31.8.09

Venedig 2009 Vorbericht


Mit 66 Jahren ist noch lange nicht Schluss! Bei den Internationalen Filmfestspielen Venedigs, dem ältesten Filmfestival der Welt, sind zur 66. Ausgabe (2. - 12. September 2009) die Tage der faschistischen Fassaden aus den 30er Jahren nun endlich gezählt. Bauarbeiten während der Festivaltage gemixt mit italienischem Organisationstalent werden für ähnliche Freude sorgen wie eine Autobahnkomplettrenovierung zur Ferienzeit. Dafür strotzt das Programm der alten Dame „Mostra“ im fünften Jahr unter der Leitung von Marco Müller nur so vor Energie und jugendlicher Frische. Während heute Abend Giuseppe Tornatore („Cinema Paradiso“) mit dem Eröffnungsfilm „Baarìa“ ein Heimspiel hat, ist ein erster Erfolg des Festivals, dass die einheimischen Künstler dem Ereignis am Lido nicht aus Protest gegen Berlusconi fernbleiben. Eine eindrucksvolle Startaufstellung deutscher Produktionen sorgte schon im Vorfeld für Aussehen.

Giuseppe Tornatore, der für „Cinema Paradiso“ einen Oscar bekam, kehrt für die autobiographische Komödie „Baarìa“ zum sizilianische Örtchen Bagheria zurück, in dem der Regisseur geboren wurde. Bei der Geschichte dreier Generationen von Dorfbewohnern spielt Monica Bellucci nach „Der Zauber von Malèna“ erneut die Hauptrolle in einem Tornatore-Film. Bemerkenswerter allerdings, dass mit „Baarìa“ nach zwei Jahrzehnten mal wieder ein italienischer Film das italienische Festival eröffnet!

Ein Sieger steht bereits fest, bevor der Wettbewerb um die Goldenen Löwen überhaupt begann: Der schon sensationelle Auflauf deutscher Produktionen im Wettbewerb und quer durch alle Nebensektionen stößt ein Nachdenken über den Stand der Dinge im deutschen Film (-geschäft) an. Am Freitag präsentiert Werner Herzog seinen „Bad Lieutenant“. Man fragt sich, weshalb nun noch dieses Remake des düsteren Abel Ferrara-Klassikers. Kinski kann ja nicht mehr die Rolle Keitels toppen. Doch wie sehr man Herzog in den USA vertraut, zeigt sein Cast mit Nicolas Cage, Eva Mendes, Val Kilmer und Michael Shannon. Als „Sondervorführung“ wird in der Sektion Orizzonte Herzogs „La Bohème“ gezeigt. Herzogs Herbst-Tournee wird übrigens im November in Thessaloniki fortgesetzt, wo eine große Retrospektive stattfindet.

Der neue Film des Hamburger Regisseurs Fatih Akin „Soul Kitchen“ feiert im Wettbewerb des diesjährigen Festivals seine Weltpremiere. Akin, der im vergangen Jahr die Karlsmedaille für Medien in Aachen erhielt, erzählt die Geschichte eines Restaurants im Hamburger Elbviertel Wilhelmsburg. Erfolgreich trotzt das “Soul Kitchen“ jedem Versuch einer Veränderung, während die Welt draußen mit den Folgen von rasanter Globalisierung und urbanem Wandel zu kämpfen hat.

Mit Spannung erwartet wird auch der Film „Wüstenblume“ von Sherry Hormann, in dem die Geschichte der UN-Sonderbotschafterin Waris Dirie erzählt wird: Ein junges afrikanisches Nomadenmädchen flüchtet vor einer Zwangsheirat nach London, wird dort für den Laufsteg entdeckt und startet eine Karriere als internationales Top-Model. Das somalische Topmodel Waris Dirie wurde in Kerkrade für ihren Kampf gegen Gewalt an Frauen mit der Martin Buber-Plakette ausgezeichnet. Die europäische Koproduktion „Wüstenblume“ entstand zur Hälfte in Nordrhein-Westfalen mit Unterstützung der Filmstiftung NRW. Insgesamt sind sechs geförderte Filme der Filmstiftung NRW im Programm des Festivals.

Nicht nur daneben werden auch George Lucas, der Lagunen-Dauerbrenner Georg Clooney, Charlotte Rampling, Matt Damon, Ewan McGregor von der frenetischen Fan-Menge über den Roten Teppich getragen werden. Venedig ist (ein-) rüstet für das 66. - hoffentlich machen die bröckelnden Gemäuer dies letzte Mal noch mit.

26.8.09

Across the Hall DVD


USA 2008 (Across the Hall) Regie: Alex Merkin mit Mike Vogel, Brittany Murphy, Danny Pino, Brad Greenquist 100 Min.

Dass ein Sitzengelassener seiner großen Liebe in ein Hotel hinterher zieht, um sie dort mit dem Betrüger „auszuchecken“ ist eine schöne Idee. Dort erst das atemberaubend coole Styling macht „Across the Hall“ zu einem Thriller-Leckerbissen. Ursprünglich war „Across the Hall“ ein halbstündiger Kurzfilm von Alex Merkin, der immer noch im Internet zu sehen ist, allerdings wird dort der Clou nach wenigen Minuten verraten: Denn Julian bekommt einen Anruf von seinem Freund Terry, dass seine Freundin mit einem Geliebten in einem Zimmer auf der anderen Seite des Hotelflures ist. Und es ist Julian, der auf der „Across the Hall“ in dem Zimmer mit der Freundin des Freundes ist. Für die Spielfilmversion gab Alex Merkin den alten Hauptdarstellern Nebenrollen, Brittany Murphy ("Sin City", "8 Mile"), die Spezialistin für raffinierte Verführungen spielt die tragische Hauptrolle und auch das Produktionsdesign wurde mächtig aufgewertet. Die Videopremiere spielt nicht nur die Spannung genüsslich aus, auch ist in der Langversion wie in „Pulp Fiction“ die kontinuierliche Handlung am Schneidetisch kräftig in den Mixer geraten. Der wichtigste Bonus ist die Originalversion mit Untertiteln, den die Synchronisation fiel arg billig aus.

Jerichow DVD


Regie: Christian Petzold

Wenn man sich mit Christian Petzold über seine Filme unterhält, eröffnet sich eine ganze Enzyklopädie an Bedeutungen, Zitaten und Verweisen hinter den so nüchtern wirkenden Bildern. So ist die DVD zu Petzold-Filmen ein unerlässliches „Nachschlage-Werk“ und Hilfsmittel für erweitertes Verständnis und vermehrten Genuss. Vor allem, wenn sie wie hier bei „Jerichow“ mit einem zehnseitigen Booklet und einem Audiokommentar von Regisseur Christian Petzold ausgestattet ist.
In „Jerichow“ ließ Petzold die Leidenschaften einer heißen Dreiecksgeschichte in unterkühlte Inszenierung ablaufen: Der Ex-Soldat Thomas (Benno Fürmann) bekommt einen Job bei dem türkischen Unternehmer Ali (Hilmi Sözer), wird aber vor allem von dessen Frau Laura (Nina Hoss) eingenommen. Der Postmann klingelt wieder zweimal, Liebe versucht es mit Geld aufzunehmen und ein Verrat kommt selten alleine daher. Nach dem Verleihstart am 28. August wird „Jerichow“ ab dem 25. September auch als Kauf-DVD erhältlich sein.

LOL (Laughing Out Loud)


Frankreich (LOL- Laughing Out Loud) 2008 Regie: Lisa Azuelos mit Sophie Marceau, Christa Theret, Jérémy Kapone 103 Min.

Aus Frankreich kommt wieder mal eine Jugendkomödie, die mit einem lauten „Boum“ einschlägt: „LOL“ verspricht schon im Titel viel Spaß und hält dieses Versprechen generationsübergreifend. Als die 15-jährige Schülerin Lola (Christa Theret) aus den Ferien kommt, erzählt ihr Freund Arthur (Félix Moati), er hätte was mit einer anderen gehabt. Lola erfindet spontan, dass sie das gleiche getan habe und schon ist der Schulstart gründlich versaut. Während sich die reiche Zicke demonstrativ Arthur krallt, ergreift der stillere Maël seine Chance bei Lola.

Abgesehen davon, dass „LOL“ flott und immer wieder sehr komisch erzählt, hat der Film das große Plus, dass die Eltern mal nicht auf einem anderen Planeten leben: Anne (Sophie Marceau), Lolas Mutter, trifft immer noch heimlich ihren Ex-Mann und flirtet heftig mit dem Polizisten, der die Drogenaufklärung an der Schule macht. Es ist schön zu sehen, dass es altersunabhängig viele Missverständnisse, viele vorschnelle, zu heftige Reaktionen gibt. Die schwierige Kommunikation läuft zeitgemäß auch über SMS und Chat ab. Klar, dass man heute die Abkürzung „LOL“ für Lola und für „Lauthals lachen“ sofort versteht.

Umwerfend verläuft die große Fete, Lolas Geburtstagsfeier mit der flotten Oma, die dann auch bei Knutschen im Bett schlummernd daneben liegt. Grandios der Schulaustausch mit einem völlig unterentwickelten Land voller Sonderlinge - England. Die jungen und die alten Schauspieler sind cool, vor allem die süßen Jungs mit ihren extrem wilden Frisuren. Aber es gibt auch den Klassiker des Jugendfilms: Anne fällt das Tagebuch ihrer Tochter vor die Füße und sie kann sich nicht zurückhalten. Der Vertrauensbruch führt zum Tiefpunkt, aber was diesen Film so sympathisch macht, ist das Verständnis zwischen Anne und Lola, das letztendlich doch bleibt. Nicht nur wenn sie zusammen im Auto zu den Stones rocken: You can’t always get what you want...

Sophie Marceau kann immer noch so verwirrt wie ein Teenager wirken. Und es sieht aus wie das echte Leben, wenn sie kurz vor dem Rendezvous unter den Achseln riecht, ob das Deo noch hält, was die Werbung verspricht. Dieser Film hält auf jeden Fall alle Versprechen!

