24.2.21

I Care a Lot / Netflix


Es ist der absolute Pflege-Albtraum, wie die rüstige Seniorin Jennifer Peterson (Dianne Wiest) aus ihrer eigenen Wohnung entführt wird. Auf richterliche Anordnung kommt sie in ein luxuriöses Pflegeheim; Schlüssel und Telefon werden ihr aber abgenommen. Die freundliche Marla Grayson (Rosamund Pike), mit Lächeln und Killerinstinkt eines Hais, steht hinter diesem Verbrechen. Im Zusammenspiel mit einer bestechlichen Ärztin, falschen Diagnosen und einem einfältigen Richter sorgen Marla und ihre Liebhaberin Fran (Eiza González) reihenweise für Zwangseinweisungen wohlhabender Alter. Der vom Staat beauftragten Fürsorge - Marla - obliegt die Kontrolle des gesamten Vermögens. Denn die schicken Pflegeeinrichtungen kosten ja einiges. Und nahestehende Verwandte gibt es nicht, oder sie erweisen sich dank eines willigen wie dummen Richters als angeblich so ungeeignet, dass sie ihre eigene Mutter nicht mal mehr besuchen dürfen.

Das kleine Drama eines wütenden ausgesperrten Sohnes zeigt „I Care a Lot" zum Auftakt. Um darauf am nächsten Opfer, Jennifer Peterson, vorzuführen, wie die ganze Masche funktioniert. Der Leiter der Pflegeresidenz wird mit Tausenden geschmiert, damit die teure Eck-Suite für die nächste „Kundin" Marlas frei bleibt. Mit dem Gerichtsbeschluss in der Tasche wird Jennifer vom Frühstückstisch abgeführt. Die Wohnung umgehend geräumt und verkauft, das Schließfach ausgeraubt, jede Geldanlage ruckzuck geplündert. Derweil bleibt Jennifer „fürsorglich" eingesperrt, darf nicht mal telefonieren. Doch der überraschende Fund von Diamanten im Bankschließfach hätte die gierige Marla stutzig machen müssen. Ein paar Tage später wundert sich ein ungewöhnlicher Chauffeur, dass die alte Dame nicht zu ihrer Verabredung bereitsteht, ja überhaupt nicht mehr da ist. Denn ganz heimlich ist Jennifer die Mutter eines noch heimlicheren Bosses der russischen Mafia.

Es ist großartig, wie Dianne Wiests Mafia-Mama Jennifer vollgepumpt mit Beruhigungsmitteln Marla ins Gesicht lächelt „Ich bin dein größter Fehler!" Und auch wenn der Gangster-Anwalt Dean mit glänzendem Anzug und lila Krawatte grinsend und drohend in Marlas Büro aufläuft, überzeugt „I Care a Lot" dank seiner Darstellerinnen und Darsteller. Wie Marla mit großer Coolness und Furchtlosigkeit dagegenhält, macht den sorgsamen Thriller zu Rosamund Pikes Film. Das ehemalige Bond-Girl („Stirb an einem anderen Tag" mit Pierce Brosnan) hat sich schon lange vor „Gone Girl" und „Pride and Prejudice" in die Riege der besten Schauspielerinnen eingereiht. Nun gibt sie mit blonder Ritterhelm-Frisur und streng gestylt eine ambivalente Figur. Verkörpert diese eiskalte Abzockerin hinter ihrer E-Zigarette, die sich zum Accessoire gefährlicher Filmfiguren entwickelt, noch positive Frauenpower?

