30.9.15

The Look of Silence

Dänemark, Finnland, Norwegen, Großbritannien, Indonesien 2014 Regie: Joshua Oppenheimer 103 Min. FSK: ab 12

Mit seiner vielfach ausgezeichneten Dokumentation „The Act of Killing" brachte Joshua Oppenheimer 2012 die wahrscheinlich über eine Millionen Toten der indonesischen Diktatur nach 1965 wieder ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit. Er konnte die Morde und Folterungen nicht untersuchen, deshalb befragte er die Mörder, die noch immer völlig schamlos mit ihren Taten prahlen. „The Look of Silence", der 2014 den „Silbernen Löwen" in Venedig erhielt, zeigt nun doch die andere Seite: Der Bruder eines Opfers sucht die Täter auf. Was dem Titel entsprechend tatsächlich oft schweigend geschieht, wenn sich der Protagonist die unfassbaren Prahlereien auf einem Fernseher ansieht. Gleichzeitig lernen wir die Eltern kennen, den pflegebedürftigen Vater, dessen Verfall mit der Verhaftung des Sohns einsetzte. Unfassbare Geschehnisse vermittelt Oppenheimer mit ruhigen Bildern und unaufgeregten Gesprächen. Die Kamera von Lars Skree findet dazu ausgesprochen schöne Aufnahmen, was wie ein Widerspruch klingt, aber die unheimliche Wirkung noch verstärkt. Bei Brillanz in jeder Hinsicht des von Werner Herzog und Errol Morris („The Fog of War") produzierten Films, überzeugt erneut der geniale dokumentarische Ansatz von Oppenheimer.

Noch heute herrschen Terror und Angst in Indonesien, die Täter regieren weiter. Der fragende Bruder erhielt Todesdrohungen und zog vor dem Start des Films an einen unbekannten Ort. Aber zumindest lief und läuft der Film im ganzen Land und scheint das Schweigen über die Gräuel zu brechen.

29.9.15

Sicario

USA 2015 Regie: Denis Villeneuve mit Emily Blunt, Benicio Del Toro, Josh Brolin 121 Min. FSK: ab 16

Höchst spannend und wunderbar gegen den Hollywood-Strich inszeniert: „Sicario" vom kanadischen Autorenfilmer Denis Villeneuve lässt mit eindrucksvoller Besetzung und hammerharter Geschichte CIA, Drogen- und Hollywood-Kartell gleichermaßen schlecht aussehen und wiederholt die gekonnte Desorientierung von „Prisoners" und „Enemy".

Die Suche nach Geiseln bringt die FBI-Agentin Kate Macer (Emily Blunt, die „Young Victoria") zu einem Haus voller Leichen hinter den Wänden und zu einer seltsamen Beförderung. Denn Matt Graver (Josh Brolin), der zwischen vielen Anzügen grinsend mit Kaugummi und Flipflops sitzt, zeigt keine Dienstmarke, nennt keinen Rang. Er möchte Kate bei einem Einsatz an der Grenze zu Mexiko dabeihaben - weil sie so knallhart sei. Die Grenze wird allerdings schnell überschritten. Eine Gefangenen-Übergabe in der Grenzstadt Juárez ist so spannend wie eine ganze Jahresproduktion von Hollywood-Thrillern zusammen. Danach noch der Auftritt von Benicio Del Toro als mysteriöser Kolumbianer Alejandro und der Gefangene ist schon vor der Folter so entsetzt wie das rechtschaffene Kinopublikum.

„Sicario" ist ein Schock und eine Sensation. Ein extrem blutiger, morbider Beginn markiert die eskalierenden Kartell-Aktivitäten im Drogengeschäft. Das gesetzlose Duo aus CIA-Agenten Graver und dem völlig ungebundenen Bluthund Alejandro verfolgt eine Taktik im Kampf gegen Drogen, die ähnlich im Roman „Cobra" von Frederick Forsyth angewandt wurde. Losgelöst von allen Regeln und Gesetzen wird der Drogen-Traffic sabotiert, bis sich die beteiligten Gangs selber zerfleischen. Das ergibt Chaos und Massenmord, aber in der entsprechenden zynischen Rechnung immer noch weniger Opfer als bei einem „intakten" Drogenhandel.