Brothers Bloom


USA 2008 (The Brothers Bloom) Regie: Rian Johnson mit Adrien Brody, Rachel Weisz, Mark Ruffalo, Rinko Kikuchi, Robbie Coltrane, Maximilian Schell 114 Min. FSK: ab 12

Nach dem Geheimtipp „Brick“ zaubert Rian Johnson nun die raffinierte Geschichte zweier raffinierter Trickbetrüger aus dem Hut, die schon als Kinder alle anderen Kindern an der Nase herumführten und ausnahmen. Ein grandios melancholischer Adrien Brody spielt den jüngeren Bloom, der als kleiner Junge lieber mit dem schönen Mädchen Hand in Hand gegangen wäre, als eine falsche Rolle zu spielen. So verabschiedet er sich nach Jahrzehnten von den Geschichten des älteren Bruders Stephen (Mark Ruffalo), die beide zu so erfolgreichen Gaunern gemacht haben. Bis sie einige Monate später den letzten Coup landen wollen.

Hemmungslos frech wie die Blooms ihre Raubzüge ausführt, erzählt Autor und Regisseur Rian Johnson. Da wird zum großen Auftritt der reichen Erbin Penelope (Rachel Weisz) mal nonchalant ein gelber Lamborghini in eine Mauer gesetzt. Zum Glück gehen danach die Türen noch nach oben auf. Ebenso raffiniert sind die Bilder und Schnitte, mit der die Geschichte und noch einiges mehr erzählt wird. „Brothers Bloom“ erinnert nicht nur entfernt und in dem Hauptdarsteller Brody an Wes Andersons Filme („The Darjeeling Limited“). Auch hier tummeln sich viele schräge Figuren in den Nebenrollen, darunter auch Maximilian Schell als einäugiger alter Gangster. Rachel Weisz brilliert als epileptische Fotografin, um nur eines von vielen perfekt ausgeführten Hobbys ihrer Penelope zu nennen. (Jonglieren mit Kettensägen wäre ein anderes.) Sie erzählt als einzige ihre ganz eigene Geschichte und nimmt dabei den traurigen Clown Bloom an die Hand.

Das äußerst amüsante Ergebnis sind skurrile Szenen wie den (inszenierten) Zusammenstoß eines Bonanza-Rades mit einem (neuen) gelben Lamborghini. Als Komödie ebenso wie als Gaunerstück wie als psychologisch trickreiche Brudergeschichte bieten die entsprechend des Klassikers „The Sting“ in Kapiteln eines großen Tricks erzählten „Brothers Bloom“ exzellentes und großes Vergnügen.

Der Dorflehrer


Tschechien, BRD, Frankreich 2008 (Venkovský Ucitel) Regie und Buch: Bohdan Sláma mit Pavel Liska, Zuzana Bydzovská, Ladislav Sedivý, Tereza Vorísková 110 Min.

Petr kommt vom Prager Gymnasium in ein kleines, vergessenes Dorf. So einer kommt nur hierher, wenn er ein Wahnsinniger oder ein Idealist ist. Oder was ausgefressen hat - meint der Sportlehrer, bei dem Petr ein Eckchen des Zimmers für nicht wenig Geld mietet. Doch der neue Lehrer sucht vor allem Ruhe. Auf den Wiesen findet ihn die nicht wahnsinnig attraktive, ältere Bäuerin Marie. So aufgehoben sich Petr bei ihr und ihrem Sohn Ladjo fühlt, ihren Kuss wehrt er ab. Dafür kümmert er sich um Ladjos schulische Lücken und einige Begegnungen und Enttäuschungen später wird der Dorflehrer dem schlafenden Jungen in die Hose greifen.

Der Moment, den Petr selbst eine Vergewaltigung nennt, oder die Schuld, die er auf sich nimmt, mögen in der knappen Nacherzählung den Plotpoint bilden. Doch wenn man die anderen einsamen Menschen im Dorf betrachtet, relativiert sich nicht die „Schuld“? Da ist der immer besoffene alte Sack, der Marie ununterbrochen anbaggert. Da ist Marie, die den Lehrer küssen wollte. Da ist der schmierige Freund des Lehrers, der sich an die besoffene junge Freundin Ladjos ranmacht. Was fast beschaulich anfängt mit einem schwulen Lehrer, der sein Coming Out verpasst hat, entwickelt sich zu einer gewaltigen Katastrophe des Lebens überhaupt. Irgendwann steht man mit einem ganzen Arsenal verlorener Menschen da. Doch ebenso schön wie der Film in diese Tristesse führt, findet er Hoffnung... wie Murakamis Figuren in einem tiefen Brunnen!

Was „Der Dorflehrer“ alles bewegt, ist viel zu viel für ein paar Zeilen. Diese Welt spannt sich zwischen dem Kühe hüten und Hardrock auf dem Trecker. Hier gibt es kein fließend Wasser aber Ballerspiele auf dem Rechner. Sehr ehrfürchtiger, rücksichtsvoller Umgang mit dem Nächsten trifft auf grobes Rumpoltern und gedankenloses Verletzen.

Dieser wunderbare Schatz an Menschlichkeit in Form eines Films müsste eigentlich „Das Leben an sich“ heißen. Einfach und doch vielschichtig, vor allem aber sehr glaubhaft erzählt Bohdan Sláma. Er ist nicht nur in der Figurenzeichnung ungemein sorgsam, aufmerksam und auch liebevoll. Es gibt geniale Bilder und Kamerabewegungen, die mit der erhebenden Natürlichkeit des Dorfes konkurrieren. Wenn die Kamera einen Kirschbaum umkreist, sich dann in die Äste erhebt, wo ein vorsichtiges Annähern und Abtasten stattfindet, wiederholt der sehr aufwendige Schwenk genau dieses Verhältnis von Nähe und Distanz. Das hätte von  Tarkowskij sein können,  er hätte es nur noch etwas langsamer gemacht. Es scheint die Tragik des Films zu werden, dass ausgerechnet der, der allen helfen will, schuldig wird. Sláma zaubert unglaubliche Momente, in denen der Lehrer, der meinte, er würde gerne glauben, wenn er nur wüsste wie, in der Kirche ein Gebet zu Gott schickt. Als Antwort kommt ein Mann mit Staubsauger aus der Sakristei! Daneben ist dieser Film echt wie die zahllosen Fliegen beim Essen auf dem Tisch oder die ungetrickste Geburt eines Kalbes. Aber „Der Dorflehrer“ ist vor allem unbeschreiblich gut.

25.8.09

Year One


USA 2009 (Year One) Regie: Harold Ramis mit Jack Black, Michael Cera, Oliver Platt 97 Min. FSK: ab 12

Seit einer Weile werden Blödelkomödien durch blöde Komödien ersetzt. Marktführer dabei ist der Produzent Judd Apatow und nun legt er die Latte besonders tief. (Nur wer zu viele dieser Filme gesehen hat, findet im letzten Satz etwas Zweideutiges.) Jack Black verkauft sich für eine witzlose und völlig unnötige Nullnummer.

Der großmäulige Idiot Zed (Jack Black) und sein stiller, aber wahrscheinlich nicht viel klügerer Kumpel Oh (Michael Cera aus "Juno") stolpern von der Steinzeit in den vorchristlichen Nahen Osten, um dort mit Juden und Römern, mit Sklavenhändlern und Hohen Priestern aneinander zu geraten. Anfangs wird vom Baum der Erkenntnis gegessen, was nur Redeschwall ohne Pointen hervorbringt. Dann erleben die Deppen, wie sich Kain und Abel prügeln, Abraham seinen Sohn Isaac doch nicht opfert und wie wild es in Sodom zugeht. Statt Humor präsentiert der Film lieber Scheiße, was wortwörtlich zu nehmen ist, denn meist versucht „Year One“ mit ekeligen Momenten, Lacher herbei zu zwingen. Wobei Ekel bei den Amerikanern schon beim Achselhaar anfängt.

Dieses „Meisterwerk“ von Drehbuch- und Gagschreibern auf Nulldiät verantwortete tatsächlich Regisseur Harold Ramis, der immerhin schon mal so was wie "Und täglich grüßt das Murmeltier" hinbekommen hat. Er muss den gesamten Dreh verschlafen haben. Und den Schnitt noch dazu. Irgendjemand wollte wohl "Das Leben des Brian" oder "Mel Brooks' verrückte Geschichte der Welt" nachmachen, aber dieser Blödsinn war nicht nur zig mal witziger sondern auch unendlich viel intelligenter.

24.8.09

Beim Leben meiner Schwester


USA 2009 (My Sister's Keeper) Regie: Nick Cassavetes mit Cameron Diaz, Abigail Breslin, Alec Baldwin 109 Min.

Das amerikanische Drama „Beim Leben meiner Schwester“ von Nick Cassavetes zeigt Komödiantin Cameron Diaz mal in einer dramatischen Rolle. Sie spielt darin die Mutter eines schwerkranken Mädchens. Die Eltern zeugen nach der Diagnose ein genetisch designtes Schwesterchen, das als menschliches Ersatzteillager dient, bis es als Elfjährige das Recht auf Verfügung über den eigenen Körper einklagt. Kluges Rührkino um einen sehr aktuellen ethischen Konflikt.

Dass Menschen als Ersatzteillager gezüchtet werden, war schon immer gerne das Thema von Science Fiction-Filmen, zuletzt in „Die Insel“. Nun erleben wir es mitten im Leben und sehr brisant. Die elfjährige Anna (Abigail Breslin aus „Little Sunshine“) blättert durch ein Bilderbuch und überlegt sich, dass Kinder meist Unfälle sind und so gut wie nie Wunschkinder. Außer in ihrem Fall, was kurioserweise zu einer äußerst problematischen Familie führt.

