25.4.23

Die Gewerkschafterin


Frankreich, Deutschland 2022 (La Syndicaliste) Regie: Jean-Paul Salomé, mit Isabelle Huppert, Gregory Gadebois, Yvan Attal, 121 Min., FSK: ab 16

Wie die Gewerkschafterin Maureen Kearney schwer misshandelt in ihrem Haus aufgefunden wird und man sie später verdächtigt, dies inszeniert zu haben, basiert auf einer wahren Geschichte. Isabelle Huppert spielt „Die Gewerkschafterin" in ihrem Kampf gegen machohafte Vorstände eines Atom- und Energiekonzerns. Vehement setzt sich Maureen Kearney gegen eine Übernahme der Atomsparte und dem folgenden Verlust von Arbeitsplätzen ein. Drohungen scheinen sie nur noch mehr anzustacheln. Den möglichen Ruhestand mit ihrem gutmütigen Mann Gilles (Grégory Gadebois) verschiebt sie resolut nach hinten. Auch nach dem Attentat bleibt Maureen kämpferisch, will sich nicht als Opfer sehen. Doch Kommissar Nicolas Brémont (Pierre Deladonchamps) findet keine Spuren der Täter und verdächtigt die überfallene Frau. So wird sie vor Gericht wegen Vortäuschung einer Straftat verurteilt. Aber selbst dieser Niederschlag stoppt die Kämpferin nicht.

„Die Gewerkschafterin" müht sich nach der Buch-Vorlage „La Syndicaliste" mit vielen Details des Dramas um die Persönlichkeit Maureen Kearney ab. Anfangs gibt es viel Wirtschaft-Wirrwarr, später wird es ganz kurz mal kriminalistisch. Das interessante Zentrum bildet die eigenwillige Hauptfigur. Auch wenn man gute Absichten voraussetzt, stößt ihre Direktheit sogar Gewerkschaftskollegen zurück. Männer um sie herum sind entweder ängstlich im Arbeitskampf oder als Gegner grob sexistisch. Der Kampf einer Frau für ihre Rechte nimmt dann auch eine größere Rolle ein als der abstrakt bleibende Verkauf von Atomkraftwerken.

Schon bei „Die Frau mit berauschenden Talenten" spielte Isabelle Huppert in einem Film von Regisseur Jean-Paul Salomé - als Polizei-Übersetzerin, die in den Drogenhandel einstieg. Was damals übertrieben komisch war, verläuft nun sehr ernst. Zwar gibt „die Huppert" auch der Figur der Gewerkschafterin ihren typischen spröden Touch, doch sie wirkt dabei unterfordert und weit von der Faszination von Verhoevens „Elle" entfernt.

24.4.23

The Whale

USA 2022, Regie: Darren Aronofsky, mit Brendan Fraser, Sadie Sink, Ty Simpkins, 117 Min., FSK: ab 12

Mit zwei Oscars ausgezeichnet berührt das gemeinsame Comeback von Schauspieler Brendan Fraser und Regisseur Darren Aronowsky: Es ist ein schockierender Anblick: Extrem übergewichtig sitzt der Literatur-Dozent Charlie (Brendan Fraser) in seiner düsteren Wohnung. Er kann sich kaum alleine aus seinem Sessel erheben, zur Fortbewegung braucht er eine Gehhilfe. Gegen Panikanfälle rezitiert er immer wieder einen Text über Moby Dick. Der scheint ein letzter Halt im Leben zu sein. Frustriert frisst er auf abstoßende Weise und erstickt fast an einem Sandwich. Wieder einmal rettet ihn seine aufopferungsvolle Pflegerin Liz (Hong Chau), die eine besondere Verbindung zu ihm hat. Sie weiß, dass sein Blutdruck mörderisch hoch ist, trotzdem geht er nicht ins Krankenhaus, obwohl er das Geld dafür auf dem Konto hätte. Doch das hält er heimlich für seine Tochter Ellie (Sadie Sink) zurück, die er nach neun Jahren erstmals wieder sieht. Er schlägt der sehr wütenden und abweisenden den Deal vor, gegen Geld gemeinsam Zeit zu verbringen und ihr mit der Schule zu helfen.

