29.8.18

Grüner wird's nicht, sagte der Gärtner und flog davon

BRD 2018 Regie: Florian Gallenberger mit Elmar Wepper, Emma Bading, Monika Baumgartner
117 Min. FSK ab 0

Schorsch („das ist doch kein Name, das ist ein Geräusch") ist Gärtner und bayrischer Querulant, der immer davon rennt. Ein paar rücksichtslose und eiskalte Golfer zahlen die 80.000 für ihren neuen Rasen nicht. Er sei nicht grün genug. Im Gram wird Schorsch zum Familientyrann, macht die kreative Arbeit seiner Tochter runter. Als man ihm das geliebte Flugzeug pfänden will, geht er in die Luft. Per Flieger zum Nordkap, das Polarlicht sehen. Bei Zwischenlandungen jobbt er nicht nur, er ist auch Komposthaufen für die Probleme seiner temporären Gastgeber. Es kommt in Düsseldorf, an der Nordsee und in Brandenburg immer wieder zum Treffen einsamer Geister. Bald hat der alte Schorsch sogar eine junge Mitfliegerin an Bord. Philomena (Emma Bading) entdeckt die „total coole Sau" in Schorsch. Und der bekommt, mal wieder verdattert, ein paar Wahrheiten über sein Leben präsentiert.

Florian Gallenberger („John Rabe", „Colonia Dignidad"), 2001 mit dem Abschlussfilm „Quiero ser" immerhin Oscar-Gewinner in der Kategorie Kurzfilm, gelingt etwas Seltenes - einen richtig gut gemachten Genre-Film, der auf Charakter und Charakter-Darsteller vertrauen kann. Viel mehr als das populäre Genre „Irgendwas mit Dialekt" geht „Grüner wird's nicht" mit Klugheit und Gefühl weit über die Garten-Metaphern fürs richtige Leben hinaus. Elmar Wepper („Kirschblüten – Hanami", „Dreiviertelmond") ist dabei nicht nur ein Urgestein deutscher TV-Unterhaltung, er ist dort auch ein Monolith seltener Qualität. Erfreulich auch das Niveau der Nebendarsteller mit ausnahmslos guten Schauspielern: Die grandiose Emma Bading („Meine teuflisch gute Freundin", „Lucky Loser") begeistert mit richtig flotten Sätzen als kreativ rebellische Reichen-Tochter Philomena von Zeydlitz, die zur Landung in Brandenburg das passende Lied von Rainald Grebe parat hat. Dagmar Manzel gibt glaubhaft eine desillusionierte Flughafen-Betreiberin im Osten. Ulrich Tukur und Sunnyi Melles karikieren nett albernen Reichtum. Ganz wie bei Elmar Wepper steckt hier viel mehr drin, als man auf den ersten Blick erwartet. Ein schöner, kluger Film mit und über richtige Menschen.

Käpt'n Sharky

BRD 2017 Regie: Jan Stoltz 77 Min. FSK ab 0

Ein kleiner, pummliger Pirat räubert im reichen Gewässer des Animationsfilms: Wie der sympathische „Käpt'n Sharky" sowohl einen bösen Piraten als auch einen Admiral ausmanövriert, ist nicht nur ein netter Spaß für die kleinsten Kinogänger. Der Alte Bill jagt den kleinen, rundlichen Piraten. Zudem Sharky mit zwei blinden Passagieren zurecht kommen. Der ängstliche, zehnjährige Michi Schutz und die Admiralstochter Bonnie machen mit beim Abenteuer, das lehrt, niemals die Kleinen zu unterschätzen. Die einfach gezeichneten Figuren, die lustigen „Sidekicks" Affe, Ratte und Papagei oder die kleinen, kindgerechten Episoden mit Slapstick, Abenteuer und Liedchen können tatsächlich mit den Animations-Armadas aus Hollywood oder Fernost mithalten. Technisch und vom Etat her zwar nicht, die Stimmen klingen blechern, meist sind die Zeichnungen noch einfacher als bei TV-Serien. Doch der erfahrenen Produzentin Gabriele M. Walther gelingt es nach „Prinzessin Lillifee", „Ritter Rost" oder „Der kleine Drache Kokosnuss" wieder, den Geist einer Kinderbuchreihe für Kino zu adaptieren. Dass zwischendurch ein Krabben-Ballett und auch andere Szenen herausragen, belegt durchaus großes Können hinter den Kulissen beim Regie-Duo Hubert Weiland und Jan Stoltz. Denn nebenbei macht Walthers Firma Caligari auch richtig Gutes für Erwachsene wie den apokalyptischen „Hell".

28.8.18

Kindeswohl

Großbritannien 2017 (The Children Act) Regie: Richard Eyre mit Emma Thompson, Stanley Tucci, Fionn Whitehead, Ben Chaplin 105 Min.

Wer ist eigentlich der aktuelle Überflieger in Sachen Literarturverfilmungen? Dieser Shakespeare wirkt im Kino abwesend, als hätte er nie existiert. Von diesem komischen „Göhte" hat man auch lange nichts mehr gehört. Aber der noch quicklebendige Brite Ian McEwan haut mit „Am Strand", „Ein Kind zur Zeit - The Child in Time" und jetzt „Kindeswohl" direkt drei großartige Spielfilme in diesem Sommer raus, und schrieb teilweise auch noch das Drehbuch selbst. Was dazu führt, dass die sehr fein gezeichneten Menschen in diesen spannenden Filmen auch noch Lust machen, McEwan erneut zu lesen.

Wieso lässt diese christliche Gottesfigur seinen unehelichen Sohn am römischen Marterpfahl unter Qualen sterben? Wieso lassen Eltern ihren an Leukämie erkrankten Sohn im Krankenhaus verreckten, nur weil sie als Zeugen Jehovas lebensrettende Bluttransfusion ablehnen? Es sind keine einfachen Fragen, die Ian McEwan in „Kindeswohl" stellt. Und es sind keine einfachen Entscheidungen, welche die angesehene und erfahrene Londoner Familienrichterin Fiona Maye (Emma Thompson) fällen muss. Sollen siamesischer Zwillinge gegen den Willen der Eltern getrennt werden, damit wenigstens eines der Babys überlebt? Fiona Maye ist auch abends zuhause so intensiv mit diesen ungeheuerlichen Dilemmata beschäftigt, dass sie eine andere drohende Trennung verpasst: Ihr Mann Jack (Stanley Tucci) kündigt nach jahrelanger Entfremdung wegen ihres Berufs eine baldige Affäre mit einer viel jüngeren Frau an. Auch ungeheuerlich, aber auch klasse erwachsen, noch einmal das Gespräch zu suchen, bevor die Ehe ganz zerbricht. Doch Fiona reagiert verstört und stolz, sie redet in den nächsten Tagen gar nicht mehr mit Jack, dafür aber mit dem Leukämie-Patienten 17-jährigen Adam (Fionn Whitehead) im Krankenhaus. Ein unerhörter Vorgang für die ehrenwerte Richterschaft. Ein „Seitensprung" aus der Routine mit gewaltigen Folgen.

Ein Kritiker bemerkte einst bei Mike Nichols Film „Wit" (2001), dass es ein außerordentliches Vergnügen sei, Emma Thompson („Wiedersehen in Howards End", „Sinn und Sinnlichkeit") beim Denken zuzuschauen. Genau dies findet nun der genesene Adam, der einer Religion abschwört, um zum Groupie und Stalker seiner angebeteten „Retterin" zu werden. Ein, zwei weitere ungeheuerliche Momente versetzen die eigentlich kontrollierte und reservierte Richterin Fiona Maye in einem persönlichen Konflikt, der sich mit großen Menschheitsproblemen überlagert. Ihr Urteil gegen die christlichen Wächter, die Adams Krankenbett Tag und Nacht bewachen, ist eine wunderbare Hymne für den freien Menschen. Adam solle seine Leidenschaft für Poesie und das Gitarrenspiel weiter verfolgen, anstatt für überkommenen Christen-Glauben geopfert zu werden. Den eigenen Lebenssinn wieder zu finden, ist dann doch noch schwerer für die in ihren Konventionen feststeckende Frau. Ein Gedicht von Yates hält die Verbindung zu Adam und dem Leben aufrecht.