Ihre Schwester Kate erkrankte schon als Kind schwer an einer Form von Leukämie. Daraufhin brachte ein Arzt die Eltern auf die Idee, ein weiteres Kind zu zeugen, wobei man durch genetische Manipulation dafür sorgt, dass dieses Wesen der perfekte Organspender für Kate sein wird. So half Anna schon bei ihrer Geburt mit ihrer Nabelschnur. Blut und Zellen gab es auch für die ältere Schwester, später kam Rückenmark dazu. Im Alter von 11 Jahren hat Anna acht schwere und schmerzvolle Operationen hinter sich. Als auch eine Niere abgegeben werden soll, sagt sie: Stop! Nicht den Eltern, mit denen man nicht reden kann, sondern einem populären Staranwalt aus der TV-Werbung (Alec Baldwin). Anna klagt auf das Recht, über den eigenen Körper verfügen zu können.

Das ist ein brisanter Stoff und wie im Roman von Jodi Picoult wird er in vielen Perspektiven abgewogen. Wir erleben das schwer beschreibbare Leiden von Kate (Sofia Vassilieva), die sich mehrfach die Seele aus dem Leib kotzt, der Blut aus der Nase läuft, die von einem strahlenden Wesen zu einem Häufchen Elend wird. Und doch groß in ihrem Herzen bleibt. Sie entschuldigt sich für das Leid, das sie der Familie verursacht hat. Denn nicht nur Anna wurde vernachlässigt, auch beim Bruder bemerkte man erst spät, dass er nicht lesen kann.

Kate hat längst den Tod als Teil des Lebens akzeptiert, das Muttertier Sara (Cameron Diaz) nicht. Wenn sie vor Gericht für Kate und gegen Anna kämpft, geht es längst nicht mehr um die ethische Frage. Doch diesen Kampf muss sie in ihrem Herzen ausfechten.

„Beim Leben meiner Schwester“ stammt von Nick Cassavetes ("Wie ein einziger Tag"), der als Sohn von Regisseur John Cassavetes und Schauspielerin Gena Rowlands Erfahrungen mit schwierigen Familien hat. Er vermied über lange Strecken das Rührstück. Ja, es gibt sogar erstaunlich viele leichte Liedchen und Momente der Freude. Kate erlebt selbst eine wunderschöne Liebesgeschichte. So packt der einfühlsame und Kluge Film Kopf und Herz bis zum Ende eine überraschende Wende die Grundkonstellation aushebelt. Darüber kommen die starken Figuren zum Glück problemlos hinweg.

Horsemen


USA 2008 (Horsemen) Regie: Jonas Akerlund mit Dennis Quaid, Zhang Ziyi, Lou Taylor Pucci 90 FSK keine Jugendfreigabe

Es ist ein Klischee nicht nur des amerikanischen Films, dass Eltern ihre Kinder vernachlässigen, weil sie sich zu sehr um den Job kümmern. Der heftige, aber gute Thriller „Horsemen“ denkt dieses Dilemma bis zu einem bitteren Ende weiter. Hauptdarsteller Dennis Quaid trägt diese Version von „Se7en“ mit schwieriger Familiengeschichte.

Bissige Bemerkungen sind eine Spezialität des Polizisten Aidan Breslin (Dennis Quaid), der sich mit dem Krebstod seiner Frau und der Erziehung seiner beiden Söhne überfordert durch den Tag grummelt. Aber er kann auch aus einer Handvoll noch blutiger Zähne einiges über Opfer und Täter sagen. So wird er auf einen Mord angesetzt, der sich nach kurzem Rätseln als Tat von modernen vier Reitern der Apokalypse herausstellt. Die Verweise auf weitere Morde und die Hinweise auf vier tödliche Reiter beschäftigten Breslin derart, dass er noch weniger von den Problemen seiner Kinder mitbekommt. So muss der Kommissar die nächsten Opfer und auch seine Familie retten.

„Horsemen“ setzt nicht nur die Reihe von Thrillern mit besonders sadistischen Morden im Stile von „Se7en“ fort. Es ist auch Familienfilm und dieser Teil ist sogar der intensivere.

Dennis Quaid gelingt es hervorragend, den überladenen Witwer zu geben - mit der eigenen Familiengeschichte, den enttäuschten Söhnen und der unterdrückten Erinnerung an seine Frau, bei deren Tod er nicht anwesend war. Im Gegensatz zu vielen anderen Filmen sind hier Thriller und Familie nicht nur nebeneinander gesetzt, sondern miteinander verbunden. Kommissar Breslin erkennt an den ersten Morden, was Kinder tun, um die Aufmerksamkeit ihrer Eltern zu erlangen. Rache der Kinder an versagenden Eltern wird hier zum Mordmotiv, so wie er in „Vinyan“ zum Horror und in Hanekes „Das weiße Band“ zum Psychorätsel wurde.

Der Videoclipper Jonas Åkerlund („Spun“) legt als Regisseur ein paar Mal starke und auch schauerliche Bilder hin. Einige Hindernisse für die Glaubwürdigkeit der Story von Dave Callaham werden von sehr guten Schauspiel-Leistungen überspielt. Neben Quaid beeindrucken Lou Taylor Pucci ("Thumbsucker") als der ältere Sohn Alex und die Chinesin Zhang Ziyi ("Tiger & Dragon") als ungeliebte Adoptiv-Tochter.

17.8.09

Summertime Blues


BRD 2008 (Summertime Blues) Regie: Marie Reich mit François Göske, Karoline Eichhorn, Christian Eichhorn 116 Min. FSK: 6

Der fünfzehnjährige Alex (François Goeske) verliert durch Scheidung sein Elternhaus in Bremen, muss mit der Mutter und deren neuem Schauspieler-Freund in ein südenglisches Kaff ziehen und zudem erfahren, dass die neue Freundin des Vaters schwanger ist. Ganz schön viel, selbst wenn man nicht in einem „schwierigen Alter“ wäre. So gibt sich Alex cool und ruppig, nur seine Gedanken, die uns der Film verrät, zeigen, dass es mehr drauf hat. In England freundet er sich mit der wilden, rothaarigen Naturfreundin Louie (Zoe Moore) an und streitet sich mit seiner zukünftigen Halbschwester Faye (Sarah Beck), die aus den USA eingeflogen kommt. Zuerst zieht der Teenager sein affiges Verhalten durch, aber der Liebesschmerz von Faye und ein paar schöne Naturerlebnisse mit Louie erweichen den Motzkopf. Er zeigt sich von seiner guten Seite, hört aufmerksam zu. Bald wird er wirklich gebraucht, denn Papas Freundin hat eine Frühgeburt und kommt mit der Situation gar nicht zurecht. Alex wird plötzlich sehr erwachsen, übernimmt die Vaterrolle für den konfusen Dad. Ein großer Schritt für einen 15-Jährigen, dabei ist bei aller Aufregung noch gar nicht geklärt, ob Faye jetzt eine tolle Schwester oder doch viel mehr für ihn ist...

Heutzutage muss man ja zuerst hervorheben, dass „Summertime Blues“ ein für Jugendliche geeigneter Jugendfilm ist. Also ohne die realitätsfernen Anzüglichkeiten und die verklemmten Grobheiten amerikanischer „American Pies“. Die Buchvorlage von Julia Clarke hat Marie Reich in ihrem Kinoerstling mit gutem Einfühlungsvermögen umgesetzt. Unterstützt wurde sie dabei von Sympathieträgern unter den Darstellern. Vor allem François Göske ("Das fliegende Klassenzimmer", "Bergkristall") verkörpert die Zeit zwischen Jugend und Erwachsensein glaubhaft. Die erwachsenen Darsteller fielen dagegen recht grob aus, aber das mag Absicht sein. Ab und zu sieht man „Summertime Blues“ an, dass der Film nicht das gleiche Geld hatte, wie die üblichen wilden Jugendfilme, die nach Bestsellern am Fliessband produziert werden. Die Bilder fangen Naturstimmungen schön ein, sind aber nicht immer großes Kino. Die Geschichte funktioniert jedoch trotzdem.

Inglourious Basterds


USA, BRD 2009 (Inglourious Basterds) Regie: Quentin Tarantino mit Christoph Waltz, Brad Pitt, Mélanie Laurent 154 Min. FSK ab 16

Dass ein Anschlag Hitler und die ganze Nazi-Führungsbagage hingerafft hat, ist ein Märchen. Dass der Österreicher TV-Schauspieler Christoph Waltz in seiner Rolle als raffinierter Nazi-Offizier dem Welt-Star Brad Pitt in Cannes den Rang ablief, ein anderes. Wobei das erste nur in Quentin Tarantinos neuestem Film „Inglourious Basterds” passiert, das Letztere aber im Mai dieses Jahres wahr wurde.

„Inglourious Basterds” ist ein Märchen vom 2. Weltkrieg, das gut ausgeht, aber trotzdem keine Moral hat: In Frankreich sucht der berüchtigte Juden-Jäger und Nazi-Offizier Hans Landa (Christoph Waltz) auf dem Land versteckte Flüchtlinge. In einem schier endlosen und nicht nur für den erwischten Bauern schweißtreibenden Rededuell erzwingt Landa nicht mit Gewalt sondern mit eiskalter Psychologie die Preisgabe des geheimen Verstecks. Die Flüchtlinge werden sofort niedergemäht, nur Shosanna Dreyfus (Melanie Laurent) kann der Ermordung ihrer Familie entkommen. Jahre später leitet sie unter neuem Namen ein Kino in Paris, in dem ausgerechnet die Heldengeschichte des deutschen Soldaten Frederick Zoller (Daniel Brühl) soll in ihrem Theater unter Anwesenheit von Hitler, Goebbels und dem Mörder ihrer Eltern uraufgeführt werden. Die Zeit der Rache ist gekommen! Das denkt auch die berüchtigte, "Bastards" genannte jüdische Kampf-Truppe des amerikanischen Leutnants Aldo Raine (Brad Pitt), der hinter der Front unter den deutschen Soldaten für Schrecken sorgt, indem er sie reihenweise skalpiert oder ihnen mit dem Jagdmesser ein Hakenkreuz in die Stirn schneidet. Doch vor allem plant Aldo Raine ein Bombenattentat während der Vorführung.