Auch in anderen Kritiken taucht die Frage auf, ob so dieses Bisschen gut gemachte Unterhaltung sozial-kritische Unterströmungen hat. Dass die erfolgreiche lesbische Frau Ärger mit zwei kleineren Männern hat, ist sehr auffällig. Peter Dinklage („Game of Thrones", „X-Men", „Taxi") beeindruckt als Mafia-Boss Roman Lunyov mit Mutterliebe, aber geschäftlich möchte man nichts mit dieser Figur zu tun haben. Also kann keiner der Kontrahenten in Sachen Sympathie punkten. Erst wenn Lunyov vorschlägt, eine Kette von Seniorenheimen zu gründen, überlegt man, wer eigentlich real Pflegeeinrichtungen besitzt. In den USA und in Deutschland. Aber das große Geschäft mit Pflege ist bei dem auch immer komischen Krimi „I Care a Lot" („Ich kümmere mich sehr" oder: „Ich kümmere mich um viele") nur eine der zynischen Schlusspointen. Der Rest ist gut gespielte und fotografierte Unterhaltung mit nur ein paar logischen Lücken.

„I Care a Lot" (Großbritannien 2020), Regie: J Blakeson, mit Rosamund Pike, Peter Dinklage, Dianne Wiest, Eiza González, 118 Min., FSK: keine Angabe

22.2.21

Flora & Ulysses / Disney+

Nach Superhelden im Ehealltag bei „WandaVision" legt Disney+ nach: Mit einem Superhelden-Eichhörnchen! Der sehr nette Kinderfilm „Flora & Ulysses" bietet zum Glück keine Marvel-Einstiegsdroge, sondern einen sorgfältig gemachten Realfilm-Spaß in familienfreundlicher Disney-Tradition.

Die 10-jährige Flora adoptiert ein Eichhörnchen, das in einen Robo-Staubsauger geraten ist. Als begeisterter Comic-Fan weiß sie von den Superkräften, die solche Unfälle hervorrufen. Doch es dauert eine Weile, bis sich das heimliche Haustier Ulysses mit ein paar selbst getippten Worten auf der Schreibmaschine der Mutter zu erkennen gibt.

Flora lebt in einer Trennungsfamilie, bei der nicht nur die „J"-Taste der Schreibmaschine hakt: Mama ist eine Schriftstellerin mit großer Schaffenskrise und Papa ist ausgezogen, weil seine Comics keinen Abnehmer mehr fanden. Das belastet das aufgeweckte Mädchen, zudem soll sie Austen statt Comics lesen. Doch mit Hilfe von Ulysses, den es vor einem wahnsinnigen Tierfänger zu retten gilt, kommt die Familie wieder zusammen.

Tiere und Kinder gehen immer, sprechende Tiere noch besser. Nach diesem Prinzip funktioniert auch der „mittel-teure" Disney-Film „Flora und Ulysses". Nur diesmal schreibt ein perfekt animiertes „Oh wie süß"-Eichhörnchen schreiben Poesie. Die Vorlage von Kate DiCamillo war bereits recht erfolgreich, die Verfilmung bezaubert mit der Hauptdarstellerin Matilda Lawler. Auch der Kinder-Slapstick mit wahrlich umwerfenden Kettenreaktionen kann sich sehen lassen. Pädagogisch wertvoll ist der Film trotz Mund zu Mund-Beatmung eines Nagers auf jeden Fall. Für die Großen gibt Ulysses Zitate aus „Mission Impossible" oder „Batman".

„Flora & Ulysses" (USA 2021), Regie: Lena Khan, mit Matilda Lawler, Alyson Hannigan, Ben Schwartz, 95 Min., FSK: keine Angabe

16.2.21

Wir Kinder vom Bahnhof Zoo / Amazon


„Und wir sind dann Helden, für einen Tag." David Bowie sang seine „Heroes" (Helden) auf Deutsch und durch den Trailer zu Produzent Eichingers Film von 1981 „Christiane F.: Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" steht der Song mittlerweile für den Film. Helden nicht mal für einen Tag, sondern für einen Schuss Heroin - das sind die „Kinder vom Bahnhof Zoo", die jugendlichen Prostituierten beiderlei Geschlechts im Zentrum vom Berlin der 70er Jahre. Auch in der Neuauflage des damals sensationellen Reportage-Buches vom Stern, der neuen Amazon-Serie „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo", sorgt „der Schuss" für grandiose Bild-Räusche mit erschreckenden Folgen bei gleich einer ganzen Gruppe Jugendlicher rund um Christiane F.