Charlies schwer rührender Versuch, wieder eine Beziehung zu seiner Tochter aufzubauen, ist das Herz von „The Whale". Doch nur zu sagen, dass er einen letzten Versuch unternimmt, sich nach langer Zeit mit seiner Tochter zu versöhnen, würde den Film reduzieren. Zu komplex ist diese Familiengeschichte. Denn der Dozent verließ damals seine Frau wegen eines jungen Studenten. Die Tochter war acht Jahre alt. Dass der Kontakt zu ihr abbrach, hatte mehrere Gründe. Charlies Mann wiederum kam aus einer extrem religiösen Freikirchen-Familie und brachte sich schwerkrank um. Ein Verlust, den Charlie nur durch seine exzessive Esserei ertragen kann. Und ausgerechnet ein junger Missionar dieser Sekte klopft an seine Tür.

Die Story von „The Whale" zeigt die gleiche Gnadenlosigkeit wie der extrem heftige und ergreifende Drogen-Albtraum „Requiem for a Dream" (Regie, Drehbuch, Schnitt und Cameo-Auftritt), Regisseur Darren Aronowskys erstem Erfolg aus dem Jahr 2000, nachdem „Pi - Der Film" (1997) schon eingeweihte Kreise begeisterte. Mit dem esoterischen Historienfilm „The Fountain" (2006) ging es auf der Suche nach dem Quell der Jugend thematisch und vom aufwändigen Stil her in eine ganz andere Richtung. Konstant blieb ein Sonderling im Kern der Geschichte, auch bei „The Wrestler" (2008). Der Wrestling-Film war mit einer persönlichen Tour de Force ein kurzes Comeback für Mickey Rourke. 2010 folgte mit „Black Swan" und Natalie Portman Aronowskys bislang erfolgreichster Film. Die Welle der Popularität brachte ihm den mit Russell Crowe prominent besetzten und wenig interessanten „Noah" (2014) ein. Erst mit dem irre klaustrophobischen „Mother!" (2017) kehrte der Filmemacher wieder zu herausfordernden Stilen und Geschichten zurück. Jennifer Lawrence als Mutter und Javier Bardem als Dichter liefern sich einen horrenden Beziehungskampf bis aufs Blut.

Nach sechs Jahren Pause, in denen Aronowsky hauptsächlich als Produzent arbeitete, steht nun wieder ein extremer Einzelgänger im Zentrum einer Familiengeschichte, die entfernt an die Vater-Tochter-Konstellation aus „The Wrestler" erinnert. Auch das gefeierte Comeback vom ehemaligen Komödianten Brendan Fraser, der in den 90ern seinen Karriere-Höhepunkt mit einfachen und affigen Filmchen wie „Die Mumie" (1999) und „George - Der aus dem Dschungel kam" (1996) hatte, ist ähnlich. Allerdings zeigte Fraser schon in Bill Condons genialem „Gods and Monsters" als Gärtner von James Whale, dem Regisseur des Films „Frankenstein", eine andere Seite. Nun ist er mit wiedererkennbarer Mimik selbst „The Whale", der massive Körper des „Wals" wird öfter nackt gezeigt. Hier ist der Grund für den zweiten Oscar – neben dem für Frasers eindrucksvollem Schauspiel - zu bewundern: Die Maske mit dem immensen „fat suit" ist zu keinem Moment als solche erkennbar. So bleibt der Fokus auf die herzzerreißende Tragödie eines Mannes mit unheilbar gebrochenem Herzen, der verzweifelt einen Weg sucht, der abweisenden Tochter seine Liebe zu zeigen.

„The Whale" ist ein beklemmendes Kammerspiel in dunkler, übervoller Wohnung. Das klassische Normalformat engt alles noch mehr ein. Helles Licht spart sich die Kamera von Matthew Libatique für einen besonderen Moment auf. Ein Moment, der nach einem Strudel der Gefühle, nach schweren Geständnissen, nach Abweisung und Versöhnung niemanden ungerührt lassen wird. Trotz und wegen des typisch abgehobenen Aronowsky-Touches.

Champions

USA 2023, Regie: Bobby Farrelly, mit Woody Harrelson, Kaitlin Olson, Matt Cook, 124 Min., FSK: ab 12

„Verrückt nach Mary", „Dumm und Dümmer", „Schwer verliebt" - die erfolgreichen und deftigen Komödien der Brüder Bobby und Peter Farrelly hätten es heutzutage schwer. Scherze auf Kosten von Minderheiten bieten reichlich Aufreger an. So passt es, dass Regisseur Bobby Farrelly in seinem neuen Film „Champions" Buße tut. Mit seiner Hauptfigur, dem rüpelhaften Basketball-Kotrainer Marcus (Woody Harrelson). Nachdem der zuerst seinen Chef-Trainer vor Kameras zu Boden stößt und dann betrunken ein Polizei-Auto anfährt, verdonnert ihn eine Richterin zu Sozialstunden mit einem Team geistig behinderter junger Spieler. Marcus, der sich als exzellenter Taktiker überhaupt nicht für die Menschen um sich herum interessierte, steht eine steile Lernkurve bevor.