Tarantinos Kriegsmärchen „Inglourious Basterds” ist im Kern eine Hommage an Kriegsfilme wie "Das dreckige Dutzend" oder "Ein Haufen verwegener Hunde", für die das amerikanische Kinokind schon immer schwärmte. Aber auch von den ersten Bildern an Spaghettiwestern und zwischendurch immer wieder eine Ehrerbietung an das europäische Kino. Dass die recht begrenzte Handlung dabei für fast zweieinhalb Stunden Film reicht, liegt an einer weiteren Begeisterung Tarantinos: Die für endlos lange Dialog-Duelle. Das Können Tarantinos kann auf diese Element reduziert werden, das Zitieren, das Quatschen und nicht zu vergessen die „mexican situation“, die ausweglose, waffenstarrende Duellsituation. Das ist nicht viel, aber mit diesem begrenzten Vorrat inszeniert er gekonnt.

So kann „Inglourious Basterds” durchaus packen und unterhalten. Nicht zuletzt durch exzellente Schauspieler. Hier zahlt es sich auch aus, dass die amerikanische Produktion mit viel deutschen und auch staatlichen Produktionsmitteln unterstützt wurde. Das deutsche Publikum bekommt etwas für seine Steuereuros: Til Schweiger schweigt oder tobt stereotypisch. Diane Krüger als Filmdiva Bridget von Hammersmark chargiert wieder zu übertrieben und wirkt eher peinlich als passend. Viel besser treten Daniel Brühl als naiver Kriegs- und Kinoheld Zoller sowie August Diehl als äußerst scharf denkender Gestapomann auf. Tatort-Kommissar Christoph Waltz spielt den Nazi-Offizier Hans Landa großartig verschlagen und spleenig. Er hat tatsächlich eine größere Show als Brad Pitt. Ein bitterer Beigeschmack bleibt allerdings bei all der Kriegs-Unterhaltung: Tarantino erzählt völlig ohne moralische Bedenken. Seine Nazijäger agieren ebenso menschenverachtend wie die Nazis. So was passiert einem wahrscheinlich, der nur in Schwarz-Weiß-Kategorien sieht.
 

16.8.09

Goldener Leopard für Ost-West-Reise

Chinesischer Abend in Locarno

Locarno. Fast eine rein chinesische Angelegenheit wurde der Abschluss des 62. Internationalen Filmfestivals (5.- 15.8.2009) von Locarno: „She, a Chinese“ (Sie, eine Chinesin), der chinesischen Regisseurin Xiaolu Guo erhielt den Hauptpreis. Passend präsentierte der deutsch produzierte Abschlussfilm „Die zwei Pferde des Dschingis Kahn“ die mongolische Sängerin Urna, die im musikalischen Road-Movie auch die brutale Vernichtung von Traditionen in der chinesischen Inneren Mongolei beklagt. Der Film und vor allem ein Mini-Konzert der eindrucksvollen Sängerin sorgten für einen versöhnlichen Ausklang des nicht überzeugenden Piazza Grande-Jahrgangs.

Die Jury des Internationalen Wettbewerbs, der in Locarno immer sehr wechselhaft verläuft, verlieh den Goldenen Leoparden für den besten Film an „She, a Chinese“ der Chinesin Xiaolu Guo. Die Koproduktion von Großbritannien, Deutschland und Frankreich beschreibt, wie eine junge Chinesin die Welt und sich selbst bei ihrer Reise von Ost nach West entdeckt. Die Episoden und Begegnungen mit verschiedenen Männern führen die Protagonistin von einem kleinen chinesischen Dorf schließlich nach London. Eine persönliche und politische Parabel, die sehr dem eigenen Weg der Regisseurin von ihrem Dorf nach Beijing und in den Westen ähnelt. „She, a Chinese“ startete als Weltpremiere und als einer der allerletzten Filme des Wettbewerbes, um schon am nächsten Tag als Festivalsieger auf der gut gefüllten Piazza gefeiert zu werden. Bereits in drei Wochen wird der nächste Film der emsigen Schriftstellerin und Regisseurin Xiaolu Guo „Once upon a time proletarian“ in Venedig zu sehen sein. Die Preisvergabe passt perfekt zur diesjährigen Region der Open Doors, des Koproduktions-Treffens von Locarno. Hier waren Regisseure aus den chinesischen Regionen und unter ihnen auch Xiaolu Guo zu Gast.

Den Spezialpreis der Jury sowie den Preis für die beste Regie erhielt „Buben.Baraban“ des Russen Alexei Mizgirev, der mit den Erlebnissen der 45-jährigen Yekaterina ein dramatisches Porträt vom Russland am Ende der 90er Jahre mit seinem emotionalen und materiellen Elend zeichnet.

Abgesehen vom Urteil der Jury, an der auch die deutsche Schauspielerin Nina Hoss beteiligt war, galten zwei andere Filme als hohe Favoriten und wurden auch mit den meisten Preisen aller Jurys bedacht. Von der Hauptjury gab es für diese herausragenden Beiträge der 62. Locarno-Ausgabe die Leoparden für die beste Darstellerin an die Niederländerin Lotte Verbeek im Film „Nothing Personal“ ihrer Landsmännin Urszula Antoniak. Die verschlossene Hauptfigur lässt ihr Leben in den Niederlanden hinter sich, um mit Zelt und Rucksack durch Irland zu ziehen. Die Begegnung mit einem einsiedlerischen Iren (Stephen Rea) führt kurzzeitig zu einer Erweichung der Unnahbarkeit. Antoniaks Erstling „Nothing Personal“ schwelgt in eindringlichen Farben und Bildern, sowie in einer prätentiösen Unnahbarkeit, deren Ursache verborgen bleibt.
Der Leopard für den besten Darsteller ging an Antonis Kafetzopoulos für den Film „Akadimia Platonos“ des Deutsch-Griechen Filippos Tsitos („My sweet home“). Darin verbringen drei Kioskbesitzer an einer kleinen Kreuzung den Tag damit, Albaner zu verachten und die Zunahme der Chinesen festzustellen. Bis die Hauptfigur Stavros erfährt, dass er einen albanischen Bruder hat. Eine schöne Überraschung in dem komischen und weisen Film. Davon hätte es mehr im Wettbewerb und in Locarno überhaupt geben können.

14.8.09

Locarno 2009 Abschluss


Die Piazza ist mein, die Piazza ist mein! In Giuseppe Tornatores sentimentalem Meisterwerk „Cinema Paradiso“ über das Ende eines Kinos gibt es diesen verrückten Alten, der jeden von der Piazza runterschmeißt, der seiner Meinung nach da nicht hingehört. Vielleicht braucht Locarno jemanden, der sagt: Die Piazza Grande ist mein. Die Vorzeigestube des großen internationalen Filmfestivals ließ Qualität vermissen. Zum Zeitpunkt des Führungswechsels eine kritische Situation für das „Swiss Top Event“, das grandios auf der Piazza und ansonsten in provisorischen Kinos stattfindet. Der künstlerische Leiter Frédéric Maire übergibt das Festival an seinen Nachfolger Olivier Père, dem bisherigen Leiter der Sektion „Quinzaine des Réalisateurs“ in Cannes. Zudem erlebte Locarno durch die gewaltige Anime-Retrospektive „Manga Impact“ einen Schub junger Zuschauer.

Bedrohlicher als das Wetter, dass zweimal das Kino-Vergnügen unter freiem Himmel mit Donner und Blitz ertränkte, ist der Ausverkauf dieser modernen Kultstätte anspruchsvollen Kinos. Immer mehr Sponsoren-Busse mit Betriebsausflüglern von Banken oder Versicherungen werden auf die besten Plätze gekarrt, während echte Cineasten an den Rand gedrängt werden. Spätestens als am letzten Samstag „Julias Geheimnis“, Christoph Schaubs (Buch: Martin Sutter) konstruiertes Redestück über das Altern für mäßige Heiterkeit sorgte, wusste man nicht mehr, ob man jetzt vor dem Fernseher oder im Kino sitzt. Und dieses Ärgernis belangloser Unterhaltung begann bereits vor Jahren beim Filmfestival, das gerne mit Cannes, Venedig und Berlin in einem Satz genannt werden möchte. Schon Sandra Nettelbecks „Bella Martha“ war 2001 ein mäßiges Familienstück mit Rührqualitäten, aber ohne große Bilder und Momente. (Daran ändern auch Hollywood-Remake und Oscar-Nominierung nichts!)

Man feierte den japanischen Anime-Film wie noch nie ein Festival zuvor, einige bekamen vom vielen Filmsehen keine viereckigen sondern Schlitzaugen. Doch als große Premiere auf der ganz großen Leinwand lief die eher mittelmäßige russisch-japanische Kriegs-Fantasy „First Squad“ voller simplen Figuren und Klischees. Mit „Pom Poko“ aus dem Studio Ghibli hatte man den besseren, sympathischeren Film im Programm. Und hätte auch noch was für die Umwelt getan - damit es vielleicht nicht mehr so oft unwettert auf der Piazza.

Während sich die Piazza vom Begeisterungspotential her dem Ruhestand annähert und die Anime-Retrospektive „Manga Impact“ als raffinierte Einladung für die „Kids“ im Tessin funktionierte, musste man sich auch Gedanken über den Zustand der Cineasten machen. Wenn eine Dokumentation über die polnische Regie-Legende Andrzej Wajda und seinen ungefähr 50. Film „Katyn“ („Andrzej Wajda: Let’s shoot“) nur halb so viele Zuschauer zieht wie „Les Abitres“, eine Dokumentation über Schiedsrichter bei der Euro 2008, ist das selbst in einer italienisch-sprachigen Region erschreckend. Zum Glück erweis sich im Nachhinein die Dokumentation des in Lüttich geborenen Yves Hinant als lebendige Partie über zwei Halbzeiten lang. Erst in der Verlängerung, als die Deutschen und die Spanier sich nicht wirklich im Finale duellierten und der „schönne“ Italiener das Spiel unaufgeregt abpfiff, ging dem Film die Luft aus.

