30.10.20

„The Mandalorian“, Staffel 2


Disney+

Er reitet wieder: Der Mandalorian, gesichtsloser Ritter der Gerechtigkeit aus dem „Star Wars"-Universum, legt auch zum Start der zweiten Staffel eine grandiose Western-Episode hin. Wenn der einsame Kopfgeld-Jäger mit seinem niedlichen Yoda-Baby in die typisch misstrauische Western-Stadt einzieht, fragt man sich, ob da nicht doch John Wayne unter dem geheimnisvollen Helm steckt. Auch das Duell im Saloon wird in dieser erfolgreichen Science Fiction-Serie mit viel Witz variiert, bis mittendrin ein wesentlich größerer Gegner vorbeikommt. Da ist tatsächlich der legendäre Sandwurm aus dem lang erwarteten und wegen Corona verschobenen Epos „Dune"!

Showrunner, Autor und Regisseur Jon Favreau („Iron Man") setzt seine Serie mit einer neuerlich sensationellen Folge fort. Kurze, knackige Episoden, weitere Verbindungen zu den „Star Wars"-Filmen, coole Sprüche, reichlich Zitate von anderen Klassikern („Der weiße Hai") und eine Tricktechnik auf höchstem Niveau sorgen für Gänsehaut und Begeisterung. „The Mandalorian" wird acht Folgen lang jeden Freitag auf Disney+ fortgesetzt.


26.10.20

The Booksellers


USA 2020 Regie: D.W. Young 99 Min.

Der wunderbare Dokumentarfilm „The Booksellers" hat ein großes Problem: Ein Film, der dem Buch eine Hymne singt - das Zielpublik wird also gerade lesen und wird auch dann lesen, wenn es ins Kino gehen sollte. Eine Hymne dem Buch und den Menschen, die Bücher über alles lieben.

Regisseur D.W. Young macht uns mit der Szene der New Yorker Buchsammler und -sammlerinnen bekannt. Die Menschen, die er vorstellt, sind jeder für sich äußerst faszinierend. Mal seltsam, mal skurril, mal verträumt, mal spinnert, aber immer besonders. Einer der vielen Interviewpartner charakterisiert diesen Menschenschlag treffend: Er hätte noch nie einen angeberischen Buchsammler oder -händler kennengelernt. Im Gegensatz zu den Menschen, die teure Gemälde sammeln. Das Verhältnis zum Buch sei ein sehr privates.

Da gibt es die drei – mittlerweile sehr reifen – Schwestern, die das Geschäft vom Vater übernommen haben. Ohne dass dieser sie jemals dazu gedrängt hätte. Während ihr Geschäft floriert, müht sich ein anderer mit großformatigen Folianten ab, schleppt sie immer wieder zu Buchmessen und meist auch wieder zurück. Man ahnt es: Die meisten dieser Sammler möchten ihre Bücher meist selbst behalten. Es sind durchgehend echte Typen, die dieser Leidenschaft fröhnen. Da ist der mit einer der größten privaten Sammlungen der Welt, der nach seinem Tod alle Objekte seiner „Wunderkammer", zu der auch ein lebensgroßer Satellit gehört, wieder dem Kreislauf des Handels zukommen lassen will. Seine mehrere zehntausenden Bücher sind übrigens nur nach Größe sortiert! Eine Sammlerin, die lange Jahre weibliche Autorinnen überhaupt ins Bewusstsein des Antiquarischen brachte, hat jetzt schon Teile ihrer Bibliothek einer Universität überlassen. 

So verschieden die Menschen, so unterschiedlich sind auch ihre Sammelgebiete. Einer spezialisierte sich auf Autographen und Widmungen. Ein anderer will genau das, bei dem die meisten die Nase rümpfen oder irritiert wegschauen. Wir hören von einem legendären Bücher-Scout, der auf allen Wohnungsauflösungen immer schon da war, wenn die anderen kommen. Und, so sehen wir zum Ende hin, es sind nicht nur alte Leute, die mit alten Büchern handeln. So erzählt „The Booksellers" nicht nur anekdotisch, zeigt nicht nur Bilder die selber Lust aufs Stöbern und Blättern machen, diese Dok-Perle ist mit dem größeren Erzählfaden selbst eine Enzyklopädie einer besonderen Leidenschaft.


25.10.20

Hexen hexen (2020)


USA 2020 (The Witches) Regie: Robert Zemeckis, mit Octavia Spencer, Anne Hathaway, Jahzir Bruno, Stanley Tucci 104 Min.

In einer zweiten Verfilmung von Roald Dahls Kinder- und Fantasy-Roman „Hexen hexen" gibt es eine Verlagerung vom kindgerechten Grusel-Spaß zum Effekt-Feuerwerk für Ältere. Eine schrille Anne Hathaway kann als Oberhexe in Robert Zemeckis' Neuauflage ihrer Vorgängerin Anjelica Huston aus der 1990er Verfilmung von Nicolas Roeg nicht das vergiftete Wasser reichen.

Der Waisenjunge muss nicht nur mit dem Verlust der Eltern und dem Umzug zur liebevollen Großmutter fertig werden – er trifft im Dorfladen des ländlichen Alabamas auch noch auf eine Hexe. Die weise Oma und Heilerin flieht sofort in ein Luxushotel, denn „die Hexen schnappen sich nur die armen Kinder", die keiner vermisst und die keine Lobby haben. Doch ausgerecht hier im Seebad treffen sich Hexen gerade für einen großen Kongress. Und der Junge wird in eine sprechende Maus verwandelt...

Wenn Großmutter mit gleich mehreren Mäusen verhindert, dass die Oberhexe mit ihrem Gift aus dem Flacon 86 alle Kinder in Mäuse verwandelt, spielt Anne Hathaway („Les Misérables", „Ocean's 8") das vor allem schrill und überspannt. Der anfängliche Reiz einer ungewöhnlichen Rolle für die populäre Darstellerin verfliegt schnell. Was durchaus funktioniert, ist die Spannung, nachdem der Held in eine Maus verwandelt wurde. Dann nimmt die eigentliche Geschichte Fahrt auf und unterhält ohne weitere besonderen Verdienste.

Zuerst fällt in der Neuverfilmung durch Robert Zemeckis („Forrest Gump") die andere Situierung der Geschichte auf: Erzählt von Chris Rock ist dies eine afro-amerikanische Version des Ronald Dahl-Romans mit einem kleinen Lehrgang in afroamerikanischer Musik. Aus britisch-norwegischen Figuren werden dunkelhäutige US-Amerikaner. Tatsächlich irritierend ist hingegen ein ästhetischer Realismus in der Darstellung, ein Ernst in der Konzentration auf spektakuläre Effekte, die den spielerischen Charme des Originals erstickt. Das Auseinanderklaffen des riesigen Mundes mit den spitzen Zahnreihen bei der Oberhexe ist nicht mehr schauriger Spaß, das ist schon tiefgehender Horror wie von Stephen King. Das passt zu Guillermo del Toro („Shape of Water: Das Flüstern des Wassers"), der am Drehbuch mitschrieb und auch produzierte. Nur dann bitte ein Zemeckis oder ein Del Toro, aber keinen Mischmasch.