Regisseur Richard Eyre („Tagebuch eines Skandals", „Iris") setzt mit all seiner Erfahrung und seinem Können die innere Unruhe der Figuren in äußere Bewegung um. Die Brillanz der Emma Thompson muss nicht mehr erwähnt werden. Stanley Tucci hat nach viel Action-Quatsch mal wieder eine wunderbare Rolle. Aber auch die Nebenfiguren wie Fionas dienstbarer Assistent Nigel sowie eine besonders resolute und liebevolle Krankenschwester zeugen von großer Sorgfalt beim Schreiben. Vor allem merkt man selbst beim Beschreiben des Films die Exaktheit des Schreibens von Ian McEwan („Abbitte", „Amsterdam", „Am Strand") - ein vielschichtiger Genuss!

27.8.18

Bad Spies

USA 2018 (The Spy Who Dumped Me) Regie: Susanna Fogel mit Mila Kunis, Kate McKinnon, Justin Theroux, Gillian Anderson 117 Min. FSK ab 16

Spione sind schlecht - angesehen. Danny Boyle sagt Bond Bye Bye und die Geheimdienst-Parodien laufen schon lange besser als Real-Satiren wie „Mission Impossible". Dass es auch Frauen besser können, siehe zuletzt Melissa McCarthy mit „Spy - Susan Cooper Undercover", führen diesmal die Schauspielerin Mila Kunis und die grelle Komikerin Kate McKinnon vor: Gleich zu Anfang scheppert „Wind of Change" der
Scorpions als das schlechteste Lied der Jukebox aus den Boxen. Diesmal hat sich nicht die Mauer verkrümmelt, sondern der neue Freund der neurotischen Audrey (Mila Kunis). Darauf säuft sie erstmal kräftig mit ihrer schrillen Freundin Morgan (Kate McKinnon), und dann verbrennen sie gemeinsam die Klamotten vom Ex. Der war aber gar nicht weg, sondern als internationaler Spion tagelang damit beschäftigt, zu rennen, raufen und zu schießen. Mit der Erkenntnis fallen noch ein besonders gut behangener Killer aus dem Osten sowie eine Sondereinsatz-Truppe ins Leben von Audrey und Morgen ein. Und was macht Frau in solchen Situationen? Den letzten Wunsch des sterbenden Freundes erfüllen und irgendwas Geheimdienst-Wichtiges zum Treffpunkt mit einem Unbekannten nach Wien bringen.

Klar, auch zwei beste Freundinnen müssen, gerade unfreiwillig in die Agenten-Welt gestolpert, eine Weltreise antreten: Prag, Paris, Amsterdam und Berlin. So weit, so gähn! Die rettende Variante dieser „Bad Spies" liegt im frechen Maul des „Saturday Night Live"-Stars Kate McKinnon („Ghostbusters"), die als eigentlicher „Sidekick" gestartet, bald völlig chaotisch die Hauptrolle kapert. Immer laut ins Scheinwerferlicht drängend, hängt sie bei einer verdeckten Übergabe im Variete bald vor aller Augen am Trapez. Weil frau da ja einen besseren Überblick hat! Dass bei der obligaten Verfolgungsjagd vor allem das Unvermögen von Audrey am Steuer tödlich für ihre Verfolger ist, trifft den Kern des „Bad Spies"-Klamauks auf den Kopf. Oder in. Oder mit dem Bus noch mal drüber gefahren. Der Fingerabdruck der Autoren Susanna Fogel und David Iserson zeigt sich darin, dass Audrey zum Entsperren des Handy vom toten Killer einfach dessen Daumen abschneidet und mitnimmt.

Mit Ausnahme von ein paar netten Action-Szenerien ist es die Verrücktheit der Freundinnen und ihre Freundschaft, die hier die Action-Parodie erträglich macht. Volltreffer sind Gags wie der verzweifelte Versuch der eiskalten Scharfschützin, in Prag zwei dämliche US-Amerikanerinnen zu treffen: Die Touri-Stadt besteht nur aus Pärchen dämlicher US-Amerikanerinnen! Anständig inszeniert und gespielt ist „Bad Spies" eine Kino-Empfehlung, falls man die wirklich guten Sachen schon gesehen hat.

22.8.18

Nach dem Urteil

Nach dem Urteil

Frankreich 2017 (Jusqu'à la Garde) Regie: Xavier Legrand mit Léa Drucker, Denis Ménochet, Thomas Gioria, Mathilde Auneveux 90 Min. FSK ab 16


Der Wunsch des Kindes spricht gegen den Vater. Die Aussagen von Zeugen über seine Gewalttätigkeiten und das Erscheinungsbild des Mannes ebenso. Die Frau sitzt im Familiengericht zierlich und müde daneben, er ist massig und laut. Dazu sprechen Statistik und Wahrscheinlichkeit ein deutliches Wort über die Rollenverteilung von Täter und Opfer. Nur die Richterin spricht kein deutliches Wort, sondern ein krasses Fehlurteil. Ein harter Schnitt und Antoine Besson (Denis Ménochet) steht wie ein Prolet hupend vor dem Haus von Miriam Bessons (Léa Drucker) Eltern. Ex-Frau und Kinder kauern ängstlich im Zimmer. Aber der Vater darf seinen Sohn Julien (Thomas Gioria) nun jedes zweite Wochenende sehen. Obwohl er gar kein Interesse an seinem Kind hat, er will nur sein Recht haben. Und benutzt das Kind im Streit und als Geisel.

In der Folge des krassen Fehlurteils zersetzt dieser Terror in seiner alltäglichen Form ganze Familien: Der Junge versucht die Mutter vor diesem cholerischen, gewalttätigen Machtmenschen zu schützen, den wohl selbst ein Kontaktverbot nicht aufhalten würde. So zwingt er seinen Sohn, erst die neue Handy-Nummer und dann noch die geheime Wohnung der Mutter zu verraten. Da ist es schon kaum erträglich, wie das Kind in seiner Gewalt leiden muss. Aber Regisseur und Autor Xavier Legrand steigert in seinem Debütfilm, für den er 2017 bei den Filmfestspielen von Venedig mit dem Regiepreis ausgezeichnet wurde, Leid und Spannung weiter. Dabei verbreitet die Angst ein gewalttätiges Monster nicht wie aus dem Kino, sondern wie in der richtigen Welt. Eine menschliche Zeitbombe, die selbst heulend und im Selbstmitleid badend, sich immer noch ohne jegliches Mitgefühl, nimmt was er will. Konsequent bekommt dieser Unmensch, der selbst von seinen eigenen Eltern rausgeschmissen wird, auch kein Verständnis vom Film.

„Nach dem Urteil" ist gnadenlos in der Entwicklung und vor allem in seinen harten Schnitten. Ein Thriller, der leider furchtbar real und alltäglich ist, aber auch deshalb so wirkungsvoll.

BlacKkKlansman

USA 2018 Regie: Spike Lee mit John David Washington, Adam Driver, Topher Grace 134 Min.

Dass ein Afro-Amerikaner sich in den Siebzigern beim Ku-Klux-Klan anmeldet, dabei die lokalen rechten Hohlköpfe reinlegt und sogar den obersten Führer der Rassisten übertölpelt, das ist so unwahrscheinlich wie ein Moslem bei der AfD. Und beides ist tatsächlich passiert. Bei den deutschen Faschisten im Rahmen der ihrer anhaltenden Selbst-Demontage. In den USA in den Siebzigern in einer erst aberwitzigen, dann spannenden und schließlich bis ins Mark erschütternden Geschichte um Rassenhass, die Spike Lee („Do the right thing") in einem der wichtigsten Filme unserer Zeit erzählt.