Es sind anfangs gewöhnliche Dramen, die vor allem drei Mädchen von ihren Familien entfremden: Christiane (Jana McKinnon) erlebt wie die Ehe der Eltern in der Hochhaus-Tristesse der Gropiusstadt wegen ihres unreifen, aber trotzdem geliebten Vaters zerbricht. Die Noten gehen in den Keller, die Verliebtheit erwischt den Falschen.

Die zierliche, ja puppenhafte Babsi (Lea Drinda) kommt aus bester Villa, wird allerdings von der strengen Großmutter kontrolliert. Schon Babsis erste Szene am Bahnhof Zoo ist eine Flucht aus dem Zug, der sie zu einem Internat bringen sollte. Ihre Begeisterung für den DJ Dijan bringt mit einem mörderischen Bordell einen düsteren Krimi-Ton in die Serie.

Die ruppige Stella (Lena Urzendowsky) wächst mit alkoholkranker Mutter in einer Charlottenburger Kneipe auf. Sie hat zu früh gelernt, für sich selbst und die Geschwister zu sorgen. Stella wirkt robust, doch nach einer Vergewaltigung durch einen der „netten Onkel" aus der Kneipe haut auch sie ab und taucht mit den Freundinnen ins Nachtleben rund um die „Diskothek Sound" ein. Das pulsierende Herz von Befreiung und Flucht wie der Nachtclub „Moka Efti" in „Berlin Babylon". Im „Sound" heben die „Kinder vom Bahnhof Zoo" zum Ende der Auftakt-Folge das erste Mal tatsächlich ab.

Die Drogen dazu sickern langsam über die Jungs Axel (Jeremias Meyer), Benno (Michelangelo Fortuzzi) und Michi (Bruno Alexander) ein, die teils noch brav Lehre bei einem alten Nazi machen, aber auch schon Erfahrungen mit dem berühmten Schwulen-Strich hinter dem Bahnhof Zoo haben. Die „Kinder" landen nicht direkt auf der Straße. Christiane und ihre Freundinnen bekommen erst Unterschlupf bei einem schmierigen Tierhändler, der sich als lieber Onkel ausgibt und sowohl Drogen wie Kinderkörper verkauft.

Die Neuverfilmung von „Christiane F.: Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" baut wieder auf der ungemein erfolgreichen Reportage von Kai Hermann und Horst Rieck auf, fügt aber der Film-Titelfigur weitere Schicksale hinzu. Es gibt Selbstmordversuche und schließlich den Tod von drei der Hauptfiguren. Trotzdem wirkt das Buch von Head-Autorin Annette Hess nie billig oder melodramatisch. Im Gegensatz zu „Tribes of Europa" passen die Darsteller und wecken Mitgefühl. Die Stimmung vor allem in den vielen eindrucksvoll surrealen Rauschszenen wird stark angeschoben vom spannenden Soundtrack: Der Wahl-Berliner Bowie ist auch in der Serie wieder ganz groß: Live im zentralen Konzert, in Christianes Fantasien und am Pissoir nebenan. Originale wie „Rebel Rebel" oder „Starman" lösen sich ab mit einem Cover des (späteren) „Modern Love". Das macht so viel Spaß, dass wie 1981 wieder Kritik aufkommt, der böse Rausch sähe doch verführerisch gut aus. Die Abhängigkeit von Amazon und Netflix scheint da allerdings die größere Gefahr zu sein.

„Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" (BRD 2021), Regie: Philipp Kadelbach, mit Jana McKinnon, Lena Urzendowsky, Michelangelo Fortuzzi, Lea Drinda, Jeremias Meyer, acht Episoden à 45 Min., FSK: ab 16


9.2.21

Neues aus der Welt / Netflix


Der alte Mann und das Kind – als Filmpaar sind sie unschlagbar. Diesmal wird der von Tom Hanks gespielte Kriegs-Veteran Captain Jefferson Kyle Kidd durch ein verlorenes Kind, dessen er sich nur widerstrebend annimmt, aus der eigenen Verlorenheit befreit. Wie Regisseur Paul Greengrass („Bourne-Trilogie", „Flug 93") diesen Klassiker zum Spät-Western „Neues aus der Welt" macht, wirkt vor allem durch Tom Hanks und die deutsche Golden Globe-Kandidatin Helena Zengel wieder sehenswert.

Captain Jefferson Kyle Kidd (Hanks) reist 1870 allein durch Texas, um den Menschen in Pionierdörfern die Neuigkeiten aus der Welt zu bringen. Fünf Jahre nach dem Bürgerkrieg dürsten sie nach Unterhaltung und Ablenkung. In Vorstellungen er liest aus älteren Zeitungen von Politik und kuriosen Ereignissen. Auf dem Weg zu seinem nächsten Auftritt, durch immer noch gefährliche Steppen, findet er am Schauplatz eines blutigen Überfalls die zehnjährige Johanna (Helena Zengel). Das Kind im Indianer-Gewand will weglaufen, bleibt scheu und spricht nicht. Aus herumliegenden Papieren versteht Kidd, dass Johanna, die Tochter deutscher Auswanderer, vor sechs Jahren von den Kiowa entführt und aufgezogen wurde. Da sich in einem vor allem menschlich wilden und rauen Westen niemand um das Kind kümmern will, entschließt sich der Veteran, Johanna selbst zu Tante und Onkel zu bringen. Mitten durch ein besonders gefährliches Gebiet.

Es wird in „Neues aus der Welt" dem Genre entsprechend Schießereien geben, Hinterhalte und Überfälle. Das Elend der vertriebenen Ureinwohner und das harte Leben der Neuankömmlinge. Doch die Hauptsache ist die Figur des gebrochenen Kriegs-Veteranen, der mit Anstand durch eine im doppelten Wortsinn „ungebildete" Nation reist. Symptomatisch ist das Duell mit dem brutalen Chef einer von Banditen kontrollierten Stadt: Kidd liest nicht die gewünschte Geschichte über des Gangsters Grausamkeiten, sondern eine von Überleben und der Hoffnung einfacher Menschen. Nebenbei  führt er so Demokratie ein: „Welche Geschichte wollt ihr hören?" Wer hier nicht an Trumps Amerika denkt, muss es bei der x-ten Erwähnung, dass „eine zerrissene Nation" zu einigen sei. Tragisch, dass es auch 150 Jahre später teilweise noch der Riss zwischen Nord- und Südstaaten ist.

Tom Hanks brilliert erwartungsgemäß in der Rolle des stillen und bescheidenen Aufrechten. Doch neben ihm besteht überraschend dieses unzähmbare Mädchen aus „Systemsprenger", dem Berlinale-Hit von vor zwei Jahren: wieder die blonden Haare, stechend blaue Augen, wild und bissig. Das gleiche Schreien, dass durch Mark und Bein geht. Helena Zengel spielt sehr passend ein blondes, deutschstämmiges Mädchen, das bei Kiowa aufwuchs und kein Englisch spricht. So ist der mittlerweile 12-Jährigen die Rolle wie auf den Leib geschrieben, aber immerhin schauspielt sie schon, seit sie fünf war. Bei den Golden Globes hat sie als "Beste Nebendarstellerin" mit Jodi Foster einen ehemaligen Kinderstar als Kontrahentin, der mittlerweile auch Star-Regisseurin und Produzentin ist.

