27.3.13

Mitternachtskinder

Kanada 2012 (Midnght's Children) Regie: Deepa Mehta mit Satya Bhabha, Siddharth, Shahana Goswami, Rajat Kapoor, Seema Biswas 148 Min.

„Mitternachtskinder" ist die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Salman Rushdie, der dafür 1981 den Booker-Prize erhielt. Die oscar-nominierte Regisseurin Deepa Mehta („Water") machte aus Rushdies eigenem Drehbuch, aus diesem enormen Schatz an indischen Geschichten und Geschichte ein episches Erlebnis der besonderen Art.

Exakt zur Mitternacht des 15. August 1947, als Indien seine Unabhängigkeit erklärt, werden zwei Babys in einem Bombayer Krankenhaus geboren. Die Krankenschwester Marie, das Herz der Geschichte, vertauscht ein reich geborenes und ein armes Kind in einem revolutionären Akt unerfüllter Liebe. Saleem Sinai und Shiva sind nun dazu verdammt, das Leben des anderen zu führen. Eines ist ihnen jedoch gemeinsam: Wie alle Mitternachtskinder haben sie die besondere Fähigkeit, die Gedanken anderer Mitternachtskinder lesen zu können. So treten die beiden in Kontakt und ihre unterschiedlichen Lebenswelten verbinden sich zunehmend - untrennbar verwoben mit der wechselvollen Geschichte Indiens, zwischen Aufbruchstimmung und Katastrophe.

Dieses pralle Epos ist humorvoll in vielen Situationen und im Off-Kommentar der Hauptfigur Sinai. Dann wunderbar sinnlich wenn der Großvater seine zukünftige als Arzt nur hinter einem Vorhang und durch ein Guckloch untersuchen darf. Anfassen erlaubt, aber immer nur das leidende Körperteil, bis er eine üppige Brust sieht und endlich auch - sie hat Kopfschmerzen - ihr Gesicht. Diese metaphorische Geschichte Indiens, bei denen die Mitternachtskinder die Hoffnungen eines Landes auf dem Weg in die Unabhängigkeit verkörpern, muss bei einem so zerrissenen Land aber auch dramatisch sein. Immer wieder findet der große Erzählbogen, in dem die Jahrzehnte wie in einem Atemzug verfliegen, ungemein aussagekräftige Szenen und Bilder. Da spiegelt sich das unter den Teppich kehren von Problemen im Verstecken eines vom Militär gesuchten Dichters, der in einem Verschlag, eben unter dem Teppich Unterschlupf und Liebe findet.

Die große Parabel der Geburt einer Nation zeigt dann immer wieder im Ganzen und im Detail Zerrissenheit: Religiös, sozial, geschlechtsspezifisch... Wobei es Hass, Neid und Krieg sind, die Shiva, das Prinzip der Zerstörung, nach oben bringen. Auch wenn sich die „Mitternachtskinder" mit Grausamkeiten lange zurück halten und selbst beim Krieg zwischen Indien und Pakistan das Unfassbare nur als Weißblenden zeigen oder Jahre ausblenden, weil Sinai ins Koma fällt - das Regime der Indira Gandhi von 1966-77 ist eine erschütternd dunkle Zeit. Die magische Liebe zwischen Sinai und Parvati wird nach düsteren Vorahnungen zerrissen, die Hoffnung in Form der Mitternachtskinder gebrochen.

Doch ein neuer Anfang führt das Leben als Werk der Liebe weiter und gibt diesem gewaltigen Werk einen versöhnlichen, hoffnungsvollen Abschluss. „Mitternachtskinder" vermittelt die ganze Kraft eines Stücks großer Literatur in der Folge von Dickens. Das Leben der Kinder bildet den Spiegel des Landes Indien, hält aber auch unserer Gesellschaft immer mal wieder einen Spiegel vor. Große Kunst, Leidenschaft in poetischer Form, eine aufwändige Inszenierung und (leider) nur eine kleine Einlage Bollywood-Musical machen Deepa Mehtas Film zu einem dieser unvergesslichen Epen des Films.

26.3.13

Voll abgezockt

USA 2013 (Identity Thief) Regie: Seth Gordon mit Jason Bateman, Melissa McCarthy, Amanda Peet 111 Min. FSK ab 12

Sandy und Trish Patterson sind eine liebliche Ami-Familie aus Denver, wieder schwanger und haben Geldprobleme. Richtige Geldprobleme, weil eine Frau aus Florida die Identität des Familienvaters klaut und mehrere seiner Kreditkarten um Tausende überzieht. Sandy, schon genug mit seinem Frauen-Vornamen geschlagen, ist bald seinen Job los, nur die Polizei schenkt ihm jetzt besondere Aufmerksamkeit. Sie hilft nach Entdeckung des Missverständnisses nicht, der zu brave Bürger muss selbst ran, fliegt „an den schlimmsten Ort der USA". Der Film kommentiert diese Lösung mit: Das ist lächerlich!

Lächerlich gemacht wird auch die Betrügerin. Die kaufsüchtige Sandy-Kopie namens Diana ist ein einsamer Mensch, der hier übergewichtig, in unvorteilhaften Klamotten, Frisur, und Make Up diskreditiert wird. Ach, nebenbei ist sie noch dämlich. Diana hat kein Selbstbewusstsein, aber dafür eine Kreditkarte, die eines anderen. Eine gemeinsame Flucht vor Gangstern mit Gewehren und tödlichem Racheplan ist die dramaturgische Krücke, an der sich der Film noch eine Stunde lang dahinschleppt. Denn ein Flug ist für zwei Personen mit der gleichen Identität nicht drin, deshalb wird Sandy für eine lange Autofahrt zurück nach Denver an die soziopathische Betrügerin gefesselt. Und wir an diesen quälend schlechten Film. Man hätte ihn auf Video herausbringen sollen, genau Video, nicht DVD, damit ihn wirklich keiner mehr sehen muss.

Dieser „Identitäts-Diebstahl" klaut ein altes, immer noch hoch aktuelles Thema, das Sandra Bullock schon 1998 spannend in „Das Netz" trieb. Nun sollte es komisch werden. Seth Gordon hat mit „Kill the Boss" (Horrible Bosses) und auch mit Jason Bateman in der Hauptrolle eine halbwegs bissige Satire der Arbeitswelt gedreht. Dass Diana die Wohnung voll unnützem Zeug in mehrfacher Ausführung hat, geht diesmal nur schwer als Kapitalismus-Kritik durch, der Rest ist verlogen. Nicht mal die Figuren-Entwicklung während des Road-Trips hin zur Freundschaft, um die sich alles drehen sollte, funktioniert halbwegs. Die Geschichte so vorhersehbar wie Jason Bateman in der Rolle des ausgebeuteten, lieben aber naiven Buchhalters, der richtig runter kommt.

25.3.13

Die Jagd

Dänemark, Schweden 2012 (Jagten) Regie: Thomas Vinterberg mit Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larsen, Annika Wedderkopp, Lasse Fogelstrøm 120 Min. FSK ab 12

Ein Kindergärtner soll sich vor einem kleinen Mädchen entblößt haben. Doch er ist unschuldig. Eindeutig. Mit dieser Prämisse nimmt Thomas Vinterbergs Film direkt eine nicht schwierige Position ein. Doch genau darum geht es beim sympathischen Lucas (Mads Mikkelsen), dem sympathischen, stillen Mann, der von Klara, der kleinen Tochter seines besten Freundes Theo, so gemocht wird, dass diese eifersüchtig einen Vorwurf erfindet. Grethe, die unfähige Leiterin des Kindergartens, greift diesen gierig auf und verbreitet ihn reflexartig überall. Der Hobby-Jäger Lucas wird zum Gejagten, in einer Massenhysterie gibt es plötzlich noch mehr Vorwürfe. Alle Kinder beschreiben den gleichen Keller bei Lucas zuhause, das Sofa, die Tapete. Nur - das alles existiert nicht, Lucas' Haus hat gar keinen Keller! Trotzdem schlagen Väter den Verdächtigen im Supermarkt zusammen, er darf seinen 15-jährigen Sohn nicht mehr sehen und alle Freunde wenden sich von ihm ab.

„Die Jagd" ist eine andere Seite von „Das Fest", der Missbrauchs-Geschichte von Vinterberg, die 1998 so sensationell einschlug. Und vom beklemmenden (in Deutschland unterschlagenen) „Submarino" (2010), in dem zwei Brüder die Misshandlungen ihrer Kindheit überleben müssen. Mittlerweile ist vom Dogma-Stil aus Vinterbergs Anfängen nichts mehr zu sehen, wie schon in „Dear Wendy" (2005) und „It's All About Love" (2001) braucht feinste Dreh- und Inszenierungskunst keine Gimmicks mehr, um erschütternde, aber leider sehr gegenwärtige Situationen intensiv auszuleuchten.

