28.2.23

Der Zeuge


Deutschland 2021, Regie: Bernd Michael Lade, mit Bernd Michael Lade, Maria Simon, Thomas Schuch, 97 Min., FSK: ab 12

Der vom Dresdner „Tatort" bekannte Schauspieler Bernd Michael Lade re-inszeniert in dem sehr persönlichen Projekt „Der Zeuge" als Autor, Regisseur und Hauptdarsteller ein US-amerikanisches Militärgericht kurz nach der Befreiung Deutschlands 1945. In dem Kammerspiel zwischen Betonwänden spielt er den Zeugen Carl Schrade, der als „Berufsverbrecher" von 1934 bis 1945 als Häftling die Konzentrationslager Buchenwald, Lichtenburg, Esterwegen, Sachsenhausen und Flössenburg erleiden musste.

In mühsamer Simultan-Übersetzung Englisch-Deutsch und Deutsch-Englisch berichtet Schrade gefasst und nüchtern von seiner Festnahme, Ankunft und den Quälereien in den KZ. Die Reaktionen der Übersetzerinnen sind dagegen geschockt und emotional. Gegen diese Szenen in Farbe sind in Schwarzweiß die Aussagen von SS-Männern, NSDAP-Funktionären und Ilse Koch (Lina Wendel), der Frau des berüchtigten KZ-Kommandanten Karl Koch, geschnitten - diesmal sind sie mit Nummern entpersönlicht. Dabei verweigert sich Regisseur Lade dem im Gerichtsfilm typischen Hintereinander von Zeugen und Angeklagten und setzt dem ein direktes Gegeneinander der gegensätzlichen Perspektiven entgegen. Von der anderen Seite hören wir die schauerlichen Ausreden und Entschuldigungen, sie hätten wegen der Befehle keine andere Wahl gehabt. Aber auch unmenschlich ökonomische Überlegungen über das Lager als Geschäft durch die extreme Ausbeutung der Gefangenen.

„Der Zeuge" ist auch in der Reduktion des Films erschütternd und in den nacherzählten Details schwer zu ertragen. Ein paar musikalische Akzente gibt es bei den Schilderungen besonders schrecklicher Taten. Basierend auf realen Gerichtsprotokollen realisierte Bernd Michael Lade ein nicht einfach zugängliches, aber wichtiges Dokument grausamer Entmenschlichung.

27.2.23

Tár

USA 2022, Regie: Todd Field, mit Cate Blanchett, Noémie Merlant, Nina Hoss, 158 Min., FSK: ab 12

„Tár", das eindrucksvolle Porträt einer egomanischen Künstlerin, auf Cancel Culture aus der Perspektive einer Ge-Cancelten im Kulturbereich zu reduzieren, wäre schade. Cate Blanchett brilliert im gnadenlosen Niedergang einer Star-Dirigentin.

Wir lernen Lydia Tár (Cate Blanchett), als erste weibliche Chefdirigentin kennen, die ein großes deutsches Orchester leitet. Eine beeindruckende Größe in ihrem Metier, die gerade eine Neuaufnahme an Mahlers Fünfter Sinfonie einstudiert. Auch die folgenden Szenen stellen das Können und die Bewunderung für die Dirigentin heraus. Ein souveränes Q&A mit dem bekannten New-Yorker-Autoren Adam Gopnik (der sich selbst spielt), weckt abgehoben beim Betrachter das Bedürfnis, im Musik-Lexikon nachzuschlagen. Lydia Tár - eine besondere Person auf der Höhe ihres Ruhms. Pure Eleganz, feinstes Handwerk, wie sie sich ein neues Sakko für den kommenden Job schneidern lässt. Und die Partitur für „ihren" Mahler neu bindet.