In den frühen 1970er-Jahren tritt der junge Polizist Ron Stallworth (John David Washington, der Sohn von Denzel) als erster Afroamerikaner einen Posten als Kriminalbeamter im Colorado Springs Police Department an. John landet zuerst bei den Akten im Archiv, wo einige weiße Kollegen ihm gegenüber schwarze Verdächtige „Affen" nennen. Doch der entschlossene Cop verlangt mit großem Selbstvertrauen, zum Geheimdienst versetzt zu werden. Wo er erst seine Brüder und Schwestern der Widerstands-Organisation Black Panther belauschen soll, dann aber gleich den Ku-Klux-Klan infiltrieren will. Tatsächlich kann er am Telefon die lokalen Deppen mit dem spitzen Hüten von seinem flammenden Hass gegenüber Schwarzen, Juden und Kommunisten überzeugen. Die Vorgesetzten und Kollegen arbeiten nach ersten Zweifeln („du kannst Ghetto und Weiß sprechen?") mit, der jüdische Flip Zimmerman (Adam Driver) übernimmt die Rolle Johns in den persönlichen Begegnungen mit der geheimen Rassisten-Organisation. Ist John nun ein angepasster Polizist? Verrät er die eigenen Leute des Black Panther? Diese Fragen muss der mutige Polizist auch der Studenten-Führerin dieser Gruppierung beantworten, in die er sich verliebt hat.

Das Großartige an „BlacKkKlansman" ist erst einmal Lees Ästhetik: Es ist ein Genuss, so schöne Schwarze beim Feiern, beim Kämpfen, beim Flirten zu sehen. Dann der Humor, der nicht zu kurz kommt, bei dieser oft spannenden Detective-Geschichte. Johns Kollegen lachen sich kaputt, wenn er den Klanführer David Duke (Topher Grace) am Telefon verarscht und viele wollen eigentlich schwarz sein. Bei der Aufnahme in den Klan klingt es fast wie bei Monty Python: „Kuten und Kappen kosten extra".

Diesen recht guten, klugen Film krönt ein unfassbar tief erschütterndes Finale, in dem Harry Belafonte eine furchtbare Lynch-Geschichte parallel zur beklemmend lächerlichen Klan-Einweihung Johns erzählt. Dabei rechnet Regisseur Spike Lee parallel auch mit der weißen Filmgeschichte ab, nachdem er vorher schon reichlich Blaxploitation-Zitate einstreute: D.W. Griffiths Klassiker „The Birth of a Nation" aus dem Jahr 1915 wird als fruchtbare Wiedergeburt des Klans entlarvt. Lees geniales Stück Film, sein stärkstes und wütendstes seit langem, folgt der Spur dieses institutionalisierten Hasses weiter bis zum rechten Mord an einer Demonstrantin vor einem Jahr in Charlottesville. Und bis ins Weiße Haus, wo Trump nicht als erster US-Präsident von rassistischen Einflüsterern kontrolliert wird. In dieser sagenhaften und schwer erträglichen Montage sitzt jedes Bild, jeder Ton, jeder Schnitt. Schlag auf Schlag in die Magengrube des Gerechtigkeitsgefühls. Bis zu den kämpferischen Wortspielen („Rest in Power") und Symbolen einer umgekehrten US-Flagge, die in die beiden konfrontierenden Farben Schwarz und Weiß ausfärbt.

Schon mehr Fanal als Menetekel ist „BlacKkKlansman" ein Aufschrei gegen Rassenhass und Unterdrückung. Ein Aufschrei, der in Deutschland besonders heftig ankommt, weil die Parallelen zum NSU und den zumindest passiv unterstützenden Staats-Strukturen erschreckend sind.

21.8.18

Gundermann

BRD 2018 Regie: Andreas Dresen mit Alexander Scheer, Anna Unterberger, Axel Prahl 127 Min. FSK ab 0

Richtige Legende wurde der ostdeutsche Liedermacher Gerhard „Gundi" Gundermann, der „Singende Baggerfahrer" nie. Der Westkarriere nach dem Mauerfall kam er - trotz Auftritt im Vorprogramm von Bob Dylan und Joan Baez - selbst in die Quere. Mit dem Geständnis seiner Stasi-Mitarbeit. Am Anfang schrieb er mit Tamara Danz mehrere Lieder für Silly. Er war eifriger Anhänger des Sozialismus und flog doch aus Offiziersschule und Partei. Gundermann starb 1998, mit gerade einmal 43 Jahren. Regisseur und Ko-Autor Dresen („Halt auf freier Strecke", „Wolke 9", „Sommer vorm Balkon") zeigt ihn in seinem berührend vorsichtigen Film als die bodenständige und zerrissene Figur.

Es sind einfache, fast naive Lieder. Es ist eine alles andere als schillernde Figur, dieser Liedermacher und Baggerfahrer im Hauptberuf. Gerhard Gundermann (Alexander Scheer) singt und begeistert Menschen. Er singt nach der Arbeit und bevor er zu seiner Frau Conny (Anna Unterberger) und der gemeinsamen kleinen Tochter nach Hause fährt. Früher sang er auch nach der Arbeit im Braukohle-Tagebau. Da war Conny noch in seiner Band und mit einem anderen zusammen. Der auch in seiner Band war. Das früher war die DDR und Gundermann hat jetzt eine andere Brille und ein anderes Auto, aber er ist vor allem Gundermann.

Dresen beginnt „Gundermann" 1992 direkt mit einem Lied in die Kamera, das dem Wessi neu ist, aber trotz Abstand von mehr als Jahrzehnten begeistern kann. Dann gesteht Gundermann in der zweiten Szene seine Stasi-Tätigkeit als MS Grigori einem ehemaligen Freund, den er auch verraten hat. Er windet sich in seiner typisch fahrigen Art vor einer Entschuldigung. Um direkt darauf einen verletzten Igel von der Straße zu retten und zuhause zu pflegen. Diese Zerrissenheit der Figur ist prägend für Gundermann und „Gundermann". Da lebt ein Mensch - und kann spürbar nicht anders, der dem Minister beim TV-Termin in der Baggergrube seine Meinung geigt und dem feigen Parteisekretär einen Kinnhaken gibt. Der seinen harten Job als Baggerfahrer nicht aufgeben will, weil er nicht von der Musik abhängig sein will, und der gleichzeitig die Freundin seines Bandmitglieds heftig anbaggert. Während „Gundi" widerstrebend mitmacht, die „Heimat zu verheizen" bastelt er zuhause eine Dusche mit Sonnenenergie.

Die Hauptrolle spielt mit verblüffend ähnlicher Mimik und kleinen Ticks Alexander Scheer, der alle Lieder im Film mit der Band von Gisbert zu Knyphausen selbst eingesungen hat. Und auch sie wachsen einen im Verlauf des Films ans Herz. „Gundermann" ist mit schön vielen Liedern fast ein Musikfilm. Wobei die musikalischen Intermezzi selbstverständlich sehr gewählt gesetzt sind. Wie auch der rasche Wechsel zwischen dem Leben in Hoyerswerda während der 70er- und der 90er-Jahre bewusst irritieren könnte, weil Fleischerhemd und Hosenträger ebenso wie das Wesen Gundis gleichgeblieben sind.

Auch Originalaufnahmen zeigen Gundermanns Charakter schnell: Das rutscht er für die Kamera lässig das Geländer vom Bagger runter, um sich dann unten im Schlamm geradeso auf den Beinen halten zu können. Im Film „stolpert" er mit kleinem Klapprad wie ein großer Junge seinem Schwarm Conny hinterher. Eine Figur, wie für Andreas Dresen gemacht, denkt man. Und unterschätzt dann auch gleich die Filmkunst des Regisseurs, der das Drehbuch zusammen mit Laila Stieler schrieb. Die Melancholie der Bagger-Kabine vor verödeten Braunkohle-Brachen, die Gundermann angeblich zur Inspiration brauchte, bringt fast grandiose Bilder hervor. Aber die wären hier nicht angebracht. Ebenso wenig ein großer konstruierter Konflikt, was bei einer nicht konfliktscheuen Figur nicht einfach ist.

Wie in seinen herausragenden anderen Filmen, der Krankengeschichte „Halt auf freier Strecke", der Senioren-Liebe „Wolke 9" oder der Sommer-Liebe in „Sommer vorm Balkon" erzählt Dresen vom alltäglichen Leben mit einem Ernst und gleichzeitiger Leichtigkeit, die das übliche Überdramatisieren von „Bigger than life" ganz schön blass aussehen lassen.

Mit dabei sind wieder die bekannten Gesichter von Dresen, Axel Prahl als Stasi-Werber, Milan Peschel als verratener Verräter und Kollege Volker. Anna Unterberger spielt ganz wunderbar Gundis große Liebe Conny. Aber vor allem vollendet Alexander Scheer das Kunststück Dresens, die schwierige Figur Gundermann sympathisch zu machen.