Wir lernen Marcus als arroganten und aufbrausenden Egoisten kennen. Zu sehr von sich selbst überzeugt, um seine Mängel wahrzunehmen. Was sich angesichts des unmöglichen Teams namens „Friends" schnell legt. Statt um seine Spielzüge muss er sich um seine Spieler kümmern, von denen einer nicht duschen will, ein anderer immer arbeiten muss und ausgerechnet der beste jeden Einsatz verweigert. Mit und mit stellt sich der Trainer auf die Individuen ein, deren Hintergründe der Film im Schnelldurchgang präsentierte. So entsteht ein erfolgreiches Team, dass sich tatsächlich für die Paralympics qualifizieren könnte. Parallel zur konventionellen Sportgeschichte darf sich Marcus auch in einer Beziehung bewähren: Seine Bettbekanntschaft Alex (Kaitlin Olson) ist die Schwester einer der behinderten Spieler und immer mehr vom Einsatz des Trainers begeistert.

Basierend auf der spanischen Vorlage „Campeones" („Wir sind Champions") realisierte Bobby Farrelly eine geglättete und nette Hollywood-Geschichte. Der provokative und grenzverletzende Humor der alten Filme ist fast völlig verschwunden, Woody Harrelson („Die Tribute von Panem", „Triangle of Sadness") spielt einer seiner bravsten Rollen. Es sind vor allem die Nebenrollen, die Spaß und den Film sympathisch machen.

17.4.23

Infinity Pool

Kanada, Kroatien, Ungarn 2022, Regie: Brandon Cronenberg, mit Alexander Skarsgård, Mia Goth, Cleopatra Coleman, 118 Min., FSK: ab 18

Brandon Cronenberg, Sohn von Horror-Altmeister David Cronenberg, versucht sich und scheitert an einer obskuren Horror-Geschichte über Tourismus, Fremde und eine äußerst gewalttätige Selbstfindung. Der mittelmäßige Schriftsteller James Forster (Alexander Skarsgård) und seine reiche Frau Em (Cleopatra Coleman) urlauben in einem hermetisch abgeschlossenen Ferienresort der fiktiven Insel Li Tolqa. Als sie mit der verführerischen Gabi (Mia Goth) das Gelände verlassen, kommt es zu einem tragischen Unfall mit Todesfolge. James wird von der lokalen Justiz einem bizarren Ritual ausgesetzt: Die Einheimischen fertigen gegen Zahlung eines hohen Geldbetrages ein lebendiges Double an, das bei einer brutalen Exekution vom Sohn des Opfers erstochen wird. James' Gegenstück wimmert und schreit beim Sterben, aber das Original ist seltsam fasziniert. Danach wird er von einer Gruppe reicher Touristen, die das Gleiche mitgemacht haben und die sich Zombies nennen, aufgenommen. James lässt sich vor allem durch Gabis sexuelle Ansprache zum Mitmachen bei weiteren Verbrechen verführen – und immer stehen Kopien für das Urteil zur Verfügung. Zwar stellt sich die Frage, ob wirklich das Double umgebracht wurde und nicht das Original, doch die reichen Touristen verhalten sich zunehmend entgrenzt und hemmungslos.

Cronenberg Junior inszeniert mit viel Gewalt, „traditionellen" Masken und Drogen-Trips einen wenig subtilen Horror der Konfrontation mit einer anscheinend unterentwickelten Bevölkerung. Das erinnert an John Boormans „Beim Sterben ist jeder der Erste" (Originaltitel: Deliverance) aus dem Jahr 1972, diesmal sind es allerdings die wohlhabenden US-Amerikaner, die jenseits der Zivilisation zu wilden Bestien werden. Ein interessanter Ansatz, der jedoch inszenatorisch sehr banal daherkommt. Auch der ansonsten hervorragende Alexander Skarsgård kann nichts retten.