Erst eine Master Class an der berühmten New Yorker Musikhochschule Juilliard bringt Kratzer ins eindrucksvolle Bild: Dort weist Lydia Tár ebenso eloquent wie sarkastisch einen Dirigenten-Schüler zurecht, der eine moderne Komposition einer jungen Frau präsentiert. Ironisch spielt sie mit Gender-Begriffen, nur um deutlich zu machen, dass Bach ganz unabhängig von Hautfarbe oder Stand zeitlos bewegende Musik geschaffen hat. Dann erfährt Lydia vom Selbstmord einer ehemaligen Mitarbeiterin, die einst für sie schwärmte, und das Einzige, woran sie denkt, ist das Vernichten von Mails der Verstorbenen. Auch wie eiskalt sie altgediente Orchester-Mitglieder feuert und bei der Neubesetzung ihre ergebene Assistentin Francesca (Noémie Merlant) übergeht, erschreckt. Und ihre Partnerin, die ersten Violine Sharon Goodnow (Nina Hoss), mit der sie ein Kind großzieht, brüskiert sie mit der unverhohlenen Bevorzugung einer neuen, jungen Cellistin. Als Lydia mit der Stieftochter und deren Puppen Orchester spielt und diese allen einen Taktstock geben will, erklärt die Dirigentin: „Das ist keine Demokratie!"

Es geht in „Tár" nicht um juristische oder gesellschaftliche Details des Falls oder um Wahrheiten - die spielen in der Cancel Culture selten eine Rolle. Es geht um den Niedergang von purer Hybris, erzählt aus persönlicher Perspektive: Die extreme Perfektionistin Lydia Tár ist zunehmend durch Ticks anderer genervt. Dann reagiert sie hypersensitiv auf alle mögliche Geräusche, wird nachts von ihnen geweckt und sucht manisch die Wohnung nach der Ursache ab. Dazu hat sie immer seltsamere Albträume. Versuche, die Spannung am Sandsack und beim Laufen loszuwerden, scheitern.

Der für sechs Oscars nominierte „Tár" wird in der Kritik als Gegenfilm zu „She Said" und Lydia Tár als Gegenfigur zu Harvey Weinstein gesehen. Allerdings ist hier nirgendwo etwas von sexueller Gewalt zu sehen. Über Machtmissbrauch in Társ Beziehungen ließe sich diskutieren, der Film lässt diese Möglichkeit offen. Eine Fixierung auf dieses spekulative Thema würde dem Film nicht gerecht werden und das dunkel schillernde Psychogramm eines egozentrischen Genies extrem reduzieren. Lydia ist herrisch und fies in ihren Psychospielen. Als ihr alles entgleitet, bleibt nur ein Staunen. Keine Besserung, keine Demut. Und bei einigen der gnadenlosen Entscheidungen der genialen Dirigentin hallt die Lehre aus dem Kinderzimmer nach: „Das ist keine Demokratie!" Damit steht „Tár" mitten in der aktuellen Diskussion, inwieweit der elitäre Kunstbetrieb sich Übergriffe seiner herausragenden Künstler erlauben will.

Cate Blanchett („Blue Jasmine", „Aviator") stellt mit ihrer großartigen Verkörperung des Egomanischen und des Sensiblen in Lydia Tár zwar das restliche Ensemble in den Schatten, aber es fällt auf, wie hervorragend auch die Nebenrollen besetzt sind: Noémie Merlant („Porträt einer jungen Frau in Flammen") gibt den psychologischen Gegenpart zu Lydia Tár, die aufopferungsvolle Assistentin Francesca. Und Nina Hoss („Yella") durchlebt als Konzertmeisterin Sharon Goodnow die Eifersucht angesichts des unübersehbaren Auftritts einer jüngeren Konkurrentin.

Sonne und Beton

Deutschland 2022, Regie: David Wnendt, mit Levy Rico Arcos, Vincent Wiemer, Rafael Luis Klein-Heßling, 119 Min., FSK: ab 12

„Beton und Sonne", die Geschichte von vier jungen „Opfern" in Berlin-Gropiusstadt des Sommers 2003, ist die schockierende Verfilmung des gleichnamigen Bestsellers von Comedian und „Gemischtes Hack"-Podcaster Felix Lobrecht durch David Wnendt („Kriegerin", „Feuchtgebiete", „Er ist wieder da"). Das deprimierende Drama wirkt vor allem durch ungeschönte Sprache authentisch.

