Art Otos, Drehbücher zu schreiben, wurde übernommen aus „Scheherazade", einer anderen Kurzgeschichte Murakamis aus dem gleichen Sammelband „Männer ohne Frauen". Tatsächlich hat diese einzigartige und ruhig bewegende Geschichte um Schicksale viele typische Murakami-Motive: Der betrogene Mann, die lange Fahrt woanders hin (das gelbe Saab-Cabrio ist im Film rote Limousine), das dunkle Geheimnis. Der Film „Drive my Car" schenkt bei tollem Schauspiel und gekonnter Inszenierung viel Zeit einer sehr gelungenen Adaption. Der Drehbuchpreis in Cannes 2021 war erste Belohnung.

Aline - The Voice of Love


Kanada, Frankreich 2020 (Aline) Regie: Valérie Lemercier, mit Valérie Lemercier, Sylvain Marcel, Danielle Fichaud, 128 Min., FSK: ab 6

Schlimmer als Céline Dion? Eine Fan-Biografie über Céline Dion! Der mehr als merkwürdige Film vom Dion-Groupie Valérie Lemercier in Regie und Hauptrolle qualifiziert sich mit vielen Liedchen als größter Film-Scherz des Jahres. Oder schrägste Lachnummer.

Lemercier beginnt die Geschichte der kanadischen Eltern von „Aline Dieu" (gemeint ist Céline Dion) mit dem Papa, der keine Kinder wollte, aber mit seiner Familie nach vielen Jahren ein ganzes Orchester auf die Beine stellen kann. Aline kommt 1968 als 14. Kind auf die Welt und erweist sich bald als Sanges-Talent. Gespielt von der viel zu alten Lemercier (als Zwölfjährige Aline mit altem Gesicht verkleinert in die Szene kopiert) erleben wir den Start der Karriere in Teenagerzeiten und die Beziehung zum sehr viel älteren Manager Guy-Claude Kamar.

Dieses Playback einer Biografie ist immer wieder komisch, vor allem im Original mit deftigstem Québécois-Dialekt. Doch alles überlagern die Seltsamkeiten der wohl unfreiwillig zum Trash und Camp neigenden Inszenierung.

15.12.21

Spider-Man: No Way Home

USA 2021 Regie: Jon Watts, Tom Holland, Zendaya, Benedict Cumberbatch, 148 Min., FSK: ab 12

Die Marke „Spider-Man" ist in den letzten Jahren von verschiedenen Produktionen verhunzt worden: Die einfach durchnummerierte Reihe von Sam Raimi mit Tobey Maguire, Kirsten Dunst und James Franco überzeugte noch durch altmodische Erzählung vom Ende des amerikanischen Traums. Andrew Garfield war „The Amazing Spider-Man". Dann musste der Comic-Klassiker von Stan Lee und Steve Ditko ins Netz der Marvel-Superhelden verwickelt werden. Mit dem Ergebnis eines uninteressanten Jüngelchens (Tom Holland) ohne Ausstrahlung in übervollen Filmen. Dazwischen erfreute der äußerst reizvolle Zeichentrick „Spider-Man: A New Universe" (2018). Nun muss im nächsten, dritten Teil der nächsten Serie Tom Holland wieder solo als Peter Parker die Welt retten. Vom Marvel-Universum kommt Benedict Cumberbatch als Dr. Stephen Strange zu Hilfe. Denn Parker kommt nicht damit zurecht, dass nun jeder seine Identität kennt und viele Superhelden nicht mehr super finden. Strange will helfen, doch statt des praktischen Leuchtstifts von „Men in Black" soll Zauberei für Vergessen sorgen. Als Nebenwirkung reißt diese ein Loch in die Welt und setzt die mächtigsten Schurken aus allen Universen frei, in denen jemals ein Spider-Man gekämpft hat. Also ist nicht nur die Welt zu retten, sondern gleich ein Multiversum.

Jon Watts, der bereits die Vorgänger „Spider-Man: Homecoming" (2017) und „Spider-Man: Far From Home" (2019) inszenierte, fängt seinen Teenie-Film mit Kinderkram an, bis die Schnitzeljagd mit einer Vielzahl Schurken- und Peter-Varianten interessanter wird. Spider Holland reift etwas an seiner Trauer bis zum Höhepunkt, dem witzigen Spiel mit anderen Spider-Männern Tobey Maguire („Spider-Man 1-3") und Andrew Garfield („The Amazing Spider-Man").

14.12.21

Don't Look Up



USA 2021, Regie: Adam McKay, mit Leonardo DiCaprio, Jennifer Lawrence, Cate Blanchett, Meryl Streep, Jonah Hill, Timothée Chalamet, 145 Min., FSK: keine Angabe

Stell dir vor, ein Komet rast auf die Erde zu und niemand schaut hin! Das passiert den eigenwilligen Astronomen Kate Dibiasky (Jennifer Lawrence) und Professor Dr. Randall Mindy (Leonardo DiCaprio). In sechs Monaten wird ein Planeten-Killer in der Größe des Mount Everests einschlagen und alles menschliche Leben vernichten. Aber Präsidentin Orlean (Meryl Streep) muss erst mal den Geburtstag der Sekretärin feiern und Parteipolitik regeln, bevor sie sich um den Untergang der Welt kümmert. Absurd auch, wie die hastig im riesigen Militärtransporter eingeflogenen Wissenschaftler im Vorzimmer warten und sich mit Snacks versorgen. Für die ein General übrigens abkassiert, obwohl sie im Weißen Haus gratis rumliegen, wie sich später herausstellt.

„Don't look up" ist anderes, als wenn Bruce Willis direkt zum Präsidenten durchmarschiert. Auch als Kate und Randall nach einem völlig absurden Treffen mit der Präsidentin und ihrem noch bescheuerteren Sohn und Stabschef Jason (Jonah Hill) zur Presse gehen, interessiert sich die nur für Klick-Zahlen in sozialen Medien.

Nach Medientraining des Verlages wird der nerdige Randall, der im normalen Leben schon immer Beruhigungsmittel braucht, zum öffentlichen Star. Kate rastet auf Sendung aus und gerät in die vernichtenden Mühlen von Instagram und Co. Denn die TV-Show (mit Cate Blanchett und Tyler Perry) will immer alles nett und freundlich präsentieren.

Ja, „Don't look up" ist kein üblicher Katastrophenfilm. Nur eine bittere Komödie über die katastrophale Situation unserer Gesellschaften. Kate und Randall müssen sich nicht gegen Agenten verteidigen, die sie zum Schweigen bringen wollen. Ihr „Thema" fällt bei den Medien einfach durch. Die kümmern sich mehr um ihre Formate und um formvollendetes Verhalten also um Inhalte.

Das erinnert nicht nur ein wenig an das Verhalten von Politik und Öffentlichkeit während der Corona-Pandemie. Die wahnsinnige Ignoranz gegenüber Wissenschaft und gesunden Menschenverstand gipfelt im Slogan der Trump-Kopie Präsidentin Orlean „Don't look up" – schau nicht nach oben. Denn da steht schon der Komet unübersehbar am Himmel.

„Don't look up" wird von Netflix verständlicherweise vor dem Streaming-Start in den Kinos gezeigt, um die Oscar-Chancen dieser genialen und emotionalen Satire nicht zu verspielen. Autor und Regisseur Adam McKay drehte zuerst furchtbar alberne und schräge Komödien wie „Ricky Bobby - König der Rennfahrer" (2006), wobei „Anchorman - Die Legende von Ron Burgundy" (2004) teilweise schon Mediensatire war. Und dann der finanz-politische „The Big Short" (2015) über den Börsen-Crash und „Vice - Der zweite Mann" (2018), das geniale Filmporträt des US-Politikers Dick Cheney. Jetzt bringt McKay in seiner sensationellen Schwarzen Komödie Engagement und Humor im großen Stil zusammen.

Die Besetzung ist bis in die Nebenrollen von Timothée Chalamet oder Ariana Grande eindrucksvoll. Doch der ganze Film ist noch viel besser und trifft die Situation unserer Zeit ins Mark: Wo die kulminierte Blödheit der sozialen Medien bestimmend ist und wissenschaftliche Regeln von Medien-Tycoons ( Mark Rylance als Steve Jobs-Kopie) mit ihren Algorithmen außer Kraft gesetzt werden, braucht es einen Kometen der Größe des Mount Everest, um den Leuten klar zu machen, dass es ernste Probleme gibt. Dabei bleibt sich Adam McKay treu und platziert selbst wenn endlich Panik und Katastrophe - erschütternd und großartig inszeniert - eintreffen, noch einen blöden Scherz mit Jonah Hill („American Pie").