Die erste Zusammenarbeit des dänischen Stars Mads Mikkelsen, der in Cannes 2012 als Bester Darsteller ausgezeichnet wurde, und Thomas Vinterberg in dessen siebtem Film beeindruckt nachhaltig. „Die Jagd" ist wieder so ein ganz genauer, wichtiger Film von Vinterberg. Er passt zu den Lynchmobs, die selbst in Deutschland immer wieder das Recht in eigene Hände nehmen wollen! Die unfassbare Situation der Hexenjagd wird glaubhaft erzählt. Fast immer. Nur dass irgendein Bekannter Grethes ein regelrechtes Verhör mit Klara führt und ihr die erwarteten Worte in den Mund legt, wirkt unrealistisch unprofessionell. Da gibt es andere Methoden und irgendwie erwartet man so beschränktes Verhalten in Skandinavien nicht. Doch die Wahrheit hat danach ebenso wenig eine Chance wie das Mädchen, das bald sagt, es sei nichts passiert. Das Vertrackte an der Situation ist, dass selbst bei offensichtlicher Unschuld ein Zweifel bleibt. Man versteht durchaus die Eltern in ihrer Verzweiflung. Wie vertrackt die Situation ist, zeigt eine Szene am Ende, nachdem sich alles aufgeklärt hat und man wieder gemeinsam feiert. Ein Küchenboden mit exzessivem Linienmuster liegt zwischen Lucas und Klara. „Verdammt viele Linien, die man nicht überschreiten darf", meint Lucas und es geht längst nicht mehr um das Tritt-auf-keine-Linie-Spiel, das beide auf dem Nachhauseweg hatten. Lucas, der in der Extremsituation lange einen vernünftigen, aufrechten Weg suchte, findet auch hier eine Lösung, nimmt das Kind in den Arm und trägt es zum Papa. Eine ganz einfache Handlung, tragischerweise atemberaubend aufgeladen.

19.3.13

Der Nächste, bitte!

Frankreich 2012 (Un plan parfait) Regie: Pascal Chaumeil mit Diane Kruger, Dany Boon, Alice Pol, Robert Plagnol 105 Min. FSK ab 6

Da in der Familie von Isabelle (Diane Kruger) die ersten Ehe der Frauen immer schief gehen, beschließt die erfolgreiche und jahrelang mit ihrem Freund Pierre glückliche Zahnärztin, eine kurze Scheinehe einzugehen, bevor sie danach den richtigen heiratet und mit ihm - sehr altmodisch kompliziert - erst dann ein Kind bekommen kann. Es darf in einer Romantischen Komödie etwas unglaubwürdig werden. Etwa wenn Isabelle dem ungehobelten Idioten Jean-Yves (Dany Boon) von Dänemark, wo eine arrangierte Ehe platzte, unter großem persönlichen und finanziellen Einsatz nach Kenia hinterher reist. Wenn sie wirklich die intelligente, gebildete Frau wäre, die der Film behauptet, würde sie eine andere Lösung finden, etwa einem Asylanten zur Aufenthaltsgenehmigung verhelfen. Doch so wird es eher fremdschäm-peinlich, wie sie in Winterklamotten in einen afrikanischen Pool stolpert. Munter überraschend geht es weiter und ein wenig verständlich wird, dass sie anstelle des einförmigen Glücks mit Pierre, das chaotische bis aufregende Leben mit Jean-Yves entdeckt. Man wird halt selten von einem wilden Löwen beschnüffelt. Sie bekommt eine Masai-Hochzeit, doch da die bald auch im korrekten Frankreich eingetragen ist, muss sie den Deppen nun wieder loswerden.

„Der Nächste, bitte!" ist eine vorhersehbare und formelhafte Romantische Komödie, die auch aus Hollywood kommen könnte - was nicht als Lob gemeint ist. Diane Krueger lässt ihrem komödiantischen Talent freien Lauf, was ein besseres Drehbuch-Konstrukt (Buch: Laurent Zeitoun, Yoann Gromb) verdient hätte. Sie darf Verführerin und femme fatal spielen, eine Ex-Prostituierte vor seinen Kollegen, zudem Slapstick-Einlagen hinlegen, wie die Betäubungsspritzen, damit Jean-Yves nicht vor dem richtigen Partner Pierre redet. Danny Boon variiert in seiner Musterrolle als Nervensäge kaum den Typen des herzensguten Trottels aus „Willkommen bei den Sch'tis". Das kann man sich aus Forschungs-Interesse ansehen, muss es aber keineswegs. Die nächste RomKom, bitte.

The Best Offer - Das höchste Gebot

Italien 2013 (La migliore offerta) Regie: Giuseppe Tornatore mit Geoffrey Rush, Jim Sturgess, Sylvia Hoeks, Donald Sutherland 123 Min.

Dem cinematographischen Panoptikum der oft heimlichen Blicke - siehe Hitchcock - und der zum verzehrenden Anblick freigegebenen Ikonen fügt Regisseur und Autor Giuseppe Tornatore bei „The Best Offer" eine unvergessliche Szene hinzu. Erinnert sei zuvor an sein frühes Meisterstück „Cinema Paradiso" und den einzigartigen Moment, wenn der erwachsene Salvatore schließlich all die von der Kirche zensierten Kussszenen aus den Filmen seiner Jugend in einer wunderbaren Montage sieht. Nun arbeitet „The Best Offer" auf einen ähnlichen Moment, allerdings in der Filmmitte zu:
Der berühmte Kunst-Auktionator Virgil (Geoffrey Rush) hat erkennbar ein Problem mit Nähe und Kontakt. Immer in Handschuhen hält er sich Menschen fern, ergaunert allerdings mit Hilfe eines Gehilfen, des Malers Billy (Donald Sutherland), eine eindrucksvolle Sammlung von wertvollen Frauenporträts. Die Blicke zahlloser Schöner umgeben ihn meterhoch in einer geheimen Kammer seiner luxuriösen Junggesellen-Wohnung. Bis ...
Der Rest des Films ist eine raffinierte Befreiung des erfolgreich einsamen Mannes aus seiner künstlichen Gefängnis. Ein mysteriöses Vermächtnis lockt ihn zu einer verlassenen Villa. Haust hinter einer geheimen Wand vielleicht E.T.A. Hoffmanns Maschinenfrau Olimpia? Haufenweise Maschinenteile weisen darauf hin. Oder doch nur ein alter, extrem wertvoller Automat und eine lebendige Frau, die noch zurückgezogener lebt als Virgil?
In sehr edler Ausstattung vom Cast (grandios: Geoffrey Rush) über Kostüm bis zur Kulisse erzählt Tornatore gekonnt gefällig. Die mysteriösen Momente sind ebenso gut gestreut wie die großen. Ein opulenter Sehgenuss mit einer Szene, die alles übersteigt, was hunderte kluge Filme ins Auge fassen wollen und viele Bücher erklären möchten.

18.3.13

Die Croods

USA 2012 (The Croods) Regie: Kirk De Micco, Chris Sanders 99 Min. FSK o.A.

Da kann man mit 2 oder 3D drehen. Da kann man noch so viele deutsche Drüber-Quatscher engagieren, die es sowieso schlechter machen als die Originalstimmen. „The Croods" ist so klasse, weil hier die Ideen purzeln wie bei Geröllheimers unterm Sofa. Wenn Steinzeit schon früher so lustig gewesen wäre, wie bei dieser animierten Familien-Komödie, dann hätten wir glatt den Neandertalern die trübe Zukunft überlassen! Obwohl von der Gehirnmasse her gesehen, ist es nicht ganz klar, ob die Croods jetzt Chrom- oder Chrom-Mangan-Menschen sind. Die Entwicklungs-Linie scheint quer durch diese Familie von Höhlenbewohnern zu gehen. Ja, es ist sogar Thema des Films, dass Papa Grug lehrt, alles Neue sei gefährlich. Dabei ist in Zeiten des Umbruchs - richtigen Umbruchs mit Erdbeben, Vulkanausbrüchen und Kontinentalverschiebungen - Anpassung an neue Verhältnisse gar nicht so dumm. (Was nicht heißt, ihr könnt eure Eltern jetzt als Neandertaler bezeichnen, wenn sie euch mal was verbieten!) Moment mal: Kontinentalverschiebung und Steinzeit-Menschen? Das passt nicht zusammen, werden die Klügeren der kleinen Croods sagen. Aber es gab sicher auch keine Walfische mit Füßen, keine fliegenden Piranhas oder was sonst noch so in diesem durchgeknallten Film rumfleucht.