Ein „Systemsprenger" ist dieser neue Paul Greengrass trotzdem nicht. Der Netflix-Film „Neues aus der Welt" wäre großes Kino, wenn man in nebeliger Ferne elende Gestalten eines vertriebenen Indianer-Stammes wie bei Todesmärschen sieht. Ein unheimlich eindrucksvolles Panorama auch beim gewaltigen Sandsturm oder einem Massaker an Buffalos. Bittere Zivilisationskritik an einem Westen, der erst durch die angebliche Zivilisation der weißen Eroberer wirklich wild und grausam geworden ist. „Siedler, die Indianer für ihr Land umbringen. Indianer, die Siedler umbringen, die ihr Land geklaut haben." Aber vor allem ist die melancholische Reise vom alten Mann und wildem Kind, auf der beide von ihren Dämonen begleitet werden, so schön rührend, wie man es vom Konzept eines solchen Films erwartet.

„Neues aus der Welt" (News of the World, USA 2020), Regie: Paul Greengrass, mit Tom Hanks, Helena Zengel, 119 Min., FSK: ab 12


8.2.21

Beginning / Mubi


Das georgische Spielfilm-Debüt „Beginning" von Déa Kulumbegashvili wird nach seiner Auflistung beim ausgefallenen Cannes Filmfestival 2020 überall gefeiert. In Toronto, Rotterdam und San Sebastián gab es Preise, die Kritiken sind euphorisch. Dabei fordert der Arthouse-Film mit extrem langen Einstellungen, Handlungs- sowie Bewegungs-Armut: Während im Gottesdienst die Geschichte von Abraham und Isaak, diese besonders sadistische Prüfung im repressiven Glaubens-System, gepredigt wird, fliegt ein Brandsatz ins Gemeindehaus der Zeugen Jehovas. Die generell feindliche Haltung gegen die Sekte belastet auch die Ehe des Gemeindeleiters. Sie wollen nicht mehr das Gleiche und während er in der Hauptstadt um ein neues Gemeindehaus bittet, wird seine Frau Yana von einem vermeintlichen Polizisten drangsaliert und schließlich vergewaltigt.

„Beginning" deutet den Leidensweg Yanas in langen ereignisarmen Einstellungen fast ohne Kamerabewegungen an. Schon die Bildkompositionen sind ein Gefängnis für die Frau. Quälend langsam die Bedrohung durch den Fremden, der sie schließlich in ungeschnittener Echtzeit vergewaltigt. Nach einer Stunde sehen wir Yana sieben Minuten lang von oben regungslos im Laub liegen. Das ist rätselhaft und auch meditativ – in anderen Filmschulen würde man es als Zeitverschwendung bezeichnen.

Nach dem großartigen georgischen „Als wir tanzten" ist das Debüt von Déa Kulumbegashvili mit sehr hohen Anforderungen an Konzentration und Geduld vielleicht nicht das richtige fürs Heimkino. Selbst auf der Kunstkino-Plattform Mubi ist „Beginning" auch für Zuschauer ein langer Leidensweg, bis nach zwei Stunden der große Schock des unverständlichen Abrahamschen Opfers (oder eher Medea?) „genossen" werden darf.

„Beginning" (Dasatskisi, Georgien, Frankreich, 2020), Regie: Dea Kulumbegashvili, mit Ia Sukhitashvili, Rati Oneli, Kakha Kintsurashvili, Saba Gogichaishvili, 130 Min. Im Anschluss ein erläuterndes Interview mit der Regisseurin, FSK: keine Angabe

Bliss / Amazon Original


Realität oder Traum? Diese Doppelung ist bei Werken der Traumfabrik Film äußerst beliebt – siehe „Brazil", „Öffne die Augen" („Abre los ojos", Alejandro Amenábar mit Penelope Cruz) oder „Matrix". Wie im letzteren die Wahl zwischen der roten und der blauen Pille fällt, so bekommt Greg (Owen Wilson) plötzlich die Gelegenheit, mit blauen Kristallen einer elenden Realität zu entfliehen. Der Angestellte ist nach Scheidung ohne Wohnung und bekommt vom ekligen Chef die Kündigung mitgeteilt. Worauf dieser auch noch unglücklich fällt und Greg als vermeintlicher Mörder fliehen muss. In einer Bar trifft der Verzweifelte auf die seltsame Isabel (Salma Hayek). Diese heftig tätowierte Frau mit spanischem Akzent vermittelt ihm, dass die ganze Umgebung mit all den unangenehmen Menschen nicht real sei. Durch ein Fingerschnipsen könne sie Dinge und Personen umkippen oder wegwischen! Was allerdings nur dank gelber Kristalle vom Dealer funktioniert.