„Don't look up" läuft kurz in ausgewählten Kinos und ab dem 24. Dezember weltweit auf Netflix.

12.12.21

The Hand of God / Netflix


Italien 2021 (È stata la mano di Dio) Regie: Paolo Sorrentino, mit Filippo Scotti, Toni Servillo, Teresa Saponangelo, 129 Min., FSK: ab 12

„Die Hand Gottes" ist Fußball-Interessierten wohlbekannt: Es war die Hand des Argentiniers Maradona, die während der Fußball-Weltmeisterschaft 1986 gegen England ein irreguläres Tor erzielte. Dies war nicht nur Rache für den „imperialen Akt" der Großmacht im mörderischen Falklandkrieg, wie in Paolo Sorrentinos Netflix-Film ein älterer Onkel erzählt. Es war auch diese „Hand Gottes", die das Schicksal von Sorrentinos jungem Alter Ego Fabietto (Filippo Scotti) bestimmte: Ein Ticket für das Spiel vom SSC Neapel, der Maradona mit Mafia-Millionen eingekauft hatte, verhindert, dass der Teenager zusammen mit seinen Eltern verunglückt. Ein Wendepunkt in der freien und anekdotischen Autobiografie des berühmten Regisseurs Paolo Sorrentino („Il Divo – Der Göttliche", „La Grande Bellezza – Die große Schönheit", „The Young Pope – Der junge Papst"). 

Es ist die Periode zwischen den frühen Gerüchten von Maradonas Ankunft in Neapel 1984 bis zur ersten Meisterschaft des bisherigen Abstiegskandidaten SSC Neapel 1987. Mit Walkman und VHS-Recorder erlebt Fabietto Schisa seine Initiation als Filmemacher und Mann. Wie so oft bei diesen autobiografischen Jugend-Erinnerungen, von Federico Fellinis „Amarcord" über Guiseppe Tornatores „Cinema Paradiso" bis zu Pedro Almodovars „Leid und Herrlichkeit", ergibt sich eine verklärte Folge von Szenerien. Sorrentino folgt vor allem anfangs in grellen, verzerrten Gesichtern eines Familienfestes stilistisch seinem Idol Fellini. Derbe Scherze über den neuen Verehrer einer der vielen übergewichtigen Tanten, eine Dialog-Flut mit neapolitanischem Wortwitz, die selbst für Italiener Untertitel wünschenswert macht. Eine Verwandte im Nerz, deren verschlingendes Gesicht quasi im Mozzarella versinkt, und ein Badeausflug, der von der wahnsinnig lüsternen Tante mit ihrem Nacktbaden dominiert wird. 

Das ist ein Panoptikum aus Menschen und Leben in Neapel, vor allem eine Liebeserklärung an Fabiettos Vater Saverio Schisa (Toni Servillo), der immer wieder mit leisem Witz dem Sohn seine Sicht der Welt zuflüstert. Sowie der ebenso liebevollen Mutter Maria (Teresa Saponangelo) mit ihren grandios gemeinen Scherzen und der schreienden Eifersucht. Diese persönlichen Einblicke gehen Hand in Hand mit Klischees derartiger Jugend- und Jungen-Erinnerungen: Die freizügige Tante wirkt zeitweise ähnlich abgeschmackt wie wehmütige Gedanken an den ersten „Besuch" bei einer Prostituierten. Der geistig Behinderte des Viertels darf ebenso wenig fehlen, wie der plötzliche Tod eines geliebten Verwandten.

Der gefeierte Paolo Sorrentino hat immer eher beschaulich als mitreißend inszeniert. So wirkt in „The Hand of God" die Entwicklung seiner Jugend-Figur bruchstückhaft. Fabietto geht nur einmal ins Kino, die VHS von Sergio Leones „Es war einmal in Amerika" bleibt als Running Gag immer ungesehen auf dem Rekorder liegen. Erst in der letzten Szene, nachdem eine beiläufige Schwärmerei für eine junge Schauspielerin unerfüllt bleibt, ergeben sich im Gespräch mit einem älteren Regisseur Schlüsselsätze: „Die Realität gefällt mir nicht mehr, die Realität ist öde." Das wurde schon überdeutlich, wenn Fabietto beim wilden Fußballspiel auf dem Pausenhof immer nur unbeteiligt mitten drin steht. Die Aufforderung „Hast du etwas zu sagen? Dann raus damit!" führt zum Aufbruch des zukünftigen Regisseurs nach Rom.

Paolo Sorrentinos bislang persönlichster, aber auch gewöhnlichster Film beweist in immer wieder netten Aufnahmen von Küste und Meer die Meisterschaft seines Machers. Seltsamerweise verzichtet er bis auf einige groteske, fellineske Momente auf seinen typischen „Bunga-Bunga -Stil" grell überzeichneter Partys. So gelingen ausgerechnet bei der Liebeserklärung zur lauten neapolitanischen Herkunft vor allem die stillen Momente und Blicke. 

„The Hand of God" lief in ausgewählten Kinos seit dem 2. Dezember und auf Netflix ab dem 15. Dezember 9 Uhr.

11.12.21

Coppelia


Belgien, Deutschland, Niederlande 2021 Regie: Steven de Beul, Ben Tesseur, Jeff Tudor, mit Michaela DePrince, Daniel Camargo, Vito Mazzeo, 82 Min., FSK: ab 0

Klassisches Ballett - „Coppélia" von Léo Delibes aus 1870 – in einem wunderschönen Rahmen aus gezeichnetem Hintergrund und bekannten TänzerInnen. „Coppelia" ist ein besonderes Kinovergnügen mit einer modernen Interpretation gegen Schönheitswahn und -operationen.

Die fröhliche Swan (Michaela DePrince) betreibt auf dem Marktplatz der Kleinstadt ihre Saftbar und ist in den Fahrrad-Mechaniker Franz (Daniel Camargo) verliebt. Doch das Glück der kleinen Gemeinschaft, ausgedrückt in luftigen Pirouetten, wird vom dämonischen Doktor Coppelius (Vito Mazzeo) bedroht, der mitten auf dem Platz den Turm seiner Schönheitsklinik baut. Mit seiner (gezeichneten) Muse Coppelia und einem halluzinogenen Parfüm lockt er Menschen wie Franz und Swans Mutter zur Behandlung. Darin bekommen sie ihr Traumbild vorgetäuscht, tatsächlich raubt Coppelius ihnen menschlich Essentielles wie Kraft, Intelligenz oder Herzenswärme für sein Kunstwesen Coppelia, die Hoffmannsche Holzpuppe Ophelia. Swan muss Franz und ihre Freunde im dramatischen Finale aus dem dunklen Turm retten.

Michaela DePrince, Daniel Camargo und Vito Mazzeo sind die Ballett-Stars, die zusammen mit dem Niederländischen Nationalballett real vor animierten Hintergründen tanzen. Zeichnungen im Kinderbuch-Stil mit bunt schiefen Fenstern und Türen passen zu fröhlichen Kostümen, wenn Swan durch den Tag tänzelt. Klassisches Ballett mit ein paar Vorstellungs-Sprüngen und Pirouetten für jede Figur. Die Geschichte der Erzählung „Der Sandmann" von E.T.A. Hoffmann wandelte sich vom Thema der optischen Apparate und Täuschungen zum Modernen eines unmenschlichen Schönheits-Drucks. So eindrucksvoll die Bilder dabei sind, ergibt die zum Ende hin spannende Handlung doch meist tänzerisches Kleinklein.