Also noch mal von Anfang: Da war das Ei. Von so einem Straußen-Känguru-Huhn ganz in Blau. Und damit es zum Frühstück der Croods wird, geht bei der Sippe samt Oma mit Bumerang-Krücke und tierischem Baby eine Menge Action ab. Danach ist schon fast wieder Schicht beim Tageslicht und der Deckel kommt auf die Höhle. Man weiß ja nie. Aber Tochter Eep will wissen, was da so im Dunkeln flackert und schleicht sich heraus. Hinter einer furchteinflößenden Maske steckt der junge, clevere Guy, der nicht nur vom Feuer weiß, sondern auch von der nächsten Naturkatastrophe. Nach ein wenig hin und her Gerenne, Geschreie und Gehaue folgt ihm selbst der reaktionäre Grantler Grug. Die Moral von der Geschicht ... interessiert uns mal nicht. Denn abgesehen von diesem klebrigen Gesülz sind „Die Croods" bestes Unterhaltungs-Popcorn (haben sie erfunden) und ein Feuerwerk (das auch) an tollen Gags. Wenn der Film vermitteln will, dass Hirn letztlich Muskelkraft besiegt, macht er es am besten mit seinen hirnverbrannten Ideen, die jeden aufwändigen Animations-Schnickschnack in den Schatten stellen. Deswegen ist es auch egal, dass dieses neumodische 3D-Zeugs nur manchmal wirkt. Damals als die Höhlen-Bilder laufen lernten (wer hat's erfunden? Die Croods!) war nämlich alles noch viel besser. Umpf.

Kon-Tiki (2012)

Großbritannien, Norwegen, Dänemark, BRD 2012 (Kon-Tiki) Regie: Joachim Rønning, Espen Sandberg mit Pål Sverre Hagen, Anders Baasmo Christiansen, Gustaf Skarsgård, Odd-Magnus Williamson, Tobias Santelmann 118 Min.

Thor Heyerdahl klingt schon nach großem Abenteuer und nach Enkel von Erik dem Schrecklichen. Da wundert es gar, dass niemand eher auf die Idee gekommen ist, die berühmte Expedition des Ethnologen aus dem Jahre 1947 zu verfilmen. Also nachzuverfilmen, was Heyerdahl selbst aufnahm und wofür es 1951 einen Oscar als Besten Dokumentarfilm gab. Nun taten es die Regisseure Joachim Rønning und Espen Sandberg in einer Produktion des erfahrenen und erfolgreichen Jeremy Thomas. Und soviel darf verraten werden: Heyerdahl wird genau so erfolgreich mit seinem Voll-Öko-Naturboot Kon-Tiki in Polynesien landen, wie Thomas mit dem gleichnamigen Film im Kino.

Der norwegische Ethnologe Thor Heyerdahl (Pål Sverre Hagen) brauchte zehn Jahre, um eine Erkenntnis an die (Wissenschafts-) Welt zu bringen: Er wollte beweisen, dass Polynesier vom Osten, also von Peru her besiedelt wurde. Gegen die gängige Lehrmeinung, folgt erst der Kampf um die Anerkennung der Wissenschaft, dann um die Finanzierung. Es gelingt Heyerdahl meist mit seinem breiten, einnehmenden Lächeln, vor allem wenn es darum geht, Gläubiger zu vertrösten. Aber vor allem auch, weil er ein Dickkopf ist. „Thor, mach das nicht, das ist gefährlich!" So lautet erste, prägende Satz des Films. Die erste Handlung folgt: Der kleine Junge springt trotzdem auf die Eisscholle. Obwohl er nicht schwimmen kann.

Das kann er immer noch nicht, als er sich 1947 mit vier Freunden auf einem Floss aus Balsaholz den Meeresströmungen anheim gibt, um über 8000 Kilometer nach Polynesien zu treiben. Wie er immer wieder ins Wasser plumst, ist der Swimming Gag des Films. Der Wechsel von Sturm und Flauten dagegen bewegend. Auch wegen der Spannungen unter den fünf unterschiedlichen Männern, doch das wird im großen Staunen schnell nebensächlich. Da beeindruckt die Begegnung mit einem riesigen, Plankton fressenden Hai mehr. Was nach den Meeresaufnahmen in „Life of Pi" wirklich nicht einfach ist. Auch das phosphorisierende Meer kommt übrigens vor. Als allerdings die Konstruktion immer mehr Wasser saugt, was Heyerdahl nicht wahrhaben will, und hier Tiefgang droht, hilft freundlicherweise ein Hai aus, der zum ständigen Begleiter und zum verlässlichen Produzenten von Hai-Spannung wird. Das von der Navy zum Ausprobieren mitgelieferte Anti-Hai-Pulver probieren sie aus Versehen als Suppe aus. Die übrig bleibende Tomatensuppe wirkt dann jedenfalls nicht abschreckend. Ja, wenn Norweger eine Bootsfahrt machen, gibt es auch immer was zu Lachen.

Denn die Reise mit der Kon-Tiki war ein unglaubliches Unterfangen, wenn man sieht, wie sie im Detail ablief. Von der Mannschaft weiß nur einer, wo Steuerbord ist. Heyerdahl filmt erst mal mit Deckel vor dem Objektiv. Der mitreisende Ingenieur und Kühlschrankverkäufer Herman will bald aufgeben: Er hat Drahtkabel mit, die das Floss zusammenhalten könnten. Doch Thor wirft sie ins Meer.

Heraus kam eine Legende der praktischen Wissenschaft und ein altmodischer, in kräftigen Farben und Bildern gefällig gezeichneter Abenteuerfilm. Altmodisch nicht nur wegen der blonden Mähnen und den Seitenscheiteln. Dass mann Frau und Kinder für größere Aufgaben zu hause zurück lässt, leben Millionen werktätiger Helden täglich nach. Wie letzte Woche in „Hitchcock" gibt es jedoch einen Zweierbeziehungs-Wermutstropfen im großen Meer der Freiheit. Ein simpel desillusionierender: Frauen stehen zwar auf Abenteuer-Typen, doch wenn der Nachwuchs da ist, sollten die Wikinger oder Mallboro-Cowboys lieber zuhause bleiben.

Psychologie gab es bei den Polynesiern ebenso wenig wie Rettungswesten, deswegen wurde derartiger Ballast erst gar nicht auf die Reise mitgenommen. Aber gut verschnürt und hübsch aufgemacht, trägt auch eine Weile. In diesem Fall die ganzen 8000 Kilometer bis zur dramatisch-komischen Landung. Die Landung im Kino wird sicher auch in Deutschland eine erfolgreiche sein. Wie gesagt, ohne Ballast reist es sich manchmal besser.

17.3.13

Spring Breakers

USA 2012 (Spring Breakers) Regie: Harmony Korine mit James Franco, Selena Gomez, Vanessa Hudgens, Ashley Benson, Rachel Korine, Heather Morris 92 Min.

„Spring Breakers" ist eine Breitseite us-amerikanischer (Jugend-) Kultur und springt den gepflegten Kinobesucher heftig an: Spring Break in den USA - hüpfende Brüste, Koma-Saufen im großen Stil, Kiffen, Koksen... Und das ist erst der Vorspann! Da diese große Studentenparty im Frühling ja in der amerikanischen Verfassung von den Gründungsvätern festgeschrieben wurde, müssen vier Freundinnen auch unbedingt nach Florida. Jeden Tag die gleiche Uni, das ist menschenunwürdig! Die dunkelhaarige Faith, die tatsächlich in einer Bet-Gruppe ist, und drei Blondvariationen Cotty, Candy und Britt, die auch nach 88 aufregenden Minuten keine Unze Individualität bekommen haben. Letztere rauben aus Geldmangel mal schnell einen Imbiss aus, die Kamera umrundet den Laden dabei sagenhaft elegant, und ab geht die Party.

Im Flow der Bilder und Töne unterscheiden sich die vier Mädels nicht von den tausend anderen, die sich an Floridas Küste die Kante geben. Puritanisch ist da nichts mehr. Erst als sie verhaftet und von einem Rapper namens Alien (genial: James Franco) per Kaution ausgelöst werden, startet die Story durch. Diese Witzfigur mit einer Frontreihe von Metallzähnen, weiten Kinderhosen und einer Sneaker-Sammlung erweist sich als ganz großer Gangster, der in seiner Wohnung „Scarface" auf Endlosschleife laufen lässt und überall Drogen, Geldbündel und Maschinengewehre stapelt. Während Faith das jetzt doch zu bunt wird, finden die anderen drei das jetzt keinen Hauch erschreckend, bedrohlich, kriminell oder so was - nur geil. Im Gegenteil, beim Sexspielchen mit geladenen Pistolen bekommt man eher um den Gangster Sorge, der plötzlich zwei von den Dingern tief im Mund stecken hat. Da der gehypte Regisseur Harmony Korine in seinem Kino-Trip nie Tempo rausnimmt, kommt der kurze Film jetzt auch schon zum Gangster-Krieg und die in all ihrer Party-geilen Blondheit ziemlich emanzipierten Mädels machen fröhlich mit - in rosa Pussy-Riot-Sturmhauben und selbstverständlich weiterhin im Bikini, den sie Zweidrittel des Films anhaben.