Zum Auftakt bekommen Lukas (Levy Rico Arcos) und seine Kumpels brutal Prügel von jugendlichen Dealern, nachdem der Junge gegen seinen Willen an der falschen Stelle durch den Park gegangen ist. Schuld ist wieder einmal Julius (Vincent Wiemer), selbstverliebter Vollidiot der Truppe. Der sorgt auch bei befreundeten Dealern dafür, dass die Situation weiter eskaliert. Am Ende ist ein Arm gebrochen und Lukas soll den Dealern 500 Euro zahlen - dabei haben die Jungs nicht mal Geld fürs Schwimmbad und keinen einzigen Geldschein in den Taschen. Zusammenhalt ist in der Notsituation nirgendwo zu finden. Als Lukas' neuer Freund Sanchez (Aaron Maldonado-Morales) mit der Idee kommt, die Schulcomputer zu klauen, denkt jeder nur an seinen eigenen Anteil.

So verläuft ein Horror-Schultag für Lukas. Alles fing damit an, dass er schwänzen musste, weil er seinen Schulausweis nicht findet. Zu Hause gibt es wenig Hilfe: Der überforderte, alleinerziehende Vater hat als Leitfaden „Der Klügere gibt nach", während der bewunderte ältere Bruder seinen scheinbaren Erfolg in der Gangster-Szene mit der Maxime „Der Klügere tritt nach" begründet.

Die Schule, in der regelmäßig Stühle und Tische fliegen, ist ebenso überfordert. Vor allem der hilflose Lehrer Herr Sonntag, der immer nur Mittwoch genannt wird. Ein Lehrer, der zwar an Lukas glaubt, aber rechts und Rassist ist. So bleiben dem Jungen nur die Angst und die Schreckschuss-Pistole von Julius' älterem Bruder, die zum Schrecken aller mit echten Kugeln schießt. Die soziale Hölle dieser Jugend bringt im Kino zwei Stunden Entsetzen angesichts der allgegenwärtigen Gewalt.

Gut und ernst zu nehmen ist das Szene-Drama, weil jeder der vier Freunde seinen eigenen Hintergrund bekommt: Der unendlich dumme Julius reitet immer wieder alle rein, hat aber seine schwere Geschichte mit einem älteren kriminellen Bruder. Gino (Rafael Luis Klein-Heßling) erlebt zuhause blutige Prügel durch den gewalttätigen Vater und spart für eine Flucht mit der Mutter nach Italien.

„Beton und Sonne" ist farbiger Neo-Realismus aus Berlin des Jahres 2003 - es wird nicht allzu viel Kunst um die brutal harte Jugend in dieser Gegend gemacht. Höchstens mal bekommt die Prügel von Ginos Vater einen Teppich aus Opernmusik unterlegt. Ansonsten wird die Handlung authentisch von Musikern und Hiphop-Stars wie Luvre47, Lucio101, Juju, Olexesh, NNOC, Azzi Memo, Klapse Mane und AOB begleitet. Das ist kein Spaß wie die Ghetto-Biografie, „Rheingold" von Fatih Akin. Aber wirkungsvoll erschreckend und bedrückend wegen der Härte der Ereignisse und wegen des tollen Spiels der vier Laiendarsteller in den Hauptrollen.

21.2.23

What's Love Got to Do with It?

USA 2022 Regie: Shekhar Kapur, mit Lily James, Shazad Latif, Emma Thompson, 109 Min., FSK: ab 6

Zum Erstaunen der Londoner Filmemacherin Zoe (Lily James) willigt ihr Jugendfreund Kazim (Shazad Latif), ein heimlich rauchender Onkologe, in eine von seinen Eltern arrangierte Ehe ein. Die Dokumentaristin hat zwar selbst keinerlei Rezept fürs Liebesglück, doch das traditionelle Ritual der islamischen Nachbarn kann es ja auch nicht sein. Wo bleibt denn da die Liebe? Da ihr letztes Projekt gerade abgelehnt wurde, verkauft sie ihren Produzenten und auch Kazim die Idee, diese arrangierte Hochzeit filmisch zu dokumentieren. Und begleitet ihren Freund sogar ins pakistanische Lahore.