Während diese eingängig perverse Idee mit von Stars unterfütterter Coolness auf schockierende Weise durchgezogen wird, sorgt die Inszenierung von Villeneuve und seinem Team für den körperlichen Schock. Bei der rasanten Fahrt durch das Kriegsgebiet Juárez vibrieren extreme Bässe bis ins Mark (Musik: Jóhann Jóhannsson). Die Bilder von Kamera-Star Roger Deakins, geschnitten von Joe Walker erzeugen Hochspannung, noch bevor die Jeep-Kolone im Stau stecken bleibt und ein Haufen tätowierter Gangster sofort von Kugeln zerfetzt wird, als er seine Waffen zieht.

„Dramatisch überreagieren" ist das Prinzip der gesetzlosen CIA-Cowboys - und von Villeneuves packendem und ungeheuer ernüchterndem Film. Das ist wie Soderberghs „Traffic" nur viel brutaler. Und Kate ist wie die FBI-Agentin (Jessica Chastain) in Kathryn Bigelows Bin Laden-Jagd „Zero Dark Thirty": Zu rechtfertig sensibel für die Welt der Wölfe. Das Entsetzen über die Taten der „Guten" kulminiert in einem horrenden Anti-Klimax, der jeden Hollywood-Wunsch nach einem gerechtem Helden enttäuscht. Und sich damit wie ein Stachel in diese Film-Emotion bohrt.

„Sicario" ist ein exzellenter Unwohl-Fühlfilm. Wie will man auch angesichts der Gewalt und Drogen-Kriminalität beispielsweise in Mexiko eine befriedigende (Auf-) Lösung finden, ohne einen völlig blöden Film zu fabrizieren? Dieser großartig provozierende Film stellt eine Herausforderung dar, nicht nur wegen der unerträglichen Situation, die nur ansatzweise realistisch, aber auch nicht beschönigt dargestellt wurde. Auch das Vertrauen in Hollywoods Konventionen wird auf dann doch wohltuende Weise in Frage gestellt.

Max

USA 2015 Regie: Boaz Yakin mit Thomas Haden Church, Josh Wiggins, Luke Kleintank, Mia Xitlali 111 Min.

Schon bei gewöhnlichen Hundefilmen sträuben sich die Nackenhaare des Kritikers. Wenn jetzt so ein Scheißhaufen-Produzent als Held der us-amerikanischen Besatzungsarmee in Afghanistan inszeniert wird, dann wünscht man jedem Film-Lassie direkt einen ganzen Flohzirkus an den Hals.

„Max" macht von Anfang an brav Männchen als ekelhaft patriotisches, kriegs-treiberisches Rührstück: Während der kleine Bruder Justin (Josh Wiggins) beim Killerspielen am Computer hängt, stirbt der „anständige Sohn" Kyle (Robbie Amell) dank eines Hinterhalts des Drehbuchs recht schnell. Sein zum Waffensuchen abgerichteter Hund Max wird nun vor lauter Herzschmerz zu einem der typisch unkontrollierbaren Vierbeiner, die unsere Wälder unsicher machen. Nur Justin kann ihn beruhigen und die beiden werden unzertrennliche Freunde. „Max" hingegen wird zwischendurch zum Teenager-Film mit Hund, um zum Abenteuer mit Waffenschmuggel.

Klar, das Wunderbare des Films ist, dass ein widerspenstiges Computer-Kid durch einen tollwütigen Hund zum angepassten Bürger und Soldaten wird. Der später von zuhause aus mit Drohnen die Afghanen bombardieren kann. Man könnte sich irgendwann Gedanken über das Schicksal der überfallenen Afghanen machen, aber wie viel wichtiger ist das doch Leiden der führerlosen Blondi. Verzeihung, anderer Film, des führerlosen Max! Besonders verlogen gibt sich die Rekrutierungs-Maßnahme als Teenager-Film und als Hunde-Nanny-Variante aus. Samt Freundin, die vom Himmel fällt. Alles bleibt aber stabil auf niedrigem Niveau von widerwärtig bis uninteressant. Vorschlag für das Plakat dieses vierbeinigen Kriegsfilms: „Hunde, wollt ihr ewig leben?"