Der 1973 geborene Harmony Korine ist Legende, seit er mit 21 Jahren von Larry Clark entdeckt wurde und das Drehbuch für „Kids" schrieb. „Spring Breakers" liefert viele Vorlagen für moralinsaure Aufregung. Aber er zeigt auch, wie gut Korine als Regisseur ist. Wer die Nacktheit und die Plattitüden dabei nur als Oberfläche begreift, ist selbst schuld. Und wird einen kraftvollen Einschlag in die Filmgeschichte verpassen.

Paradies: Glaube

Österreich, BRD, Frankreich 2012 Regie: Ulrich Seidl mit Maria Hofstätter, Nabil Saleh 114 Min. FSK ab 16

Nach Ulrich Seidls eindimensionalen Trilogie-Auftakt über karibische Callboys mit „Paradies: Liebe" in Cannes, zeigt „Paradies: Glaube", der in Venedig mit dem Großen Preis der Jury („Silberner Löwe") ausgezeichnet wurde, sehr raffiniert vielschichtig Glaubens-, Geschlechter- und Ehe-Krieg in einer peinlich aufgeräumten Österreicher Wohnung. Aber auch Flagellation vor dem Kreuz gegen die Fleischeslust und Masturbation mit dem Symbol des Herrn! Der Österreicher Ulrich Seidl glaubt weiterhin an die Provokation, dieses ist eines der gelungensten Werke dieses Herrn.

Wir kennen Anna Maria (Maria Hofstätter) aus „Paradies: Liebe" von einem kurzen Besuch ihrer Schwester, die in Urlaub zu den schwarzen Loverboys fuhr. Anna Maria ist dagegen gläubig. Mehr als das, sie liebt ihren Jesus - weil er doch so gut aussieht - bis zum Gutenachtkuss. In den Ferien bleibt sie daheim und zieht mit ihrer Wander-Madonna durch die Häuser der Vororte, um mit den Menschen zu beten. Was zu atemberaubend grandiose Szenen führt.

Regelmäßig wie ihr ganzes aufgeräumtes Leben ist, trifft sich die Gebetsgruppe Legio Herz Jesus bei Anna Maria. Als „Sturmtruppen und Speerspitze des Glaubens" schwören sie, dass Österreich wieder katholisch wird. Klingt fundamentalistisch faschistisch und nach leichtem Fressen für Religionskritiker. Doch dieses einfache Glaubens-Opfer nimmt Regisseur Seidl („Import/Export", 2007; „Jesus, Du weißt", 2003; „Tierische Liebe", 1996) nicht an. Er bringt der Anna Maria nach zwei Jahren wieder ihren Ehemann ins Haus: Den querschnittsgelähmten Moslem Nabil, der bald weinerlich um etwas Sex bettelt. Nun ist die extremistisch Gläubige nicht nur im Konflikt zwischen zwei Männern - Jesus und Nabil. Auch Barmherzigkeit und Keuschheit kämpfen unter ihren Brüsten.

Obwohl des Gatten Mischung aus Vorwürfen und Jämmerlichkeit schwer erträglich ist, bleibt Trennung undenkbar: „In allen Religionen ist es deine Pflicht, für mich zu sorgen", weiß Nabil. Leider steht seine Macho-Position auf schwachen Beinen, um es im provokant direkten Stile Seidls zu sagen. Mitleid für einen impotenten Behinderten, der doch noch die Vergewaltigung versucht? Bewunderung für die Standfestigkeit einer völlig durchgeknallten religiösen Eiferin? Nein, der oft halb-dokumentarisch arbeitende Seidl stellt nicht einfach nur bloß in seinen, passend zum Ordnungswahn Annas streng symmetrischen Bildern. Wenn die Katholikin mit dem Moslem nach vielen kindischen Gemeinheiten raufend am Boden liegt, kann man nicht mehr auseinanderhalten, ob es hier um Religionen, Geschlechter oder In- und Ausländer geht. So wie der Name Anna lässt sich der Film von allen Seiten lesen. Dabei sorgten die skurrilen extremistischen Handlungen der penetranten Missionarin immer wieder für große Heiterkeit. Beim Glauben kennt Seidl, der selbst eine harte religiöse Erziehung durchleben musste, sich aus. Ein doppelbödiges Vergnügen.

16.3.13

John Howard - über Titel und Rekorde zum entschleunigten Sporten

Radsport-Ferien auf Mallorca mit Fred Rompelberg sind trotz des Mottos „alles geht, nichts muss" von einem starken Leistungsgedanken beschattet. Kein Wunder, wenn der Chef überall mit Fred 268km/h signiert und immer noch den Geschwindigkeits-Weltrekord auf dem Fahrrad hält. Auf einem amerikanischen Salzsee fuhr er eben diese 268km/h eine Meile lang. Da erstaunt es um so mehr, Rompelbergs Vorgänger kennenzulernen: Auch in diesem Frühjahr war der Amerikaner John Howard wieder auf Mallorca, diesmal mit einer ganzen Truppe überaus flott und gut fahrender US-Amerikaner. Die Liste von Erfolgen des 1947 geborenen Howard ist lang: Als Radrennfahrer nahm er an drei Olympiaden teil (1968, 1972, 1976) und gewann 1975 und 1976 die Coors International Bicycle Classic, 1981 gewann er den Ironman auf Hawaii, 1985 setzte er den Weltrekord für Fahrräder auf 245km/h. Erst zehn Jahre später brach Rompelberg diesen Rekord. 1987 fuhr er 593 Meilen in 24 Stunden! Ja, das geht: Man muss nur die 40km/h pro Stunde durchhalten!!! Und dann gibt es aus dem Jahr 2000 auch noch einen 24-Stunden-Rekord im Kanu-Fahren, den er aber ganz bescheiden der pedalbetriebenen Kanu-Konstruktion seines Bruders zuschreibt.

Auf die Frage, wie er sich mit Fred Rompelberg, dessen 268km/h-Leihrad er fährt, versteht, antwortet Howard überraschend: „Ich bin froh, dass er mir den Rekord abgenommen hat!" Auch die weiteren Einsichten passen so gar nicht ins Bild eines Rekord-Jägers und Leistungs-Sportlers auf vielen Gebieten. Die ganzen Rekorde und Titel hätten ihm den Weg zu seiner eigenen Kreativität verstellt, meint er nun bei einem Glas Sangria in der ganzflächig mit Radtrikots behängten Kult-Kneipe „Frank & Carmen„ an der Playa de Palma. Mit Kreativität verbindet er heute das Schreiben: Fünf Rad-Ratgeber hat er bisher in den USA veröffentlicht. „Mastering Cycling", das neueste, ist ganz frisch herausgekommen. Richtig schwärmt er dann von seinem nächsten Buch, das er mit einem Ko-Autoren schreibt. Ein legendärer schwarzer Sprintstar wird die Hauptfigur in diesem ersten Roman von Howard!

„Wenn man mit einem von Ehrgeiz und Leiden verzerrtem Gesicht fährt, kann das nicht gesund sein," sagt einer, der noch mit den jungen Rasergruppen mithalten könnte, aber lieber in einer sogenannten Tour-Gruppe (mit Stundenmitteln von 25-30km/h und Strecken um die 100km) mitrollt. Nur am ersten von vier Bergen spielt er vorne mit, dann begleitet er Fahrer seines Teams nach oben. Was dann wieder passt, ist die Freude am Fahren, die Howard selbst vermittelt und weiter gibt: Unter den tausenden Radsport-Touristen ist John vielleicht derjenige, der am meisten genießt. Obwohl seine beste Schülerin, die mehrfache US-Meisterin Denise Mueller, ihn vielleicht übertrifft, wenn sie immer mal wieder freudig aufjauchzend die grandiosen Blicke - auch mit einem sturzgepolsterten iPhone - aufnimmt. Die Sportlerin mit einer Mutter aus Düsseldorf führt dreizehn U.S.-Meisterschaften und zwei Weltmeisterschafts-Medaillen in ihrer Ehrenliste auf, unter anderem in der Disziplin Downhill. Nach zwanzig Jahren Mutterschafts-Auszeit vom Leistungssport will sie vielleicht wieder Rennen fahren. Nebenbei lief sie in der vergangenen Woche zwei Marathons auf zwei Kontinenten, wegen Wetterproblemen wurden es dann zwei Marathons in drei Tagen! Die Zeiten seien ihr dabei nicht wichtig gewesen.