Es sieht nicht schlecht aus, das unabhängige Leben Zoes auf ihrem Hausboot. Zwar drängelt die nervige Mutter Cath (Emma Thompson) und arrangiert zufällige Begegnungen mit ihren Paarungs-Kandidaten, doch die kluge, junge Frau sucht sich immer wieder den Falschen aus. Deshalb ist sie nicht ganz uninteressiert daran, wie andere ihr Glück finden wollen. Kazim war Nachbar in Kindertagen, so kennen sich die beiden gut. Auch wenn er einmal im Streit sagen wird, es läge ein ganzer Kontinent zwischen Hausnummer 46 und 47, den traditionell pakistanischen und den britischen Nachbarn. Doch was andere als anständig und im Einklang mit der Familien-Ehre ansehen, ist nicht der einzige Quell für Geheimnisse und Verletzungen bei diesem Familienfest mit anderen Schwierigkeiten.

Klar, dass eine völlig unbekannte Braut einige Überraschungen zur Hochzeit mitbringt. So funktioniert auch „What's Love Got to Do with It?" gemäß den Genre-Gesetzen von schwierigen Hochzeitsfesten halbwegs unterhaltsam. Vielleicht sollte es eine flotte Hochzeitskomödie wie „Love is all you need" (mit Pierce Brosnan und Trine Dyrholm) werden, aber der Verlauf hat nichts Flottes. Denn trotz sehr guter Besetzung mit Lily James („Mamma Mia! Here We Go Again") und Shazad Latif („Star Trek: Discovery", „Best Exotic Marigold Hotel") kommt diese unromantische Beziehungstragödie nie in die Gänge. Die Kamera zaubert dichte Bilder und bringt die Figuren raffiniert zusammen, doch Drehbuch und Schnitt wissen lange nicht, wohin es gehen soll. Als Kritik an arrangierten Ehen, die oft grausame Schicksale bedeuten, bleibt „What's Love Got to Do with It?" durchgehend verständnisvoll für die andere Kultur und seltsam handzahm. Für eine Liebeskomödie zündet die Anziehung zwischen Zoe und Kazim viel zu spät. Da ist fast den ganzen Film über nichts, was die beiden selbst nicht merken könnten. Erst zehn Minuten vor dem Ende kommt ein Twist, der dann doch die Verbindungen ohne echte Liebe bloßstellt. Dazu enttäuscht Emma Thompson („Meine Stunden mit Leo", „Cruella") mit einer wenig subtilen, albernen Mutterrolle.

Wo ist Anne Frank?

Belgien, Luxemburg, Frankreich, Niederlande, Israel 2022, Regie: Ari Folman, 104 Min., FSK: ab 6

Während ein heftiges Unwetter die Warteschlange vor dem Anne-Frank-Museum in Amsterdam durchweicht, zerbricht drinnen die Vitrine mit dem berühmten Original-Tagebuch. Aus den Zeilen erhebt sich eine Figur wie von Zauberhand. Es ist Annes erfundene Freundin Kitty, mit der sie immer im Tagebuch spricht. Irritiert und erschreckt versteckt sich das Mädchen, doch niemand der einströmenden Touristen kann sie sehen. Erst als sie das wertvolle Tagebuch einpackt und nach draußen geht, kann sie Kontakt mit Menschen von heute aufnehmen. Und ahnungslos will sie in einer Welt mit Anne-Frank-Brücke, Anne-Frank-Schule und Anne-Frank-Theater wissen: Wo ist Anne Frank?