10.12.21

Annette


Frankreich, Deutschland, Belgien 2021, Regie: Léos Carax, mit Adam Driver, Marion Cotillard, Simon Helberg, 140 Min., FSK: ab 12

Die Filme von Leos Carax waren immer auch großartige Soundtracks. Legendär ist der „travelling shot" aus „Die Nacht ist jung" („Mauvais sang", 1986) mit Denis Lavant zu David Bowies „Modern Love", nett kopiert von Greta Gerwig in „Frances Ha" (2013). So überrascht es nicht, dass die französische Regie-Legende („Die Liebenden von Pont-Neuf") ein Musical macht. Dabei ist „Annette" als düstere Moritat eher den melancholischen Musicals des Franzosen Jacques Demy („Die Regenschirme von Cherbourg") verwandt, als den oft fröhlichen US-Singspielen. Die Musik zur manchmal fast zwölftönenden Rock-Oper besorgten die „Sparks", die auch das Drehbuch mitschrieben. Marion Cotillard und Adam Driver spielen als tragisches Liebespaar erneut groß auf.

Wie ein Boxer im dunkelgrünen Bademantel und mit Kippe tänzelt sich der polarisierende Stand-Up Comedian Henry McHenry (Adam Driver) zu seiner provokanten Bühnenshow „The Ape of God" (dt: der Affe Gottes) warm. Als düstere, aggressive Figur reflektiert er in der irren Show das Showbusiness und das erwartete, gewollte, erzwungene Lachen. Die Medien hypen Henry noch mehr, seit er mit der berühmten Opernsängerin Ann Desfranoux (Marion Cotillard) zusammen ist. Sein Bühnen-Kommentar zur anderen Kunst ist allerdings wenig nett: „Die Oper, wo alles heilig ist, wo man stirbt und stirbt und stirbt, und sich dann verbeugt, verbeugt, verbeugt..." 

Das Liebesmotiv „We love each other so much" trägt sie vom Broadway in Los Angeles auf seinem schweren Motorrad vorbei an Leuchtreklamen zu ihrem idyllischen Strandhaus. Nach Anns Schwangerschaft werden Henrys Show und Stimmung noch düsterer. Bei einem Jacht-Urlaub, der die Ehe retten sollte, ertrinkt Ann, während er das Schiff betrunken im Sturm steuert. Allein mit Baby Annette entdeckt Henry eines Nachts ein wundervolles Singen, bei dem das Kind durch den Raum schwebt. Um dieses Talent auszubeuten, engagiert der nicht mehr erfolgreiche Comedian sogar Anns ehemaligen Liebhaber als Dirigent (Simon Helberg). Ann erscheint ihrem Mörder im Schlaf als Wasserleiche und prophezeit, dass Annettes Gesang sein Fluch sein soll.

Mit der wunderbarsten Plansequenz seit „Baby Driver" trumpfen Carax und „Annette" gleich in der ersten Szene, einem Prolog, auf. Von der Tonstudio-Aufnahme (Toningenieur Carax) mit den Sparks folgt die Kamera den Hauptdarstellern zum Song „May we start?" (dt: Lass uns loslegen!) raus auf die Straße. Die Beglückung ist hier gelungen. Danach wird es düster in dem Musical der anderen Sorte. Was vor allem an Adam Drivers Henry McHenry liegt. Er darf mit einer Frisur im Stil von „Salvator Mundi" nach „The House of Gucci" diesmal etwas lebendiger aufspielen.

Es gibt Sprechgesang und noch mehr großartige Nummern, die allerdings keine gute Laune machen, wie sonst üblich beim Musical. Das Ernüchternde kommt nicht von einer Art Realismus wie in „La La Land" oder Lars von Triers „Dancer in the Dark". Spätestens mit der „Geburt" von Annette als hölzerne Marionette mit rotem Haar ist ein Element des Surrealen präsent. Wie bei den sprechenden Limousinen in Carax' letztem Film „Holy Motors" (2012).

Erstaunlicherweise hat der 1960 in Paris geborene Carax, trotz seines legendären Namens gerade mal sieben Filme realisiert. Allerdings immer großes, leidenschaftliches Kino. Das Wilde seiner frühen „Die Liebenden von Pont-Neuf" und „Mauvais Sang" ist in „Annette" nicht mehr vorhanden. Es ist trotzdem bis zum herzzerreißenden finalen Duett über die wahre Höchststrafe eines der großen ungehobelten und hartnäckig weiterwühlenden Meisterwerke wie „Synecdoche, New York" von Charlie Kaufman.

9.12.21

Der Schein trügt (2020)

Bosnien-Herzegowina, Deutschland, Kroatien, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien, Slowenien 2020 (Nebesa) Regie: Srdjan Dragojević, mit Goran Navojec, Bojan Navojec, Ksenija Marinković, 120 Min., FSK: ab 16

Stojan ist unbescholtener Mann, fürsorglicher Familienvater. Seine Frau meint, ein Trottel, der noch Parteibuch besitzt und ihr verboten hat, die Tochter zu taufen. Vor allem aber: Zu gut für diese Welt. Als er nach einem Stromschlag einen Heiligenschein bekommt, wird sein Leben als Held der jugoslawischen Flüchtlings-Siedlung unerträglich. Fortan will er sündigen, was das Zeug hält, um den Leuchtkreis auf dem Kopf wieder los zu werden. Derb und brutal wandelt er sich zum schlagenden, betrügenden und berechnenden Macho. Auch der Humor der Satire gerät dabei eher grob.

Über drei weit gespreizte Episoden zeichnet der gefeierte Regisseur Srdjan Dragojevic (Berlinale-Abräumer „Die Parade", 2011) mit aus osteuropäischen Filmen bekanntem Humor ein zynisches Gesellschaftsbild Post-Jugoslawiens. Vom Niedergang des Kommunismus und der Mitmenschlichkeit in „Sünde", in 1993 spielend, geht es in „Gnade" (2001) um die Erschießung eines wundersam zum Säugling gewordenen, geistig behinderten Häftlings. Stojan wandelt sich vom Chef der Haftanstalt zum faschistisch dekorierten Chef des Staates. Korruption bei den in krimineller Kommunion agierenden Staat und Kirche ist das bestimmende Thema, aber trotz deftiger Erzählung lassen sich auch feine Stimmungen erspüren.

„Das Jüngste Gericht" (2026) tischt die ebenso skurrile Idee auf, dass Gemälde eines Künstlers wie Essen sättigen. Ein Gaumenschmaus zuerst für die vielen Obdachlosen („Kunst als Nahrung für alle") und eine deutliche Kritik des Kunstmarktes sowie des Filmgeschäfts. Das gleiche Personal taucht in allen Episoden auf, allerdings in variierten Rollen, so wurde aus dem Häftling der schizophrene Künstler und Stojans Tochter eine gestörte Galeristin. Srdjan Dragojevics Kunst ist sicher nicht für alle, aber reichhaltig, wild und mehr als nur grober Witz.

Monte Verità


Deutschland, Österreich, Schweiz 2021, Regie: Stefan Jäger, mit Maresi Riegner, Hannah Herzsprung, Julia Jentsch, 116 Min. FSK: ab 12

Der junge Hermann Hesse (Joel Basman), die Tänzerin Isadora Duncan (Eleonora Chiocchini) und Lotte Hattemer (Hannah Herzsprung), die Tochter des Berliner Bürgermeisters, sind die prominentesten Bewohner der berühmt-berüchtigten Künstlerkolonie Monte Verità in der Schweiz. In dieser fiktiven Erzählung rund um den magischen Ort zieht die zweifache Mutter Hanna Leitner (Maresi Riegner) von Wien zur Gründerin der Naturheilanstalt Ida Hofmann (Julia Jentsch) und entwickelt sich zu einer künstlerischen Fotografin. Leider lässt der schön fotografierte Historienfilm des Schweizer Regisseurs Stefan Jäger in der Entwicklungsgeschichte den Reiz des mythischen Aussteigerortes oberhalb von Ascona nie spüren.

7.12.21

Passion Simple

Frankreich, Belgien 2020, Regie: Danielle Arbid, mit Laetitia Dosch, Sergej Polunin, 99 Min., FSK: ab 16

Die „amour fou" der Literaturdozentin und alleinerziehenden Mutter Hélène besteht nur aus kurzen intensiven, explizit gezeigten Begegnungen mit dem verheirateten russischen Botschaftsmitarbeiter Alexandre. Die Verfilmung eines Romans von Annie Ernaux soll in den Pausen zwischen dem Sex den Zustand einer in dieser Leidenschaft verlorenen modernen Frau beschreiben. Die Literatur lehrt, aber Kitschromane im Supermarkt kauft.