Wie es denn zu seiner entschleunigten Philosophie passe, dass Denise wieder Rennen fahren will? Stolz geht der Blick des Meisters, der Leistungsdruck und Extrem-Sport auf ungewöhnliche Weise gemeistert hat, zu seiner Schülerin: Sie sei ein Naturtalent im Genießen.

13.3.13

Immer Ärger mit 40

USA 2012 (This is 40) Regie: Judd Apatow mit Paul Rudd, Leslie Mann, John Lithgow, Megan Fox 134 Min. FSK ab 12

Da schenkt Pete (Paul Rudd) seiner Frau Debbie (Leslie Mann) zu ihrem dritten 38. Geburtstag einen Viagra-Ständer, was ihr seltsamerweise nicht schmeichelt. Es folgt eine Diskussion darüber, ob man sich George Clooney als glücklichen Menschen vorstellen muss und Pete stellt sich mit seinem Radsport-Kumpel vor, wie es wäre, wenn ihre Frauen einen schnellen, schmerzlosen Tod sterben würden. Da stimmt also einiges nicht im Leben dieser nicht mehr ganz jungen us-amerikanischen Wohlstandsfamilien.

Von nun an sind die Eltern dieser vierköpfigen Familie, die beide kurz hintereinander 40 werden, damit beschäftigt, ihr Leben neu zu regeln: Debbie will nicht mehr rauchen und Pete soll nicht mehr so viel Süßes essen. Die ältere Tochter (Aptows eigene!) sieht alle Folgen von „Lost" in fünf Wochen und ein neues Wlan-Verbot stört diese Beziehung extrem. Die notwendigen Gesundheitsvorsorgen fallen bei Debbie wegen Lachgas spaßig aus und bei Pete wegen Prostata-Untersuchung nicht. In die zwei langen Stunden Film passen noch viele solcher Anekdoten. Hinzu kommen ernsthafte finanzielle Probleme: Da Pete den Erfolg seines neuen Musikverlages von dem Comeback eines Oldies abhängig macht, muss die Familie vielleicht ihr Haus verkaufen - wovon Debbie noch keine Ahnung hat.

Der Komödien-Macher Judd Apatow inszeniert seine filmische Midlife-Crisis als familiäres Luxusproblem mit den üblichen Einsprengseln von dem, was Amis als schlechten Geschmack betrachten. Dass Pete immer auf der Toilette mit einem iGerät Scrabbel spielt und so dem Familienleben entflieht, hat Hand und Fuß, aber derart auch einen deftigen Eigengeruch.

„Immer Ärger mit 40" versucht satirisch zu sein, aber gleichzeitig gefühlig für seltsame moderne Familienkonstellationen, bei der diese Generation angeblich zu kurz kommt. Das Jammern auf sehr hohem Niveau wird immer von Rückfällen zu den pubertären Filmen unterbrochen, die Aptow üblicherweise produziert - „Jungfrau (40), männlich, sucht..." beispielsweise. Doch ärgerlicher ist, dass die bemühte Komödie nie in die Gänge kommt. Es dauert über eine Stunde, bis der Streit zu Petes Geburtstag eskaliert. Wenn John Lithgow als lange abwesender Vater Debbies seine große Szene hat, sieht man, wie schwach dies Mini-Drama bei den eigentlichen Hauptfiguren besetzt ist. Dazu lahm und viel zu selbstverliebt in das eigene Material. All diesen Behauptungen und abgefilmten Lebens-Beobachtungen fehlt die Geschichte. So gibt man sich schließlich vor lauter Jammer mit einem Faulen-Kompromiss-Happy-End zufrieden. Das besingt dann noch Bryan Adams, wodurch auch der Kritiker die Krise bekommt.

11.3.13

Hitchcock

USA 2012 (Hitchcock) Regie: Sacha Gervasi mit Anthony Hopkins, Helen Mirren, Scarlett Johansson, Danny Huston, Toni Collette, Jessica Biel 98 Min. FSK ab 12

Um Sie nicht lange auf die Folter zu spannen: „Hitchcock" ist ... ja, eigentlich kann man das so genau nicht sagen ... Ein Ehedrama? Ein Hollywood-Thriller um einen Thriller, der trotz Hollywood zum Erfolg wurde? Die Komödie eines hervorragenden Schauspielers, der unter auffällig schlechter Gummimaske einen dicken Mann mit Zigarre persifliert? „Hitchcock" ist als das, noch viel mehr und außerdem überhaupt nicht, was man erwartete.

Ein Farmer erschlägt seinen Bruder auf dem Acker, dabei steht im Hintergrund Hitchcock (Anthony Hopkins) im Anzug und mit einer Teetasse in der Hand. Der bekannte Regisseur kommentiert die Szene mit leisem Spott, wie er es bei seinen Fernsehfolgen immer tat. Dabei ist der Meister schlecht gelaunt und furchtbar frustriert: „Der unsichtbare Dritte" ist abgefeiert, die neuen Vorschläge vom Studio wollen 1960 das gleiche noch mal. Nur die Lektüre des neuen Buches „Psycho" begeistert ihn. Wobei, was wir davon in Bildern sehen, oder wenn wir verfolgen, was sein Kopf dabei sieht, ist nicht schön. Als er möglichen Investoren die echten Fotos des Massenmörders zeigt, laufen alle entsetzt weg, aber der Meister erkennt, „sie müssen hinschauen!"

Womit „Hitch", wie ihn einige nennen dürfen, bei seinem Fachgebiet ist: Auch er muss immer hinschauen, vor allem, wenn eine seiner Lieblingsschauspielerinnen sich im Nebenraum umzieht. Wie gut, dass ein kleines Spanner-Loch in der Wand ist. Das ist zwar schon „Psycho" aber auf einer anderen Ebene wurde der Film noch längst nicht finanziert. Alfred Hitchcock musste schließlich sein Haus verpfänden, um das zögerlich Filmstudio Paramount zur Mitarbeit zu zwingen.

Also Filmgeschichte, diese Geschichte der Entstehung eines der spannendsten, psychologisch tiefblickendsten und berühmtesten Thriller der ... genau: Filmgeschichte? Nicht so ganz, denn dass Hitch beim echten Massenmörder auf der Psycho-Couch liegt und sich analysieren lässt, oder dass der Regisseur beim Dreh der schnittreichen Duschszene selbst vormachte, wie heftig Norman Bates zustechen muss, und dabei in Gedanken auf all seine Feinde einstach, ist nicht wirklich verbriefte Historie. Und immer wieder verfällt die Nacherzählung vom Drehprozess in solch surreale Szenen.

Wobei erstaunlicherweise der Handlungsfluss wunderbar unterhaltsam funktioniert. Selbst seine Nachstellungen von blonden Visionen und andererseits die Eifersucht gegenüber dem jüngeren Freund (Danny Huston) seiner Frau (Alma Reville) passen organisch in das Gesamtgefüge. Und da wäre auch noch das platonische - ja, wirklich! - Verhältnis zum Psycho-Star Janet Leigh, sehr keck gespielt von Scarlett Johansson. Oder die Auseinandersetzung mit der Zensurbehörde, die nicht nur Nacktheit ausschloss, sondern auch das Zeigen einer Toiletten-Schüssel als unamerikanisch empfand.

Doch eigentlich ist und bleibt Alma die spannendste Figur, „Hitchcock" ist ihr Film. Erst als sie „Psycho" auf großartige Weise in die Hand nimmt, wird was draus. Sie setzt Bernard Herrmanns Musik für die Duschszene durch. Zwischendurch lebt sie die Romantik von zwei Schreibmaschinen auf der Terrasse eines Strandhauses mit einem anderen, aber die Eifersucht hilft dem Meister zu erkennen, dass er ohne sie nichts ist.

Keine Ahnung, was die Filmhistoriker zu „Hitchcock" sagen werden, aber die Hommage ist humorig, andeutungsreich und unterhaltsam. Sehr nett, wie Hopkins die Gestik, Körperhaltung und auch Hitchcocks Sprache mit diesem Ziegenlachen imitiert, obwohl er selbst immer wieder aus der Maske hervorbricht. Sogar ein wunderbarer Spaß, wenn Hitchcock bei der Premiere von „Psycho" in der leeren Lobby die Messerstiche dirigiert und - immer wieder Voyeur - durch die Kinotür das Publikum beobachtet. Was wir dann auch wiederum gerne tun, das Beobachten dieser Konstruktion, die Rekonstruktion eines Geniestreiches ist. Oder genau, der von zwei kongenialen Menschen. Wobei der schönste Erfolg ist, dass er nach dreißig Jahren ihre Zusammenarbeit anerkennt - „man nennt mich nicht umsonst den Master of suspence" - und der Jagd nach den blonden Illusion entsagt.