23.10.20

Und morgen die ganze Welt


BRD, Frankreich 2020 Regie: Julia von Heinz, mit Mala Emde, Noah Saavedra, Tonio Schneider, Luisa-Céline Gaffron, Andreas Lust 111 Min. FSK ab 12

Hanni & Nanni des Politfilms

Seit der Premiere bei den Filmfestspielen von Venedig sorgte „Und morgen die ganze Welt" für ein paar Diskussionen. Regisseurin Julia von Heinz („Ich bin dann mal weg", „Hanni & Nanni 2") warf den Medien das Stöckchen „Antifa" vor und die meisten schnappten blind zu. Dabei ist das fleißige Politfilmchen eher eine uninspiriert abgefilmte Ansammlung von aktuellen Neonazi-Verbrechen und Aktivitäten eines jungen, linken Widerstands.

Luisa (Mala Emde) ist junge Jura-Studentin aus gut situiertem Adel mit blutiger Jagd-Tradition. Ihre Rebellion beschränkt sich auf gesteigertes Interesse an neuen Freunden, AktivistInnen, die in einem besetzten Haus wohnen. Dort gibt es diejenigen mit gewaltfreiem Widerstand und guten Aktionen, sowie die anderen, die sich gerne prügeln. Ganz unabhängig von der politischen Richtung. Genauso wie es die Anziehungskraft dieser Gewalt-Menschen gibt. Luisa jedenfalls verfällt ihr in Form beim Kampfsport-Trainer und Alpha-Tier Alfa (Noah Saavedra). Vom „Containern" mit anderen Engagierten dackelt sie hinter Alfa her zu Racheaktionen und Schlägereien mit widerwärtigen Rassisten und Antisemiten. Als die harten Jungs nach einem Sprengstoff-Fund den Schwanz einziehen, muss sich Luisa überlegen, wie weit sie mit ihrem Widerstand gegen die Verfassungsfeinde geht.

Das im Grundgesetz verankerte Recht auf Widerstand wird im Seminar diskutiert. Der Unterschied zwischen Gewalt gegen Sachen und gegen Personen im besetzten Haus. Spekulativ werden Stichworte wie G20 reingeworfen. Die Vegetarierin Luisa gilt zuhause als beste Schützin der Jagdgesellschaft - bald wird sie Neonazis ins Visier nehmen. „Und morgen die ganze Welt" winselt um Anerkennung als politisch aktueller und relevanter Film so wie Luisa vom linken Schläger Alfa gemocht werden will. Ihr mäßig interessanter Konflikt wird klassisch simpel durch zwei Männer – aggressiv und besonnen - verkörpert.

Den Begriff „Antifa" in die Rezeption des Films zu werfen, war überdies dumm kontraproduktiv: Die Protagonisten kämpfen gegen Faschisten. Aber das macht auch die alte Dame, die Hakenkreuz-Schmierereien beseitigt, das machten viele SchriftstellerInnen und das auch die Alliierten, die Deutschland befreiten. Also alles „Antifa".

Angesichts dieses oberflächlich politischen Films muss man hämisch auf das Vorleben von Julia von Heinz mit „Ich bin dann mal weg" und „Hanni & Nanni 2" verweisen. „Und morgen die ganze Welt" mag wie die Protagonistin sehr wohl engagiert sein, aber ästhetisch bleibt es bei purer Bebilderung. Die spannende Frage der Radikalisierung, die bessere RAF-Filme stellen, sollte bis zum halb-offenen Ende packen. Es ist aber wegen schwacher Umsetzung nicht mehr als eine filmische Fehlzündung.

 

Yakari


BRD, Frankreich, Belgien 2020 Regie: Toby Genkel, Xavier Giacometti 82 Min. FSK ab 0

Eigentlich ist Yakari ein französisch-sprachiger Schweizer - der bekannte „Indianer"-Comic aus den 70er Jahren entstand in der Romandie, Texter war André Jobin (Job), der Zeichner Claude de Ribaupierre (Derib). Der Restart von „Yakari" nach den TV-Serien nun im Kino übernimmt die Qualitäten der frühen Öko-Geschichte für Kinder und modernisiert im Stil nur vorsichtig.

Die Geschichte von „Yakari" ist eine bekannte und bleibt auch nach Jahrzehnten eine Gute: Der kleine, neugierige Sioux-Junge freundet sich respektvoll mit dem wilden Pony Kleiner Donner an, bevor sie gemeinsam Abenteuer erleben. Das lebendige und quirlige Spektrum der Tierwelten rund um die Rocky Mountains wird ergänzt durch fantastische Elemente wie die magischen Tagträume Yakaris mit seinem Totem Großer Adler, der ihm die Gabe verleiht, mit Tieren zu reden. Dieses tatsächliche „Verständnis für die Natur" bringt anfangs Schwierigkeiten und Spaß. Wenn der Chor der Schmetterlinge unverständlich bleibt und die Tauben verschreckt wegfliegen. Für Lacher sorgen übrigens auch sein Hund Knickohr als Sidekick, die lustigen Biber und die Schnarchnase Müder Krieger als Running Gag.

Es gab TV-Serien mit „Yakiri" in den 80ern (eine Staffel) und von 2005 bis 2013. Die Animation des Kinofilms versucht den Comic-Zeichnungen und den älteren Animationen etwas 3D-Tiefe zu geben. Trotz der einfachen Animationstechnik gibt es fantastische Szenen, die sich vom handwerklichen Einerlei vieler Kinderfilme abheben.

Ohne dass dem Pinselstrich „kulturelle Aneignung" vorgeworfen wird, und ohne dass traditionelle Kleidung der nord-amerikanischen Ureinwohner als stereotypes Klischee verboten ist, macht „Yakari" kurzweilig Spaß und vermittelt moderne Werte: Ganz aktuell wirkt die drohende Naturkatastrophe eines Wirbelsturms. Für Kinder noch nicht abgegriffen ist der Spruch von Großer Adler: „Ein jeder, der in Frieden zu leben weiß mit allen Lebewesen und Respekt vor ihnen zeigt, ist mutig." Vor allem bringt Kleiner Donner Yakari bei, dass Pferde nicht zum Bereiten durch Menschen da sind. Oder höchstens, wenn man vorher fragt…

22.10.20

Schwesterlein


Schweiz 2020 Regie: Stéphanie Chuat, Véronique Reymond, mit Nina Hoss, Lars Eidinger, Marthe Keller, Jens Albinus, Thomas Ostermeier 99 Min. FSK ab 12

Der Schauspielstar Lars Eidinger spielt einen krebskranken Schauspielstar und die „Schauspielstarin" Nina Hoss seine Zwillingsschwester, eine ehemals angesagte Theater-Autorin. Dieses geballte Talent sollte genügen für ein Filmvergnügen, doch das Drama „Schwesterlein" der Schweizer Regisseurinnen Stéphanie Chuat und Véronique Reymond kann sich nur stellenweise kreativ vom Gewöhnlichen eines Familiendramas abheben.