A Royal Night

Großbritannien 2015 (A Royal Night Out) Regie: Julian Jarrold mit Sarah Gadon, Bel Powley, Jack Reynor, Rupert Everett, Emily Watson 97 Min. FSK: ab 6

Eine Geschichte, zu schön, um wahr zu sein. Und wunderbar, dass sie jemand (Drehbuch: Trevor da Silva und Kevin Hood), erfunden hat: Die 19-jährige Prinzessin Elizabeth (Sarah Gadon) geht feiern und es ist nicht irgendeine Party, es ist VE-Day, 8. Mai 1945. Nazi-Deutschland hat kapituliert, ganz London steht Kopf. Nur bei den Royals im Buckingham Palast ist es standesgemäß ruhig. Trotz der beiden jungen Töchter, der vernünftigen Elizabeth und der verrückten Prinzessin Margaret (Bel Powley). Doch letztlich dürfen die beiden wenigstens zu einer staubtrockenen Party im Ritz-Hotel mit ein paar fast mumifizierten Adeligen - unter freundschaftlicher Bewachung zweier Soldaten. Es dauert gerade einen Willkommensdrink, bevor die jungen Damen abhauen können. Margaret gerät beim Karneval an einen zwielichtigen Verehrer und dann einen ehrenvollen Zuhälter und Royal-Fan. Elizabeth hingegen trifft bald einen ruppigen Prince Charming, den äußerst sympathischen Deserteur Jack (Jack Reynor). Er hilft ihr nur anfangs widerwillig bei der Suche nach Margaret und lässt blaues Blut schneller pulsieren.

Der Prinzeßchen-Film „Royal Night" springt im Gegensatz zu den Kronjuwelen des Genres wie „Ein Herz und eine Krone" (Originaltitel „Roman Holiday") mit einer mehr als charmanten Hauptfigur mitten ins Leben, mitten in den Karneval des VE-Days. Während die Bewacher sich in Bars und Betten verirren, während Papa König George VI. (Rupert Everett) mal wieder eine Rede einstudiert, entspannt sich eine herrliche Romanze zwischen der kecken Thronfolgerin und dem skeptischen Kriegsheimkehrer. Ein Feuerwerk an spritzigen Dialogen, umwerfend komische Situationen, Screwball wie bei den alten Meistern, sympathische Figuren und ein perfekte Inszenierung. Vor allem die Kanadierin Sarah Gadon begeistert als „Lisbeth von den Windsors". So überzeugend, dass man die Bilder der nahezu versteinerten Queen Elizabeth sieht und grübelt: Hat sie damals wirklich ...? Egal, Hauptsache, der Film ist wirklich gut. Und das ist er. Ein überzeugend romantisches Vergnügen mit einem Touch sozialem Realismus und viel Herz für die Krone.

28.9.15

Alles steht Kopf

USA 2015 (Inside out) Regie: Pete Docter, Ronaldo Del Carmen 95 Min. FSK: ab 0

Grundlage-Vorlesung fürs Psychologie-Studium und ganz großer Spaß: „Alles steht Kopf" ist seit einer Weile mal wieder ein bemerkenswerter Animationsfilm von Pixar. Wenn die personifizierten Gefühle Freude, Ärger, Angst, Ekel und Kummer im Kopf einer Elfjährigen verrückt spielen, springt die Begeisterung im Kopf des Kritikers wild herum.

Hier könnte ein alter Scherz von Otto Walkes einleiten, doch kaum einer, der den Blödelbarden noch kennt, wird in einen heutigen Animationsfilm gehen. Aber „Der menschliche Körper" gemäß Otto sagt (Auge an Großhirn, Auge an Großhirn): Wie hier emotionale Abläufe in kleine, tolle Figuren und ein großes Abenteuer umgesetzt wurden, ist nicht nur für Klein und Groß höchst unterhaltsam, der Spaß ist auch verdammt klug unterfüttert.