Der israelische Regisseur Ari Folman („The Congress"), der schon mit erwachsenen Animationen zum Nahost-Konflikt wie „Waltz with Bashir" beeindruckte, verfilmte nun die Graphic Novel „Wo ist Anne Frank?", die er zusammen mit Lena Guberman schrieb. Durch die suchende und fragende Kitty wird das Tagebuch einer neuen Generation nahegebracht. Auf einer Ebene erzählt der Film nach, wie die deutsche Familie Frank sich ab 1942 für mehr als zwei Jahre in einem Amsterdamer Hinterhaus vor den Nazis und ihren Judengesetzen verstecken musste. Und von den Anfängen des Tagebuchs mit der wichtigen Frage, an wen Anne es richten soll. Es gibt Erinnerungen an das Leben vor dem Verstecken, als noch alle Jungs in Anne verliebt waren, in Form einer Musical-Parade durch die Straßen. Die zunehmenden Einschränkungen des Lebens von Juden werden in einer kurzen, prägnanten Abfolge von Bildern zusammengefasst. Im Gespräch zwischen Anne und Kitty hören wir die Erklärung, dass Menschen seit Anbeginn immer Minderheiten die Schuld an Problemen gegeben hätten.

In der Jetztzeit eines winterlichen Amsterdams korrigiert Kitty falsche Anne-Zitate bei einer Theater-Aufführung und entkommt der Polizei immer wieder abenteuerlich über die vereisten Grachten mit ihren ausfahrbaren Schlittschuhen. Dabei lernt sie den Taschendieb Peter und seine Freunde kennen. Mit ihnen kommt sie in eine Siedlung von Geflüchteten, die von Abschiebung bedroht sind. Kitty zieht von den Kindern der dunkelhäutigen Wohnungslosen eine Verbindung zum Schicksal Anne Franks, die nach dem Transport ins Durchgangslager Westerbork im Konzentrationslager Bergen-Belsen ermordet wurde.

„Wo ist Anne Frank?" hat eine überzeugende Idee, um das Weiterleben von Anne Franks Idealen in der Gegenwart zu überdenken. In der um Spannung bemühten Rahmenhandlung, in der Kitty vor der Polizei flieht, lebt Annes Motto auf: „Tue alles, was du kannst, um eine Menschenseele zu retten!" Brillant ist, wie der Regisseur Ari Folman die Möglichkeiten der Animation nutzt: Da gibt es fantastische Visionen von dem Kampf von Annes (Film-) Helden, unter ihnen Clark Gable, gegen die Nazis. Ein andermal spazieren Anne und Peter durch riesige Röhren im Inneren eines Radios, das Nachrichten von den deutschen Verlusten bringt. Die marschierenden Nazi-Soldaten auf den Straßen wirken mit ihren weißen Masken wie Geister. So packen das Schicksal von Anne Frank und der Kampf Kittys ums Überleben der humanistischen Ideen gleichermaßen.

Ari Folman widmete diesen Film seinen Eltern, die in derselben Woche wie die Familie Frank an den Toren von Auschwitz ankamen.

14.2.23

Bigger than us

Frankreich 2021, Regie: Flore Vasseur, 96 Min., FSK: ab 12

Als 12-Jährige begann die Indonesierin Melati ihren Kampf gegen Plastikverschmutzung auf Bali. Nach sechs Jahren wurden ihre Forderungen nach einem Verbot von Plastiktüten Gesetz. Nun macht Melati die Moderatorin in dieser Dokumentation über ähnliche Erfolgsgeschichten jugendlichen Engagements auf der ganzen Welt. Sechs junge Menschen vom Libanon über Afrika bis Rio de Janeiro zeigen ihre ganz eigene Welt von Einsatz und Widerstand. Die engagierte Regisseurin Flore Vasseur („Meeting Snowden") präsentiert begeisternde Geschichten um Naturschutz, Flüchtlingshilfe, Frauen- und Kinderrechte. Es geht gegen Zwangsheirat, Überschwemmung oder Bildungsarmut in Flüchtlingslagern. Schreiendes Unrecht bessert sich jeweils nach jahrelangem Einsatz. Die Porträts kommen manchmal zu kurz, vor allem wenn die um die Welt reisende Melati immer wieder als Referenzpunkt ins Bild muss. So macht der von Marion Cotillard koproduzierte Dokumentarfilm über die „Generation Greta" Mut und neugierig.