13.8.09

Same Same But Different - Weltpremiere in Locarno


Locarno. Nach einigen durchwachsenen Piazza-Abenden beim 62. Filmfestival in Locarno (5.-15.8.2009) mit Heimspielen, die sich als zu klein für eine der größten Leinwände Europas erwiesen, zeigte Detlev Buck mit seinem Jungstar David Kross („Der Vorleser“), dass es auch anders geht. „Same Same But Different“, die Liebesgeschichte zwischen einem jungen Hamburger und einer kambodschanischen Prostituierten erwies sich gestern Abend als kräftige Sensation.

Mit „Knallhart“ entdeckte Detlev Buck das enorme Talent von David Kross. Nun spielt der Star von „Krabat“ in „Same Same But Different“ den orientierungslosen jungen Ben. Und auch dieser Film geht direkt in die Vollen. „See you in next life“ spricht die zierliche Kambodschanerin Sreykeo (die Thailänderin Apinya Sakuljaroensuk) beim Chat mit Ben in die Kamera - Bis zum nächsten Leben! Sreykeo, die Urlaubsliebe Bens, ist HIV-positiv getestet worden. Die schon generell schwierige Fernbeziehung zwischen dem Praktikanten und der Prostituierten, die eine vielköpfige Großfamilie ernähren muss, wird auf eine schwere Probe gestellt. Doch Ben steht trotz ihrer zweifelhaften Reputation zur anhänglichen Frau. Er fliegt sofort zurück nach Südost-Asien und treibt mit verzweifelter Energie den Medikamenten-Mix auf, der aktuell die besten Überlebenschancen bietet. Bei einer idyllischen Fahrt zu Sreykeos Heimatdorf bittet sie ihn jedoch auch noch, der Familie eine Hütte zu finanzieren...

Vor allem die eindringlichen Aufnahmen vom wilden Touri-Leben in Phnom Penh mit einem powervollen Soundtrack von Peter Fox bis Rammstein packten bei der Weltpremiere von „Same Same But Different“ von Anfang an. David Kross erweist sich als ideal für die Rolle des frischgebackenen Abiturienten, der unbedarft mit Dollars um sich wirft und unbedingt mal in den vom Krieg her berüchtigten „Killing Fields“ Koks nehmen will. Doch von diesem berauschten Start an, zeigen sowohl der Film als auch die Hauptfigur eine Entwicklung mit viel Tiefe. Die zeitgemäß schwierige Liebesgeschichte betört mit Bildern wie von Wong Karwai - nur auf Vollgas. Die Klischees der Prostitution in Südostasien sind ein Problem nicht nur für Ben, sondern auch für den Film. Einige Kritiker beschwerten sich, Bens Verhalten sei naiv und unrealistisch. Doch es gibt ein unschlagbares Gegen-Argument: Das Drehbuch wurde von Ruth Toma (zusammen mit Detlev Buck und Michael Ostrowski) nach dem autobiografischen Roman „Wohin du auch gehst“ von Benjamin Prüfer entwickelt. Unrealistisch wirkt es vielleicht, aber so ist es passiert. Detlev Buck, der mit David Kross und dem gemeinsamen Film in Locarno ist, erzählt, wie es zum Film kam: "Ich wollte schon immer einen Liebesfilm machen und jetzt habe ich den perfekten Stoff gefunden.“ (Der Film startet am 21. Januar 2010 in den deutschen Kinos.)

Einige Zustimmung wird „Same Same But Different“ gewiss sein. Vielleicht reicht es auch für den Publikumspreis der Piazza. Dabei ist allerdings das amerikanische Drama „Beim Leben meiner Schwester“ von Nick Cassavetes ein starker Mitbewerber. Cameron Diaz spielt darin die Mutter eines schwerkranken Mädchens. Die Eltern zeugen nach der Diagnose ein genetisch designtes Schwesterchen, das als menschliches Ersatzteillager dient, bis es als Elfjährige (Abigail Breslin aus „Little Sunshine“) das Recht auf Verfügung über den eigenen Körper einklagt. Kluges Rührkino um einen sehr aktuellen ethischen Konflikt. Auf diesem Niveau wünscht man sich mehr Piazza-Filme.

11.8.09

Coco Chanel - Der Beginn einer Leidenschaft


Frankreich 2009 (Coco avant Chanel) Regie Anne Fontaine mit Audrey Tautou, Benoît Poelvoorde, Alessandro Nivola 110 Min. FSK: 6

Der Original-Titel „Coco avant Chanel“ ist programmatisch: Erzählt wird die Entwicklung von Gabrielle Bonheur Chanel, die 1883–1971 lebte, vor ihrer Karriere als "Coco" Chanel. Das Waisenkind Gabrielle Chanel hat nicht viel mehr als ihren Stolz und Optimismus. Auch wenn sie im Heim nie abgeholt wurde, ging sie doch immer zum Eingang mit den Kutschen der anderen Kinder. Die erwachsene Gabrielle (Audrey Tautou) bleibt eigenwillig, lässt sich nicht gerne aushalten, aber wenn, muss es Champagner sein. Tagsüber arbeitet sie geschickt als Näherin, abends tritt sie in einem Nachtclub auf, wird dort aber rausgeschmissen, weil sie zu frech ist. Als heimliche Geliebte lebt sie auf dem Schloss von Etienne Balsan (Benoît Poelvoorde), speist aber mit den Dienstboten. Aus Eifersucht auf die „richtigen“ Damen sprengt sie ein Picknick Balsans in Männerkleidern und im Herrensattel. Die eigene Emanzipation wird auch weiterhin mit maskulinen Elementen in ihren selbstentworfenen Kostümen fortschreiten. Coco sucht ihre eigene Position zwischen den Geschlechterrollen, zwischen den Ständen. Für eine unvermögende Frau mit Geschmack und Ansprüchen nicht einfach.

Doch Coco gibt sich nicht zufrieden und gibt nicht auf. Dem nicht ausgewogenen Arrangement mit Etienne Balsan, folgt die Liebe zu Boy Chapel (Alessandro Nivola). Der Engländer will für immer mit ihr zusammenbleiben, heiratet aber eine andere. Trotzdem kann erst ein Unglück das Paar auseinanderbringen. Dem Schmerz der verlorenen Liebe folgt die Sublimierung in Karriere und Erfolg.

Schon bei Balsan ließen sich immer mehr reiche Frauen von Coco Hüte nähen; das Kleid einer Freundin macht sie weiter, damit diese sich vernünftig bewegen kann. Ein früher, deutlicher Hinweis auf die späteren Kreationen, die Wert auf Stil und Bewegungsfreiheit der Frauen legten. Auch ihre eigene Freiheit war Coco wichtig, sie ließ sich nicht kaufen. Selbst als Balsan merkt, wie wichtig sie ihm ist und sie um jeden Preis, auch den der Heirat, halten will. Stattdessen eröffnet sie ein Geschäft als Hutmacherin in Paris.

Die Film-Biographie nach der Buchvorlage „L'irrégulière“ von Edmonde Charles-Roux hat gleich zwei Stars: Coco Chanel und Audrey Tautou ("Die fabelhafte Welt der Amelie"). Zudem ist alles, dem Stil der Modemacherin entsprechend, sehr erlesen. Am Drehbuch arbeitete neben Regisseurin Anne Fontaine ("Eine saubere Affäre") neben anderen auch Christopher Hampton („Carrington“) mit. Das wilde Leben der Coco wurde etwas beruhigt und außerdem verblasst die Berühmtheit Coco Chanel hinter einer tragischen Liebesgeschichte. Der Film zumindest lässt die Bemühungen um Selbständigkeit scheitern - mit dem einfachen Gefühl, es sei alles nichts ohne den richtigen Kerl. Bis zu diesem Finale hatte man allerdings den Eindruck, dass Frau Chanel sich nicht daran aufhält.

Zack & Miri Make A Porno


USA 2008 (Zack and Miri Make a Porno) Regie, Buch und Schnitt: Kevin Smith Seth Rogen, Elizabeth Banks, Craig Robinson, Jason Mewes, Traci Lords 102 Min, FSK: ab 16

Sie wohnen zusammen, sind seit Highschool-Zeiten durch dick und dünn miteinander gegangen, wissen alles voneinander, aber sie sind nur Freunde! Als zum monatlichen Problem der Miete auch noch Strom und Wasser abgedreht werden, bleibt Zack (Seth Rogen) und Miri keine andere Wahl und „kein Ehrgefühl mehr“: Sie wollen einen Porno drehen. Ein Kollege gibt Geld, wenn er dann als Produzent das Casting auf der Couch übernehmen darf, andere Freunde finden die Idee einfach klasse. Zack hat das Drehbuch zu „Star Whores“ - reimt sich auf „Star Wars“ - mit Darth Vibrator als strammen Helden schnell runter geschrieben. Nachdem ihr schrottiges Studio abgerissen wird, drehen sie nachts im Starbucks-Imitat weiter, in dem Zack und Miri arbeiten. Tolle Idee, sie sollten nur die Türe abschließen.

Kevin Smith gelingt das Kunststück, sehr spaßig und total entspannt völlig unterschiedliche Welten miteinander zu verbinden. „Zack & Miri Make A Porno“ könnte eine klassische Komödie mit James Stewart oder so sein, ist aber trotzdem ganz schön lebendig. Hier gibt es „die“ Liebeserklärung während sie auf der Toilette sitzt und er vor der Tür steht. Smith („Clerks“, „Dogma“, „Jay and Silent Bob“) schafft es wieder wie in „Chasing Amy“, einen Haufen sympathischer Verlierer sehr komische Dinge machen zu lassen und mitten drin in all dem Spaß, eine sehr wahrhaftige und weise Geschichte zu erzählen. Denn Zack und Miri sind selbstverständlich ein Liebespaar. Alle wissen es, nur sie selbst nicht. Als sie schließlich ihre Porno-Szene drehen müssen, klappt es bei den beiden überhaupt nicht. Sie bringen den schlechtesten Porno überhaupt zustande und ein romantische Liebesszene, die alle atemlos und sehr irritiert zurücklässt. Beste Freunde und bester Sex, geht das, oder ist es nur „Dreaming“ wie Blondie singt?