Das Spiel mit dem Kerngedanken einiger ganz großer Filme - und der Menschheit überhaupt – erinnert in „Bliss" anfangs an Klassiker wie Stanislaw Lems „Der futurologische Kongreß" (verfilmt mit Robin Wright): Eine mit Drogen oder anderen Chemikalien erzeugte Bewusstseins-Folie hilft, krasse Klassenunterschiede zu erhalten. Denn nach den blauen Kristallen erwacht Greg in einer sonnendurchfluteten Traumwelt wie aus dem Ferien-Katalog. Wobei die Perversion diesmal darin liegt, dass verwöhnte Bewohner Utopias sich in einer besseren Zukunft per Simulation ins Elend stürzen, damit sie ihr bevorzugtes Leben wieder zu schätzen wissen. Das könnte vom Grundgedanken Philipp K. Dick („Bladerunner") sein. Doch ohne Witz, zu dem der gut besetzte Owen Wilson sehr gut fähig wäre, zieht der moderate Science-Fiction sein „One trick pony" wenig raffiniert durch. Das bald sichtbare Drama eines Drogenabhängigen packt auch bei den Rettungsversuchen seiner Tochter nicht richtig. Man vermisst weitere originelle Ideen, die das Denken auf den Kopf stellen. So hat der Philosoph Slavoj Žižek als Hologramm die beste Szene des Films, wenn er erklärt, dass die Hölle das wahre Paradies sein könne: Dort würde man immer Party feiern. Allein wenn ein Besucher von „oben" käme, würde man kurz die üblichen Höllenqualen nachspielen.

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3.2.21

In Therapie / Arte


Ein Psychoanalytiker. Fünf Klienten. Eine Familie. Eine Nation. Aus dem Rhythmus sich wöchentlich wiederholender Sitzungen entwickelt das Erfolgsduo Eric Toledano und Olivier Nakache („Ziemlich beste Freunde") ein höchst interessantes Mosaik französischer Befindlichkeiten nach den Terroranschlägen auf das Pariser Bataclan. Denn Psychoanalytiker Dr. Philippe Dayan bewegen auch seine vielleicht untreue Frau, das Verhältnis zu seinen Kindern und eine alte Beziehung.

Die 35 kurzen Episoden „In Therapie" beginnen am Montag, den 16. November 2015, drei Tage nach dem Anschlag: Die 35-jährige Chirurgin Ariane (Mélanie Thierry) berichtet eindringlich erschütternd von ihrem endlosen Einsatz im Operationssaal der Klinik Saint-Antoine. Im Wechsel weinend und wütend erzählt sie endlich aber auch, wie sie direkt danach den Wunsch ihres Freundes nach einer gesetzteren Beziehung brüsk zurückgewiesen und sich von ihm getrennt habe. Um ihren Psychoanalytiker Philippe (Frédéric Pierrot) am Ende der Sitzung mit einer heftigen Annäherung zu konfrontieren.

Am Dienstag kommt Adel Chibane (Reda Kateb) in die Praxis. Der algerisch-stämmige Polizist einer Spezialeinheit stürmte in vorderster Front den Konzertsaal und erlebte einen Zusammenbruch. Noch immer ist er geschockt vom Klingel-Konzert all der Handys der Opfer und von der Hand, die aus dem Berg von Toten und Verletzten nach ihm griff. Auch wenn „In Therapie" meist ein Kammerspiel bleibt, schnüren derartige Details die Kehle zu.