„Wie geht es meinem guten Prinz Hamlet?" Schlecht – der Star der Berliner Schaubühne liegt mit Leukämie im Krankenhaus. Der Schnitt verbindet Sven (Lars Eidinger) über die Schläuche einer vielleicht lebensrettenden Transfusion mit seiner Schwester Lisa (Nina Hoss). Verbunden sind sie auch im Kreativen: Lisa schrieb vor ihrer Ehe fürs Theater. Die Arbeit an einem Roman über Beziehungs- und Sexualitätsprobleme stoppte exakt am Tag seiner Diagnose.

Nachdem eine reichlich kultur-snobistisch verpeilte Mutter sich als Betreuerin in Berlin denkbar ungeeignet erweist, nimmt Lisa Sven mit zu Ehemann und Kinder in die Schweiz. Im ehemaligen Tuberkulose-Kurort platzen sie direkt in familiäre Probleme. Dass Lisa nicht nur wegen der Schreibblockade zurück nach Berlin will, dass der Ehemann nicht den Job an einer elitären Musikschule aufgeben will – alles wie gehabt und auch mit dem frustrierten Gesichtsausdruck von Nina Hoss nicht besonders interessant.

Das Lied „Schwesterlein, Schwesterlein wann gehn wir" von Johannes Brahms rührt bevor die ersten Bilder aus dem Schwarzfilm auftauchen. Eidinger gibt eine Kostprobe seines Hamlets auf der Berliner Schaubühne, kann selbstverständlich dem Exzentriker Sven exzellent geben, sein Leiden ebenfalls. Doch auch das lässt seltsam kühl. Trotz der eindrucksvollen Zutaten dieser künstlerischen und künstlichen Geschichte von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond funktioniert sie nicht so richtig. Es ist kein Melodram des Abschieds, kein Leidensweg. Erst am Ende begeistert eine großartige Szene kongenialer Zusammengehörigkeit der Zwillinge. Doch da ist es für einen guten Film schon zu spät.

 

21.10.20

Mein Liebhaber, der Esel & Ich


Frankreich 2020 (Antoinette dans les Cévennes) Regie: Caroline Vignal, mit Laure Calamy, Benjamin Lavernhe, Olivia Côte, Patrick 97 Min. FSK ab 6

Die auf den Esel gekommene Klamotte „Mein Liebhaber, der Esel & Ich" ist eine dieser erschreckend harmlosen Wohlfühl-Komödien, die das Kino sanft entschlummern lassen werden, wenn COVID es nicht vorher zu Grunde richtet. Die Selbstfindung einer naiven Stalkerin, kombiniert mit dem Genre der therapeutischen Wanderungen, geriet eher peinlich als komisch.

Die Grundschullehrerin Antoinette (Laure Calamy) ist überspannt und selbstzentriert – das bemerkt man schon, wenn sie den Auftritt ihres Schulchors für eine sehr laute Soloeinlage nutzt. Als sie bei den Urlaubsplänen von ihrem heimlichen Geliebten Vladimir (Benjamin Lavernhe) versetzt wird, folgt sie ihm und seiner Familie spontan zum Wandern in die Cevennen. Aus Versehen buchte sie zu ihrer mehrtägigen Stevenson-Wanderung noch einen Esel, zum Amüsement der anderen Wanderer. So bewältigt sie die erste Hälfte des Films wie 1878 der junge Robert Louis Stevenson mit Liebeskummer („Reise mit einem Esel durch die Cevennen") im Zwiegespräch mit ihrem Esel. Geht man dafür ins Kino? Im Gegensatz zum andauernden, vielleicht durch die Synchronisierung besonders unerträglichen Gequatsche hält sich die Handlung lange vornehm zurück. Krampfhaft komisch wie der deutsche Titel ist der gesamte Film. Da kommt tatsächlich eine nächtliche Affäre Antoinettes mit dem lauten Schrei eines Esels zum Höhepunkt!

Ihr Ruf eilt Antoinette von Wanderhütte zu Jugendherberge voraus. Denn nach den mühsamen Erklärungen des ersten Abendessens wissen alle von ihrem Stalking des Familienvaters. Aber bald gibt es wieder Jammern in rauer Landschaft. Erst in der letzten halben Stunde, nachdem Antoinette auf die Familie von Vladimir traf und mit seiner Ehefrau Eléonore (Olivia Côte) eine kluge Frau auftritt, kommt etwas Geist in die viele Frischluft. Die Betrogene analysiert Antoinette und das offensichtliche Verhältnis in ein paar Sätzen – was der Film in sechzig Minuten nicht hinbekommen hat. Danach geht die Esel-Therapie weiter. Etwas Slapstick ist leider unvermeidlich, aber dieser Art „Film-Vergnügen" muss man alles zutrauen. „Mein Liebhaber, der Esel & Ich" erlaubt sich leider mal wieder Spaß auf Kosten eines angeblich dummen Weibchens. Und eines Publikums, das etwaige Ansprüche an der Kinokasse abgibt.

Kajillionaire


USA 2019 Regie: Miranda July, mit Evan Rachel Wood, Gina Rodriguez, Richard Jenkins, Debra Winger 105 Min.

Miranda July ist eine bekannte Performance- und Konzept-Künstlerin mit (auch) aktuellen feministischen Positionen. Nach ihren ersten beiden Filmen („Ich und du und alle, die wir kennen", 2005; „The Future", 2011) ist die schräge „Familien"- und Schwindler-Komödie „Kajillionaire" schon fast konventionell: Eine sehr erwachsene Tochter entflieht in skurrilen Szenen den Fängen ihrer Trickbetrüger-Eltern.

Wenn die 26-jährige Old Dolio (Evan Rachel Wood) mit absurd verdrehten „Silly Walks" wie bei Monty Python am Zaun des Vermieters vorbeikriechen, um in ihrer Wohnung den Schaum des Tages aus der Wand einzufangen, dann ist das Kunst-Installation, Absurdes Theater, Surrealismus, ziemlich schräg und vor allem komisch. Die Eltern, die Trickbetrüger Theresa (kaum zu erkennen: Debra Winger) und Robert (Richard Jenkins) sind jede Minute dabei, etwas zu ergaunern, Coupons auszunutzen und mit kleinen Betrügereien ein paar Dollar zu machen. Hemmungslos setzen sie dabei ihre einzige Tochter ein. Diese abstruse Familienaufstellung wird zum Märchen, als die drei auf die einfältige Verkäuferin Melanie (Gina Rodriguez) treffen. Diese wirkt irritierend „normal", nimmt aber zu gerne die Tochter-Rolle an, worauf Old Dolio aus dem Familien-Gefängnis ausbricht.