Gewitzt schnürt Smith ein Humor-Paket mit dem Hauptdarsteller Seth Rogen (einer massiven Galionsfigur des „American Pie“-Humors), mit Porno-Star Traci Lords und angestammten Mitspielern wie dem Jason „Jay“ Mewes. Dabei ist der Film alles andere als verklemmt in Sachen Sex, schafft es aber trotzdem die ganze Zeit über Porno zu reden, sich alberne Porno-Filmtitel oder -Starnamen auszudenken, fast ohne schmierig oder verkrampft anzüglich zu werden. Nebenbei ist die Liebeskomödie „Zack & Miri“ auch ein Fan-Film in Sachen „Star Whores“, aber weit von der Ideenlosigkeit von „Fanboys“ entfernt.

Coraline


USA 2009 (Coraline) Regie: Henry Selick ca. 90 Min.

„Coraline“ begrüßt schauerlich schon im Vorspann, wenn eine alte Puppe von spitzen, mechanischen Nadelhänden grauslig ausgeweidet wird und als Coraline-Puppe liebvoll wieder zusammengenäht wird. Dies ist kein harmloser Kinderfilm. Vielleicht ein guter Kinderfilm, der viel vom Wünschen und von gefährlichen Verlockungen erzählt. Derweil kommt die echte Coraline mit ihren Eltern im neuen Zuhause an. Coraline ist ein kluges, junges Mädchen, mit Eltern, die immer vor dem Computer zu beschäftigt sind. Von Langeweile und Regen umzingelt, macht sie sich auf, das uralte Haus zu entdecken. Und das Haus bedankt sich mit kleinen Hinweisen auf spannende Geheimnisse. Eines Nachts lockt eine Springmaus sie in eine buntere Gegenwelt, wie bei „Alice hinter den Spiegeln“ ist hier alles anders: Die Mutter kocht, der Vater spielt Piano - oder: das Piano spielt ihn. Coraline heißt Caroline. Alles scheint perfekt, verführerisch perfekt. Nur haben hier alle Lebewesen Knopfaugen aus echten Knöpfen - außer Coraline! Am nächsten Morgen ist der Durchgang wieder zugemauert, doch ein Ausschlag auf der Hand ist verschwunden. Weil die „andere Mutter“ ihn mit Salbe behandelte?

In der echten Welt entdeckt Coraline bei Miriam und April, zwei alten Opern-Walküren aus dem Untergeschoß, dass im Haus mal eine Zwillingsschwester verschwand. Und bei den nächtlichen Besuchen in der Gegenwelt drängen die anderen Eltern immer mehr darauf, dass Coraline doch für immer bleiben möge. Sie müsse sich nur die Knopfaugen annähen lassen...

Im Prinzip zeigen Animationsfilme weniger: Es ist eine reduzierte Künstlichkeit des Studios, die sich die Filmemacher für ihre Geschichten zu eigen machen. Wieso faszinieren trotzdem einige Geschichten von Disney, von Pixar, von Tim Burton oder dem japanischen Studio Ghibli so viele Menschen? Das Geheimnis dieser wunderbaren Welten liegt darin, dass die Macher wie kleine Götter jedes Detail gestalten. Große Regisseure machen das auch, aber ansonsten nimmt man auch gerne die Hintergründe, die Bäume, Blätter, Berge wie man sie passend vorfindet. Nicht so bei Henry Selick, der neben eigenen Kindergeschichten wie „James und der Riesenpfirsich“ auch Burtons schauerlich gutes Stop-Motion-Meisterwerk „Nightmare before Christmas" animierte. Hier ist alles wie erträumt, nichts vorgefunden oder zufällig. Hier gestaltet der Meister wirklich jedes Blatt im Sinne seiner Geschichte - man sieht, erlebt und fühlt es. Unendlich viele fantastische und liebevolle Details vor allem in der Traumwelt Coralines machen diesen Film zu einer einmaligen Reise in ein faszinierend anderes Universum.

„Coraline“ ist ein wunderbarer Animationsfilm, voll mit traumhaften Details und schauerlichen Momenten. Kein Kinder-Horror, eher ein sanft schauriger Film für Kinder und Erwachsene. Das kecke Mädchen mit den blauen Haaren und dem knalligen Regenmantel mag Farben, gärtnert und spielt gerne im Matsch. Coraline wird auf der Suche nach den geraubten Augen anderer Kinder zu einer mutigen Lara Croft. Ihr zur Seite stehen ein sprechender Kater, der erstaunliche Turner Mister B und sein russischer Zirkus der Springmäuse, sowie ein Freund, der hier geschwätzig und drüben beängstigend stil ist. Die Millimeter für Millimeter im Stop-Motion-Verfahren animierten Figuren haben Charakter, so viel Charakter! Auch die Musik ist mehr als nur Hintergrund: Wie alles im Film hat auch sie eine Seele.

Tödliches Kommando - The Hurt Locker


USA 2008 (The Hurt Locker) Regie: Kathryn Bigelow mit Jeremy Renner, Anthony Mackie, Guy Pearce 131 Min. FSK ab 16

Bomben-Spannung im Irak ist ein gefährliches Thema, doch die exzellente Inszenierung der Spannungs-Spezialistin Kathryn Bigelow („Point Blank“) sorgt für einen atemberaubenden Irakthriller um ein Team von Bombenexperten. Ob man jetzt bei einem nationalistischen Kriegsfilm mitfiebert, fragt man sich erst nachher.

Coole Sprüche und Scherze am laufenden Meter Zündschnur. So überspielen die Cowboys der Bombenentschärfer im Irak ihre Angst. Der Gruppenleiter wird noch vor dem Vorspann in die Luft gejagt. Sergeant William James (Jeremy Renner), der Neue, macht mit seiner Coolness sogar nervöser als ein Bombenfund, der lässige Kerl ist selber eine risikofreudige Zeitbombe. Mit der Kippe im Mund geht es zum Einsatz, dann wirft James eine Nebelgranate, so dass ihn die eigenen Leute nicht mehr sehen und decken können. Gerne legt er auch die schwere Schutzkleidung ab, denn er möchte bequem sterben. James hält sich nicht an Anweisungen, bricht immer wieder den Funkkontakt ab, bis ihn sein eigener Kamerad Sergeant JT Sanborn (Anthony Mackie) eigenhändig und nicht nur im übertragenen Sinne, in die Luft jagen will.

Es ist ein Trio, das immer zuerst ran muss, wenn irgendwo in Bagdad ein paar Kabel in einen Müllhaufen führen oder ein völlig überladenes Auto vor einem UN-Gebäude parkt. Sergeant William James, der alte Hase Sandorn und ein junger, traumatisierter Soldat, dessen Schutzpanzer nicht funktioniert, dessen Gesicht immer wieder Entsetzen und Angst spiegelt. Alle anderen Figuren sind unwichtig, so auch der Star Ralph Fiennes als Kopfgeldjäger, der die Soldaten mitten in der Wüste in ein Scharfschützenduell mit endloser Warterei verwickelt. Von den Irakern ganz zu schweigen, die wirklich nur Randfiguren sind.

Spannung spielt die Hauptrolle in zahllosen Szenen von Kathryn Bigelow, etwa wenn der wahnsinnige James wieder eine riesige Bombe von Hand entschärft, aber die Kabel gleich zu sechs weiteren um ihn herum führen. Der Mann mit dem Zünder lauert in der Nähe und Scharfschützen sind auch nie weit. Das Drehbuch basiert auf den Erfahrungen des Autors Mark Boal, der als "embedded journalist" Entschärfungskommandos in Bagdad begleitete. So tappt „The Hurt Locker“ in die alte Kriegsfilm-Falle: Man ist „eingebettet“, so mit den „Helden“ verbunden, dass man nur schwer die Unsinnigkeit ihres Handeln abstrahieren kann. Es sind doch „gute Jungs“, um die man bangt. Dass man Angst vor diesen Soldaten haben sollte, die in der Realität auch morden, foltern und vergewaltigen, bleibt außen vor. Ebenso das wesentlich größere Leid der Iraker.

Nach Irak-Filmen wie Brian de Palmas „Redacted“ oder dem ultimativen Kriegs-Wahnsinn von „Catch 22“ ist „The Hurt Locker“ politisch ein Rückfall. Zwar nicht so grob militaristisch wie Scotts „Black Hawk Down“, wir hören auch Sprüche von Gegnern der Einsätze im Irak und in Afghanistan: „Wenn es kein Widerstandskämpfer war, ist er jetzt (nach dem brutalen Auftreten der amerikanischen „Helfer“) einer!“ Ganz selbstverständlich wird ein verletzter Angreifer exekutiert.

Aber Bigelow packt nicht nur mit extrem spannenden Szenen, sie entschärft auch dieses Dilemma jedes Kriegsfilms etwas. Am Ende bleibt ein Bild für die Vergeblichkeit der ganzen Irak-Situation: James kann den irakischen Familienvater nicht retten, der hilfesuchend mit einem Bombengürtel an einem Kontrollposten auftaucht. Danach wäscht der Soldat nicht nur seine Hände, sondern gleich die ganze Uniform vom Blut rein. Es bleibt dieses Bild und die Zerstörung der Psyche eines weiteren Soldaten, denn James ist verloren für die Welt mit hunderten Corn Flakes-Sorten zuhause. Er muss wieder in die Spannung der Todesnähe.

4.8.09

Bully macht Wickie


Köln. Er ist ein aufgewecktes, freundliches Kerlchen, hat eine Nase für gute Ideen und ihm gelingt alles: Michael Bully Herwig, der mit seinen letzten drei Kinofilmen über 23 Millionen Menschen in die Kinos lockte, stellte gestern in Köln seinen neuen Film „Wickie und die starken Männer“ vor. Dass der Autor, Regisseur, Produzent und Schauspieler Herwig gewisse Ähnlichkeiten mit dem kleinen Helden „Wickie“ hat, ist nicht zufällig. Dabei stammt die Idee, die Geschichten des cleveren Wikinger-Jungen, die als Romane, Comic-Hefte und als 78-teilige Zeichentrickserie populär wurden, zu verfilmen, vom Produzenten Christian Becker („Die Welle“, „Hui Buh – Das Schlossgespenst“).