Roter Himmel

Regie: Christian Petzold, mit Thomas Schubert, Paula Beer, Langston Uibel, Enno Trebs, Matthias Brandt, 102 Min., FSK: ab 12

Eigentlich wollte der junge Schriftsteller Leon (Thomas Schubert) Ruhe finden, um seinen zweiten Roman zu vollenden. Doch der Trip an die Ostsee mit Felix (Langston Uibel), seinem Freund aus Jugendtagen, beginnt schon schlecht mit einer Autopanne. Das alte Ferienhaus am Strand ist dann bereits belegt von Nadja (Paula Beer), einer Bekannten von Felix Mutter. Kurioserweise sehen die jungen Männer ihre Mitbewohnerin die ersten Tage nicht. Sie hören nur nachts lustvolle Geräusche beim Sex. Als Leon Nadja, die am Strand Eis verkauft, dann eines Morgens begegnet, ist er sofort verliebt.

„Roter Himmel" ist ein leichter Sommerfilm nach französischen Vorbildern von Eric Rohmer. Mit einem schweren Bleigewicht als Hauptfigur mittendrin: Der mürrische Leon lehnt jeden Spaß und alles Schöne ab, er müsse arbeiten und eigentlich sollte das Felix auch. So geht Leon nicht baden, sitzt bei den gemeinsamen Abenden meckernd rum, ist uninteressiert am Leben der Anderen. Die Leichtigkeit, mit der diese miteinander umgehen, provoziert ihn nur. Der gut gebaute Rettungsschwimmer Devid (Enno Trebs), nächtlicher Gespiele von Nadja, macht ihn eifersüchtig. Alle Sympathien, die ihm erstaunlicherweise doch noch entgegengebracht werden, stößt der übelgelaunte Leon zurück. Selbst die von Nadja. Christian Petzold („Barbara", „Phoenix", „Transit", „Undine"), einer der klügsten deutschen Regisseure sagt zu Leon, „er schließt sich aus der Welt aus, weil er glaubt, die Distanz gehört zum Schriftstellersein. Er hat noch nicht begriffen, dass das keine Erzählposition ist." Bevor Leon aus seinem Panzer herauskommt, übernimmt das Leben die Regie. Ein großer Waldbrand hat dramatische Folgen und der zweite Roman wird ganz anders als geplant.

„Roter Himmel" gewann bei der Berlinale im Februar den Großen Preis der Jury. Es ist ein gleichzeitig verspielter und schwer durchdachter Film. Die sommerliche Atmosphäre lässt sich selbst vom roten Himmel des nahen Waldbrandes nicht stören. Erst Schicksalsschläge können die Selbstbezogenheit des verkrampften Schriftstellers aufbrechen. Leons Gegenfigur ist sein Verleger Helmut (Matthias Brandt), der zur Textbesprechung vorbeikommt. Voll Interesse nimmt er lebendigen Kontakt zu den jungen Leuten auf, genießt das Abendessen unter freiem Himmel intensiv, obwohl die Zeit begrenzt ist. Dem weisen Mann gehört dann auch die Erzählstimme, wenn am Ende Leons neuer Text im Off gelesen wird. Ein nettes Perspektiven-Spiel, das noch einmal zeigt, weswegen der Blick auf den eigenen Bauchnabel nur schwer interessant sein kann.

Paula Beer, die Darstellerin der Nadja, arbeitete bereits bei „Transit" (2018) und „Undine" (2020) mit Christian Petzold zusammen. Für „Undine" wurde sie mit dem Silbernen Bären der Berlinale und dem Europäischen Filmpreis als Beste Schauspielerin ausgezeichnet. Als Nachfolgerin von Nina Hoss in Petzolds weiblichen Hauptrollen, ist es diesmal Leons Fantasie, die ihrer Figur das Geheimnisvolle und Distanzierte gibt. Hätte er mal gefragt, hätte er erfahren, dass die Eisverkäuferin gerade ihre Doktorarbeit in Literatur schreibt. Es ist vor allem das Spiel von Beer und Brandt, das zusammen mit der Leichtigkeit einfangenden Kamera von Hans Fromm „Rote Sonne" zu einem reizvollen und nachhaltigen Sehvergnügen macht.