Sing me a Song


Deutschland, Frankreich, USA 2019, Regie: Thomas Balmès, 99 Min., FSK: ab 12

Wie bei „Happiness" drehte Balmès auch die Geschichte des jungen Mönches Peyangki in einem Kloster tief in den Bergen Bhutans. Jahre nach der ersten Begegnung bestimmen nun Smartphones den Alltag der Mönche, selbst beim Beten. Penyangki lernte über WeChat die Sängerin Nguen aus der Hauptstadt Thiumphu kennen und verlässt das Kloster, um in eine Welt aus Videospielen und Discotheken einzutauchen. Die sichtlich nachinszenierte „Dokumentation" über den Verlust von Traditionen ist schön und traurig anzusehen.

Plan A - Was würdest du tun?


Deutschland, Israel 2020, Regie: Yoav Paz, Doron Paz, mit August Diehl, Sylvia Hoeks, Michael Aloni, 110 Min., FSK: ab 12

Vom ersten Moment an packend, versetzt „Plan A" ins Deutschland nach Kriegsende. Ausgezehrt vom Konzentrationslager steht Max (August Diehl) als einziger Überlebender seiner Familie vor dem eigenen Haus und wird vom Eindringling, der ihn einst verraten hat, brutal niedergeschlagen: „Auch nach dem Krieg können wir Juden umbringen!" Aufgelesen von der jüdischen Brigade der Britischen Armee, soll Max nach Palästina gebracht werden. Doch er schließt sich Soldaten an, die Nazis aufspüren und eigenhändig aburteilen – siehe Tarantinos „Inglourious Basterds". Noch radikaler als diese „Haganah", die wirklich existierte, will sich eine Truppe namens „Nakam" rächen: Für jeden der sechs Millionen ermordeten Juden soll ein Deutscher sterben. Max schleicht sich im Auftrag der Haganah bei den Saboteuren um die traumatisierte Anna (Sylvia Hoeks) ein, radikalisiert sich bei den Vorbereitungen in einem Wasserwerk immer mehr...

Die Geschichten gebrochener Menschen in „Plan A" sind tief erschütternd. Und endlich lenkt mal keine nachlässige Kulisse von ihnen ab. „Wenn deine Familie grundlos ermordet würde, was würdest du tun?", lautet die Ausgangsfrage von Max. Die Antwort macht sich der Film nicht einfach. August Diehl verkörpert das Leid und den Konflikt genial hinter verhärmtem Gesicht mit unendlich tiefen Augenrändern. Stiller Gegenpol ist Anna, die durch eine eigene Hölle gehen musste. Eindringlich und ebenfalls oscar-reif von Sylvia Hoeks gespielt, die an der „Theater Academie Maastricht" studierte.

Once upon a time in Bethlehem


Italien 2019 (Il primo natale) Regie: Ficarra, Picone, mit Ficarra, Picone, Massimo Popolizio, 100 Min., FSK: ab 6

Von der Weihnachtsfilm-Resterampe stammt diese „Komödie" des italienische Blödel-Duos Ficarra/Picone. Salvo (Salvatore Ficarra) will in der Jetztzeit eine wertvolle Krippenfigur klauen und wird mit den ihm verfolgenden Priester Valentino (Picone) in das Palästina kurz vor Jesu Geburt transportiert. Mit Herodes und Rebellen erinnert das ganze humoristische Brachland nur im Entferntesten ans „Das Leben des Brian". „Don Camillo und Peppone" kombiniert mit italienischen Sandalenfilmen – keine gute Idee!

 

1.12.21

Toys of Terror

USA 2020, Regie: Nicholas Verso, mit Kyana Teresa (Hannah) · Georgia Waters, Verity Marks, 89 Min., FSK: ab 16

„Toys of Terror" macht aus dem Horror namens Weihnachten einen Halloween-Weihnachts-Horrorfilm. Das einzig Originelle an ihm. Einst war das Hotel der Familie Waters, das ans „Shining" erinnert, ein Kinderkrankenhaus. Von „Jumanji" stammt die Idee des von Geistern besessenen Spielzeugs, hier ist es eine ganze Kiste auf der 3. Etage.

Was ist schlimmer: Ohne WLAN sein oder Spinnen im Popcorn? Mit aufgesetzten Problemen einer Patchwork-Familie ist „Toys" Schockmoment-Horror der einfallslosen Art. Zwar gut fotografiert und die Stop-Motion-Animation der Spielzeuge wirkt durchaus reizvoll, aber insgesamt funktioniert es überhaupt nicht. Und ist vor allem nicht zu vergleichen mit Lars von Triers genialem „Hospital der Geister".

Weihnachten im Zaubereulenwald


Estland 2019 (Eia Joulud Tondikakul) Regie: Anu Aun, mit Paula Rits, Siim Oskar Ots, Jaan Rekkor 98 Min., FSK: ab 0

Aus Estland kommt dieser wunderbare Winterfilm mit herzlich offenen und naturvertrauten Menschen: Die 10-Jährige Eias (Paula Rits) muss die Ferien auf dem winterlichen Bauernhof eines Bekannten ihrer Eltern verbringen, weil diese an Weihnachten keine Zeit haben. Anfängliche Sorgen lösen sich angesichts lauter netter und interessanter Menschen schnell in der klaren Winterluft auf. Doch es gibt auch einen bösen, gierigen Verwalter, der den alles behütenden Zaubereulenwald abholzen will. Ohne jeden Kitsch beglückt und berührt dieses kleine Film-Wunder groß und klein. Neben der positiven Geschichte um ein herzliches Miteinander und den Erhalt der Natur ist „Weihnachten im Zaubereulenwald" auch ein traumhafter Naturfilm. Wo sonst wird die Tanne höflich gefragt, ob sie ein Weihnachtsbaum werden will?

 

Clifford der große rote Hund


USA 2021 (Clifford the Big Red Dog) Regie: Walt Becker, mit Jack Whitehall, Darby Camp, John Cleese, 97 Min. FSK: ab 0

Kinder und Hunde sind groß im Film (-Geschäft)! Diesmal ist der Hund wirklich groß: Weil die neunmalkluge Emily Elizabeth (Darby Camp) sich mit dem unfähigen Onkel Casey (Jack Whitehall) als Babysitter einsam und verloren fühlt, wünscht sie sich den gerade zugelaufenen Welpen ganz groß. Was vom geheimnisvollen Mr. Bridwell (John Cleese) prompt umgesetzt wird. Nun tobt in einem New Yorker Appartement ein drei Meter großer roter Hund rum. Und macht sich - deutlich sichtbar vom Computer einkopiert - im Rest der komisch aufregenden und rührenden Handlung breit. Denn ein Hightech-Guru will Clifford klauen. Die aufgesetzte Moral macht „Irgendwas mit Mobbing" in der Kino-Version der bekannten Zeichentrick-Serie.

30.11.21

House of Gucci


Kanada, USA 2021, Regie: Ridley Scott, mit Lady Gaga, Adam Driver, Al Pacino, 158 Min. FSK: ab 12

So wie die Marke Gucci eher durch dreiste Kopien vom Flohmarkt mit absurd großen Logos bekannt ist, so kopiert Ridley Scott hier wahres Leben einer „wahren Geschichte" über den Intrigen-Stadl der Familie Gucci. Dankenswerterweise regen sich alle noch lebenden Beteiligten im Dienste der Werbung groß auf. „House of Gucci" lässt nur über grelle Verzerrungen und zugegeben klasse Schauspiel-Nummern staunen.

Auch wenn die wahre Patrizia Reggiani sich über ihre Darstellung durch Lady Gaga aufregt, es ist eigentlich nett und sympathisch, wie die junge Tochter eines Bauunternehmers 1970 hinter diesen linkischen Anwalt mit der zeitlos zu großen Brille her ist. Dass es sich um Maurizio Gucci (Adam Driver), Mode-Millionär in dritter Generation, handelt, erfährt sie erst später. Maurizio ist glücklich in dieser Liebes-Beziehung, heiratet Patrizia sogar gegen den Rat seines elitären Vaters Rodolfo (Jeremy Irons). Der schmeißt den Junior darauf raus und erst das Werben vom geschäftstüchtigen Onkel Aldo (Al Pacino) bringt ihn wieder zurück in den Familienbetrieb. Der, enttäuscht von seinem erschreckend dämlichen Sohn Paolo (Jared Leto), lädt Patrizia und den Neffen nach New York ein, zeigt ihnen die Ursprünge von Gucci in Kuhhäuten und Lederwaren. Das Umwerben mit Charme und Geschenken hat einen finanziellen Hintergrund: Sattlermeister Guccio Gucci vererbte sein 1921 gegründetes Unternehmen an beide überlebenden Söhne zu gleichen Teilen. Wer also die Macht im Familien-Konzern haben will, braucht Anteile der anderen Seite. Etwas, das den naiven Maurizio nie interessierte, Patrizia umso mehr.