Schon die Schlabber-Klamotten in „Kajillionaire", die Lycra-Tennisanzüge von Evan Rachel Wood, sind einen Oscar wert: Diese im doppelten Sinne komische Familie könnte vom extrem unmodischen Look her auch obdachslos sein, aber sie scheinen sich alle regelmäßig waschen zu können. Wie Geister schlurfen sie durch die Geschichte, süchtig danach, einen Coupon oder eine freundliche Einladung einer alten Dame zu Geld zu machen. Dazu ist Robert auch noch ein Aluhut mit Verfolgungswahn. Allerdings wirken in Miranda Julys Filmen die „normalen Leute" noch irritierender. Das erinnert in der philosophischen Skurrilität teilweise an die Filme von Charlie Kaufman („Anomalisa", „Adaption", „Synecdoche, New York") und Michel Gondry („Eternal sunshine of a spotless mind", „Science of Sleep", „Der Schaum der Tage"). Doch die seltsame Emanzipation von einer seltsamen Familie in „Kajillionaire" entwickelt sich zu einer sehr ungewöhnlichen Liebes- und Emanzipationsgeschichte. Da schält sich dann aus all den surrealen Momenten mit nicht normalen Figuren eine berührende Liebegeschichte in einem fast klassischen Heist-Film heraus.


20.10.20

Ema


Chile 2019 Regie: Pablo Larraín, mit Mariana Di Girolamo, Gael García Bernal, Paola Giannini 102 Min.

Grandioser Tanz-Film zu den Klängen des Reggaeton, bewegendes und entgrenzendes Beziehungsdrama, flammender Emanzipations-Kampf, packendes Meisterwerk. Mit „Ema" zeigt sich der chilenische Regisseur Pablo Larraín so gut wie in „No" und „Neruda", ebenso (gesellschafts-) politisch, aber diesmal auch ungemein sinnlich.

Eine riesige glühende Sonne im Hintergrund der Tanz-Bühne erinnert an das Feuer, das eine Familien-Katastrophe ausgelöst hat: Als der gerade adoptierte Polo ein böses Unglück verursacht, geben ihn seine neuen Eltern Ema (Mariana Di Girolamo) und Gastón (Gael García Bernal) zurück ans Jugendamt. Die junge Tänzerin bereut allerdings später diesen Schritt und setzt Himmel und Erde in Bewegung, um Polo von seinen neuen Eltern zurück zu bekommen. Was wörtlich zu nehmen ist. Mit vollem Körpereinsatz stürzt die Blondierte mit dem mal verführerischen, mal brutalen Gesicht in ein atemberaubendes Beziehungs-Wirrwarr. Mit einem Ende, auf das Hitchcock und Almodovar neidisch sein könnten. 

Eine lose Folge aus Tanz, Gesprächen und Handlung situiert das Drama Emas. Vom ersten Moment an finden Regisseur Pablo Larraín und sein Kameramann Sergio Armstrong fantastische und faszinierende Bilder, die eine emotionale Extremsituation nicht nur begleiten, sondern vielfältig ergänzen. Neonfarben sind ganze Straßenzüge Valparaísos ausgeleuchtet. Immer wieder sehen wir Ema mit ihrer rauen Frauengang in Reggaeton-Tanzszenen vor ungewöhnlichen und eindrucksvollen Orten. So ist selbst poetisch, wie Ema mit dem Flammenwerfer durch die Stadt geht, nächtens Autos, Ampel und Denkmäler abfackelt.

Zwischen dem älteren Choreografen Gastón und den jungen lokalen Tänzerinnen ergibt sich eine knackige Diskussion über die Qualitäten des diesen Film bestimmenden Tanzes Reggaeton. Nebenbei entspannt sich auch die Frage, ob zwei kreative, ungewöhnliche Menschen ein Kind adaptieren dürfen. Ema musste dafür jedenfalls die zuständige Sachbearbeiterin bearbeiten. Emas extreme Form von Mutterliebe, zu vergleichen mit koreanischen Auswüchsen wie „Mother", ist keine brutale Rache. Nur ein brutal raffinierter Plan, ausgeführt mit extremer, gnadenloser Entschlossenheit. Die einfältig sexistische Beschreibung „promiskuitiv" wäre zu kurz gefasst für das utopische Familienbild, das Ema mit großem körperlichem Einsatz einfädelt. Dabei wird ein Ehepaar ebenso vorgeführt, wie der wesentlich ältere Ehemann. Beim strahlenden Happy End deuten nur Musik und die Gesichter der Männer etwas Abgründiges an. Das ist irre und irre faszinierend, wie auch in allen Facetten großartig inszeniert. Die letzte Szene zeigt, Ema wird weiter Feuer legen.


19.10.20

Bohnenstange

Bohnenstange

Russland 2019 (Dylda) Regie: Kantemir Balagov, mit Viktoria Miroshnichenko, Vasilisa Perelygina, Andrey Bykov 139 Min.

Ein Jahr nach Ende des 2. Weltkrieges zeigt sich das von der deutschen Invasion besonders zerstörte Leningrad in „Bohnenstange" als ein Hospital der Schrecken des Krieges. Unter den körperlich und geistig Invaliden sticht die Krankenschwester Iya hervor. Nicht nur wegen ihrer Größe und dem hageren Körper - sie wird Bohnenstange genannt. Sie ist auch bei den Patienten besonders beliebt. Nach ihrem Fronteinsatz als Soldatin verliert sie immer wieder das Bewusstsein und erstarrt regungslos auf der Stelle.

Unter erbärmlichen Umständen, unter Hunger und Wohnungsnot hat Iya den kleinen Sohn ihrer Freundin Masha als ihren ausgegeben und durch den Krieg gebracht. Aber durch ein still schockierendes Ereignis stirbt er doch. Auch die Rückkehr Mashas ist bestimmt durch eine ruhige, heftig ergreifende Intensität. Es dauert ewig, bis Iya der Mutter die Wahrheit sagen kann, bis sie überhaupt spricht. Masha reagiert scheinbar ungerührt, nimmt eine Stelle im gleichen Krankenhaus an und verschweigt, dass es eigentlich ihr Kind war.

Neben der ästhetischen Brillanz von „Bohnenstange", neben dem exzellenten Schauspiel fesseln auch die erstaunlichen Reaktionen, die Menschen mit atemberaubenden Wünschen und Entscheidungen um Leben und Tod. Denn mit erstaunlicher, eiskalter Entschlossenheit bestimmt die mittlerweile unfruchtbare Masha, dass Iya für sie ein Ersatz-Kind bekommen soll.

Die Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegs-Zeit in Leningrad scheinen auch die Farben des Films ausgemergelt zu haben. Gelblich schmutziges Licht dominiert. Ein seltener roter oder grüner Kleiderstoff ist kaum Grund zur Freude. Irgendwann erinnert nicht nur diese Viragierung des Bildes an Lars von Trierschen Horror, den Menschen einander antun. 

Man sieht in „Bohnenstange" intensiv „die Folgen des Krieges durch Gesichter, Augen, Körper und Körper der Menschen", wie es der 1991 in Nalchik, Russland, geborene Regisseur Kantemir Balagov exakt beschreibt. „Bohnenstange", inspiriert durch das Buch „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht" der belarussischen Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexjiewitsch, lief 2019 dort und wurde mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet.

14.10.20

Oeconomia


BRD 2020 Regie: Carmen Losmann, 89 Min. FSK ab 0

Wie funktioniert eigentlich dieser „Wachstum", von dem die ganzen Wirtschafts-Junkies und -Jünger immer so begeistert reden? Wieso sind all diese großen Konzerne, die wir alle anbeten, so stolz auf ihre Gewinne? Und niemand fragt sich, wo das Geld für den allgegenwärtigen „Zugewinn" eigentlich herkommt?