Action Point

USA 2018 Regie: Tim Kirkby mit Johnny Knoxville, Susan Yeagley 85 Min. FSK ab 12

Johnny Knoxville wird alt und erzählt, wie er früher Spaß gehabt hat. Klar, kennen wir Knoxville und seine Art von Spaß aus der TV-Serie „Jackass" und einigen Kino-Auswertungen: Peinliche bis blutige Blödeleien großer Jungs. Konnte man mögen, wenn man sich auch gerne diese Clips schmerzlicher Peinlichkeiten im Internet ansieht. Knoxville mag das immer noch und wie er es als Figur D.C. seiner Enkelin erzählt, wird es richtig sympathisch. Es ist die Geschichte einer anderen Kindheit, in der ein Abenteuer-Spielplatz noch gefährlich sein konnte. Knoxville leitet als dauer-alkoholisierter, liebenswerter Chaot D.C. den Vergnügungspark Action Point mit haufenweise baufälligen und auf keinen Fall sicheren Rutschen, Sprungschanzen und Loopings. Sein Team besteht aus sympathsichen Idioten, die sich im Minutentakt selbst und gegenseitig verletzen. Das Publikum macht mit und zahlt dafür. Dass ein spießiger Konkurrent und die Bank Probleme machen, dass die pubertierende Tochter in den Ferien vorbeikommt, sind anständig erzählte Randerscheinungen der wichtigsten Entwicklung: Als die Zuschauer ausbleiben, streut man Koks in die Zuckerwatte, dann entfernt man alle Bremsen und Sicherheitsstopps. Und Knoxville testet die nun richtig gefährlichen Spielgeräte selbstverständlich selbst aus. Das befreit einem vom Vorwurf der Schadenfreude, das ist fast schon eine eigene Kunstform der anhaltenden körperlichen Selbstdemontage, vor der Tom Cruise verblassen muss.

Crazy Rich Asians

USA 2018 (Crazy Rich Asians) Regie: Jon M. Chu mit Constance Wu, Henry Golding, Michelle Yeoh 121 Min. FSK ab 6

Armes, aber fleißiges Aschenputtel verliebt sich in Prinz, bekommt Ärger mit der bösen Schwiegermutter und es gibt ein Happy End. Klingt sehr bekannt, ist seit Jahrzehnten in Hollywood beliebt und entwickelt sich gerade sogar zum künstlichen Hype - weil alle Beteiligten asiatisch sind. „Crazy Rich" (Asians) ist eine peinlich banale Soap mit haufenweise jungen, schönen, strahlenden und erfolgreichen Menschen, Verzeihung: Asiaten.

Die New Yorker Professorin asiatischer Abstammung Rachel Chu (Constance Wu) wird von ihrem Freund Nick Young (Henry Golding) zur Hochzeit seines besten Kumpels nach Singapur eingeladen. Das mitgebrachte Essen braucht sie allerdings in der First Class nicht - langsam versteht Rachel, dass Nick nicht nur reich, sondern extrem reich ist. Nachdem der Film Singapur und den Reichtum stundenlang vorexerziert, kommt die fiese Ablehnung von Nicks Mutter (Michelle Yeoh).

Die hemmungslos überzogene Inszenierung kann nicht über den sehr konventionellen Verlauf hinweg täuschen. Im schlechten Prinzessin-Märchen muss auch die hochintelligente Professorin wie in der dämlichsten TV-Show modisch aufgepäppelt werden. Die Drehbuch-Ideen sind so abgestanden wie die Terrakotta-Armee und trotzdem ist in all der Zeit niemandem aufgefallen, dass sie hohl sind. Vor allem eine Junggesellen-Party verläuft infantil wie ein Highschool-Film, bei dem alle Beteiligten beim Lotto gewonnen haben und mit den Möglichkeiten nichts anzufangen wissen. Ein Märchen mit lauter künstlichen und wenig sympathischen Figuren.

Trotzdem verbreitet die Werbeabteilung von Warner Bekenntnisse unglaublich berührter Asia-Amerikaner, die sich endlich respektabel dargestellt fühlen. Auch als Angehöriger der Minderheit linkshändiger polnisch-niederländischer Germanen möchte ich nun einen Hollywood-Film haben. Es sollte allerdings wenigstens ein halbwegs anständiger sein.

15.8.18

Don't worry, weglaufen geht nicht

USA 2018 (Don't worry, he won't get far on foot) Regie: Gus Van Sant mit Joaquin Phoenix, Jonah Hill, Rooney Mara, Jack Black 115 Min.

Der US-Cartoonist John Callahan (1951-2010) provozierte mit seinen knappen Skizzen für diverse Zeitungen seit 1983 Mehr- und Minderheiten zu wütendem Protest oder heller Begeisterung. Basierend auf dem eigenen Buch von John Callahan verfilmte Gus Van Sant („Drugstore Cowboy", „My Own Private Idaho", „Elephant") das Leben dieses Alkoholikers und Querschnittgelähmten. Der nach einer selbstironischen Karikatur von Callahan benannte Film „Don't worry, weglaufen geht nicht" ist quasi das Lebensbekenntnis eines Alkoholikers, kunst- und reizvoll fließend in mehrere Zeitebenen montiert. Beginnend mit dem Tag, an dem sich John Callahan wieder im Dauerrausch auf dem Weg von einer Party zur nächsten von seinem Saufkumpel Dexter (Jack Black) gegen einen Laternenpfahl fahren ließ. Dabei ist der nun gelähmte kein geduldiger Mensch, der sein Schicksal annimmt. Vor allem keine sympathische Figur. So ist der Weg grimmig, bis sich John im Rollstuhl die Stufen zu den Anonymen Alkoholikern hochtragen lässt.

Die Film-Biografie „Don't worry, weglaufen geht nicht" folgt eher trocken den zwölf Schritten eines Alkoholikers. Dabei ist wenig von Gus Van Sant als dem einstigen Star des Independent-Kinos zu sehen, höchstens ein paar stilistische Spielereien. Auch der wilde Jazz von Danny Elfman auf der Tonspur beruhigt sich mit dem Leben von John Callahan. Joaquin Phoenix geht ganz in dieser Person auf, um ihn herum sitzt bei den AA-Treffen eine illustre Gruppe komischer Gestalten mit Udo Kier und Kim Gordon (Sonic Youth). „Schillernd" tritt aber nur eine Nebenfigur hervor, der schwule und egozentrische AA-Guru Donny (Jonah Hill). Zeitweise wünscht man sich den interessanteren Film mit ihm als Hauptfigur herbei. John Callahan starb im Juli 2010 im Alter von 59 Jahren an den Folgeschäden einer Operation. Seine in den Film eingestreuten Zeichnungen machen Spaß und Lust auf mehr. Auch weil in den 80er- und 90er-Jahren ohne die Diktatur von Political Correctness und die Empfindlichkeit jedweder „Beleidigten" noch viel mehr sagbar war. Was vorerst auch für die Filmographie von Gus van Sant gilt, die im Laufe der Jahrzehnte nicht aufregender wird.

Das Geheimnis von Neapel

Italien 2018 (Napoli Velata) Regie: Ferzan Ozpetek mit Giovanna Mezzogiorno, Alessandro Borghi 113 Min. FSK ab 12

Die Filme des türkisch-italienischen Regisseurs Ferzan Ozpetek („Männer al dente", „Das Fenster gegenüber", „Hamam – das türkische Bad") sind immer auch sinnliches und erotisches Kino. So passt es, dass sich die Pathologin Adriana (Giovanna Mezzogiorno) direkt von dem jüngeren, gutaussehenden Andrea (Alessandro Borghi) verführen lässt. Dass der bald grausam zugerichtet auf ihrem Seziertisch landet, eröffnet einen Psychothriller inmitten beziehungsreicher Freundes- und Familienkreise. Und mitten drin in einer Stadt prall voll schillernden Lebens und mythischer Geheimnisse. Adriana selbst sieht bald einen Mann, der sich als Andreas Zwillingsbruder herausstellt und formt sich in einem umgekehrten „Vertigo" den verlorenen Liebhaber neu.