Die elfjährige Riley muss in „Alles steht Kopf" mit ihrer Familie vom Land nach San Francisco umziehen, was ihren Gefühlen Schwerstarbeit bereitet. Verzweifelt versucht die tonangebende quietschfidele Freude jeden Tag ein paar schöne Momente - und damit: Erinnerungen - zu schaffen, doch durch Schussligkeit der tapsigen Kummer-Figur und durch ein tatsächlich nicht mehr so prickelndes Leben färben sich die Erinnerungs-Kugeln immer mehr traurig blau ein. Irgendwann drohen sogar die Verbindungen zu den frühkindlichen Freudenquellen verloren zu gehen. Die besorgte Freude muss nun losziehen, um im bunt und witzig animierten System der Gefühlssteuerung eine Katastrophe zu verhindern. Dabei erweist sich die Traurigkeit überraschenderweise als unerlässlicher Begleiter.

Schon bei der „Toy Story" drehte sich die ganze Handlung mit Cowboy Woody und Astronaut Buzz Lightyear nur darum, den jungen Besitzer der Spielzeugfiguren glücklich zu machen. Insofern ist Pixar sich treu geblieben bei „Alles steht Kopf" von Oscar-Preisträger Pete Docter („Die Monster AG", „Oben") und Ko-Regisseur Ronnie Del Carmen („Oben"). Auch in der umwerfend ideenreichen und sorgfältigen Animation etwa vom Prozess des Vergessen - mit einem Staubsauger! Gleichzeitig ist dieser neue Zeichentrick-Spaß der reifste der Animations-Schmiede. Die kognitiven und neuronalen Prozesse sind derart gut recherchiert und nachgezeichnet, dass man den Film tatsächlich als Grundlage für psychologisch Interessierte einsetzen kann. Wenn dabei für alle Zuschauer auch die Weisheit drin steckt, zu seinem Glück auch mal traurig sein zu dürfen, ist das Glück dieses Films perfekt.

27.9.15

Der Staat gegen Fritz Bauer

BRD 2015 Regie: Lars Kraume mit Burghart Klaußner, Ronald Zehrfeld 105 Min. FSK: ab 12

Starker Demokrat - schwacher Film. So sieht „Der Staat gegen Fritz Bauer" aus, vor allem wenn man den viel emotionaleren „Im Labyrinth des Schweigens" mit Gert Voss als Bauer in einer Nebenrolle gesehen hat. Trotzdem gewann die etwas leblose Würdigung von Bauer in Locarno 2015 den Publikumspreis.

Fritz Bauer Fritz Bauer (1903 - 1968) war Generalstaatsanwalt in Frankfurt und eine der wichtigsten Figuren für die Entwicklung der Demokratie im Wirtschaftswunder-Deutschland. Der atheistisch lebende Sohn jüdischer Eltern emigrierte 1936 nach Dänemark, wurde dort bei der deutschen Besetzung interniert, bevor er nach Schweden fliehen konnte. 1949 kehrte Bauer nach Deutschland zurück. Erst im letzten Jahr sah man ihn - eindringlich verkörpert von der Bühnenlegende Gert Voss - als geschickt lenkende Nebenfigur „Im Labyrinth des Schweigens". Heftig bewegend erfuhr man, wie in den Fünfzigern die Verbrechen und Verbrecher von Auschwitz ignoriert wurden. Alexander Kluge widmete Fritz Bauer mit „Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter" einen seiner Erzählbände. Nun erhält Bauer mit „Der Staat gegen Fritz Bauer" zum Glück erneut Aufmerksamkeit.