13.2.23

Final Cut of the Dead


Frankreich 2022 (Coupez!) Regie: Michel Hazanavicius, mit Romain Duris, Bérénice Bejo, Finnegan Oldfield, 112 Min., FSK: ab 16

„Billig, schnell und ganz gut!" So dreht Regisseur Rémi (Romain Duris) und so soll der Low-Budget-Zombiefilm „Project Z" aussehen, den eine japanische Produzentin in Auftrag gibt. Mit einer kleinen Schwierigkeit: Alles soll in 30 Minuten an einem Stück gedreht und live ausgestrahlt werden. Ein Wahnsinnsjob, den Rémi nur annimmt, weil seine Tochter auf den angesagten Hauptdarsteller Raphaël Barrelle (Finnegan Oldfield) steht. Doch all das erzählt „Final Cut of the Dead", der in Cannes Eröffnungsfilm war, erst nachdem wir den fertigen „Project Z" komplett gesehen haben. Danach geht „Final Cut of the Dead" vier Wochen zurück, um witzig hinter die Kulissen des Film-im-Film zu blicken

„Ich liebe dich" stammelt die blutverschmierte Ava (Matilda Anna Ingrid Lutz), bevor ihr zum Zombie gewordener Freund Ken (Finnegan Oldfield) in inniger Umarmung zubeißt. „Cut" ruft der Regisseur (Romain Duris), dann schreit er die Schauspielerin zusammen: Das wäre ganz miserables Schauspiel, das seien keine echten Gefühle! Glaubhaft wird das Rennen und Schreien danach erst, als auf dem Set des billigen Schocker-Streifens echte Zombies wiederbelebt werden. Dass Rémi, der Regisseur VOM Film-im-Film auch IM Film „Project Z" Regie führt, irritiert nur kurz und wird durch turbulente Vorgänge hinter der zweiten Kamera erklärt.

Seltsamer sind die selbst für „Billig, schnell und ganz gut!" dilettantischen Aussetzer im eigentlichen Film. Da entfernt sich die Handlung mit Hackebeil und abgetrenntem Arm aus dem Bild, während die Kamera irgendwie wackelnd am Fleck festhängt. Da will jemand zum Rauchen rausgehen, überlegt es sich aber erst zwei Mal, bevor er die Tür öffnet und Opfer der Zombies wird. Dass die Verzögerung nötig war, weil der besoffene Darsteller draußen noch nicht präpariert war, sehen wir erst im zweiten Durchgang von „Project Z" – diesmal mit dem Blick aus den Kulissen.

Die geniale Idee, einen Film mit all seinen Pannen und spontanen Rettungsversuchen vor und hinter den Kulissen zu zeigen, ist in seinen besten Momenten so spaßig wie Ernst Lubitschs Komödien. „Final Cut of the Dead" sieht allerdings wesentlich weniger raffiniert aus, weil der echte Regisseur Michel Hazanavicius das Prinzip „Billig, schnell und ganz gut!" auf allen Ebenen durchgezogen hat. Er war schon immer von Geschichten um Kino und Film fasziniert: „OSS 117 - Der Spion, der sich liebte" (2006) amüsierte als herrliche Parodie eines lächerlichen französischen James Bond. Hazanavicius' Riesenerfolg „The Artist" 2011) zeigte Hollywoods Stummfilm-Ära ohne Ton in Schwarz-Weiß. In „Godard Mon Amour" (2017) spielte er nach, wie sich Legende Jean-Luc Godard bei Dreharbeiten in die 19-jährige Schauspielerin Anne Wiazemsky verliebt und sie heiratet.