Da wirkt am Mittwoch die 16-jährige Schülerin und Top-Schwimmerin Camille (Céleste Brunnquell) erst einmal komisch, wie sie nur unter viel Chaos preisgibt, was ihr geschah: Im Training für die nächsten Olympischen Spiele wird sie in einen Autounfall verwickelt und bricht sich beide Arme. Sie erinnert sich an nichts, aber die Versicherung des Autofahrers vermutet, dass das Mädchen den Unfall mit verursacht hat, und will ein psychologisches Gutachten. 

Der Donnerstag bringt Paartherapie mit Léonora und Damien (Clémence Poésy, Pio Marmaï). Sie ist unverhofft schwanger geworden, obwohl das Paar nach Jahren erfolgloser künstlicher Befruchtung den Kinderwunsch aufgegeben hatte. Nun will sie es nicht mehr, was ihn rasend und eifersüchtig macht. Am Ende der Woche sucht Philippe nach zwölf Jahren wieder seine ehemalige Freundin und ältere Kollegin Esther (Legende Carole Bouquet) auf. Hier brechen Erinnerungen und Eifersüchte auf. Das emotionale Streitgespräch beider Analytiker hebt die Geschichte nicht nur fachsprachlich auf eine weitere Ebene.

Es sind für sich richtig spannende Konflikte, die da auf der Couch des jüdischen Dr. Philippe Dayan landen und die nach dem abebbenden Widerstand der Klienten noch interessanter werden. Und man könnte jeden einzelnen „Fall" in jeder fünften Episode gesondert verfolgen. Aber nach dem Zusammenbruch Philippes merkt seine Analytikerin an, dass all diese Menschen eines seiner Probleme verkörpern: Das Eheproblem und die Frage der Trennung. Die (Kommunikations-) Schwierigkeiten mit der jungen Tochter. Die unerklärliche Wut beim Polizisten. Und eine junge, reizende Frau als mögliche Antwort auf die Midlife-Krise.

Eric Toledano und Olivier Nakache wollten über die Figuren und Patienten „In Therapie" ihr Land zeigen. „Eine fiktive Karthasis", so die Autoren. Sie haben die israelische Serie "BeTipul" adaptiert, aus einem Land, in dem Anschläge schon fast zum Alltag gehören. Es folgten Versionen unter anderem in den Vereinigten Staaten, den Niederlanden, Brasilien, Serbien, Argentinien und Italien. Das in kurzen Episoden dank starkem Ensemble leicht konsumierbare, gewaltige französische Werk von fast 15 Stunden formt mit seinem Mosaik einen eigenen Kosmos. Er wird in der Arte-Mediathek mit zusätzlichen Filmchen von hinter den Kulissen erläutert und ergänzt.

 (Arte fünf Mal pro Woche werktags)

„In Therapie" (En thérapie, Fr 2020), Regie: Eric Toledano, Olivier Nakache (Montag, Dienstag), Pierre Salvadori (Mittwoch), Nicolas Pariser (Donnerstag), Mathieu Vadepied (Freitag), mit Philippe Dayan, Mélanie Thierry, Reda Kateb, Céleste Brunnquell, Clémence Poésy, Pio Marmaï, Carole Bouquet, 35 Folgen à ca. 25 Min., FSK: ab 16

2.2.21

Fate: The Winx Saga / Netflix


208 Folgen in acht Staffeln, vier Specials, drei Kinofilme, zwei Spin-offs sowie eine Realverfilmung - die seit 2004 laufende, italienische Zeichentrickserie für kleine Mädchen, „Winx Club" von Iginio straff, muss bei allen Bedenken als Erfolg bezeichnet werden. Jetzt präsentiert Netflix eine Realfilm-Serie rund um das Feeninternat Alfea für Teenager mit erschreckend anderer Ausrichtung. 