Es sind eigentlich einfache Fragen, welche die Interviewerin und Regisseurin Carmen Losmann stellt. Doch ausgerechnet bei den großen Machern des europäischen Währungssystems und den großen Profiteuren der Banken sieht man in „Oeconomia" dabei hilflos verwirrte Gesichter. Besonders peinlich komisch ist der Belgier Peter Praet, Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank, wenn er zu einer – für die dummen Zuschauer – besonders einfachen Erklärung ansetzt und sich hemmungslos im Unerklärlichen verheddert. In haufenweise Interviews, wenn sie denn überhaupt gegen eine dicke Abwehrmauer zustande kommen, gibt es immer wieder die gleiche entblößende Reaktion.

Denn die Sache ist eigentlich klar, auch wegen der vielen populären Stellungnahmen von Thomas Mayer, ehemaliger Chefvolkswirt der Deutschen Bank und jetzt Warner vor einer „Hyper-Inflation": Auf nationalem und europäischem Level wird hemmungslos Geld „geschöpft", also gedruckt. Jeder Kredit jeder kleinen oder großen Bank vergibt kein Geld, dass irgendwo vorhanden oder abgesichert wäre. Es wird schlicht neu „gedruckt".

Was Losmann dabei unter anderem durch einen Monopoly-Spieltisch in einer Fußgängerzone klar macht, ist dass nicht die „systemrelevanten" Banken netterweise die Wirtschaft mit Krediten unterstützen. Es ist der propagierte Hyper-Konsum, der die nicht ganz so wichtigen Banken am Leben hält. „Und wer zahlt dafür?" Die Folgen des ganzen Wachstums-Wahnsinn werden in „Oeconomia" allerdings nur am Rande erwähnt: Die Kürzungen im Sozialen und die Umverteilung von Wohlstand von Unten nach Oben. Mit dem Schlusswort: Die Profite von heute sind die Schulden für morgen.

Nach ihrem preisgekrönten Dokumentarfilm „Work Hard – Play Hard" setzt Carmen Losmann ihre Recherche über unser – oder „deren" – Wirtschaftssystem fort. Das Bild verfällt wie bei vielen ähnlich gelagerten Filmen der Faszination von Glas und Stahl, unterlegt von einer leicht unheimlichen Musik. Nur zwischendurch werden diese Bilder mal interessanter, wenn Putzfrauen und andere Menschen, die im Gegensatz zu den Bankern wirklich Mehrwert für die Gesellschaft erzeugen, ins glänzende Bild geraten. Insgesamt eine gelungene Erklärung eines Zustands, der über einen guten, nicht von Wachstums-Virus verseuchten Artikel ebenso gut vermittelt werden kann. Der atmosphärische oder ästhetische Mehrwert ist sehr gering.

13.10.20

Astronaut


Kanada, England 2019 Regie: Shelagh McLeod, mit Richard Dreyfuss, Krista Bridges, Colm Feore, 98 Min. FSK ab 6

Aus dem Altersheim direkt ins All! Der pensionierte Straßenbau-Ingenieur Angus Stewart (Richard Dreyfuss) sucht allerdings nicht die schnelle Flucht als Astronaut vom Abstellgleis. Der freundliche Mann hat schon immer davon geträumt, ins All zu fliegen. Nacht für Nacht verfolgt er nun mit dem Fernrohr einen eindrucksvollen Kometen. Doch die Gesundheit des 75-Jährigen ist nicht die beste. Seine Frau starb vor einigen Jahren, die Tochter hat ihn zuhause aufgenommen. Dann verlost der visionäre Milliardär Marcus Brown (Colm Feore) - eine Mischung von Apples Steve Jobs und Amazons Jeff Bezos – einen Freiflug ins All. Vor allem Angus' Enkel überredet den Senior nun, sich für die Verlosung zu melden. Und der nerdige Ingenieur kommt, nachdem er beim Alter etwas schummelt, in die Endauswahl.

Die 58-jährige Regisseurin und Schauspielerin Shelagh McLeod inszenierte mit „Astronaut" ihren ersten Langfilm und eine eigentlich originelle Revolution gegen das Altern. Die Geschichte, auch von McLeod mit einer großen Sehnsucht und einer schönen Erinnerung geschrieben, könnte großes Kino geben. Aber letztlich und auch bei gutem Spiel von Richard Dreyfuss („Der weiße Hai", „Unheimliche Begegnung der dritten Art") bleibt der Film schluffig. Im Komischen, für das die netten Mitbewohner im Altersheim sorgen, hebt Clint Eastwood mit seinen vergleichbaren „Space Cowboys" viel leichter ab. Im Emotionalen läuft alles viel zu vorhersehbar und routinemäßig ab.

Der geheime Garten (2020)


Großbritannien, Frankreich 2020 (The Secret Garden) Regie: Marc Munden, mit Dixie Egerickx, Colin Firth, Edan Hayhurst, Julie Walters, Amir Wilson 100 Min. FSK ab 6
            
„Der geheime Garten" ist als Buch von Frances Hodgson Burnett (1849 - 1924, „Der kleine Lord") und in den Verfilmungen überaus beliebt. Die Geschichte einer Waise aus Indien, die bei ihrem verschlossenen Onkel in einem unterkühlten Schloss landet und einen versteckten Garten entdeckt, berührt die Herzen. Nach der 1993er-Version von Agnieszka Holland verzaubert nun die vierte Umsetzung fürs Kino mit ansprechender digitaler Malerei.

Ein paar Jahrzehnte nach vorne verlegt der britische Regisseur Marc Munden die ansonsten werkgetreue Geschichte der 10-jährigen Britin Mary Lennox (Dixie Egerickx), die 1947 nach dem Colera-Tod der Eltern auf das abgelegene Landgut ihres Onkels Archibald (Colin Firth) ziehen muss. Erste Blicke aufs nebelige Hochmoor und das Haus wirken wie im Horrorfilm. Dann ein dunkles Schloss mit einem trauernden Witwer und verschlossenen Räumen. Schon die Zimmer erscheinen hier fantastisch, allerdings in dunkelgrün und braun. Die verwöhnte Mary ist zwar sehr wählerisch bei ihrem Essen und durchaus auch schnippisch, aber ihr großes Herz zeigt sich bei den Versuchen, schnell mit Mensch und Tier Freundschaft zu schließen. So bringen sie ein verwilderter Hund und ein Rotkehlchen in den wunderbaren Garten hinter einer überwucherten Mauer. Dort gesundet schließlich sogar Marys kränklicher Cousin Colin (Edan Hayhurst), der mit dem gemeinsamen neuen Freund Dickon (Amir Wilson) per Rollstuhl in die farbenprächtige Oase gerollt wird.