Nun stürzt sich Hazanavicius wild und ausufernd auf das Entstehen eines Low-Budget-Zombiefilms, um letztlich die unstoppbare Leidenschaft, Film zu machen, liebevoll siegen zu lassen. Trotz der Hindernisse einer Nebendarstellerin mit der emotionalen Reichweite und dem Talent von Toastbrot, einem Kameramann mit Rückenschmerzen und einem Tontechniker mit fiesen Darmaktivitäten, die er als „Monster in meinem Inneren" bezeichnet. Dazu will der Star dauernd das Drehbuch und seinen Text ändern, während die japanische Produzentin wegen der Erwähnung von Pearl Harbour beleidigt ist und auf absurder Texttreue samt japanischer Namen besteht. „Final Cut of the Dead" ist übrigens tatsächlich das Remake von „One Cut of the Dead" des Regisseurs Shinichiro Ueda.

Michel Hazanavicius' liebste Hauptdarstellerin Bérénice Bejo („The Artitst") spielt diesmal Nadia, die Frau des Regisseurs, die ihre Schauspielkarriere aufgegeben hat. Durch den nächsten Ausfall am Set springt Nadia für die Rolle der Regie-Assistentin ein und wir sehen, weshalb sie ihren Job beendete. Sie geht so sehr in ihrer Rolle auf, dass sie nicht mehr zu stoppen ist. Nicht nur wegen des Beils in ihrer Hand eine gefährliche Sache ...

Hazanavicius' Film über das Filmemachen bringt rasanten, wilden Humor mit viel Schreien, spritzenden Blut, sowie echtem und Film-Erbrochenem. Wobei es an den Schlüsselstellen immer schön menschelt, etwa wenn ein Kinderfoto mit Rémis Tochter die wichtige letzte Einstellung rettet: Eine Pyramide aus Team-Mitgliedern ersetzt den vorher demolierten Kamerakran und macht berührend deutlich, dass Filmemachen ein kollektiver Akt von Menschen bleibt.

7.2.23

Der Geschmack der kleinen Dinge

Frankreich/Japan 2022 (Umami) Regie: Slony Sow, mit Gérard Depardieu, Kyozo Nagatsuka, Pierre Richard, 107 Min., FSK: ab 6

Depardieu als launiger Chefkoch - eine Rolle, die dem Gourmet und Gourmand auf den üppigen Leib geschrieben ist. Mit ihm erzählt „Unami" die Geschichte einer Selbstfindung in der Fremde ... noch einmal.

Sternekoch zu sein, ist eindeutig kein Vergnügen: Gabriel Carvin (Gérard Depardieu), mit seinem Restaurant „Monsieur Quelqu'un" (Herr Jedermann) eine Berühmtheit, schlurft nur noch freudlos durch die Gänge eines ehemaligen Klosters, das er zum Nobel-Schuppen umwandelte. Seine Frau (Sandrine Bonnaire) betrügt ihn offen mit einem Gourmet-Kritiker, sein ältester Sohn (Rod Paradot) zerbricht unter dem Druck der knallhart geführten Küche. Als ein wichtiges Testessen bevorsteht, legt ein Herzinfarkt Carvin flach. Der üppige Koch reist auf Empfehlung seines einfach lebenden Freundes Rufus (Pierre Richard, grandios in der Nebenrolle) nach Japan. Dort hat ein alter Konkurrent in seinem Ramen-Restaurant etwas, was er selbst vermisst. Und das ist nicht nur der große Preis, bei dem Carvin einst besiegt wurde. Es ist vordergründig das Geheimnis des fünften Geschmacks, Umami.

Nun erlebt Carvin sein „Lost in Translation", teilt mit anderen Gästen eines Schließfachhotels die Einsamkeit. Ein japanischer Manager erzählt ihm - unverstanden - die Geschichte seines persönlichen Scheiterns bei der Badezeremonie. Beim Essen revanchiert sich der Franzose mit seiner Geschichte, auch unverstanden vom Gegenüber. Der Koch grunzt wie ein Schwein und verhält sich in einem Land voll extremer Rücksichtnahme besoffen ebenso. Mit Kimono geht es auf dem Fahrrad durch den Schnee zu Schweinefarmen und Koch-Kollegen - Umami muss man sich verdienen, meint ein alter Küchen-Meister.