Vor vier Jahren begeisterte Becker das Münchner Multitalent Herwig für die Idee eines Wickie-Films mit Schauspielern und nachdem sie zusammen „Hui Buh“ machten, entstand der Realfilm „Wickie“. Die Süddeutsche schrieb damals „Stoppt Bully, rettet Wickie“, aber der Stoff ist beim Regisseur von „Der Schuh des Manitu“ und „Traumschiff Periode 1“ in den besten Händen. „Es sollte nie eine Parodie werden, es sollte ein schöner Abenteuerfilm werden, mit Spannung und ein paar Gags. ‚Wickie‘ sollte der fantastischen Vorlage gerecht werden.“ Und es wurde ein schöner Familienfilm, ganz ohne die üblichen parodistischen Gags. „Das ist man von mir vielleicht nicht gewohnt.“

Bully schrieb das Buch, führte Regie und spielte selbst die Rolle des spanischen Journalisten Congaz im Film. Der Seelöwe hieß schon vorher Bully. Aber selbstverständlich machte Bully auch die Moderation bei der kleinen Bully Show in Köln.

Der 11-jährige Wickie-Darsteller Jonas Hämerle spulte zuerst seinen auswendig gelernten Text herunter und führte damit ungewollt den Sinn solcher Pressekonferenzen ad absurdum: Ja, der Dreh habe ihm sehr gut gefallen. „Es gab immer gute Laune am Set, wir hatten sehr viel Spaß, obwohl wir auch sehr konzentriert arbeiten mussten. Ich habe mir ein paar Folgen von ‚Wickie‘ angeguckt.“ Aber auch ohne auswendig gelernte Sätze wirkte Jonas, der 49 Tage am Set war, recht aufgeweckt.

Diesem noch unverdorbenen Mitspieler auf dem Podium, der jedem Fragesteller ein Überraschungsei (mit Wickie-Figuren) überreichte, saß ein teuflisches Element gegenüber: Christof Maria Herbst - er spielt Svens fiesen Helfer Pokka - brachte das Zynische, dass dieser Kinderfilm überhaupt nicht kennt, in die Pressekonferenz. „Jonas, was machst du denn mit der ganzen Kohle?“, war so ein herrlich gemeiner Einwurf, auf den der Junge nur verdattert fragte: „Welche Kohle?“

Schnell versuchten die Macher Herwig und Becker wieder den Ablauf herzustellen, auffällig unlocker allerdings. Der Perfektionist Bully wird sichtlich nervös, wenn ihm die Kontrolle entgleitet. Doch der nächste Scherz rückt die Verhältnisse wieder gerade. TV-Urgestein Günther Kaufmann, der schon unter Fassbinder in 16 Filmen spielte, stand seiner Rolle als Schrecklicher Sven nichts nach und traf es auf den Punkt: „Herwig kommt sympathisch rüber, ist nicht falsch, aber auch knallhart. Er weiß, was er will und er hat immer Recht. Er hat ein Gefühl für Punkte und Pointen wie kein anderer.“

Klar dass Produzent und Regisseur nicht wirklich entspannt sind, es geht um viele Millionen, wenn der Film am Mittwoch, den 9.9.09 startet. Dabei ist der Film richtig gut und fraglich bleibt nur, ob er 3, 4 oder gar 5 Millionen Zuschauer in Deutschland zieht.


Der Film:
Wickie, der aufgeweckte Junge mit den rotblonden Haaren, wird von Vater Halvar, dem stursten Wikinger-Chef aller Zeiten, nicht ernst genommen. Denn echte Wikinger kloppen sich erstmal und dann ist zum Denken nicht mehr viel Hirn übrig. Als das Dorf von einer Horde wilder Fremder überfallen wird, hissen Wikinger aus Flake die Segel zur Verfolgung. Wickie versteckt sich auf dem Schiff und durch seine tollen Ideen kann die liebenswert chaotische Truppe den Schreckliche Sven besiegen.

3.8.09

Auftakt Filmfestival Locarno 2009


Reich animierter Film-Sommer

Locarno. 500 Tage Sommer verspricht der Titel des Eröffnungsfilms „500 Days of Summer“ ab Mittwochabend beim 62. „Festival internazionale del film Locarno“ (5. bis 15. August). Elf sternenklare Abende auf dem Freiluftkino der Piazza Grande würden dem renommierten Filmfestival am Lago Maggiore vor allem finanziell genügen. Erleben dort doch bis zu 9.000 Menschen bis tief in die Nacht Filme aus aller Welt.

Marc Webbs amerikanische Liebeskomödie „500 Days of Summer“ mit Zooey Deschanel und Joseph Gordon-Levitt dreht sich übrigens um eine junge, selbstbewusste Frau namens Summer, die auf den Romantiker Tom und hat seine Vorstellung von der idealen Liebe trifft. Bis beide ihre Ansichten unter einen Hut bekommen, gibt es 500 Tage lang ein humorvolles Auf und Ab der Gefühle. Schon beim Sundance Film Festival 2009 wurde "500 Days of Summer" vom Publikum gefeiert.

Der scheidende Festivalchef Frédéric Maire konnte noch einmal ein spannendes Programm zwischen Cannes und Venedig platzieren, bei dem nicht so sehr auf die Anzahl der Weltpremieren geschaut wird. Das Schweizer A-Festival sieht sich auch als „Schaufenster“, in diesem Jahr zum Beispiel zu neuen Filmländern wie die Mongolei, Nordkorea oder Südafrika. Die Piazza Grande präsentiert unter ihren zehn Weltpremieren auch drei Produktionen aus Deutschland. Während oft heimische Themen und Produktionen in den Nebensektionen herausgeleuchtet wurden, treten sie nun ihren weiteren Weg im unvergleichlichen Gala-Programm des Freiluftkinos an.

Der Kinofilm "Unter Bauern" entstand mit Unterstützung der Filmstiftung NRW und wurde komplett in Nordrhein-Westfalen gedreht. Veronica Ferres und Armin Rohde spielen die Hauptrollen in der Verfilmung der Erinnerungen von Marga Spiegel, die in ihrem Buch "Retter in der Nacht" schildert, wie ihre jüdische Familie dem Holocaust entkam. Der Film setzt auch den westfälischen Bauern ein Denkmal, die Marga Spiegel unter Einsatz ihres eigenen Lebens vor den Nazis versteckt haben.

Eine weitere Adaptation einer autobiographischen Erzählung und eine intensive Reflexion über Beziehungen bietet „Same Same But Different“ von Detlev Buck („Männerpension“) anhand der komplexen Liebesgeschichte eines jungen deutschen Touristen und einer kambodschanischen Barkeeperin. „Der Vorleser“ David Kross spielt damit nach „Knallhart“ (2006) erneut in einem Film von Detlev Buck.

Den Schlusspunkt auf der Piazza wird am 15.8. eine fesselnde musikalische Reise auf den Spuren der mongolischen Kultur setzen. Unter der Führung der berühmten Sängerin Urna dreht Byambasuren Davaa „The Two Horses of Genghis Khan“ und erhofft ihrem neuen Film einen ähnlichen Erfolg wie „Die Geschichte vom weinenden Kamel“. Ein Konzert mit der Sängerin wird das Festival mit dann frisch gekürten Preisträgern der Goldenen Leoparden abschließen.
 
Der Internationale Wettbewerb mit der deutschen Schauspielerin Nina Hoss („Yella“) in der Jury widmet sich auf der Suche nach Entdeckungen traditionell dem jüngeren Kino. Das immer starke asiatische Filmschaffen erlebt 2009 ein ganz besonderes Jahr: Locarno wagt ein für ein allgemeines Filmfestival bislang
einzigartiges Projekt. „Manga Impact – The World of Japanese Animation“ möchte dem westlichen Publikum die Türen zur Welt des japanischen Animationsfilms öffnen und Anime von deren Anfängen bis heute präsentieren. Viele Filme – darunter zahlreiche Premieren – und renommierte Gäste begleiten das Unterfangen. Das Festival hat sich zudem mit dem nationalen Filmmuseum in Turin zusammengeschlossen, dass die Veranstaltung im Oktober fortführt.

Public Enemies


USA 2009 (Public Enemies) Regie: Michael Mann mit Johnny Depp, Christian Bale, Marion Cotillard, Billy Crudup 140 Min. FSK ab 12

Während der großen Krise der Dreißiger Jahre, die eine echte Wirtschaftskrise war, nicht wie heute ein teurer Bluff der Banken und Konzerne, um sich die Verluste vom Steuerzahler refinanzieren zu lassen und die Gewinne selbst einzusacken, während dieser Krise also war der Bankräuber John Dillinger mit seinen Freunden der gefährlichste Verbrecher der USA. Oder er wurde von J. Edgar Hoover (auch ein Verbrecher, der Chef des FBI war) dazu gemacht. Das zeigt der kluge, atemberaubend gestylte Film von Michael Mann nämlich auch. Neben einer großen Gangster-Ballade und dem Star-Duell zwischen Johnny Depp und Christian Bale.

Die Geschichte ist aus vielen Gangsterfilmen bekannt: Der Gangster John Dillinger (Johnny Depp) raubt mit seinen Kollegen Pretty Boy Floyd, Babyface Nelson oder Dutch Schultz Banken aus und erfreut sich dabei durchaus der Sympathien einer armen und von den Banken ausgeraubten Bevölkerung. Ein wenig Robin Hood, ein extrovertierter Medienstar, der selbst aus seiner Verhaftung eine Show für die Kameras macht. In der Politik muss FBI-Chef J. Edgar Hoover seinen Sicherheitsapparat begründen, es muss einen Staatsfeind geben. Das Verbrechen wird nun mit Hilfe der Wissenschaft bekämpft und beide Seiten wissen von der Macht der öffentlichen Meinung. Bester Mann Hoovers ist Melvin Purvis (Christian Bale) - die Härte in seinem Gesicht steht im Gegensatz zum lächelnden Lebemann Dillinger. Der raubt ebenso schnell und entschlossen wie seine Banken auch das Herz von Billie Frechette (Marion Cotillard). Der positiv wirkende Star des Verbrechens zeigt seinen Wahnsinn nun auch in Liebe und Leidenschaft.