Es hat was von einer auf den Laufsteg verpflanzten Lady Macbeth, wie Patrizia Reggiani den Laden Gucci übernimmt. Ihr erstes Kind ist Rückfahrticket in die Arme des todkranken Schwiegerpapas Rodolfo. Nach dessen Ableben fehlt eine Unterschrift, um millionenschwere Erbschaftssteuer zu umschiffen. Doch schon in Papas Firma fälschte Patrizia Signaturen, während der fremdging. Dreist und eigenwillig umgarnt sie Paolo mit dessen unsäglichen Mode-Entwürfen. Als sie endlich am Ziel – und Aldo im Knast – ist, verlässt sie der eitle Macho Maurizio für eine andere. Er gewinnt alles, um Gucci danach mit seinem exorbitanten Luxusleben fast zugrunde zu richten. Nur der Verkauf aller Familien-Anteile an einen Investor rettet Gucci, das gerade durch Chef-Designer Tom Ford wieder interessant wird. Die Kugel gibt Maurizio letztlich Patrizia 1995 durch ein paar schäbige Auftragskiller, vermittelt von einer schrillen Hellseherin (Salma Hayek). Nach Verbüßung einer Haftstrafe wird die ehemalige Frau Gucci nun durch diese Verfilmung bestraft.

Schon in der ganzen, geschickt schillernden Werbekampagne versprach „House of Gucci" mehr Schein als Sein. Diesen neuen Ridley Scott („Der Marsianer", „Gladiator", „Blade Runner", „Alien") kann man nur ironisch gedacht einigermaßen ertragen. Oder als Bewerbungs-Video wahrlich großartig aufspielender Stars. Die Skandal-Geschichte ist ein teurer, wenn auch nicht unbedingt geschmackvoll ausgestatteter Intrigen-Stadl mit ebenso stylischen Musik-Einsätzen. Das Drama der schlimmsten Mode aus 70er, 80er und 90ern dauert länger, als normale Filme sind, bis es beim ersten Ehestreit in einer Szene mal richtig spannend wird. Bis dahin ist „House" eine Aneinanderreihung von Momenten.

Lady Gaga spielt wie schon in „A Star is born" einfach großartig und völlig glaubhaft. Adam Driver („Marriage Story", „BlacKkKlansman") ist mit diesem hüftsteifen Idioten Maurizio nicht sehr gefordert – nur die Kälte des Verrats zeigt sich fein ziseliert im Gesicht. Scott fasst die letzten Jahre, den Niedergang des Hauses Gucci, den Erfolg von Tom Ford, den Verkauf der Anteile und den Tod Maurizios in einer Sequenz zusammen. Das könnte wie Aschenbachs Abgang in Tod und Venedig sein, wäre Maurizio nicht wie alle anderen nur eine Anziehpuppe. Paolo ist, von Jared Leto mit dicker Latex-Maske gegeben, eher Clown statt Widersacher. Pacino gibt seinem hyperaktiven Affen Aldo wieder reichlich Zucker. Doch es hilft alles nichts. Am Ende bleibt nur die Frage, ob Lady Gaga bei den Oscars Gucci tragen wird.


Die Wespe (Sky ab 3. Dezember) ***


(Deutschland 2021), Regie: Hermine Huntgeburth, mit Florian Lukas, Leonard Scheicher, Ulrich Noethen, 6 Folgen je ca. 30 Min., Altersfreigabe ohne Angabe

Das ging ins Auge: Wenn sich Dart-„Sportler" aus Eifersucht duellieren, machen sie es nicht mit Colts, sondern mit ihren spitzen Pfeilen. (Kinder, bitte nicht nachmachen!) So geschehen mit dem abgehalfterten Dartprofi Eddie (Florian Lukas), genannt „Die Wespe", und seinem jungen Zögling Kevin (Leonard Scheicher). Eddies Ehe mit Manu (Lisa Wagner) war eigentlich immer Krise, wie sein ganzes Leben. Doch als der Schüler den Mentor in der Rangliste überholt und noch eine Affäre mit Manu startet, sieht Eddie erst rot und dann auf einem Auge nichts mehr. Aber der gebrochene Mann nimmt die Krise als Chance: Mit neuem Job und gepflegtem Look will er wieder Turniere gewinnen und Manu zurück.

Unvergessen, wie „Kingpin" (Regie: Bobby & Peter Farrelly) den Bowling-„Sport" 1996 zum Thema und gleichzeitig deftig lächerlich machte. Woody Harrelson spielte einen ehemaligen Star der Szene mit Handprothese. Nun wird in der Comedyserie „Die Wespe" der Dart-„Sport" lächerlich gemacht. Wer sich mal auf der Fernbedienung vertippt hat und bei einer Dart-Sendung landete, weiß, dass es dazu nicht viel braucht. Doch Regisseurin Hermine Huntgeburth („Neue Vahr Süd", „Männertreu", „Lindenberg! Mach Dein Ding") macht aus dem Buch von Jan Berger („Der Medicus", „Ich war noch niemals in New York") einen toll auf schäbig stilisierten Spaß. 

„Die Wespe" fängt zwar mit edlem Billard an, man könnte Paul Newman, Tom Cruise und „Die Farbe des Geldes" erwarten. Doch der Tisch wird links liegen gelassen, damit Eddie und Kevin an der Dart-Scheibe ein paar Angeber abzocken können. Florian Lukas („Good Bye Lenin!", „Der Überläufer") gibt eine herrliche Mini-Version der dickbäuchigen Dart-Stars vom Sportsender: Mit Wampe und Kippe in der Hand sowie Trainingsanzügen, die nie cool waren oder werden. In der Garage, die als Trainingsplatz dient, sind selbst die Pokale rauchvergilbt. Die Musik klingt dementsprechend aus der Mode und ist nie zur Glorifizierung tauglich. Die ganze Szene besteht aus verkrachten Existenzen in schäbigen Hotels.

Noch besser als Lukas ist Ulrich „Sams" Noethen („Comedian Harmonists", „Deutschstunde"), grandios mit Tattoos und Goldkettchen. Er gibt Eddies ehemaligen Kumpel Nobbe, nun Alkoholiker. Der nimmt ihn in seine winzige Laube auf und wird trocken, um Eddie wieder fit zu machen. „Leben ohne Dart ist sinnlos", sind sie sich einig. Tatsächlich klingt bei den Trainings-Einheiten der beiden kaputten Typen „Eye of the tiger" aus den „Rocky"-Filmen an. Da ist „Die Wespe" fast so fies wie der Farrellys „Kingpin". Doch mit Nobbe gewinnt die Farce auch ein ganzes Stück menschelnde Substanz. Das erste Turnier von Eddies Comeback findet mit dem trockenen Alkoholiker ausgerechnet in einer Brauerei statt und geht mächtig schief. Der Kampf gegen den fatalen ersten Schluck beginnt bei Noethen albern und endet herzzerreißend tragisch.

Und auch in den Kulissen kann der unterhaltsame Spaß über Sportler, die in Wirklichkeit keinen Sport machen, auftrumpfen: Berlin liefert einige heruntergekommene architektonische Highlights wie den „Mäusebunker", das brutalistische Tierversuchslabor der FU-Berlin. Dazu in Erinnerung an die Ballhaus-Innovationen von „Farbe des Geldes" auch ein Kameratrick, wenn im Finale die Dart-Scheibe durchsichtig wird.

„Die Wespe" ist ab 3. Dezember als komplette Staffel auf dem Streamingdienst Sky Ticket und über Sky Q auf Abruf verfügbar und wird immer freitags ab 20.15 Uhr in Doppelfolgen auf Sky One ausgestrahlt.