Rubinrot

BRD 2012 Regie: Felix Fuchssteiner mit Maria Ehrich, Jannis Niewöhner, Veronica Ferres, Uwe Kockisch, Katharina Thalbach 122 Min. FSK ab 12

Kerstin Giers „Edelsteintrilogie" musste zwangsläufig im Kino landen. Doch weniger an die titelgebenden Edelsteine als an eine Kiesgrube denkt man beim Ergebnis, bei diesem übervollen Durcheinander aus Fantasy-Elementen und vor allem einem Aschenputtel-Kitsch aus Groschenromanen. Die 16-jährige Gwendolyn (Maria Ehrich) wird von ihrer reichen Cousine gemobbt. Zu unkonventionell ist die mit Punk-Accessoires dekorierte Schülerin eines Londoner Internats. Ihre unabhängige Haltung wird auf die Probe gestellt, als Mitglieder einer düsteren Loge in Gwendolyn den Rubin genannten, letzten Baustein einer zu Zeitreisen veranlagten Gruppe von zwölf Menschen erkennt. Nun soll das eigenwillige Mädchen, das in aufgepimpten Turnschuhen im London des letzten Jahrhunderts landet, mit snobistischen Verwandten und dem arroganten Aristokraten-Sprössling Gideon de Villiers (Jannis Niewöhner) zusammenarbeiten. Die Momente, in denen Gwendolyn plötzlich und immer mit Schwung durch Zeit und Raum in die Vergangenheit gezogen wird, weichen kontrollierten Zeitreisen vermittels einer durch Blut angetriebenen Maschine.

Bemüht inszeniert macht der Film aus dem eigentlich klaren Plot ein wirres und über zwei Stunden langweilendes Durcheinander. „Rubinrot" springt im Minutentakt zwischen Genres hin und her - für das Gelingen viel gefährlicher als die Zeitsprünge! Dabei befindet sich die Zeitmaschine übrigens circa 20 Meter von der Pforte des Aachener Doms entfernt - was mit roter Telefonzelle und Briefkasten als London verkauft wird. Zwar gestaltet die Deko diesen Hof den verschiedenen Epochen gemäß, doch auch im Setting springt der Film vom Glitter Londons zu günstigeren und wenig eindrucksvollen Kulissen in Deutschland. Der Schieflage schließt sich der zwischen Einzelszenen nicht austarierte Ton an, vor allem Veronika Ferres liefert ganz schnell eine schrille Kostprobe ihres Könnens. Das Arsenal der Darsteller spannt sich von ehemaligen Fassbinder-Recken wie Gottfried John über Frau Ferres, der Diva des Unfähigen, bis zu schlimmen TV-Schargen, die mit entsprechenden Dialogen gefüttert wurden. So entsteht eine peinliche Art Pilcher für Jugendliche, wobei die Helden auch noch gegen eine böse Weltherrschaft kämpfen müssen.

Positiv fällt allein Maria Ehrich mit eher zurückhaltendem Spiel in der Hauptrolle als Gwendolyn auf. Die höchstens in ihrer schlechten Qualität einheitlichen Elemente tun der Unterhaltung nicht gut. Langwierig und -weilig schleppt sich die Handlung zu einem finalen Schulball und den unerlässlichen Cliffhanger hin. Es wird auf jeden Fall weitergehen, vielleicht mit ausgewechseltem Team und in besserer Qualität.

Sofia‘s Last Ambulance

Bulgarien, BRD, Kroatien 2012 (Poslednata lineika na Sofia) Regie: Ilian Metev 75 Min.

Rettungsfahrer Plamen rast durch Sofia, sodass die Krankenschwester Mila sich angsterfüllt irgendwo im Cockpit festklammert. Nur der grauhaarige Rettungsarzt Krassi bleibt immer ruhig. Es geht zu Unfallopfern, Drogensüchtigen, Zusammenbrüchen und auch zu Leichen. Denn dieser Rettungswagen ist einer der nur 13 Ambulanzen, die in der bulgarischen Hauptstadt Sofia für zwei Millionen Menschen unterwegs ist und da scheint es normal zu sein, dass auf der Warteliste fast 20 dringende Notfälle abzuarbeiten sind. Obwohl sich Ilian Metev in seinem Dokumentarfilm konsequent auf seine drei Protagonisten konzentriert, entwickelt sich bei diesem Einblick langsam die Außenperspektive einer haarsträubenden Gesundheitssituation mit.

Anders als bei der Flut von sogenannten Reality-Formaten und Scripted Reality im Privaten Fernsehen, kommt die konzentrierte Beobachtung ihren Figuren ohne abgefragte Seelenbekenntnisse nahe. Nicht weil die Kameras erstaunlich dicht dran sind und die Erschöpfung von zu vielen Überstunden festhalten. Oder die Anspannung von Mila, wenn für ihren Geschmack wieder zu schnell zum Einsatzort gerast wird und sie die Jungfrau Liliana anfleht. Einnehmend ist auch der Rhythmus von ruhigen Gesprächen und Zigarettenpausen, die mit den Amaturenbrett-Kameras aufgenommen werden, sowie hektischen Einsatz-Szenen, bei denen eine Handkameras dabei ist. Das wird dann auch mal spannend, immerhin geht es um Leben und Tod.

Die drei vom Rettungswagen zeigen sich gut gelaunt und engagiert, selbst wenn sie ohne Einsatz wieder zurückfahren, weil sie die eigene Notrufzentrale nicht erreichen und in einer Warteschleife hängen. Zwischendurch pflücken sie sich frisches Obst von einem Baum und schauen erschreckt wegen der ernsten Warnung: „Und passt auf, dass ihr nicht verprügelt werdet."

Ilian Metevs Langfilm-Debüt, das bei seiner Premiere in Cannes mit dem Visionary Award der Semaine de la Critique ausgezeichnet wurde, behält konsequent seinen Blick auf die drei Protagonisten bei. Wir sehen kaum jemand anderen, ganz selten mal die Sicht des Fahrers. Wir blicken im Prinzip in eine Blase, was nur kurzzeitig irritiert, weil sich diese Innenperspektive als sehr fesselnd erweist. Der Reiz dieser außergewöhnlichen, „puren" Dokumentation liegt auch in ihrer nüchternen Betrachtung, in ihrer stilistischen Reinheit.

6.3.13

Take this Waltz

Kanada/Spanien/Japan, 2011 (Take This Waltz) Regie: Sarah Polley mit Michelle Williams, Seth Rogen, Luke Kirby, Sarah Silverman 116 Min.

Die Menschheit ist endlich von der ewig quälenden Frage „Soll ich mir einen Film mit Michelle Williams oder einen von Sarah Polley ansehen?" erlöst! Denn „Take this Waltz" ist einer von der jungen, in jedem Film noch mehr mit ihren Fähigkeiten erstaunenden Schauspielerin und Regisseurin Sarah Polley. Und einer mit der unglaublichen Michelle Williams („My Week With Marilyn", „Blue Valentine", „Synecdoche, New York", „Wendy and Lucy"): Niemand kann so wunderbar gleichzeitig lachen und weinen. Was auch auf den Film passt, der gleichzeitig eine der schönsten Liebesgeschichten überhaupt und dann auch in voll romantischer Fahrt richtig bitterhart ist. Denn die so betörend Verliebte muss sich schließlich von der rückfälligen Alkoholikerin sagen lassen: Mädel, das ist auch nur eine Droge.

Witzig ist Margot, die junge Frau mit ihrer Vorliebe für orange Dinge. Bei der Besichtigung eines historischen Örtchens, wo in einer Kostüm-Aufführung Ehebrecher noch ausgepeitscht werden, wenn sie sich am Flughafen im Rollstuhl fahren lässt, weil sie panische Angst vor Übergangs-Situationen hat, und in ihrer Ehe mit dem Koch Lou (Seth Rogen), wenn Liebesbekundungen einen heftigen Splatter-Touch haben. Das Leben im Häuschen bei Toronto wäre ein Traum, gäbe es nicht hier und da Widerhaken, beim Sex etwa, der nicht mehr so richtig will. Dagegen muss Daniel (Luke Kirby), die Zufallsbekanntschaft aus dem Flieger, ausgerechnet gegenüber wohnen und geht auch sonst nicht mehr aus Margots Kopf. Daniels muskulöser Körper pulst vor ihr - als der Rikscha-Fahrer Margot und Lou zum Essen aus Anlass ihres Hochzeitstages fährt! Und die Zerrissenheit wird immer schlimmer, bis Daniel wegzieht....