Empire of Light

Großbritannien, USA 2022, Regie: Sam Mendes, mit Olivia Colman, Micheal Ward, Tom Brooke, 116 Min., FSK: ab 12

In einem englischen Seebad prunkt Anfang der 80er Jahre der herrliche Kinopalast „Empire" am Strandboulevard. Zwei große Säle und ein traumhafter Tanzsaal, der geschlossen und den Tauben überlassen wurde. Im „Empire" arbeitet die einsame Kinomitarbeiterin Hilary (Olivia Colman) an der Kasse und bei den Süßigkeiten. Zwischendurch verrichtet die ältere Frau auch sexuelle Dienstleistungen für den verheirateten Chef (Colin Firth). Das dämpfende Lithium-Medikament gegen die Gefühlsschwankungen ihrer bipolaren Störung macht Hilarys trauriges Leben noch trostloser. Als der junge Schwarze Stephen (Micheal Ward) als neuer Arbeitskollege eingestellt wird, verguckt sich Hilary direkt in ihn und auch er sucht ihre Nähe. Eine Taube mit gebrochenem Flügel, die von Stephen gerettet wird, könnte als Metapher verstanden werden, macht Hilary vielleicht Hoffnung auf Heilung. Sie nimmt ihre Tabletten nicht mehr und entdeckt das Lachen wieder. Doch die entstehende heimliche Beziehung mit großem Altersunterschied leidet unter wachsendem Rassismus in der jungen Bevölkerung ebenso wie unter Hilarys wiederkehrenden Wutausbrüchen.

Es sind die 80er Jahre, im Kino laufen „Blues Brothers" und auf dem Walkman der Jugend Ska-Bands wie „The Specials". Aber es gibt ebenso rechtsradikale Skinheads, die Gesellschaft verhärtet sich unter der Regierung Maggie Thatchers. Bei einem brutalen Überfall von Anhängern der „National Front" wird Stephan zusammengeschlagen. Sein Kommentar im Krankenhaus: „Es ist, wie es immer war. Das ist meiner Mutter passiert, es passiert mir und wird wohl auch noch meinen Kindern passieren."

Auch Sam Mendes, Ex-Mann und Regisseur von Kate Winslet („Zeiten des Aufruhrs" 2008), schwelgt nun in „Empire of Light" in Kino-Erinnerungen wie Spielberg bei „The Fabelmans". Zwar geht der 1965 geborene Engländer zurück in die 80er Jahre, es könnte also seine Jugend sein, doch „Empire of Light" erzählt andere Geschichten. Während das Zeitkolorit zwischen steifer Gesellschaft und jugendlicher Rebellion geschildert wird, macht Mendes klar, dass mit Punk und Ska auch Rassismus daherkam. Zentral ist das gestörte Gefühlsleben der mit ungeheurem expressiven Spiel von Olivia Colman („The Crown", „The Favourite - Intrigen und Irrsinn") dargestellten Hilary. Es ist ihre Tragödie, aus dem das Kino einen Ausweg zeigt. Denn nach Jahren der Arbeit im „Empire" sieht sie sich endlich selbst einen Film an. Das Werk, das ihr eine Flucht anbietet, ist Hal Ashlys wunderbarer „Being There" mit Peter Sellers - die Geschichte eines Mannes, der aus einer selbstgewählten Isolierung heraustritt.

„Empire of Light" ist ein bewegendes Melodram und vielschichtiges Drama mit erlesener Besetzung. Colin Firth („The King's Speech - Die Rede des Königs", „A Single Man") und Tom Brooke („Say Your Prayers", „The Death of Stalin") glänzen in Nebenrollen als Kino-Chef und Vorführer. Die Kamera von Roger Deakins („James Bond 007: Skyfall", „No Country for Old Men") schwelgt in Ansichten des Kinos „Empire" und anderer Architektur. Von außen sieht der kantige Klinker-Prachtbau aus wie ein Hopper-Gemälde, innen sind die Leiden der echten Menschen größer als die auf der Leinwand.

2.4.23

Im Taxi mit Madeleine

Frankreich 2022 (Une Belle Course) Regie: Christian Carion, mit Line Renaud, Dany Boon, Alice Isaaz, 91 Min., FSK: ab 12

Charles (Dany Boon) ist ein Pariser Taxifahrer Chauffeur mit Geldproblemen und zu vielen Punkten in der Verkehrssünderkartei. Heute hat er einen besonderen Fahrgast: Die 92-jährige Madeleine (Line Renaud) nimmt Abschied von ihrem Haus in schöner Villengegend, um in ein Altersheim zu ziehen. Die lange Fahrt zur anderen Seite von Paris wird unterbrochen für Umwege in ihr altes Viertel und weitere wehmütige Erinnerungen. Denn Madeleine hat es nicht eilig, im Heim anzukommen.