Benedetta


Frankreich, Niederlande 2021, Regie: Paul Verhoeven, mit Virginie Efira, Charlotte Rampling, Daphné Patakia, Lambert Wilson, 131 Min. FSK: ab 16

Für Paul Verhoeven („Basic Instinct", „Total Recall") ist Provokation quasi eine instinktive Handlung. So geriet denn auch diese Geschichte einer lesbischen Klostervorsteherin im Italien des 17. Jahrhundert zu dreistem „Camp": Platt überzogen in Story, viel nackter Darstellung und Exzessen. Das können nur Schauspielerinnen wie Virginie Efira, Charlotte Rampling und Daphné Patakia retten.

Unglaublich, dass die Geschichte vom extrem gläubigen Mädchen Benedetta Carlini (1590-1661), die in ein Kloster verkauft wird und als Hexe verbrannt werden sollte, eine wahre ist. Aber schon der schmuddelige Buchtitel der Historikerin Judith C. Brown „Schändliche Leidenschaften. Das Leben einer lesbischen Nonne" muss den zügellosen niederländischen Hollywood-Regisseur Verhoeven gereizt haben. Und auch wir sind anfangs gläubig, wenn wir die drastischen und kitschigen Jesus-Visionen der religiösen Mystikerin Carlini (Virginie Efira) sehen. Dann die Wundmale Christi an Händen, Füßen, der Stirn, ein lokaler, karrieregeiler Kirchenmann und fertig ist die zukünftige Heilige. Dazu die freche, ungezügelte Nonnenschülerin Bartolomea (Daphné Patakia aus „Djam"), von Vater und Brüdern missbraucht, was ihr allerdings nicht viel auszumachen scheint. Und noch Pest, ein Komet, die Perversionen der Inquisition – wer hat noch nicht, wer will noch mal.

Paul Verhoeven, der starke Frauen gerne nackt zeigt, gestaltet in „Benedetta" so ein wildes Durcheinander, dass es unausgegoren wirkt. Da erinnert man sich wieder, wie schrottig Verhoevens „Klassiker" „RoboCop" (1987), „Total Recall" (1990) und vor allem die desaströsen „Showgirls" (1995) eigentlich waren.

Gunpowder Milkshake


Großbritannien, Deutschland, USA, Frankreich 2021, Regie: Navot Papushado, mit Karen Gillan, Lena Headey, Michelle Yeoh, Angela Bassett, Paul Giamatti, 115 Min. FSK: ab 18

Und schon wieder ist etwas schief gegangen bei einer Gaunerei: Die wohl sehr effektive Profikillerin Sam (Karen Gillan) hat bei der ganzen Horde von Gegnern, die sie wie eine Jagd-Strecke niedergelegt hat, auch den Sohn des Gangsterbosses erledigt. Diese allzu bekannte Geschichte wäre nicht interessant, wenn wir nicht zuvor gesehen hätten, wie sich Sam als Teenager von Mutter Scarlet (Lena Headey) verabschieden musste, ebenfalls Auftragsmörderin. Denn Minuten später werden die Verfolger Mamas niedergemäht. Das alles im extrem stylischen Eis-Café bei Milchshake mit zwei Strohhalmen – „Gunpowder Milkshake".

Nun hat ihr Ziehvater Nathan (Paul Giamatti), Chef einer Agentur für Kriminelles und Mörderisches, bisher seine schützende Hand über Sam gehalten. Aber er hat Herren im Anzug im Nacken, was man tatsächlich immer wieder im Bild seines üppigen Büros sieht. So sind wir relativ schnell in der bekannten Situation: Sam hat keine Chance, aber ergreift sie.

Stil ist alles beim grandiosen Gangsterinnen-Film des israelischen Newcomers Navot Papushado: Der Auftritt starker Action-Legenden wie Karen Gillan („Avengers: Endgame", „Jumanji"), Lena Headey („Game of Thrones"), Michelle Yeoh („Tiger & Dragon") und Angela Bassett („Black Panther") wird durch Kameramann Michael Seresin („Harry Potter und der Gefangene von Askaban") und das Produktionsdesign von David Scheunemann („Deadpool 2") zu einem edlen Ausstattungs-Augenschmaus. Dazu aberwitzige Szenerien wie die Waffensammlung der Bibliothekarinnen, Pistolen und Messer versteckt in Klassikern von Virginia Woolf, Agatha Christie und Jane Austen. Das sieht mit coolen Plansequenzen in Bowlingbahn und Eis-Café mehr nach Guy Ritchie als nach Tarantino aus.

28.11.21

Faking Hitler / RTL+


Ein „Jahrhundert-Coup" des „Stern", der nach wenigen Tagen zur Lachnummer wurde: Die Entdeckung vermeintlicher Hitler-Tagebücher entblößt als Anekdote der Pressegeschichte viel über ein seltsame Hitler-Leidenschaft der Deutschen. Was aber auch schon ein Blick auf die Titelblätter von Stern, Spiegel und Co. verrät. Showrunner Tommy Wosch macht aus der Geschichte eine geschickt und dicht gestrickte Farce über sechs Folgen. (Ab 30.11. auf RTL+) 

Am 25. April 1983 stellte das Magazin „Stern" die privaten Tagebücher von Adolf Hitler vor – in „Faking Hitler" haben wir da schon seit vier unterhaltsamen Folgen miterlebt, wie sich der eitle Starreporter Gerd Heidemann (Lars Eidinger) nur zu gerne vom kleinen Kunstfälscher Konrad Kujau (Moritz Bleibtreu) alten Nazi-Kram hat andrehen lassen. Und wie der Marketing-Mensch vom „Stern" für diesen „Coup" alle journalistischen Bedenken vom Tisch wischt. Neben diesen herrlichen Albernheiten, samt kompliziertes Dreiecksverhältnis um den sensiblen „Künstler" Kujau, gibt es den Handlungsstrang der Jungredakteurin Elisabeth Stöckel (Sinje Irslinger). Bei der Suche nach der SS-Vergangenheit von Derrick-Darsteller Horst Tappert entdeckt sie mit Hilfe des jüdischen Investigativ-Journalisten Leo Gold (Daniel Donskoy) ihren eigenen Vater (Ulrich Tukur) unter den Mördern für Hitler.

Grandios werden hier haufenweise Verknüpfungen und Verstrickungen komprimiert. Unter der gelungenen Regie von Wolfgang Groos und Tobi Baumann hat Tukur als Jura-Professor und Spezialist für Gerechtigkeit mit furchtbarer Vergangenheit tatsächlich die stärkste und bewegendste Szene. Dieser Strang verhindert, dass „Faking Hitler" die gleiche Unbedarftheit hinlegt, wie einst die sensationsgeilen Journalisten des „Stern".

Eine große Nummer ist vor allem der Konrad Kujau von Moritz Bleibtreu. Mit deftigem Dialekt liegt er meist im Bade, ist ansonsten die Made in den Haushalten seiner beiden Frauen. Die mäßigen Fälschungen – schon „Schtonk" amüsierte sich über die falsche Initiale auf dem Einband – verkauft er mit einer Bauernschläue, die für viele Lacher gut ist. Lars Eidinger, der Star, ist von der ersten Szene an grandios, wenn sich sein Auto in Zeitlupe überschlägt und er selbst dabei noch ein paar erstaunliche Ausdrücke für die Kamera parat hat. Dass Heidemann, dieser Ritter des Checkbuch-Journalismus, tatsächlich Görings Boot besitzt und mit Görings Tochter ins Bett geht, gibt dem satirischen Affen Zucker. Ebenso, wenn sich in Boston Frau Hitler und Frau Göring begrüßen. Aber ausgedacht ist hier nur einiges. Zuviel ist leider tatsächlich so gewesen.


23.11.21

À la Carte! - Freiheit geht durch den Magen


Frankreich, Belgien 2021 (Délicieux) Regie: Éric Besnard, mit Grégory Gadebois, Isabelle Carré, Benjamin Lavernhe, 113 Min., FSK: ab 0

Die Revolution im Restaurant

Wie Königin Marie Antoinette meinte, das hungernde Volk solle doch Kuchen (eigentlich: Brioche) essen, wenn es kein Brot mehr habe, hält sich als Anekdote rund um die französische Revolution. Dass in dieser Zeit auch das Restaurant entstand, wie wir es heute kennen, ist hingegen historisch korrekt. Éric Besnards („Birnenkuchen mit Lavendel") ebenso sinnlicher wie geistreicher Film macht daraus eine fiktive Geschichte von Genuss, mehrfacher Emanzipation und Revolution.