„Der geheime Garten", diese wunderschöne, rührende und traurige Geschichte über den Umgang mit Verlust, begeistert in seiner neuesten Umsetzung als ein Film, in dem das Staunen nicht über die Erzählung vermittelt wird - man staunt selbst über die Bilder, die Tiere und die Welten. Von Marys Kleid mit einem Rautenmuster lösen sich Schmetterlinge und fliegen in den blauen Himmel. Pflanzen versperren den Weg oder verdorren bei schlechter Stimmung. Fantastisch sind nicht nur die Kostüme, auch Räume und Perspektiven. Zwar spürt man von Anfang an, dass hier viel digital getrickst wurde, aber das dann so überzeugend, dass man sofort mit herumstöbern möchte in diesen Wäldern. Auch der jungen Hauptdarstellerin Dixie Egerickx glaubt man die neugierige Lebendigkeit ihrer Figur. Dazu hat sie noch mehr Gefühlslagen und Stimmungen drauf. Colin Firth („A Single Man", ,,The King's Speech'') spielt wieder einen Leidens-Trip, wie damals in „Die Liebe meines Lebens" als ehemaliger Gefangener der Japaner beim Bau der Eisenbahn in Thailand.

 

12.10.20

Mrs. Taylor's Singing Club


Großbritannien 2019 (Military Wives) Regie: Peter Cattaneo, mit Kristin Scott Thomas, Sharon Horgan, Emma Lowndes 112 Min. FSK ab 6

Nun wissen wir endlich, weshalb all diese Männer weltweit in all diese Kriege ziehen: Damit ihre Frauen zu Hause beim Sozialprogramm Zickenkrieg machen können! Bitterer Hohn beiseite, ist „Mrs. Taylor's Singing Club" ein thematisch und handwerklich sehr mäßiges Filmchen um Strohwitwen und ihre Gesangsvereine von Peter Cattaneo, der im letzten Jahrhundert „Ganz oder gar nicht" inszenierte.

Lisa (Sharon Horgan) soll auf der britischen Army-Base diesmal die Frauen beschäftigen, während ihre Partner in Afghanistan rumballern. Weil manche der modernen Cowboys verletzt oder ganz und gar nicht vom monatelangen Einsatz nach Hause kommen, muss nämlich für Ablenkung gesorgt werden. Bei Frauen, die anscheinend kein eigenes Leben haben. Doch in Lisas Einsatz grätscht die erfahrene Offiziersgattin Kate Taylor (Kristin Scott Thomas) rein: Alle sollten nach ihrer Pfeife tanzen und im Chor will sie Takt und Lieder angeben.

Dieser kleine Zickenkrieg („die verhalten sich wie meine Eltern vor der Scheidung") sieht sich mit dem nicht sehr engagierten Schauspiel von Kristin Scott Thomas und Sharon Horgan mäßig komisch an. Ganz im Ton vergreift sich der Film allerdings, wenn es ans Eingemachte geht. Denn der Grund für Kates nervigem Aktionismus ist unterdrückte Trauer darüber, dass ihr Sohn von der letzten Kampagne" nicht zurückkam. Ein Euphemismus dafür, dass er das letzte mörderische Kriegsspiel seiner Regierung nicht überlebt hat.

Regisseur ist immerhin Peter Cattano, der mit „Ganz oder gar nicht" (1997) und „Lucky Break - Rein oder raus" (2001) zumindest zwei gelungene britische Komödien hingelegt hat. Spätestens wenn das Vorsingen, das bei diesem Brit-Coms eigentlich Standard ist, ausfällt, wird man jetzt misstrauisch. Die meisten Figuren bleiben oberflächlich, selbst der unvermeidliche Trauerfall berührt nicht. Nur die Sing-Stimmen sind besser als das Schauspiel. Trotzdem geht es nicht ohne irgendein öffentliches Finale. Dieses tatsächlich in der Albert Hall stattgefundene Ereignis ist wohl der Grund, warum diese Geschichte verfilmt wurde. Und die folgende Gründung vieler Strohwitwen-Gesangsvereinen auf britischen Militär-Stützpunkten. Dazu entgleitet das Finale noch militaristisch. Eigentlich hätten sie statt der Sätze aus den Briefen an die Heimat alle „Lili Marleen" singen können - eine Entwicklung seit diesem Krieg gibt es nicht.

 

I am Greta


Schweden 2020 Regie: Nathan Grossman 97 Min.

Sollten Sie Hassgefühle gegenüber weiblichen Jugendlichen aus Schweden hegen, die sich für das Weltklima einsetzen – blättern Sie bitte weiter. „I am Greta" ist ein Fan-Film zum Hype um die bemerkenswerte Aktivistin Greta Thunberg, der bei aller einseitiger Propaganda überraschend persönliche Einblicke in ein außergewöhnliches Leben zulässt.

Direkt zu Beginn schneidet „I am Greta" Aussagen von Klimaleugnern gegen Bilder von Naturkatastrophen und macht deutlich: Hier gibt es nichts zu diskutieren! Dann folgt der Film Gretas Karriere vom einsamen Schulstreik für das Klima in Stockholm zur Galionsfigur einer Umwelt-Bewegung und Hassfigur der Gegenbewegung. Die immer mehr Jugendlichen, die anfangs mit Greta vor dem Parlament und den Wahlen streiken, wirken inszeniert. Der Rest, die Treffen mit Papst oder Macron, die Reden vor Klima-Konferenzen und der UN-Vollversammlung, die Visite bei der Natur-Vernichtung am Hambacher Forst – das alles ist Geschichte. Wobei die sehr privaten Einblicke mit Bildern einer hemmungslos lachenden, tanzenden und albernen Greta das Porträt interessant machen. 

Bilder einer glücklichen und erfüllten Kindheit mit Weihnachtsbaum, Disneyworld und Urlaub am Meer werden mit knallharter Kritik der älteren Greta über den furchtbaren Konsumismus der Eltern kommentiert. Wenn bei einem Trip nach Kattowitz im Tesla-Kofferraum eine Mikrowelle voller Bohnendosen vor dem Schild vom Schulstreik steckt, gibt das den Greta-Hassern wieder viel Material. Dass ausgerechnet eine ziemlich ungesellige Jugendliche, die nicht gern spricht oder Smalltalk macht, Sprachrohr einer unzufriedenen Jugend wird, macht den Reiz dieser Geschichte aus. Wir sehen Greta zuhause vor einem Berg voller Kuscheltieren. Wir erleben ihren Ärger, als sie vom EU-Juncker für ein Werbeveranstaltung eingespannt wird. Überhaupt ist klar, dass sich der Teenager Greta nicht um die öffentlichen Auftritte reißt, aber weiß, was Reichweite für ihr Thema bedeutet. 

Wenn sie bei einer Demo das Essen vergisst und der auch immer im Film anwesende Vater Svante versucht, ihr zu helfen, steht das für die große Fixierung Gretas auf ein Thema, die auch eine enorm verzerrte Selbstgerechtigkeit mit sich bringt. Die Erklärung ist immer wieder ihr Asperger-Syndrom. Wobei, wäre nicht die Klima-Katastrophe da das interessantere Thema, Greta?

So ist „I am Greta" sicherlich interessant für Fans. Aber für jeden, der mitdenken will, geriet die Dokumentation, nein: das Pamphlet, erschreckend unwissenschaftlich. Unkritisch sowieso. Man muss dem Regisseur entgegenschreien: How dare you!