Regisseur Lars Kraume („Die kommenden Tage") konzentriert sich in „Der Staat gegen Fritz Bauer" auf Bauers Verdienst um die Ergreifung Eichmanns, das erst nach seinem Tod bekannt wurde. Wie es der Filmtitel komprimiert, musste Bauer (Burghart Klaußner) gegen verschiedene, von Alt-Nazis durchsetzte Instanzen des Staates kämpfen, um überhaupt eine Strafverfolgung der Massenmörder einleiten zu können. So war vor allem der von Gehlen gegründete Bundesnachrichtendienstes (BND) eher damit beschäftigt, die geflohenen Faschisten in Südamerika zu verstecken. Und mit Hans Globke war ein Mitverfasser Nürnberger Rassegesetze bis 1963 unter Bundeskanzler Konrad Adenauer Chef des Bundeskanzleramts. Bauer wird in seinem geschickt geführten Kampf gegen diese braune Seilschaft unterstützt vom jungen Staatsanwalt Karl Angermann (Ronald Zehrfeld), später Vertrauter und Freund. Auch Angermann ist schwul, was ihm schließlich zum Verhängnis wird.

So wie Burghart Klaußner Mimik und Gestik von Bauer imitiert, stellt der ganze Film mit großem Aufwand die späten Fünfziger und die frühen Sechziger nach. Wichtiger als Autos und Kleidung sind allerdings die Haltungen in Justiz und im „Volk". Da gibt es Morddrohungen an den Juden Bauer und Fernsehdiskussion mit Jugendlichen, in welcher Bauer dazu aufforderte, nicht platt „stolz auf sein Land" zu sein, sondern im aktiven Einsatz die funktionierende Demokratie am Leben zu erhalten.

Solche, auch heute noch nachstrebenswerte Prinzipien leiten diesen Mann bei seinem Handeln, für das er sein Privatleben opfert. Das lässt sich konstatieren und beobachten, doch dramatisiert wird es in diesem Film nur zurückhaltend. Es muss ja nicht wie in „Music Box" von Costa Gavras alles auf einen dramatischen Konflikt reduziert werden. Aber Kraumes sorgfältige Aufzählung der bemerkenswerten Ideale Bauers, kommt so zurückhaltend und nüchtern daher wie Bauer selbst. Angermanns Ausschweifung, die den Gegner fast die Kontrolle über Bauer zuspielt, bringt etwas Leidenschaft in die Handlung, aber dies ist nur ein Randkapitel. So erfährt diese wichtige, große Figur unserer Demokratie, die sich mit „heiligem Zorn" der Aufarbeitung von Nazi-Gräuel verschrieb, eine bemühte, gut gespielte Würdigung, die als Lernstoff taugt, aber nicht als entsprechend großer Kinofilm.

25.9.15

Die Unvollendete

Filmpremiere des Grimme-Preisträgers Mosblech nach neun Jahren Entwicklung


Aachen / Eupen. „Die Unvollendete" - selten war ein Filmtitel passender. Grimme-Preisträger Bernd Mosblech geht mit seinem Langzeit-Projekt über das unvollendete, das ungelöste Problem von Atomenergie und -Müll erstmals an die Öffentlichkeit - in einer nach neun Jahren nun vollendeten Fassung der essayistischen Dokumentation. Dass darin die Brennkammer-Techniker der „Camerata Nucleare" Mahlers „Unvollendete" sogar in einem unvollendeten, sprich: ungenutzten Atommeiler spielen, gehört zu den vielen unglaublichen Pointen, an denen der großartige Film reich ist. „Die Unvollendete" hat am Samstag in Eupen (26.9., 20 Uhr, Schlachthof) ihre regionale Premiere, die Mosblech seinen beiden Töchtern widmet. Ein großer Film von einem großartigen Regisseur, der im Gegensatz zu anderen bewusst offen an das Thema rangeht und dem so auf Seiten der Kern-Techniker einzigartige Einsichten gewährt.



Seit Jahren filmt Bernd Mosblech komplett unabhängig, also ohne Unterstützung von Produzenten oder Sendern an diesem persönlichen Projekt. Dabei ist der Regisseur, Kameramann und Produzent eine bekannte Größe der deutschen Filmszene: Neben dem Grimme-Preis 1991 für „Alte Kameraden", der Dokumentation über den Aachener Radsportler Christian Pützfeld, der Sportdoku „Die Hölle von Flandern" (1996) hat der 1942 Geborene auch immer wieder wichtige Filme wie „Safari Rallye" (2001) in Afrika gedreht.