Wir schreiben das geschichtsträchtige Jahr 1789: Pierre Manceron (Grégory Gadebois), begnadeter Koch, arbeitet für den Duc de Chamfort (Benjamin Lavernhe). Zwar ist der stille Manceron der Stolz des Herzogs, aber dann macht der hässliche, dekadente Adel in gourmet-kritischen Bonmots seine „Délicieux" genannte Vorspeise herunter. Weil „erdige" und deutsche Zutaten wie Kartoffeln drin seien! Manceron entschuldigt sich nicht und findet sich mit dem bücherliebenden Sohn bald in den Ruinen der väterlichen Poststation wieder. Stolz und dickköpfig beginnt der rundliche Mann, Brot zu backen und Suppen aus den Kräutern der Gegend zu kochen. (Das erinnert schon an ganz moderne Konzepte wie vom „Noma" in Kopenhagen.) Beides erfreut sich bald großer Beliebtheit. Sogar die angebliche Konfitüren-Macherin Louise (Isabelle Carré) bietet sich resolut als Küchen-Gesellin an. Die Postkutscher verändern bald den Fahrplan für die besonderen Mahlzeiten Mancerons. Der kann es kaum erwarten, dass sein exzellenter neuer Ruf den alten Herrn herbeilockt. Doch nicht nur er hat noch eine Rechnung mit dem Herzog offen...

Wie der literarische gebildete Sohn Benjamin (Lorenzo Lefèbvre) den Vater im freien Geiste Rousseaus animiert, sich von der Herrschaft Chamforts loszusagen, ist einer der vielen historischen Verweise im wunderbar dichten, vielschichtigen und überraschenden Meisterwerk „À la Carte! - Freiheit geht durch den Magen". Das Sahnehäubchen vom historischen und Liebes-Film ist die spielerische Nacherzählung vom Entstehen der modernen Restaurants. Tatsächlich waren es die in der Französischen Revolution ohne kopflose Herrschaft arbeitslos gewordenen Köche, welche die Anzahl der Restaurants in Paris in wenigen Jahren von unter Hundert auf mehrere Hunderte anstiegen ließen. Doch aus diesem trocken Wiki-Wissen macht Besnard einen wunderschönen Spaß: Manceron erfindet etwa moderne Küchen-Spielereien wie die „Amuse bouche". Historisch korrekt jedoch, dass ein Wechsel vom großen Gasttisch zu Einzeltischen stattfand. Ebenso kam die Menükarte auf, mit der neuerdings zu jeder Zeit, die dem Gast beliebte, gegessen werden konnte. Später kam die Boullion hinzu, aber das ist eine andere Geschichte von den Suppen, die hier nur geringschätzig nebenbei erwähnt werden. Der Sohn will anders modern auf Fleisch verzichten, weil es aggressiv mache. Dabei hungert ihm nach Neuigkeiten aus dem revolutionären Paris. Das herrlich bürgerliche Finale fasst grandios den Wechsel vom Menü bei Hofe zum volkstümlichen Gastmahl unter Gleichen zusammen. (Schade nur, dass sich mittlerweile mit dem ganzen kulinarischen Kult eine neue kapitalistische Aristokratie der Gourmets entwickelt hat.)

„À la Carte!" ist weit von der belanglosen Nettigkeit vieler französischer Filme entfernt, wie sie Éric Besnard selbst mit „Birnenkuchen mit Lavendel" abgeliefert hat. Bei reichlich vielen Plots passt auch noch ein soziologische und kultur-historischer Hintergrund vom Feinsten hinein. Dabei gelangen im einfachen Setting der frisch restaurierten Poststation exquisite Aufnahmen, das Schauspiel ist sowie zum Fingerlecken. Im Menü der Küchen-Filme ist dies sicher der historisch nahrhafteste.

Hope (2019)


Norwegen, Schweden 2019 (Hap) Regie: Maria Sødahl, mit Andrea Bræin Hovig, Stellan Skarsgård, 126 Min., FSK: ab 12

Dass eine Tumor-Diagnose ohne Chance auf Heilung am Anfang eines trotzdem beglückenden Films stehen kann, beweist „Hope" mit der autobiografischen Geschichte der Regisseurin Maria Sødahl: Es ist kurz vor Weihnachten, als die Choreografin Anja (Andrea Bræin Hovig) von einem erfolgreichen Auslandsaufenthalt zu ihrer Familie zurückkehrt. Und die Kopfschmerzen von einem großen Tumor stammend diagnostiziert werden. Ein Jahr nachdem der Lungenkrebs scheinbar erfolgreich besiegt wurde. Schmerzen und Panik sind groß, trotzdem beschließt Anja mit ihrem Mann, dem Regisseur Tomas (Stellan Skarsgård), den sechs Kindern nichts zu sagen. Und dann macht er ihr im Sprechzimmer eines Arztes auch noch einen Heiratsantrag.

Märchenhafte Weihnachten, Anjas Geburtstag, eine Hochzeit, Neujahr und wahrscheinlich ein baldiger Todestag in einem Rutsch – „Hope" hält sich nur scheinbar nicht zurück. Denn der bewegendste und schönste Film der Woche bleibt ohne übertriebene Dramatik lebensnah, sehr detailliert und glaubhaft. 

Deutlich die ähnlichen Erfahrungen der Filmregisseurin Maria Sødahl, wenn die Nebenwirkungen Anja hyperaktiv machen und wir uns über einen Hausputz im Eiltempo amüsieren können. Geistreich geht das Paar, das sich eigentlich auseinandergelebt hatte, mit der Situation um: Auf sein „Wie geht es dir?" antwortet sie, deren Sehnerv eingeklemmt ist, „Blind"! Beim grandiosen Weihnachtsfest hängen alle balancierend und lachend in einem großen Knoten auf Papa, der vorher die Hausarbeit an die älteren Kinder delegiert hatte. Selbst die Liebe, die im Alltag verloren gegangen ist, lebt in Todesnähe wieder auf.

Die Abschiede vor der Operation sind nicht einfach anzusehen, aber „Hope" ist kein Melodram, das explizit auf die Tränendrüse drückt. Die Fast-Tragikomödie zeigt eine problematische Beziehung, in der doch noch viel Liebe, Verständnis und innige Kenntnis des anderen steckt. Das macht aus „Hope" auch einen Liebesfilm. Und eine Anti-Rauch-Kampagne.

Respect (2020)


USA 2020 Regie: Liesl Tommy, mit Jennifer Hudson, Forest Whitaker, Audra McDonald, 145 Min., FSK: ab 12

Das wechselhafte Leben der großartigen „Queen of Soul" und Bürgerrechtsaktivistin Aretha Louise Franklin (1942 – 2018) in einer recht konventionellen Biografie – dass „Respect" trotzdem ein toller sehenswerter Film ist, verdankt er seiner Hauptdarstellerin Jennifer Hudson („Dreamgirls") und ihrer starken Interpretation der Franklin-Hits.

Die Kindheit der noch „Re" genannten Aretha zeigt der Film eindrucksvoll und schockend: Da ist der prominente Kreis von Kultur-Menschen im Hause des Vaters und Predigers C.L. Franklin (Forest Whitaker). Der Bürgerrechtsaktivist Martin Luther King so etwas wie ein Onkel. Dann vergewaltigt einer der anderen Männer das kleine Mädchen in ihrem Zimmer. Mit zwölf Jahren wird Aretha Franklin ihr erstes Kind bekommen, mit vierzehn das zweite. Die Montage fängt diese Grausamkeiten mit Andeutungen im Bild ab: Wir sehen nur, wie der Vergewaltiger die Tür von innen verschließt. Erst viele Szenen später zeigt eine Rückblende das Kind schwanger. Der frühe Tod der Mutter ist allerdings ein emotionaler Hammer. Das Mädchen verstummt für mehrere Wochen, wird dann vom Vater zum Singen in der Kirche gezwungen. Männer bestimmen lange Arethas Leben und keineswegs zum Vorteil der Frau. Der gewalttätige Ehemann Ted White (Marlon Wayans) bringt die begnadete Komponistin und Sängerin zwar weg vom Kopieren weißer Erfolge. Als nach neun erfolglosen Alben mit Produzent Jerry Wexler (Marc Maron) und der Rückkehr zum Soul die Hits kommen, geben Teds Schläge weiter die Richtung an. Eine späte Emanzipation, schön mit passenden Songs begleitet („Think (Freedom)"), übergibt den Star und Workaholic nun in den Griff des Alkoholismus. Stilvoll gefilmt, sind es vor allem die freien Interpretationen des Schauspielstars Jennifer Hudson, die „Respect" zu mehr als respektabler Biografie machen.