Michael Mann kann großartig Spannung aufbauen, sich Zeit lassen. Er verlässt sich für „Public Enemies“ nicht auf Riesenschießereien wie in „Heat“ oder „Collateral“. Wie „Heat“ ist auch „Public Enemies“ ein Duell zweier Männer, ein paar Jahrzehnte früher, in schicken Anzügen, auch schon in schnellen Autos, mit glänzenden Frisuren, entschlossenen Gesichtern. Depp und Bale geben die Oponenten intensiv. In jeder anderen Faser ist dieser Film ebenso spannend: Wie die Kamera von Dante Spinotti Gebäude und Strukturen dramatisiert, sich dann immer wieder in die Gruppen und Bewergungen stürzt. Der Soundtrack von Elliot Goldenthal macht das Schicksal dieses Gangsters groß und schwer, fast episch. Songs feiern die Geburt des Jazz und Billie Holliday singt dazu.

Michael Mann bildet klug nicht nur eine Gangster-Biographie ab. Es geht auch um die Gangster-Bilder in den Medien, historisch von der Handlungszeit zurück (mit James Cagney-Zitaten) und in die Zukunft gedacht. Es ist ein politisch hochaktueller Film über die Sicherheitsorgane, die sich ihre Gegner medienwirksam aufbauen, um Macht und ein paar Millionen mehr politisch einfordern zu können. Edgar Hoover, FBI-Chef und Gallionsfigur dieser bedrohlichen Entwicklung für alle Demokratien, gibt hier den Anstoß für „moderne Verbrechensbekämpfung“ mit Rasterfahndung, dem Abhören von Telefonen und Polizei-Folter. In Deutschland kam diese Entwicklung erst zu RAF-Zeiten richtig in Gang. (Den Faschismus beiseite gelassen, der sich um Rechte des Einzelnen sowieso nicht kümmerte.)

Nicht diese Methoden, sondern einfach Verrat ist letztendlich der Untergang von Dillinger. Zuletzt ist er allein, alle seine Freunde sind tot. Doch trotzdem täuscht er vor seinem großen Abgang noch einen dicken Raubzug vor und während die ganze FBI-Spezialabteilung ihn jagt, schaut er sich in aller Ruhe das fast leere Büro der Abteilung an - und fragt die Mitarbeiter wie es denn beim Baseball steht. Das Finale spielt dann - wie beim aktuellen Almodóvar - ganz deutlich mit den Vorbildern im Kino. Dillinger sieht im Gangsterfilm „Manhattan Melodrama“ den stilvollen Abgang von Clark Gable und sucht sich ein anderes Ende aus. Der letzte Satz ist eine Liedzeile: Bye bye Blackbird, und eine Liebe größer als das Leben bleibt zurück.

2.8.09

Zerrissene Umarmungen


Spanien 2009 (Los Abrazos Rotos) Regie, Drehbuch: Pedro Almodóvar mit Penélope Cruz, Lluis Homar, Blanca Portillo, Jose Luis Gomez 128 Min.

Während Penélope Cruz im letzten Woody Allen mit heftigsten Leidenschaften der Liebe Wahnsinn erleben ließ, leidet sie bei ihrem Entdecker Pedro Almodóvar still: Das Drama einer Liebe zwischen Regisseur und Star endet in „Zerrissene Umarmungen“ tragisch, weil Penélopes Lena sich aus ökonomischen Gründen an einen anderen Mann gebunden hat. Doch dies moderne Melodram ist nur eine Ebene eines reizvoll komplexen Spiels mit Zitaten, Bildern und Images.

Lena (Penélope Cruz) lebt mit dem reichen Industriellen Ernesto Martel, der einst die Operation ihres Vaters finanzierte. Doch als Lena für eine Rolle bei Mateo vorspricht, bricht die Liebe zwischen beiden aus, während sie mit Perücken verschiedene Filmstars imitiert. Eine schwierige Liebe zwischen den Kameras. Denn Mateos Film „Chicas y maletas“ wird nun von Martel finanziert und die Liebenden kontrolliert die Kamera von Martels Sohn, der ein „Making Of“ dreht. Jeden Abend schaut sich der eifersüchtige alte Mann die Aufnahmen an, eine Lippenleserin ersetzt den fehlenden Ton der intimen Dialoge. Eines Abend verabschiedet sich Lena stereo vom Geldgeber: Live und auf dem Film. Doch der lässt seinen weiblichen Besitz nicht so einfach gehen. Dieses Drama bettet Almodóvar in Rückblenden des mittlerweile erblindeten Mateo, der unter seinem neuen Namen Harry Caine erfolgreich Drehbücher schreibt. Als Martel stirbt und dessen Sohn auftaucht, kommen verdrängte alte Geschichten wieder hoch.

Almodóvar zeigt Doppelungen: In Rossellinis „Viaggio in Italia“ - der im Fernsehen läuft - erschaudert Ingrid Bergman angesichts der versteinerten Umarmung eines Paares in Pompeji. Vor dem Fernseher umarmt Mateo Lena heftig und fotografiert daraufhin die eigene Positur für die Ewigkeit. Die allerdings nur ein paar Wochen dauert, dann zerreißt jemand das Foto…

Almodóvar zeigt Film-im-Film, denn die Komödie „Chicas y maletas“ (Mädchen und Koffer) sieht genau so aus, wie Almodovars erster Erfolg „Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs“, ein dramatischer (und dann noch mal nachgedrehter) Treppensturz ist Hitchcock pur und eigentlich ist alles Film. Almodovar meint, dass viele seiner Filme in der Filmszene spielen, weil dieser Teil des Lebens das ganze Leben widerspiegelt.

Das Rätsel um Mateos Leben und Liebe wird angenehm unterhaltsam entschlüsselt, aber die ganz großen Szenen bei all der Film- und Zitierkunst sind überschaubar. Es geht um die große Kunst und um das ganz große Gefühl, das allerdings nicht wie beim Madrilenen gewohnt überspringt. Die Leidenschaften blieben gemäßigt. Und doch: „Zerrissene Umarmungen“ ist ein Almodóvar, ein Leckerbissen für die Augen, eine Ausnahmeerscheinung im Kino. So gibt es einige Momente, die allein den Kinobesuch lohnen, wie die Hände des blinden Regisseurs, der die Aufnahme eines letzten Kusses auf dem Bildschirm zu berühren sucht. So rührend hoffnungslos war die Sehnsucht selten in einem Bild.

Maria, ihm schmeckt's nicht!


BRD, Italien 2009 (Maria, ihm schmeckt's nicht!) Regie: Neele Leana Vollmar mit Lino Banfi, Christian Ulmen, Mina Tander, Maren Kroymann 90 Min. FSK o.A.

Dass ein „Sommerkino-Film“ überhaupt nichts im Kino zu suchen hat, dieses Paradox können nur die drei Buchstaben ZDF bei den Produzenten erklären. Aus der gleichnamigen, scheinbar viel gelesenen Buchvorlage des einstigen Werbetexters Jan Weiler wurde ein mit Postkarten-Bildern garnierter Italien-Ausflug, der sich über Klischees lustig machen will, aber selbst vor lauter Klischees nur am Rande ein eigenes Herz findet.

Christian Ulmen spielt Christian Ulmen, der sich diesmal Jan nennt: Unsicher stammelnd, nie einen Satz vollendend, einigt er sich mit seiner Freundin Sara (Mina Tander) auf eine baldige Heirat. Der Besuch bei Saras italienischem Vater Antonio (Lino Banfi) macht auf „Meine Braut, ihre Schwiegereltern und ich“, doch erst als der eigentümliche Schnauzbart - hoch wie breit eine grantelnde Variante von Danny DeVito - eine kirchliche Hochzeit im apulischen Campobello durchsetzt, trifft der „Clash of Civilization“ Jan voll ins Gesicht. Er versteht kein Italienisch und die ganze Campobello-Familie zerreißt sich das Maul. Er ist allergisch gegen Meeresfruchte und die familiäre Küchen-Mafia stopft ihn mit Muscheln und Tintenfisch. Als Atheist und schlimmer Individualist soll er mit der Riesensippe in einer italienischen Kirche heiraten. Die Hochzeit ist hier längst keine Privatsache mehr, die Liebe von Jan und Sara, von der man nie viel sah, wird aufgegeben für das, was Familie will. Klar, dass der Höhepunkt des „typisch italienischen“ Chaos kurz vor der Hochzeit erreicht wird.

Dieser Vorabendstoff zeigt Alles und alle sehr nett. Es ist echt total lustige, wie disse Italiener spreche, haha. Krampfhaft herbei gezwungene Probleme öden an, die Scherze wirken höchstens albern, meistens dämlich. Ulmen bleibt das stammelnde Jungelchen. Maren Kroymann, die man in so einem TV-Filmchen nicht erwartet, darf als Jans Schwiegermutter fast nix sagen. Und ist ohne Worte trotzdem besser als der Rest. Die einzig originelle Idee des Films ist eine mit Jans Übersetzungsfehlern erzählte Rückblende, in der aus dem tränenreichen Taschentuch (fazzoletto) am Bahnhof ganz konkret ein Bett (letto) wird.

Nur die Lebenslüge der Nebenfigur Antonio bringt mit kräftiger Nachhilfe rührender Musik (Niki Reiser) ein wenig Kinofilm-Gefühl. Da erinnert man sich an richtige Filme aus ähnlich gemischten Familien, etwa an Fatih Akins unterschätzten „Solino“. Die Tragik des Gastarbeiters, der nur als Clown überlebt und dessen italienischer Vater schon ein Fremder aus Sizilien war, kann wild interpretiert vielleicht mit Ulmens Schicksal, zu oft Clown sein zu müssen, verglichen werden. Doch da treibt nur die geistige Leere dieses Postkarten-Scherzchens wilde Blüten.