Der Ort, wo ihr Vater 1944 von den Nazis erschossen wurde. Ihr erster Kuss als 16-Jährige mit einem amerikanischen Soldaten. Eine kurze Liebe, das Leben im Theater, wo sie Kostüme nähte. Ein romantischer Kinobesuch gefolgt von gewalttätiger Beziehung mit dramatischen Folgen, die Madeleine Keller berühmt machten. So erleben wir im eigentlich undramatischen Setting von Erzählungen und Rückblenden eine heftige Geschichte von Gewalt und frauenfeindlicher Justiz.

Dabei öffnet sich der nicht sehr gesprächige Fahrer Charles langsam und erzählt von seinen Problemen. Immer wenn er wegen des Verkehrs explodiert, bringt Madeleine ihn mit ihrer charmanten und liebenswürdigen Art, mit ihren Geschichten wieder zurück auf den Boden. Zwischendurch rettet sie seinen Führerschein mit einem gut gespielten Lügenmärchen.

Das Spiel zwischen Distanz und Nähe in der engen Fahrgastzelle ergab für den Film immer wieder Gelegenheit für ein besonderes Kammerspiel: Bei „Miss Daisy und ihr Chauffeur" (1989) waren es die alte weiße Frau und ihr schwarzer Fahrer in einem belasteten Verhältnis. Das spezielle Roadmovie „Im Taxi mit Madeleine" wurde trotz der begrenzten Situation im Auto von Regisseur Christian Carion („Merry Christmas") mit viel Paris-Sightseeing flüssig gestaltet. Eine berührende und herzerwärmende Geschichte, die ohne laute Töne hervorragend inszeniert ist. Komödienstar Dany Boon („Willkommen bei den Sch'tis") spielt angenehm zurückhaltend den gebeutelten Taxifahrer. Die französische Schauspiel-Ikone Line Renaud („Call my Agent", „Willkommen bei den Sch'tis") erhält so Raum, sich ein schönes Denkmal zu setzen.

Suzume

Japan 2022 (Suzume No Tojimari) Regie: Makoto Shinkai, 122 Min., FSK: ohne Angabe

Auf dem Weg zur Schule trifft das Mädchen Suzume einen jungen Mann, der auf der Suche nach Ruinen ist. Neugierig entdeckt die 17-Jährige in einer verfallenen Stadt eine magische Tür, hinter der sich eine Landschaft unter leuchtendem Sternenhimmel zeigt, die sie aber nicht betreten kann. Später kriecht durch die offengelassene Tür eine riesige rote Rauchsäule und bedroht den Ort mit einem Erdbeben. Gemeinsam mit dem geheimnisvollen Jungen Souta gelingt es Suzume, das wundersame Portal zu verschließen. Doch bald darauf wird er von einer sprechenden Katze in einen Kinderstuhl verwandelt.

„Suzume" lockt mit seinem atemberaubenden und fantastischen Auftakt direkt ins magische Reich von Filmemacher Makoto Shinkai, der zuletzt mit „Your Name. Gestern, heute und für immer" (2016) und „Weathering With You" (2019) begeisterte. In seiner neuen Animation, die vor allem auf junges Publikum zielt, geht es um die in Japan sehr bedrohlichen Erdbeben, verkörpert durch dämonische Rauchsäulen. Suzume selbst verlor als kleines Kind ihre Mutter durch die Katastrophe von Fukushima. Nun folgt sie mit dem im Stuhl gefangenen Souta der sprechenden Katze, um immer neue Portale für den gefährlichen Wurm zu verschließen. Eine Bedrohung, die nur sie sehen kann, was zu reizvollen Wechseln mit der Perspektive der Ahnungslosen führt.

Auf ihrem Roadtrip durch Japan zu verlassenen Schauplätzen früherer Naturkatastrophen findet die Waise immer wieder freundliche, hilfsbereite Menschen. Was die auf den ersten Blick schematische Konstruktion des Films schnell hinter sympathischer Unterhaltung verschwinden lässt. Dabei ist es auch eine Reise zum Erwachsenwerden für die Heldin, die sich von ihrer Tante emanzipiert, bei der sie aufgewachsen ist.

Als erster Animefilm seit zwei Jahrzehnten feierte „Suzume" seine Premiere im Wettbewerb der Berlinale. Regisseur Makoto Shinkai, der mit seinen Animationen große Erfolge gefeiert hat, versetzt seine Teenager wieder in eine Welt zwischen faszinierend animierten Visionen und existenziellen Bedrohungen. Die rührende Suche der kleinen Suzume nach ihrer Mutter ist ebenso packend wie der spannende Kampf gegen den Erdbeben-Wurm.