22.11.21

In den Uffizien


Deutschland 2020, Regie: Corinna Belz, Enrique Sánchez Lansch, 100 Min., FSK: ab 0

Der wunderbare Dokumentarfilm über die Uffizien in Florenz und deren neuem, deutschem Leiter Eike Schmidt ist nicht nur ein Traum, weil er den Hort unzähliger Kunstschätze, das Erbe der Medici und das zentrale Bildgedächtnis der Renaissance aus ungewöhnlichen Perspektiven zeigt. Im überflutenden Reiz der Kunstwerke werden neben dem reichlich steifen deutschen „direttore" auch die Schließer bei ihrer Arbeit zwischen den bedeutenden Werken oder ein Aufseher mit zusätzlichem „zyklopischem Auge" vorgestellt. Der leitende Bibliothekar Claudio Di Benedetto wirkt wie der eigentliche Hausherr, der scheinbar seit Jahrhunderten die Kunstwerke „für die Gegenwart, aber vor allem für die Zukunft bewahrt". Er erzählt auch, wie der Palazzo Pitti als Flüchtlingslager diente. Derweil bereitet Kunsthistoriker Schmidt akribisch einen neuen Raum für Leonardo vor und nebenbei erfährt man etwas über seine Präsentations-Philosophie. Für Sponsoren, die nicht so genannt werden sollen, macht er vor der Kamera die Uffizien selber sauber. Und kämpft um die Platzierung eines Stücks moderner Kunst, das von den Selfie-Schießenden kaum beachtet und die Zeiten wohl nicht überdauern wird. Die Allegorien der Zeit in den Deckenkassetten betrachten auch dies unaufgeregt. Ein exklusiver Einblick wie vor dem Massentourismus oder während des Lockdowns.

Das schwarze Quadrat

Deutschland 2021, Regie: Peter Meister, mit Bernhard Schütz, Sandra Hüller, Jacob Matschenz, 100 Min., FSK: ab 12

Der Austausch des frisch geraubten und titelgebenden Malewitschs soll ausgerechnet auf einem Kreuzfahrtschiff stattfinden. Wenn die beiden Gauner im ebenfalls geklautem Reisegepäck Travestie-Kostüme finden, ist klar, dass die Verwechslungsklamotte billiges Boulevard-Theater wird. Und zwar - wie die Bühnenshow mit den nun falsch besetzten Bowie- und Elvis-Imitatoren - nur mäßig unterhaltsam.

Hannes (2021)

Deutschland 2021, Regie: Hans Steinbichler, mit Leonard Scheicher, Johannes Nussbaum, Lisa Vicari, 91 Min. FSK: ab 12

Schon der gemeinsame Motorrad-Trip von Moritz (Leonard Scheicher) und Hannes (Johannes Nussbaum) wird in jugendlicher Wildheit und Dolomiten-Landschaft überzogen gezeigt. Der Rest des Films lässt nach dem schweren Unfall, der Hannes ins Koma bringt, dann keineswegs nach. Der nicht recht lebenstüchtige Moritz übernimmt nun den Job des Freundes im Pflegeheim, lebt für ihn weiter. Die persönliche Entwicklung läuft im Zeitraffer ab, der Rest des Lebens um ihn hat die Gewichtigkeit von Teenieparty-Filmen. „Hannes" wurde vom eigentlich besseren Regisseur Steinbichler („Winterreise") nach Rita Falks Roman unangenehm durchschaubar auf das ganz große Gefühl hin inszeniert.

17.11.21

Große Freiheit


Deutschland, Österreich 2021 Regie: Sebastian Meise, mit Franz Rogowski, Georg Friedrich, Anton von Lucke, 116 Min. FSK: ab 16

Der Auftakt ist eigentlich unvorstellbar und doch erst junge Vergangenheit in Deutschland: Hans Hoffmann (Franz Rogowski) wird 1959 wegen sexueller Handlungen mit anderen Männern zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt. In der Bundesrepublik Deutschland! Doch in dem auf ruhige und intensive Weise tief bewegenden Drama um den berüchtigten Paragrafen 175 wird es in einer früheren Zeitebene noch viel schlimmer. Die erste Haft für Hans wegen Homosexualität nach dem Krieg ist eine direkte Verlängerung des Aufenthalts im Konzentrationslager. Weil der junge Mann dort schon 14 Monate überlebt hat, braucht er „nur noch" vier Monate im nicht für alle freien neuen Deutschland einzusitzen.

Das schockt selbst den groben Zellengenossen Viktor (Georg Friedrich), der zuerst nicht mit einem Schwulen in der Zelle sein will. Die „175" an der Tür kennzeichnet Hans. Viktor hat die „211", er sitzt wegen Mord aus Eifersucht an seiner Frau, wie er erst sehr spät erzählen wird. Jetzt hat der starke Mann aber Angst, angefasst zu werden, und stellt die Zelle auf den Kopf: „Ich bin net so einer". Erst als er die eintätowierte KZ-Nummer sieht, ist auch er von der Unmenschlichkeit der systemübergreifenden Strafe schockiert. Viktor wird ihm die Nummer des Terrors heimlich nachts in der Zelle überstechen.

„Große Freiheit" ist kein Gefängnisfilm mit gewaltsamen Szenen der Unterdrückung. Vielmehr eine Liebesgeschichte, die hauptsächlich im Knast stattfindet und auch dort endet. Es ist erstaunlich und schmerzlich, wie selbstverständlich sich Hans hinter Gittern bewegt. Im Dunkel der erneut verordneten Einzelzelle klären Rückblenden über die Abfolge von Verurteilungen auf. Wir erleben Hans nur ganz kurz draußen. Super8-Aufnahmen in der Natur mit seinem jungen Geliebten, der auch verurteilt wird, wirken fast surreal in dem bedrückend schönen Chiaroscuro, mit dem die französische Kamerafrau Crystel Fournier die Zellen zeichnet.

Die große bittersüße Geschichte des Films wird allerdings die mit Viktor sein. Er ist nicht der dumpfe Homophobe, dazu ist diese Gestalt selbst viel zu gebrochen. Ein zu Lebenslang verurteilter Mörder, der sich erst als Junkie selbst einsperrt. Denn eine Bewährungs-Verhandlung verpennt er, weil er sich eine Überdosis setzt. Das gibt dem Verhältnis von Hans und Viktor, die immer wieder im Knast aufeinandertreffen, eine neue Wendung. Eine respektvolle Freundschaft ist im Laufe der Jahre entstanden. Der Abhängige will nun in die Zelle des Schwulen, damit der ihm als Freund beim kalten Entzug hilft. Diesmal ist es ein Sich-Nahe-Kommen ganz anderer Art.

„Große Freiheit" feierte seine Weltpremiere in Cannes in der Neben-Sektion „Un Certain Regard", wo er den Großen Preis der Jury erhielt. Zudem wurde er beim Filmfestival in Sarajevo als bester Film ausgezeichnet. Der Darstellerpreis ging an der Österreicher Georg Friedrich („Stereo", „Wild", „Mein bester Feind"), doch eigentlich wird der Film gemeinsam von Franz Rogowski und Georg Friedrich in den Hauptrollen getragen. Als am Mythos untergehender Tieftaucher in „Undine", als Nazi-Emigrant in „Transit", als Stapler-Fahrer „In den Gängen" oder als frustrierter Konzernsohn (von Isabelle Huppert) in „Happy End" - Franz Rogowski ist in jedem Film, unter jeder Regie ein Erlebnis. In „Große Freiheit" bekommt sein grandioses Spiel besonders viel Raum. Oder besser: Hier wirkt es umso mehr beim, nein, nicht Kammerspiel, aber doch intensivem Aktieren auf engstem Zellen-Raum. „Große Freiheit" – ein Kinoereignis und ein Mahnmal gegen die grausame Unmenschlichkeit, die Liebe in vielen Ländern immer noch verbieten will.