Der Bär in mir


Schweiz 2019 Regie: Roman Droux 91 Min.

Kindern zu erklären, dass Bären im Zoo etwas anderes sind, als der Teddy zum Kuscheln, ist eine schwierige, aber lebenserhaltende Aufgabe. Nun kommt ein Natur-Film daher, der diese Mühe zunichte macht: „Der Bär in mir" zeigt einen Bären-Fan, der in Alaskas Wildnis den riesigen Tieren zu nahe kommt.

Der Bären-Fan David Bittner erscheint eindeutig als Spinner, der auf Alaskas Wiesen Gespräche mit einer riesigen Bärin führt, die nur zwei Meter von ihm entfernt ist. Zu ihm gesellt sich der Filmemacher Roman Droux für einige Monate in der Wildnis, fern von jeder Zivilisation. Dass der Regisseur einst einen Teddybären hatte, prädestiniert ihn dazu, bei diesem Blödsinn mitzumachen - meint er im Off-Kommentar. Im „Land der Bären", einem Küstengebirge umgeben von endlosen, menschenleeren Stränden, leben Grizzlybären ungestört von Menschen. Bis auf „Bärenforscher" David Bittner, der begeistert eine noch vom Winterschlaf warme Höhle aufstöbert und mit „seinen Freunden" Balu und Luna Zwiegespräche führt.

„Der Bär in mir" macht diesmal nicht auf Vermenschlichung von Tieren, sondern die Verdämlichlichung des Menschen. Dramatisch soll es sein - und da ist dieser Film ganz Disney - wenn die Lachse auf sich warten lassen und eine Bären-Mutter langsam viel Hunger bekommt. Dann wird auf die Tränendrüse gedrückt, weil das kleinste der drei Nachwuchs-Bären - „Bärchen"! - immer zu wenig Essen abbekommt.

Der größte Teil des in seinen Nah-Aufnahmen interessanten Films wurde mit kleinen, versteckten und „unabhängigen" Sport-Kameras gedreht. So und mithilfe von Drohnen entstehen auf saftigen sibirischen Wiesen und an Flussläufen eindrucksvolle Bilder. Doch hinter allem steht vor allem Fan-Tum und nicht Forschungsinteresse. Es ist zu befürchten, dass bald massenhaft Abenteuer-Touristen wie David Bittner neben den wilden Bären campen wollen.

5.10.20

Vergiftete Wahrheit


USA 2019 (Dark waters) Regie: Todd Haynes, mit Mark Ruffalo, Anne Hathaway, Tim Robbins, Bill Camp, Bill Pullman 128 Min. FSK ab 6

Immer noch wird Grund- und Leitungswasser von Chemiekonzernen vergiftet - da haben sich doch schon John Travolta 1998 in „Zivilprozess" (Originaltitel: A Civil Action) und zuletzt Michael Moore in „Fahrenheit 11/9" drum gekümmert. Bitterer Scherz beiseite – vergiftetes oder durch Nestle enteignetes Grundwasser wird immer mehr zum Thema. Deshalb ist der wahre historische Kampf gegen einen Umweltskandal des Chemie-Riesen DuPont zeitlos. Dass der ausgerechnet der außergewöhnliche Regisseur Todd Haynes („Carol", „I'm not there") dies Justizdrama umsetzt, überrascht, aber überzeugt letztlich auch.

Erst der Besuch bei der Großmutter in Parkersburg, West Virginia, und die Ansicht einer Menge verendeter und wahnsinniger Tiere bewegt den erfolgreichen Wirtschaftsanwalt Rob Bilott (Mark Ruffalo) 1998 eine kleine Anklage gegen den gigantischen Weltkonzern DuPont – bester Kunde von Bilotts Kanzlei – zu starten. Bei der Produktion von Teflon entsteht ein hochgiftiger Stoff, der mit Wissen des Unternehmens Menschen seit Jahrzehnten weltweit vergiftet. Aus dem kleinen Fall wird für Bilott ein jahrelanger Kampf, an dem er fast zugrunde geht.

„Vergiftete Wahrheit" ist einer der vielen Gerichtsfilme zu den noch viel mehr Gesundheits-Skandalen großer Konzerne. Dass hier aber nicht der schnelle Erfolg solcher Gerechtigkeitsfilme mit Hollywood-Dramaturgie, sondern durch deutliche Schwarzblenden markierte Jahre zäh gerungen wird, stellt einen Unterschied dar. Marc Ruffalo, in vollem Einsatz als Produzent und exzellenter Hauptdarsteller, wird zuerst richtig wütend, er baut dann aber körperlich erschreckend ab. (Während Tim Robbins und Bill Pullman in Nebenrollen stark auftreten, ist Anne Hathaway als Bilotts Ehefrau ein Komplettausfall). Regisseur Todd Haynes kümmert sich in dem packenden Film mehr um die Personen als um Drama. Das ist dann auch nicht super spannend, aber mit schockierenden Details über deformierte Babys und vielfältigen Krebserkrankungen genau, nachvollziehbar und sehr wichtig

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Es ist zu deinem Besten


BRD 2020 Regie: Marc Rothemund, mit Heiner Lauterbach, Hilmi Sözer, Jürgen Vogel, Inka Friedrich, Andreas Pietschmann 91 Min. FSK ab 12

Erinnern Sie sich noch an „Meine Braut, ihr Vater und ich" (Meet the Parents, 2000)? Die bissigen Attacken DeNiros auf den Schwiegersohn in spe? Dann behalten Sie das in bester Erinnerung und versauen sich den Spaß nicht mit dieser ganz, ganz schäbigen deutsch-spanischen Kopie. Selbst die Dreifaltigkeit von Heiner Lauterbach, Hilmi Sözer und Jürgen Vogel kann formschwach nicht einen DeNiro aufwiegen.

Das bescheidene Komödchen fürs Senioren-Kino fährt drei verzweifelte Väter von drei Töchtern auf, die mit deren neuen Verehrern mehr als unzufrieden sind: Der arrogante Wirtschaftsanwalt Arthur (Heiner Lauterbach) wird in seiner protzigen Stadtvilla in Berlin mit einem idealistischen Antikapitalisten konfrontiert. Der cholerische Bauarbeiter und mega-aggressive Prolet Kalle (Jürgen Vogel) rasten nicht erst aus, als er seine Tochter großformatig auf Aktfotos einer Ausstellung sieht. Den Fotografen, der nicht nur der Freund der Tochter, sondern auch sein eigener Klassenkamerad ist, hat er schon vorher verprügelt. Der besonderes einfältige und niedliche Einwanderer Yus (Hilmi Sözer) muss bei eigener Durchsetzungsschwäche mit einem besonders rabiaten Freund der Tochter und dessen Riesen-Dogge fertig werden. Die selbsternannten „Super-Schwäger", die tatsächlich kindische Clowns und Kurz-Denker sind, greifen zu den üblichen Tricks wie Fotomontagen und angeheuerten Prostituierten, um die Töchter zu Trennungen zu bewegen.