Diesmal landet Teenagerin Bloom (Abigail Cowen) im Internat der Feenwelt, um zu lernen, ihre magischen Flammenwerfer-Kräfte zu kontrollieren. Aber der Alltag ist hauptsächlich von Zickenkriegen bestimmt – trotz Monster vor der Tür. Schon das Setting um das unter „Muggles" (also Nicht-Feen) aufgewachsene Mädchen macht „Fate" zur oberflächlichen x-ten Variante von Teenie-Episoden zu „X-Men". Diese falsche Fortsetzung hat von der ersten Szene an mit deftigem Horror und später auch ruppiger Sprache nichts mit dem ursprünglichen Feen-Glitter für kleine Mädchen zu tun. Dreist, wie der Geschichte in einem Satz nebenbei die titelgebenden Flügel (eng. Wings) wegoperiert werden: „Wir hatten mal welche - die Verwandlungsmagie ging uns verloren," meint die Internats-Leiterin. Nach einem gewaltigen Alterssprung imitiert die „Winx Saga" nun Kino-Serien für Teenager wie „Die Bestimmung" und „Maze Runner". Auch wenn Eltern froh sein werden, den pastellfarbenen Overkill an magersüchtigen Prinzessinnen für bedenkliche Kleinmädchenträume los zu sein – dieser flache High School-Kram für ältere Winx-Fans ist nicht viel besser.

„Fate: The Winx Saga" (GB, Italien 2021), Regie: Lisa James Larsson, Hannah Quinn, Stephen Woolfenden, mit Abigail Cowen, Danny Griffin, Hannah van der Westhuysen, sechs Folgen à ca. 50 Min., FSK: keine Angabe

Yes, God, Yes / Amazon Prime


Wie ist es, als „schwarzes Schaf" unter lauter weißen Wollknäueln zu leben, die sich letztlich als heftig einfärbt herausstellen? Alice (Natalia Dyer) wächst in einem streng katholischen Haushalt der ländlichen und puritanischen USA auf. An der Schule kann schon ein zu kurzer Rock Todsünde sein. Ausgerechnet sie landet völlig unbedarft in einem Sex-Chat und beginnt sich zu wundern. Dabei hat scheinbar nur sie überhaupt keine Ahnung, welche sexuelle Entgleisung ihr gerüchteweise mit einem Jungen nachgesagt wird. Wobei in dieser reglementierten Umgebung alles Sexuelle vor der Ehe Entgleisung ist. Denn das Alles habe Gott ja nur zum Zwecke der Fortpflanzung erfunden.

Der wie immer möglichst hirnlose deutsche Zusatztitel „Böse Mädchen beichten nicht" des etwas älteren Festival-Erfolgs „Yes, God, Yes" zielt wieder maximal daneben: Alice ist gerade kein „böses Mädchen"! Das Erstaunliche und Reizvolle an diesem netten Film mit grandioser Hauptdarstellerin ist, wie natürlich und unverdorben von religiöser Indoktrination der Teenager Alice im Sündenland bleibt. Und dazu beichtet sie trotzdem. Wobei die letzte Beichte den Spieß umdreht: Der verlogene Priester bekommt seine Sünden vorgehalten. Mit ihrer eigenen Sexualität entdeckt Alice die Scheinheiligkeit der anderen. Dabei wäre es der Komödie ein Leichtes, all diese vermeintlich gläubigen Schäfchen satirisch vorzuführen: Bedrohlich überglückliche Gläubige und religiöse Streber haben heimlich miteinander und im Internet Spaß. Doch mit genauer Konzentration auf die innere Verwirrung der 17-jährigen Hauptfigur, die sich erstaunlich gut in der Mimik der damals 24-jährigen Natalia Dyer widerspiegelt, wählt „Yes, God, Yes" den interessanteren Blickwinkel.

„Yes, God, Yes" (USA 2019), Regie: Karen Maine, mit Natalia Dyer, Francesca Reale, Alisha Boe, Wolfgang Novogratz, Timothy Simons, 78 Min., FSK: ab 12