Sarah Polley zaubert eine wunderbare Romanze auf die Leinwand, die voller Bild- und Szenen-Perlen ist. Jede allein erzählt eine perfekte Geschichte. Da gleitet die Kamera zum titelgebenden Walzer um ein neues Paar, der Cohen-Titelsong mit Sanges-Duett reicht, um Liebe von der ersten Leidenschaft im freien Raum bis zur voll eingerichteten Beziehung vor dem Fernseher auszumessen. Oder wenn Lou zu einem Feist-Cover von Cohens „Closing Time" den Nebenbuhler, von dem er nichts weiß, zur Party in der entscheidenden Nacht seines Lebens einlädt. Dass die Namen Margot, Lou und Daniel auch französisch sein könnten, liegt nicht nur daran, dass wir kulturell auf kanadischem Hoheitsgebiet sind (Polley, Leonard Cohen ...). Auch im Kino im Film läuft Französisches, die Dialoge sind un-amerikanisch sorgfältig und einzelne Szenen haben die Liebes- und Leidenskraft von Werken wie „Jules & Jim".

Die unfassbar gute Regisseurin und Autorin verführt mit warmen Bildern, mit Liebesszenen am Strand und unter Wasser nicht zu einem romantischen Märchen, denn bei aller Schönheit sieht man immer schon die Ahnung eines heftigen Meteoriten-Einschlages aus dem Sternensystem namens Realität. Polley findet scheinbar einfache und berauschende Szenen für Gefühle und Lebenssituationen. Sie schildert Räusche und Ängste, die man sich so witzig und leicht schräg nie hätte ausmalen können. Und doch findet man sich darin wieder, wenn der Glücks-Schwindel in dem altmodischen Karussell zu „Video killed the Radio Star" in voller Fahrt stoppt. Das ist romantisch und bitter, traurig und schön.

Nach dem Alzheimer-Drama „An ihrer Seite" erweist sich Polley mit dieser bei aller Verzauberung außergewöhnlich realistischer Romanze in konsequenter und verträumter Farbdramaturgie erneut als großartige Regisseurin. Ihr vorletzter, formal gewagterer Film „Stories We Tell" über ihre eigene oder fantasierte Familie soll später ins Kino kommen. Komiker Seth Rogen zeigt sich dabei als ernsthafter Charakterdarsteller und die geniale Komikerin Sarah Silverman trumpft als Alkoholikerin mit echtem Drama auf. Über Michelle Williams könnte man noch weiter schwärmen oder einfach staunend zusehen, wobei dieser Film bei ihrem Doppelstart in dieser Kinowoche die einzige Wahl ist, sich wirklich verzaubern zu lassen.

Shootout - Keine Gnade

USA 2012 (Bullet To The Head) Regie: Walter Hill mit Sylvester Stallone, Sung Kang, Sarah Shahi, Adewale Akinnuoye-Agbaje 92 Min. FSK ab 16

Alteisen steht hoch im Kurs - doch manchmal ist es nur rostig: „Shootout - Keine Gnade" ist ein Buddy Movie vom alten Eisen ... mit mächtig viel davon: Der 71-jährige Regisseur Walter Hill hat das Genre mit „Nur 48 Stunden" quasi neu erfunden, der 76-jährige Sylvester Stallone hat jahrzehntelang ... nun ja, Sylvester Stallone gemacht. Nun ist er der alte Killer James Bonomo, der seinen Partner rächen will und dabei mit dem jungen Polizisten Taylor Kwan (Sung Kang) zusammenarbeitet. Ihr Gegner ist einer, der für einen Briefumschlag schon mal zwanzig Leute umlegt.

Es sind diesmal also der ehrliche Cop und der noch halbwegs integere Killer, die gegen eine Bande korrupter Polizisten und Politiker, sowie gegen alle Wahrscheinlichkeit im gleichen Boot beziehungsweise Straßenkreuzer sitzen. Drumherum New Orleans-Deko, viel toughe Sprüche über den harten Job aus dem Off und auch der laut scheppernde Rock klang so schon in der Steinzeit.

Beide einfach strukturierten Figuren, basierend auf der Graphic Novel „Du plomb dans la tête" von Matz bleiben uninteressant, da kann man noch so viele Gitarren-Riffs unter den wackeligen Gang des Action-Rentners legen. Witzig soll es sein, wenn der Altmodische mit dem Smartphone-Benutzer, der Ortsansässige mit dem Besucher immer wieder streitet und Recht behält. Auch mit der Lebenseinstellung, anderen erst in den Kopf zu schießen und dann vielleicht der Polizei zu übergeben. Diese Dialoge haben die Spritzigkeit einer Dampfmaschine, was nicht nur daran liegt, dass Stallone kaum verständlich in seine reduzierte Mimik reinnuschelt. Wer aus Verehrung für den Altmeister Walter Hill über diesen Film nachdenkt, sollte auf das gute Alte vertrauen und Hills Klassiker des rauen Action-Kinos wie „Straßen in Flammen" aus dem Jahr 1983 rauskramen.

4.3.13

Nachtzug nach Lissabon

BRD, Schweiz, Portugal 2012 (Night Train To Lisbon) Regie: Bille August mit Jeremy Irons (Raimund Gregorius), Mélanie Laurent, Jack Huston, Martina Gedeck, Tom Courtenay, August Diehl, Bruno Ganz 111 Min. FSK ab 12

Der Roman „Nachtzug nach Lissabon" von Pascal Mercier scheint ja weltweit viele Leser begeistert zu haben. Bestseller ist er sowieso. Wie jedes Buch, das verfilmt wird; und wenn man die Zahlen all der vielen Bestseller mal hochrechnet, liest die gesamte Menschheit eigentlich nur noch. Ins Kino gehen braucht sie nicht, zumindest nicht in diesen unsäglichen Film.

Das Werk des Schweizer Philosophieprofessors Mercier wurde für diesen Film stark verändert, man kürzte dabei vor allem die pseudo-philosophischen Traktate ein. Das wäre ok, jede Literaturverfilmung sollte es anders als das Buch machen, Diskussionen über Regie-Film wie beim Regie-Theater erweisen sich schon in der Wortbildung als Unsinn. Furchtbar scheitert der „Nachtzug" jedoch, weil er durchgehend damit beschäftigt ist, seine Schau-Werte auszustellen. Das sind Postkarten aus Lissabon sowie Jeremy Irons, Martina Gedeck, August Diehl, Bruno Ganz und Lena Olin. Zudem in zweiter Reihe, quasi als Geisterbahn Christopher Lee, Charlotte Rampling und Burghart Klaußner. Geschichte erzählt sich zwischen diesen Nah- und Straßenaufnahmen nur bedingt. Historie in den Rückblenden nur auf übelst verkürzte Weise.

Um die fast zweistündige Qual wieder - ganz unliterarisch - zu vertexten: Der Berner Lehrer Raimund Gregorius (Jeremy Irons), rettet auf einer Brücke eine lebensmüde junge Portugiesin. Später bleibt ihm ihre Jacke mit einem alten Buch des portugiesischen Arztes Amadeu de Prado darin. Nun verfolgt Gregorius dessen Geschichte, indem er sich in den nächsten Nachtzug nach Lissabon setzt und dort angekommen, die Figuren der Erzählung aufsucht. Es ist ein Drama vom Ende der Diktatur, eine Liebesgeschichte unter den Widerstandskämpfern und eines gebrochenen Herzens.

Der dänische Regisseur Bille August kann weder für das Jetzt noch für die Vergangenheit interessieren. In Postkarten-Panoramen spielt Jeremy Irons einen verwirrten Jeremy Irons, dem erst seine alte Brille kaputt gehen muss, damit er besser sieht ... dass dies ein ziemlich plumpes Symbol ist. Martina Gedeck stellt als Optikerin schicke Kleider aus und kann ein glänzendes Auto zum Design und einen gefolterten Onkel zur Vergangenheitsbewältigung hinzufügen. Diese Aufarbeitung und Nacherzählung bleibt in vereinzelten Fragmenten Stückwerk wie ein Kurzfilm, wobei die Darsteller hier wenigstens mehr Raum zum Agieren haben. August Diehl als verlassener Revoluzzer Jorge hat noch eine der nicht ganz undankbaren Rollen. Wenn dann sein älteres alter Ego Bruno Ganz seinen Senf dazu gibt, will man jedoch wieder umgehend den nächsten Zug irgendwohin nehmen...