In seinem neuesten Werk muss nicht erst ein Atom-Physiker auf seiner Model-Eisenbahn mit Castor-Containern spielen, um den Wahnwitz der Situation klar zu machen. Der Tatsache, dass der im belgischen Lontzen lebende Regisseur Bernd Mosblech das Vertrauen von herausragenden Köpfen der Atom-Technik gewann, verdankt „Die Unvollendete" erstaunliche Einblicke.

Es geht dabei nicht um die Frage „Atomkraft ja oder nein?", es geht viel mehr um die Menschen auf beiden Seiten. Da ist der berühmte Fotograf Günter Zint, Chronist der Anti-AKW-Bewegung und immer noch kämpferisch. Da ist ein leidenschaftlicher Trompeter und Atom-Techniker, der nach Fukushima um seinen Job bangte, aber glücklich ist, wenn er für den Film in einem Atom-Meiler trompeten darf. Oder der Physiker der KFA Jülich, der keine Heizung braucht und sein persönliches Dämmsystem aus mehreren Pullovern und Decken erläutert. Die sehr gelungene assoziative Montage hat nichts mehr mit konventionellen Dokumentationen zu tun. Sie mischt Demonstrationen gegen Castor-Transporte mit Modelbahnen, diskutiert „German Angst" mit einer amerikanischen Opernsängerin, lässt Gründgens Faust zitieren und führt ein Kernkraftwerk vor, das als Papiermodell in Flammen aufgeht.



Eine unvoreingenommene Haltung hält der Film allerdings nicht lange durch, dazu sind sowohl Aussagen wie Verhaltensweisen solcher Interviewpartner zu skurril. So änderte auch die dann Katastrophe von Fukushima die Sichtweise auf die Aussagen - etwa, dass mit Küchenmessern schon mehr Menschen ums Leben gekommen seien als durch Atomkraft. Wie der interviewte Wissenschaftler bei seiner Argumentation bedrohlich mit dem Messer herumfuchtelt, macht ihn nicht vertrauenswürdiger. Hier erinnert „Die Unvollendete" tatsächlich an Mosblechs Grimm-Preis „Alte Kameraden": Die Szenen sind gleichzeitig ehrlich dran an den Menschen, komisch durch eigenes Verschulden der Porträtierten und politisch im großen Gedankengang.

Die Bedeutung von Mosblech in der Filmszene zeigte sich schon bei der Sichtung einer frühen Version im privaten Kreis, das zum Gipfeltreffen engagierter Dokumentaristen wurde: Neben Axel Engstfeld, Gewinner vom Deutschen Film- und Bayrischen Fernsehpreis, war auch Günter Zint dabei, einer von Deutschlands bekanntesten Fotografen. Aus Paris kam, quasi als Ritterschlag des internationalen Filmadels, Joselyne Lamothe, die Witwe und Erbverwalterin von Jean Rouch, der 2004 verstorbenen Legende des Ethnographischen Films. Und tatsächlich kann man „Die Unvollendete" auch als ethnographische Studie sehen. Da kann man sich in 10.000 Jahren, wenn es immer noch tödlich strahlt, anschauen, was für ein seltsamer Menschenschlag dies verantwortet hat.

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Der Vorführung schließt sich eine Debatte mit Befürwortern und Gegnern der Kernenergie an. Bisher bestätigt sind Professor Dr. Jürgen Knorr, Professur für Wasserstoff- und Kernenergietechnik an der technischen Universität Dresden, Ex-Spiegel-Fotograf Günter Zint sowie Dipl.-Ingenieur Gerhard Hottenrott, bis zum Jahre 2012 Leiter Kernbrennstoffkreislauf bei der RWE Energie AG. Die ostbelgische Anti-Atom-Bewegung will vor dem Spielort ein Demospalier inszenieren. Der WDR sendet am Freitag ein Porträt zu Bernd Mosblech und einen Vorbericht zur Premiere.