Ferzan Ozpetek taucht gerne tief in die Psychologie seiner Figuren ein, schaut dabei in dunkle Ecken. Das geschieht mit einer sehr ästhetischen Inszenierung. Aber manchmal nimmt er bei der Entwicklung von Figuren und Geschichte aber auch etwas holperige Abkürzungen. Hier im bunten und kulturelles Leben der besonderen Stadt Neapel, wo Aberglaube und eine Wahrsagerin, der Antiken-Handel, die schwule Szene und die Polizei-Arbeit ineinander greifen, fällt das nicht so sehr auf. Zu reizvoll sind all diese Figuren und Schauplätze. Und auch die starke Hauptdarstellerin Giovanna Mezzogiorno („Vincere", „Die Liebe in Zeiten der Cholera") hält die Melange aus Leidenschaft, Verbrechen und Mysterium zusammen.

Christopher Robin

USA 2018 Regie: Marc Forster mit Ewan McGregor, Hayley Atwell, Bronte Carmichael 104 Min. FSK ab 0

Zwei Filme um Christopher Robin, den Jungen aus A.A. Milnes „Pu der Bär", kurz hintereinander im Kino: Was für die Produzenten eine Katastrophe sein muss, erweitert für Lesern und Cineasten die Welt der beliebten Kinderbücher. Nachdem in „Goodbye Christopher Robin" die eher dunkle Familien-Geschichte um die Entstehung von Pu erzählt wurde, führt „Christopher Robin" die rührende Innen-Welt eines kleinen Jungen ins erwachsene Leben.

Es beginnt mit einem traurigen Abschied im Hundert-Morgen-Wald: Pu, Ferkel, der Esel I-Aah und Tigger haben Christopher Robin einen letzten Kaffee-Tisch bereitet, weil der ins Internat muss. Draußen rast die Welt mit militärisch harter Schule, einem großen Krieg und dann dem Kampf in der Arbeitswelt. So hat Christopher Robin nicht nur die Freunde der Kindheit vergessen, er liest der eigenen Tochter nicht mal richtige Kindergeschichten am Bett vor. Denn der Junior-Chef der Londoner Koffer-Fabrik will unbedingt Leute entlassen, wenn Robin übers Wochenende nicht mit einer rettenden Idee kommt.

Als plötzlich Pu, der Bär, neben Christopher Robin sitzt, kommt alles anders als geplant. Nachdem er schon seine Familie abgeschoben hat, will der gestresste Christopher Robin auch Pu möglichst schnell wieder in den Wald transportieren. Wobei sich der - sehr schön animierte - Stoffbär störrisch wie ein kleines Kind verhält - selbstverständlich mit den spezifischen Eigenschaften und dem dauernden Hunger von Pu. Das ist bärig komisch und mit den einfachen Kommentaren dieses Bären von geringem Verstand auch anrührend.

Auch dieser Kinder- und Erwachsenen-Film von Disney und Marc Forster (nach seinem Porträt des „Peter Pan"-Autoren J.M. Barrie, „Wenn Träume fliegen lernen") ist eine Konstruktion von geringem Verstand aber mit viel Herz. Es ist vorhersehbar, dass Christopher und Pu einen verödeten Hundert-Morgen-Wald vorfinden, ganz wie das sterbenden Fantasia in Michael Endes „Die unendliche Geschichte". Und erst als der verlorene Junge wieder beginnt zu spielen, erkennen ihn seine alten Spielfiguren.

Ewan McGregor gibt dabei nie wirklich der typischen, trocken-steifen Engländer. Doch den Familienvater, der sich selbst verloren hat, und das traurige große Kind, das bekommt er bestens hin. Konkurrieren muss er dabei mit bekannten Literatur- und Kino-Stars wie den depressiven Esel, das ängstliche Schweinchen und den übermütigen Tigger. Die bekannten Figuren wurden wunderbar als Stofftiere animiert und in den Realfilm integriert.

So erspart einem Pu viel esoterische Selbstfindungs-Literatur: Mit dem einfachen Satz, dass „Heute mein neuer Lieblingstag" ist, werden mehrere Bände ums bessere Leben im „Now" (Jetzt) zusammengefasst. Auch dass aus dem Nichtstun sehr wohl etwas Gutes entstehen kann, darf man in Zeiten von G8 und Selbstoptimierung Groß und Klein gerne öfters sagen. Dazu gibt es sogar etwas sozialistische Wirtschaftstheorie, denn nach einem turbulenten Abenteuer ist die Lösung zur Rettung der Arbeitsplätze verblüffend: Wenn die Arbeiter mehr Freizeit und Urlaub bekommen, werden sie viele Koffer kaufen, um die Ferien zu fahren. Wohlstand für alle! Und noch ein Bändchen „Pu, der Bär" dazu.

13.8.18

Locarno 2018 Preise

Locarno. Mit gleich einer ganzen Reihe unerwarteter Preisträger ging am Samstag das 71. Locarno Festival zu Ende. Die Jury unter Vorsitz des chinesischen Regisseurs Jia Zhang-ke verlieh den Goldenen Leopard an „A Land Imagined" von Regisseur Yeo Siew Hua aus Singapur. Der Siegerfilm ist ein verträumter Sozial-Krimi um verschwundene Arbeiter in einem Land, dass seinen florierende Wirtschaft auf dem Rücken ausgebeuteter Arbeits-Immigranten aufbaut. Der chinesische Bauarbeiter Wang verschwindet nach einem Arbeitsunfall. Und obwohl „es niemand interessiert, ob die Arbeiter leben oder nicht" soll ihn Polizeiermittler Lok finden. Sicher in einer hypnotischen Neowelt inszeniert, überzeugen vor allem Story und die Lebensumstände der Figuren, reizvoll montiert als umkehrbarer Traum im Traum vom schlaflosen Kommissar und seinem Vermissten Wang.

Der Leopard für den besten Darsteller ging an KI Joobong, der im südkoreanischen „Gangbyun Hotel" lakonisch und ironisch einen alten Dichter spielt, der noch einmal seine beiden Söhne trifft. Andra Guți erhielt den Darstellerinnen-Preis für die Rolle einer aufmüpfigen Teenagerin im rumänischen Film „Alice T.". Spike Lees eindringliche Rassismus-Anklage „Blackkklansman" wurde am Jahrestag der Unruhen von Charlottesville wie erwartet mit dem Publikumspreis der Piazza Grande ausgezeichnet.

Die enttäuschenden Starter deutscher Regisseure und Regisseurinnen blieben ohne Preise. Nur der Debütfilm von Eva Trobisch, „Alles ist gut", erhielt den Nachwuchspreis der Sektion „Cineasti del presente" („Filmemacher der Gegenwart"). Das Drama zeigtm wie ein junge Frau damit umgeht, dass der Schwager ihres neuen Chefs sie vergewaltigt hat. Der umstrittene deutsche Wettbewerbsbeitrag „Wintermärchen" von Jan Bonny ging leer aus.

Locarno 2018 Abschluss / "Wintermärchen"

„Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe" - die treffende Zeile des Ärzte-Songs „Schrei nach Liebe" verfilmt mit viel sexueller Verklemmung sowie unglücklichen und dummen Menschen, die Ausländer ermorden. Das ist über zwei Stunden lang „Wintermärchen" von Jan Bonny und der Tiefpunkt im schlanken Wettbewerb des 71. Locarno Festivals (1.-11.8.), bei dem heute Abend die Preise vergeben werden.

Nachdem es mit dem Emotions-Potpourri „Was uns nicht umbringt" aus Deutschland auf der Piazza nicht geklappt hat, schaute man auf Terror aus der Heimat und von der Kölner Produktionsfirma „Heimatfilm": „Wintermärchen" von Jan Bonny feierte gestern seine Weltpremiere in Anwesenheit von Regisseur Jan Bonny und Produzentin Bettina Brokemper. Erzählt wird die Geschichte von Becky, Tommi und Maik, einer dreiköpfigen rechten Terrorzelle, die im Untergrund lebt und mordet. Wenn man rechtsradikale Morde von NSU und Co allerdings damit erklären will, dass Tommi Erektionsprobleme hat, von der hysterisch kreisenden oder depressiven Becky dauernd runtergemacht wird und Maik es beiden richtig besorgt, braucht man keine bessere Bildung und nachher keine Gerichte mehr. Die Wiedereinführung der Freien Liebe reicht! Wie unendlich naiv und unverschämt Jan Bonny argumentiert, ist eine Qual für den Verstand. Schmutzige Bilder und daueraufgeregtes Spiel tun zusätzlich weh.