Dass August Diehl, eine der anderen Inseln anständigen Schauspiels in diesem Umfeld bemüht in die Kamera gehaltener Gesichter, völlig ohne Anknüpfungspunkte den jungen Ganz - oder Ganz den alten Diehl - spielen muss, verstärkt das Fremdschemen rund um diese Figur.

Eigentlich ist an diesem Film alles unsäglich, von dem Zurschaustellen der Poster-Stars bis zu blödsinnigen Details solcher Produkte für den Weltmarkt. Wieso beispielsweise spricht Diehl schlechtes Englisch? Als Portugiese kann seine Figur wohl recht gut Portugiesisch sprechen, oder Englisch, wenn das die Sprache des Films sein soll. Aber Englisch mit irgendeinem komischen Film-Akzent ist so bescheuert wie die meisten Entscheidungen in diesem Hochglanz-Machwerk, angefangen von den Reduzierungen des Stoffes auf eine Oberstufen-Zusammenfassung bis zum Verbrechen, talentierte Künstler vorzuführen, statt sie spielen zu lassen.

No!

Chile, Frankreich, USA 2012 (NO) Regie: Pablo Larraín mit Gael Garcia Bernal, Alfredo Castro, Luis Gnecco. Antonia Zegers 118 Min.

Die Machtverhältnisse sind zementiert, Demokratie läuft nur als Image-Kampagne und doch schafft es ein klares „Nein!", dass die Mehrheit wieder zu ihrem Recht kommt. „No!" mit dem mexikanischen Superstar Gael Garcia Bernal ist ein packendes Lehrstück in Sachen Demokratie, ein spannender Politthriller und die bewegende persönliche Entwicklungsgeschichte eines jungen Vaters.

Auf internationalen Druck lässt der chilenische Diktator Pinochet 1988 ein Referendum über die Fortführung seiner Präsidentschaft zu: Das SI bestätigt ihn weitere acht Jahre im Amt, das schon so negativ klingende NO öffnet den Weg zu freien Wahlen. Pinochet kontrolliert Staat und Medien mit eiserner Hand, so gibt sich selbst die zerstrittene Linke bei 15 Minuten TV-Sendezeit zu nächtlicher Stunde kaum eine Chance. Bis der brillante Werbefachmann René Saavedra (Gael Garcia Bernal) die weinerliche Kampagne umkrempelt. Er weiß, wie man Softdrinks poppig verkauft, also kann er auch das „No!" positiv besetzen und populär machen. Doch weiß der zurückgekehrte Exil-Chilene auch, wofür er kämpft?

René Saavedra ist mit Lederjacke und Jeans der rebellische Typ - im Besprechungszimmer der erfolgreichen Groß-Agentur. Draußen, im richtigen Leben, fährt er zwar mit dem Skateboard durch die Straßen, gehört aber ansonsten zu den Wohlhabenden auf der sicheren Seite, zu den Gewinnern des Unrechts, das wirtschaftlichen Erfolg mit Terror und Tod erkauft. Ganz im Gegensatz zu seiner ehemaligen Frau, der Mutter seines Sohnes. Verónica (Antonia Zegers) muss er - auch mit Hilfe der Beziehungen seines Chefs zum Regime - öfters aus den Fängen von Polizei und Sicherheitsdiensten befreien, gerade rechtzeitig bevor die Folterer und Mörder mit ihrer Arbeit beginnen. Doch auch Saavedra spürt den Druck des Regimes als seine Kampagne gegen alle Erwartungen erfolgreich ist: Von Drohungen seines Chefs, der auch noch die Gegenkampagne leitet, über Beobachtung der Mitarbeiter durch die Polizei bis zu direkter Gewalt reicht das Arsenal der Macht. Saavedra muss sich jetzt auch ganz real um seine Familie kümmern.

Die Politik des Nein-Sagens und des Widerstands macht Spaß in dem klugen und packenden historischen Drama „No!". Saavedras immer neue Werbe-Aktionen werden mit viel Lust und Kreativität präsentiert. Man verliert wie die Werbe-Fuzzis fast aus den Augen, dass hier alles todernst ist. Regisseur Pablo Larraín entwickelte seinen Film auf Basis des Theaterstücks „Referendum" von Antonio Skármeta („Mit brennender Geduld", „Il Postino"). Die Zeitstimmung der gar nicht so fernen Vergangenheit fing er ein, indem er
mit der analogen Umatic-Videotechnik der originalen Kampagnen-Spots drehte. Auch beim Personal gibt es ein Wiedererkennen bei vielen Cameo-Auftritten: Persönlichkeiten wie Patricio Aylwin, der erste demokratisch gewählte Präsident nach Pinochet, Patricio Bañados, der TV-Sprecher der NO- Kampagne, oder die Sängerin Isabel Parra sind im Archivmaterial und - 25 Jahre älter - auch in der Fiktion zu sehen.

Der wie in vielen anderen Projekten - „Und dann kam der Regen - También la lluvia", „Die Reise des jungen Che" - politisch aktierende Gael García Bernal spielt eine ambivalente Figur, denn mit ihm kann man lange Glauben, dass Image alles ist, dass sich jeder Inhalt wertfrei verkaufen lässt. Demokratie oder Diktatur nur eine Frage des Marketing-Konzepts. Dieser ebenso einnehmende wie glaubhafte Querschnitt durch eine Diktatur lehrt auch, dass in einer solchen nicht alles von einen Tag auf den anderen Terror ist. Es gibt Inseln, es gibt unterschiedliche Lebenswelten, man kann die Verhaftungen, Morde und scheinbar auch die Lager ausblenden und lässig herumskaten.

2.3.13

Berlinale 2013 Mein Weg nach Olympia

Regie: Niko von Glasow

BRD 2013

Er mag keinen Sport, findet dass die Paralympics zu teuer sind und außerdem sollen sie nur kaschieren, welche Probleme die Gesellschaft mit Behinderten hat! Scheinbar nicht die besten Voraussetzungen für einen Film über behinderte Sportler und ihre Paralympics 2012 in London. Doch der Kölner Niko von Glasow, der seinen dicken Bauch und Hintern ebenso betont, wie seine Contergan-Behinderung („Regisseur mit kurzen Armen"), ist ein hervorragender Filmemacher und „Mein Weg nach Olympia" deshalb ein kluger, vielschichtiger Blick hinter die Kulissen erfolgreicher Sportler.

Nein, Niko von Glasow hat keinen Sportfilm gemacht: In der Mixed Zone nach dem Wettkampf kann er bei Euphorie oder Tränen nicht die übliche „Was haben Sie empfunden?"-Frage stellen. Dafür kennt er die Athleten besser als andere, manchmal sogar besser als sie selbst sich kennen. Wir dürfen sie auf einer Weltreise mit ihm kennenlernen: In Berlin fährt er mit der einbeinigen Schwimmerin Christiane Reppe auf Spinning-Rädern und backt danach Pfannkuchen. Miss Perfect sei sie nicht: „man muss damit leben, was man hat", aber eigentlich fehle ihr nichts.

Nun ist von Glasow, der unter anderem den Deutschen Filmpreis 2009 erhielt, witzig, oft zynisch und nicht nett im Sinne von harmlos. Er lässt es nicht bei der Behauptung „ich bin glücklich, weil ich einer der besten in irgendwas bin", wie der gelähmte griechische Softball-Bocciaspieler Greg Polychronidis meint. Von Glasow fragt den amerikanischen Waffennarren und Bogenschützen Matt Stutzman, weswegen er dauernd Bestätigung braucht. Später kommt dann die junge, fröhliche Christiane Reppe mit dem Geständnis, dass doch nicht alles gut sei und sie eine Mauer um sich herum aufbaue. Aber da bricht ihr Trainer das Gespräch ab...

Egal ob Sitz-Volleyballer aus Ruanda, die mit ihren durch Bürgerkriegs-Minen amputierten Beinen über des Deutschen Contergan-Arme staunen, ob die adoptierte norwegische Tischtennis-Hoffnung Aida Dahlen, die nie Filme über den Bürgerkrieg aus ihrer ursprünglichen Heimat Bosnien sah - mit der ihm eigenen, hinter viel Selbstironie versteckten Wut trifft von Glasow diese Menschen bei ihrem Schmerz, den sie mit Sport überspielen wollen. Trotzdem ist „Mein Weg nach Olympia" ein witziger Film, nicht nur wenn Niko mit dem zum Freund gewordenen Greg im antiken Olympia Boccia spielen will und seinen Film „Triumph des Willens - Teil 2" nennt.

Kinostart: 16. Mai 2013