Die ganz einfach gestrickte Komödie „Es ist zu deinem Besten" ist ein Remake des spanischen Films „Es por tu bien". Zum Glück, kann man denken, denn eigentlich sind derart flache Filmchen selbst in Deutschland eher selten. Nachdem nach 15 Minuten die Grundidee klar ist, wiederholt sich alles nur noch. „Es ist zu deinem Besten" ist Familien-Film vom Schlimmsten, wenn 16- oder 17-jährige Töchter ihren ersten Freund haben und die Eltern nicht mal das Wort Joint aussprechen können. Der etwas aufwändiger produzierte und besetzte Fernsehfilm von Marc Rothemund („Dieses bescheuerte Herz", „Mein Blind Date mit dem Leben") ist selbst als Durchhalte-Film in Krisenzeiten nicht kinoreif.

   

Milla meets Moses


Australien 2019 (Babyteeth) Regie: Shannon Murphy, mit Eliza Scanlen, Toby Wallace, Ben Mendelsohn, Emily Barclay, Eugene Gilfedder, Essie Davis 118 Min. FSK ab 12

Milla (Eliza Scanlen) trifft Moses (Toby Wallace) – das will der deutsche Titel in Englisch von „Babyteeth" eigentlich sagen: Milla trifft Moses und das brave Mädchen betritt eine neue Welt. Die Begegnung und der neue Haarschnitt machen aus der Geigen-Schülerin aus sehr gutem Hause einen anderen Menschen. Erst nimmt Moses Milla zu sich nach Hause, worauf seine Mutter direkt die Polizei anruft. Dann nimmt Milla den Herumtreiber und Gelegenheitsdealer Moses mit zu sich, was Mama Anna (Essie Davis) ganz klasse findet, denn Papa Henry (Ben Mendelsohn), ein ziemlich entspannter Psychiater, hat ihr wieder die richtigen Pillen zum Entspannen gegeben. Eigentlich ist alles sehr angespannt, weil Milla unter der blonden Perücke keine Haare mehr hat und das wegen schwerem Krebs und Chemotherapie.

Thematisch und inhaltlich ähnelt „Milla meets Moses" dem deutschen Film „Gott du kannst ein Arsch sein", der auch gerade im Kino läuft. Doch das grandiose, traumhafte und schillernde Meisterwerk aus Australien ist ein ganz anderer Krebsfilm - tatsächlich voller wilder Lebenslust. Erst eingezwängt in Architektur und Kunst der schicken Villa, dann Ausbrechen bis zu einer grandios gefilmten und vertricksten Party-Sequenz in Neon. Überhaupt die Farben: Von Mimis Klamotten und den Himmeln ein Genuss! Diese Liebesgeschichte ist ein Rausch, nur ist der Systemgegner Moses selbst keineswegs stabil genug, um die großen Gefühle einer Todkranken zu tragen. „Wenn Leute sich für eine Sache entscheiden, werden sie funktional. Ich will nicht funktionieren." So ist diese Liebe auch eine schwierige.

„Milla meets Moses" basiert auf dem Theaterstück „Babyteeth" von Rita Kalnejais, feierte seine Weltpremiere 2019 bei den Filmfestspielen in Venedig. Toby Wallace wurde dort für seine Darstellung des Moses mit dem Preis für den Besten Nachwuchsdarsteller ausgezeichnet. Eindrucksvoller spielt aber Eliza Scanlen („Little Women") die aufmüpfige Krebspatientin.

Irgendwie erinnert „Milla meets Moses" mit seinem liebenswert sympathisch makabren Humor an den alten Klassiker „Harold & Maude". Ironische Kapitel-Überschriften und ein sehr schön lebendiger Soundtrack („Golden Brown" mit Streichern) komplettieren das Vergnügen eines rundum gelungenen und stimmigen Films. Nicht nur Moses, auch Vater Henry, ein gelangweilter Psychiater, macht auf seine Art verrückte Dinge. Er mit der hochschwangeren Nachbarin, deren Hund Henry weggelaufen ist. Das eigentliche Drama kommt ganz ohne Sentimentalitäten daher und haut dabei am Ende umso mehr um.

3.10.20

Eine Frau mit berauschenden Talenten


Frankreich 2020 (La Daronne) Regie: Jean-Paul Salomé, mit Isabelle Huppert, Hippolyte Girardot 106 Min. FSK ab12

Die zierliche Isabelle Huppert als arabische Drogen-Dealerin, die eklektische Charakterdarstellerin als gerissene Kleptomanin - das ist mal eine originelle Idee und in dieser Ausführung ein Komödien-Knaller!

Patience Portefeux (Isabelle Huppert) übersetzt für die französische Drogenpolizei Verhöre und abgehörte Telefongespräche arabischer Verdächtiger. Dabei muss sie die Beleidigungen der nordafrikanischen Machos und auch körperliche Attacken ertragen. Zudem kümmert sie sich um die Mutter im Pflegeheim, das ihre Finanzen extrem belastet. Als sie hört, dass eine der Schmuggler in einer großen Überwachung der Sohn der netten Pflegerin ist, startet Patience spontan einen raffinierten Plan, um deren Sohn zu retten und das eigene Konto aufzubessern.

Die bürgerliche, ältere Frau, die plötzlich mit Drogen dealt, ist mit dem britischen „Grasgeflüster" (Saving Grace, 2000) und der französischen „Paulette" (2012) schon fast ein eigenes Genre. Doch „Eine Frau mit berauschenden Talenten" geht nicht den Weg des Sozialdramas und lässt auch keine brave Frau die Seiten wechseln. Wie es sich für einen „Stille Wasser sind tief"-Charakter von Huppert gehört, hat Patience schon als Kind für die Eltern Geld in die Schweiz geschmuggelt. Ja genau, Isabelle Huppert, diese zierliche französische Schauspielerin, die feingliedrige Klavierlehrerin, die Spitzenklöpplerin, die spezialisiert ist auf fordernde psychologische Rollen. In dieser leichten Komödie klaut ihre Figur auch gerne für den Sohn des Inspektors einen Spielzeug-Dino im Museum. Mit diesem Inspektor hat sie übrigens eine Beziehung und kommt so an die neuesten Ergebnisse der Ermittlungen gegen sie selbst.

Denn schwer verkleidet und geschminkt, versucht sie hinter großer Sonnenbrille als Araberin „Daronne" (arab.: die Alte, die Frau des Alten) 500 Kilo besten, frisch aus Marokko importierten Hasch zu verkaufen. Sie bringt die Ware mit dem Taxi zum Deal. Immer 20 Kilo in den billigen Plastiktaschen der Einwanderer. Ihre beiden Partner stellen sich nicht wahnsinnig raffiniert an und auch die immer neuen Übergabe-Ideen sind lustig. Hasch-Platten in Keksdose im Supermarkt auszutauschen ist ganz schön raffiniert. Auch ein wunderbares Verhältnis von Patience mit der chinesischen Hausverwalterin ist Humor mit Charme. Viele Details der gut gezeichneten Figuren und Milieus machen „Eine Frau mit berauschenden Talenten" von Regisseur und Ko-Autor Jean-Paul Salomé zur Komödie mit begeisternden Talenten.