Damit hätte der Wettbewerb, in dem keiner der fünfzehn Film übergreifend begeistern konnte oder große Chancen auf Kinoauswertung hat, wenigstens noch einen Skandal-Film vorzuweisen. Die Entscheidung um den Goldenen Leoparden bleibt spannend. Der gerafften Konkurrenz stand wie immer ein Wasserkopf an Ehrungen entgegen, bei denen man sich meist Sorgen um die Ausgezeichneten macht. „Ist es schon so weit? Ist die Karriere echt vorbei?" Siehe Meg Ryan, die einen Ehrenleopard erhielt. Keine Sorgen hat man um den ebenfall ausgezeichneten Franzosen Bruno Dumont, der neben seinem älteren Hardrock-Musical „Jeanette" über die Kindheit von Jean d'Arc auch die neuen Folgen seiner Miniserie "Kindkind" (im September auf Arte) präsentierte.

Einen weiteren Briefbeschwerer in Leoparden-Form erhielt Ethan Hawke, der mit seiner Regiearbeit „Blaze" die dramatische Story des Countrymusikers Blaze Foley nachzeichnet. „Blaze" ist eine weitere tragische und interessant inszenierte Musikergeschichte. Nach der Weltpremiere im Januar wurde der Film bisher nur in die USA verkauft.

Dass Festivals im Winter doch eigentlich angenehmer seien, war angesichts der Hitze ein Neuzugang im Katalog der Luxusklagen. Wenn selbst der Lago Maggiore keine Abkühlung mehr bietet, konnte man es nur in klimatisierten Kinos und Kaufhäusern aushalten. So zahlten sich 2018 die renovierten und neuen Kinos des kleinen Provinznestes aus, das für ein paar Tage im August kulturell international belebt wird. Eine komplette Abdeckung der Piazza Grande im Stile von Wimbledon bleibt wohl Utopie. Es unwetterte ein paar mal ins abendliche Open Air-Wohnzimmer des Festivals, aber auch das gehört zu Locarno. Wie die Galas für die Ehrengäste und Filialleiter der Schweizer Sponsoren, wie die vielen jungen Menschen, die zehn Tage lang Film feiern und leben. So kann Festivalleiter Carlo Chatrian problemlos wechseln nach Berlin, wo der Rote Teppich nicht ganz so quer liegt und es mit den noch aktuellen Stars besser klappen wird. Vermissen müssen wir dann hoffentlich nicht seine blumig begeisterten Texte in der Festivalzeitung, wo er den 18-stündigen Marathon „La Flor" ankündigt als Film, „der keine Geschichte erzählt, sondern eine Vielzahl von Universen kondensiert". Auch ein schönes Bild für ein lebendiges Festival.

The Equalizer 2

USA 2018 Regie: Antoine Fuqua mit Denzel Washington, Pedro Pascal, Bill Pullman, Melissa Leo 121 Min. FSK ab 16

Regisseur Antoine Fuqua („Die glorreichen Sieben") und Denzel Washington („Flight") verbindet seit dem harten Cop-Thriller „Training Day" eine enge Zusammenarbeit, die beide mit besonderen Leistungen quittieren: Mit „The Equalizer" entwickelten sie die Figur des ehemaligen CIA-Agenten Robert McCall, der beim üblichen Kampf um Gerechtigkeit eine Menge Persönlichkeit zeigen durfte.

Auch im zweiten Spielfilm kümmert sich Robert McCall um schutzlose Frauen und Kinder, in diesem Fall um ein ziemlich gegenwärtiges Verbrechen: Ein Vater hat seine Tochter der erziehungsberechtigten Mutter geraubt und in die Türkei entführt. Der ist in einem knallharten Fuqua-Film selbstverständlich nicht der gewöhnliche frustrierte Ex-Mann, sondern ein Gangster mit schlagkräftiger Leibgarde. Und ebenso selbstverständlich wie überlegen räumt McCall (Denzel Washington) die Breitschultrigen brutal aus dem Weg. Um dem Kindesentführer danach lässig irgendeine esoterische Lebensweisheit aus seinem reichen Bücherschatz vorzusetzen. Die vorwiegend männliche Begeisterung für diese Figur konzentriert sich dabei auf die Überlegenheit, mit der McCall die Action-Sequenzen sekundengenau voraussieht - und dazu vorher immer selbstsicher die Stoppuhr startet.

Nun könnte Denzel Washington einem jeden Mist verkaufen, deshalb beeindruckt vor allem die Tiefe und Würde, die er der Figur McCall gibt. Die starke Persönlichkeit, die nach dem Tod seiner Frau nur noch Ruhe will und als Taxifahrer nur das Leben anderer miterlebt, könnte auch einen Film ohne Action tragen. In Abwandlung der TV-Serie, auf die „Equalizer" basiert, erledigt Richter und Henker McCall aber wieder mehrere Aufträge als edle und anonyme Ich-AG zum Wohle der Menschheit: Für einen Juden aus dem Altersheim lässt er nach Raubkunst suchen. Seiner bevorzugten Buchhändlerin holt er das Kind aus dem Orient-Express zurück. Und er rächt - dass ist die Hauptgeschichte - den Mord an seiner ehemaligen Kollegin und späteren Vertrauten beim CIA. Die Gründe für dieses Verbrechen sind reizvoll verschachtelt, der Equalizer darf in Brüssel etwas Sherlock spielen.

Wobei das wiederum Routine ist, die Regisseur Antoine Fuqua mal zurückhaltend und weniger knallig inszeniert. Wie McCall in seinem neuen Privat-Leben als Uber-Fahrer und in seiner Sozialsiedlung vor allem einen jungen schwarzen Kunststudenten unter seine Fittiche nimmt, ist ein starkes Stück Schauspiel-Film. Das trotz des dauernd drohenden Donners als Hinweis auf das stürmische Finale ernst zu nehmen ist in den vielen Details sozialer Fragestellungen: Alle beschweren sich, aber keiner tut was in der Sozialsiedlung. Der Kunststudent macht als kleiner Dealer lieber „schnelles Geld", anstatt zum Unterricht zu gehen. McCall ködert ihn einerseits mit kleinen Arbeitsbeschaffungs-Maßnahmen und bringt ihn zum Lesen. Andererseits kann der stille Killer den bedrohten Nachbarn auch folgenlos aus den Fängen der schwer bewaffneten lokalen Drogenbosse befreien. Wie so oft bei Fuqua trifft ein gutes Gespür für soziale Lagen auf eher rumplige Lösungen.

Der langsame und effektive Aufbau von Spannung lässt spüren, wie Washingtons einsamer Rächer mit der Leere in seinem Herzen hadert. Er kommt aber erst durch ein brutales Action-Finale an den Ort seiner Trauer und dort zur Ruhe. Mitten im Gewitter ist er selbst wieder der tödliche „Hurricane". Dabei ist die brutale Gewalt - wieder typisch Fuqua - schwer erträglich. Schade, denn Szenen, in denen etwa der stille Taxi-Driver mit dem Auto als Waffe den mörderischen Passagier im Fond entwaffnet, sind auch ohne explizite Gewaltdarstellung sehr packend und gekonnt inszeniert.

7.8.18

Deine Juliet

USA, Großbritannien 2018 (The Guernsey Literary and Potato Peel Pie Society) Regie: Mike Newell mit Lily James, Michiel Huisman, Matthew Goode 124 Min. FSK ab 6

Was ist es doch für ein schönes und seltsames Verhältnis, das Kino und Literatur seit über einem Jahrhundert pflegen: Erst musste sich das neue, schmuddelige Medium gegenüber der Hochkultur verteidigen. Und nutzte schon ganz früh Literaturverfilmungen dazu. Nun propagiert der Film immer noch gerne das Lesen und kann es doch eigentlich nicht wirklich ernst damit meinen. Wer lieber liest, kauft nicht genügend Kinokarten. Doch allein in diesem Kinosommer eröffnete „Der Buchladen der Florence Green", werden Diane Keaton, Jane Fonda und Candice Bergen ihren „Book Club" beleben und bei „Dein Juliet" geht eine junge Autorin auf spezielle Leserreise zur Kanalinsel Guernsey. Ein netter Ausflug in eine schönere Vergangenheit, für den man mal ein Buch liegen lassen kann.

Die junge Schriftstellerin Juliet Ashton (Lily James) findet im London des ersten Wiederaufbaus nach dem 2. Weltkrieg kein Zuhause. Leisten könnte sie es sich nach dem letzten Erfolg, doch begleitet und geführt von ihrem Verleger und Beschützer quälen sie selbst bei besten Aussichten noch Kriegserinnerungen an die zerbombte Stadt. Da erhält sie einen Brief vom literaturbegeisterten Farmer Dawsey Adams (Michiel Huisman). Der lebt abgelegen auf der Kanalinsel Guernsey und sucht nach einem besonderen Buch. Juliet hilft gerne und sehr angetan von Dawseys Brief. Der erzählt, wie einige Bewohner von Guernsey eher aus Verlegenheit einer deutschen Kontrolle nach der Sperrstunde den Literaturverein „The Guernsey Literary and Potato Peel Pie Society" (so der Originaltitel des Films) gründeten. In den harten Zeiten brutaler deutscher Besatzung gab es für den Kuchen halt nur Kartoffeln und Kartoffel-Schalen. Juliet beschließt spontan, nach Guernsey zu reisen und über den Buch-Club zu schreiben. Kurz vor dem Abflug besiegelt ihr Freund Mark (Glen Powell) ihre Verlobung mit einem teuren Ring. Doch schon die erste Begegnung mit Insulaner Dawsey verspricht einen anderen Verlauf.

Wie Juliet dem Reiz der Insel und seiner Menschen verfällt, basiert auf dem in Deutschland gleichnamig veröffentlichten Bestseller von Mary Ann Shaffer und ihrer Nichte Annie Barrows, welche den Roman vollendete. Hauptdarstellerin Lily James („Cinderella", „Downton Abbey") setzt ihren bekannten Charme gekonnt ein, doch zum Glück ist „The Guernsey Literary and Potato Peel Pie Society" mehr als ein Liebesgeschichtchen und auch mehr als eine Huldigung der Freuden des (gemeinsamen) Lesens. Die Dorfgemeinschaft kümmert sich liebvoll um das Kind einer verschwundenen Elisabeth und eines deutschen Soldaten. Es dauert eine Weile, bis Juliet den Einwohnern die Hintergründe dieser Geschichte aus der Nase ziehen kann. Dass die Autorin einen Zeitungsartikel über den Lesezirkel schreiben wollte, ist dabei gar nicht hilfreich. Die Welt im Nachkriegs-Guernsey ist altmodisch schön geschildert. Menschen sind meist zurückhaltend mit ihrem Privatleben und in der Brief-Konversation. Erst als Juliet mit der rothaarigen Außenseiterin viel Selbstgebrautes trinkt, kommt Bewegung in die alte Geschichte.

Altmeister und Routinier Mike Newell, der durch „Vier Hochzeiten und ein Todesfall", „Harry Potter und der Feuerkelch", „Große Erwartungen" viel Ruhm ergatterte, hält die Romantik lange Zeit britisch reserviert zurück. Erst muss das junge Küken Juliet ihren Platz auf der Welt finden. Sich emanzipieren, wäre ein zu großer Begriff für diese recht kampflose Selbstfindung. Das i-Tüpfelchen an großer Liebe kann sich dann allerdings auch sehen und mitfühlen lassen.

6.8.18

Gans im Glück

China, USA 2018 (Duck Duck Goose) Regie: Christopher Jenkins 82 Min. FSK ab 0

Gänserich Peng ist Schwiegersohn vom militärisch strengen Boss und der junge Rebell, der statt in V-Formation auch mal ein W oder ein # fliegen will. Der humorlose Einzelgänger und Narziss wird im Verlauf der Handlung zur Mama von zwei Enten-Waisen. Denn er verpasst nicht nur den Abflug seines Schwarms, er muss sogar wegen eines gebrochenen Flügels hinterher watscheln. So wandert er in Richtung Süden und nimmt zur Sicherheit zwei beiden Kücken als Lockvögeln mit. Denn eine schizophrene und psychotische Katze mit rotem Auge ist schon auf seinen Spuren.

Die Lektionen in Verantwortung und Gemeinschaftssinn sind zwar vorhersehbar, aber in den bekannten Weg solcher Geschichten wurden ein paar nette Wendungen eingebaut. Beim Stopp am Chinarestaurant gibt es kurz mal einen Gefängnisfilm mit Massen-Flucht der Küken. Das ist immer wieder witzig gezeichnet, mit fliegenden Schweine, fotorealistischen chinesischen Herbstlandschaften und magischen Glühwürmchen in einer düsteren Höhle. Da wird es dann so gefährlich, dass die Gans Gänsehaut bekommt. Obligatorisch ist die Achterbahnfahrt, diesmal durch Reisfeld-Terrassen.

Zur weiteren Besetzung dieses netten Films voller schräger Vögel gehören zwei schwule Reiher, eine weise witzige Schildkröte, Frösche im Lügner-Chorus und ein verrücktes Hippie-Eichhörnchen als asiatischer Heiler. Dabei erweisen sich die Frauen immer als klüger. So weist auch das kleine Entlein der großen Peking-Gans öfters den Weg. Das Ganze klingt nicht chinesisch, auch wenn es dort angesiedelt ist, sondern verläuft mit moderner Sprache und Dialogen, die eher zu Großstadt-Singles passen als zu Landeiern. Auch die Patchwork-Familie mit Happy-Ente am Ende des Weges macht „Gans im Glück" zum zeitgemäßen Glücksfall der Zeichentrick-Unterhaltung für kleine Kino-Fans.

Vollblüter

USA 2017 (Thoroughbreds) Regie: Cory Finley mit Olivia Cooke, Anya Taylor-Joy, Anton Yelchin 93 Min. FSK ab 16

Sie sind „Eiskalte Engel", sie sind „Biester". Und doch sind Lily und Amanda gänzlich losgelöst von literarischen Vorlagen ("Les Liaisons Dangereuses" von Choderlos des Laclos bei Frears „Engel") oder Moral (der Widerstand des Dienstmädchens Sandrine Bonnaire bei Chabrol). Beider Familien haben Geld, die Mädchen hatten selbstverständlich Pferde. Die einstigen Sandkastenfreundinnen treffen sich allerdings erst wieder, nachdem Amanda mit einem Pferd ziemlich Biestiges angestellt hat. Man könnte auch sagen, etwas sehr Grausames. Doch ihre Eiseskälte, ein medizinischer Zustand, lässt sie das gnadenlos referieren und analysieren. Die Ungehemmte und die Angepasste finden gerade wieder zueinander, da kommt schon aus heiterem Himmel Amandas Vorschlag, Lilys Stiefvater umzubringen. Sie könne ihn ja schließlich nicht ausstehen.

Wie die beiden von ihren Schulen verbannten Mädchen ihren teuflischen Plan ausführen wollen, wie sie den Kleinganoven Tim engagieren, der völlig den Erwartungen entsprechend scheitert, das ist lässig bis cool inszeniert vom New Yorker Theaterautoren Cory Finley. Mit der Kinoversion seines eigenen Bühnenthrillers „Vollblüter" gibt er ein auch stilistisch gelungenes Debüt als Spielfilmregisseur. Der Film ist äußerst spannend inszeniert mit einem Twist ins Unheimliche. Dieser allerdings nicht aufgesetzt, sondern konzentriert aus den beiden Mädchen-Figuren herausgearbeitet.

Olivia Cooke (Steven Spielbergs „Ready Player One", „Ouija") gibt die faszinierend gefühllose Amanda als ein Mischung aus harmlos junger Drew Barrymore mit raffiniert bis gerissenem Lächeln von Frances McDormand. Die Darstellerin der Lily, Anya Taylor-Joy, beeindruckte vor allem in dem ungewöhnlichen Hexen-Film „The Witch". Da passt es, wie sie teuflisch zuerst das Vorderrad von Stiefpapas Fahrrad löst, als sie zum Internat geschickt werden soll. Zwar verliert die Konzentration auf das tolle Spiel der beiden Frauen, als der doofe Gelegenheits-Killer hinzu kommt. Doch das Debüt von Cory Finley hat noch einiges mehr zu bieten: Die Freestyle-Musik irritiert ebenso wie das Verhalten der Mädchen. Auch das Geräusch der Rudermaschine von Stiefpapa sorgt äußerst raffiniert für untergründige Spannung. Die Tat geschieht schließlich komplett im Off, wieder wirken nur Geräusche, aber das dann richtig gut. Gutes und frisches Genre-Kino ohne jeden weiteren Anspruch oder Hintergrund. Den Namen Cory Finley kann man sich merken.

Aus nächster Distanz

BRD, Frankreich 2018 (Shelter) Regie: Eran Riklis mit Neta Riskin, Golshifteh Farahani, 93 Min. FSK ab 12

Eigentlich ist viel Zündstoff zwischen diesen beiden Frauen, die durch dramatische Umstände in einer Hamburger Wohnung zusammen hocken: Die libanesische Informantin Mona (Golshifteh Farahani) hat einen Hisbollah-Kämpfer verraten und dafür vom israelischen Geheimdienst eine neue Identität sowie ein neues Gesicht bekommen. Die Mossad-Agentin Naomi (Neta Riskin) soll Mona beschützen, bis diese sich von der Operation erholt hat.

Naomi bleibt in ihrer Tarnung als biedere Deutsche direkt an Stolpersteinen mit Holocaust-Geschichte hängen. Ein zu aufdringlicher Hausmeister muss alte jüdische Geschichten erzählen. Dauernde Anrufe mit falscher Verbindung und ein anfänglicher Kleinkrieg mit der widerspenstigen Schutzbefohlenen sorgen für Unruhe. Überhaupt laufen ziemlich viele Leute herum und machen sich verdächtig. Dabei sehen wir doch längst den gedungenen Attentäter eine falsche Wohnung stürmen. Aber auch, wie im Hintergrund der deutsche Geheimdienst Monas Leben verschachert.

Aus diesem Stoff hätte ein Genre-Regisseur einen politischen Thriller machen können, aber das ist der israelische Filmemacher Eran Riklis wohl nicht. Er ist immer sehr politisch bei seinen großartigen („Die syrische Braut", „Mein Herz tanzt") und seinen zumindest interessanten Filmen. Diesmal beobachtet er nicht „Aus nächster Distanz". Die Handlung laviert um mehrere Themen und wird fahrig. Ein unglaubwürdiger Mangel an Professionalität vor allem bei Naomi sabotiert den Thriller, auch wenn es immer mal wieder etwas Spannung gibt. Derweil geben die beiden Frauen mehr und mehr Persönliches preis. Naomis Wunsch, ein Kind zu bekommen, ist Monas Sorge um ihren zurückgelassenen Sohn ganz nahe. Der Schock, ein neues Gesicht zu haben, war bei Almodovar ein irrer Moment, hier verpufft er am Rande. Einige Handlungen sind nicht nachvollziehbar, ebenso wenig wie die seltsame Vision Deutschlands unter Terrorbedrohung. Wahrscheinlich muss Eran Riklis näher bei seinen Themen bleiben und die klassischen Thriller anderen überlassen.

1.8.18

Locarno 2018 - die Berlinale von morgen?

Locarno. Das Filmfestival von Locarno ist das neue Berlin und die Berlinale 2020 das neue Locarno. Das 71. Locarno Festival (1. – 11. August) steht unter besonderer Beobachtung, seit vor einigen Wochen bekannt wurde, dass sein italienischer Festivalleiter, der ehemalige italienische Filmkritiker Carlo Chatrian, 2020 die Filmfestspiele Berlins übernehmen wird. Sein vorerst letztes Programm im Tessin zeigt ab heute Abend gewohnt leichte Unterhaltung für tausende Zuschauer auf der Piazza Grande, dem Filmsaal unter freiem Himmel. Die Cineasten am Lago Maggiore werden tagsüber in mehreren Wettbewerben die Kandidaten für die Goldenen Leopard begutachten.

Der wieder eifriger Deutsch lernende Carlo Chatrian verspricht für die atmosphärisch unvergleichliche Piazza Grande mit ihrer Riesen-Leinwand „leichtere" Filme und hat als letzten Beitrag seiner Intendanz hoffnungsvoll die Komödie „I Feel Good" von Benoît Delepine programmiert. Zum „Gut Fühlen" passt auch die Retrospektive dieses Jahres mit Filmen von Leo MacCarey, allgemein als der Schöpfer von „Laurel and Hardy" bekannt, vulgo: Dick und Doof.

Voll auf dieser leichten Linie unterhält der französische Eröffnungsfilm „Les Beaux Esprits" (Team Spirit) von Vianney Lebasque über das französische Basketballteam geistig Behinderter, das mangels ausreichender Spieler mit zwei gesunden Arbeitslosen aufgefüllt wird. Außer den schon bald im Kino startenden „Equalizer 2" mit Denzel Washington und „Blackkklansman" von Spike Lee gibt es im Mix aus Populären für den französischen, italienischen und deutschen Markt nicht viel, auf das ein deutsches Mainstream-Durchlauferhitzer-Kino wartet. Eventuell noch die Rückkehr der Regisseurin Sandra Nettelbeck ins beeindruckende Freilichtkino mit 8.000 Sitzplätzen, wo sie 2001 für die Köchel-Romanze „Bella Martha" den Publikumspreis erhielt. 2018 zeigt sie „Was uns nicht umbringt" und erzählt darin „mit melancholischer Heiterkeit von Sinnkrisen und Herzensangelegenheiten in der Mitte des Lebens".

Regisseur Jan Bonny („Gegenüber") geht mit seinem zweiten Langfilm „Wintermärchen" ins Rennen um den Goldenen Leoparden im internationalen Wettbewerb. Er erzählt die Geschichte von Becky, Tommi und Maik, einer dreiköpfigen rechten Terrorzelle, die im Untergrund lebt und von landesweiter Aufmerksamkeit träumt. Insgesamt sind 16 deutsche Filme und Koproduktionen in Locarno programmiert.

Wegen der Hitze braucht in diesem Jahrhundert-Sommer niemand über die Alpen zu ziehen. Höchstens wegen der Wärme, mit der junge Filmemacher und aufkommende Filmregionen traditionell in Locarno empfangen werden. Hier macht das Festival seit Jahrzehnten aus der Not eine Tugend: Die ganz großen Namen sind für Uraufführungen für Cannes, Venedig und Berlin vergeben. Der Rest ist nicht unbedingt schlechter, aber weniger schillernd - noch. Das Sommer-Festival erwies sich in der Vergangenheit nicht nur für die Filme als gutes Pflaster und klasse Brutstätte für Talent. Auch Festivalleiter nutzten die große Bühne der Piazza Grande. Schon Moritz de Hadeln leitete Locarno von 1972 bis 1977. 1979 startet er in Berlin und führte das Festival an den Potsdamer Platz und ins nächste Jahrhundert. Marco Müller war von 1992 bis 2000 Direktor des Filmfestivals Locarno, leitete danach für zwei Jahre Venedig sowie das neue Festival von Rom.

Bei aller Leichtigkeit im Abendprogramm bleibt die politische Botschaft von Spike Lees „Blackkklansman" symptomatisch für viele andere Filme und kleine Sektionen des engagierten Schweizer Festivals. Chatrian zeigt diesen Film aus Anlass des 70. Geburtstags der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „Das ist für mich ein ziviles Zeichen, mehr noch als ein politisches Zeichen," sagte er der Luzerner Zeitung. Dem Event-Charakter der Piazza mit allabendlichen Ehrungen und prominentem Schaulaufen ist die Änderung Namens von Locarno Filmfestival zu Locarno Festival geschuldet. Dass dabei die Filme trotzdem nicht zu kurz kommen, beweist im Wettbewerb der argentinische Beitrag „La Flor" von Mariano Llinás, der fast 14 Stunden dauert.