Parallel folgen wir den Kindern der Köche. Der abenteuerliche, jüngere Sohn Carvins beim Fallschirmsprung. Die depressive Tochter des Ramen-Meisters hat den Sprung in den Tod selbst nicht gewagt. Ein Internet-Mobbing hat „dieser jungen Frau die Flügel ausgerissen".

Die langsam erzählte Geschichte (Schnitt: Regisseur Slony Sow) zeigt Wandel und positive Veränderung gleich für mehrere Generationen. Carvin selbst findet letztendlich wieder Geschmack an Familie und alles löst sich wie beim Fertiggericht in Wohlgefallen auf.

6.2.23

Maurice, der Kater

Deutschland, Großbritannien, USA 2022 (The Amazing Maurice), Regie: Toby Genkel, 93 Min., FSK: ab 6

Gerade noch amüsierte der „Der Gestiefelte Kater" im Kino, nun wird er humorig in den Schatten gestellt von einem stiefellosen und viel raffinierteren Mäusefresser: „Maurice, der Kater" ist nach Vorlage von Terry Pratchetts Scheibenwelt-Romanen eine umwerfend komische, selbstreflexive und glänzend inszenierte Animation.

Eine flotte Musical-Nummer mit Ratten in der Hauptrolle leitet eine Variante des altbekannte Rattenfängers von Hameln ein: Das Dorf leidet unter Nager-Plage, aber der sprechende und singende Kater Maurice wüsste eine Lösung. Nachdem man den Flötenspieler Keith entlohnt hat, lockt der alle Ratten aus der Stadt. Später feiert das Ensemble dieser erfolgreichen Gaunerei zusammen: Maurice, die Ratten und der Rattenfänger haben gemeinsam wieder Kasse gemacht. Maurice einfach um des Geldes wegen, die Ratten, weil sie ein märchenhaftes Paradies aus dem Kinderbuch Mr. Bunsy finden wollen.

Mit einem Riesengrinsen à la Cheshire Cat aus „Alice im Wunderland" ist Maurice der eigentliche Verführer, nach dessen säuselnden Tönen alle tanzen. Bis im nächsten Ort alles anders ist: In Bad Blintz leidet die Bevölkerung unter Nahrungsmangel, obwohl weit und breit keine einheimische Ratte zu entdecken ist. Im unheimlichen Kanalsystem der Stadt kommen Maurice und sein Team einer viel größeren und gemeineren Täuschung auf die Spur.

Der verschrobene Humor sowie die aus Zeit und Genre gefallenen Figuren machen schnell klar: „Maurice" ist eine Scheibenwelt-Geschichte von Terry Pratchett. Der 2015 verstorbene britische Autor schuf mit den 41 Romanen das sehr eigene und sehr witzige Universum der Scheibenwelt, die mit wiederkehrendem Personal viele Genres lustig durchkonjugierte, während immer wieder Alltags-Phänomene karikiert wurden. Trotz eines großen Kreises von Scheibenwelt- und Pratchett-Fans, blieben die Versuche, den Erfolg dieser Mini-Romane in den Film zu übertragen, eher bescheiden. Von „Soul Music" und „Wyrd Sisters" gab es 1997 ganz einfach gezeichnete Animations-Serien. TV-Produktionen wie die Postamts-Parodie „Terry Pratchett's Going Postal" oder die Zauberer-Satire „The Colour of Magic – Die Reise des Zauberers" wurden nur für TV produziert. Populärer war zuletzt die Zusammenarbeit mit Neil Gaiman für „Good Omens". Den Erfolg der religionskritischen Miniserie mit David Tennant und Michael Sheen bekam Pratchett allerdings nicht mehr mit.

„Maurice, der Kater" ist als Kinderbuch eine Ausnahme der Scheibenwelt-Romane und erhielt von britischen Buchhändlern die „Carnegie Medal" als Bestes Kinderbuch. Es gibt auch im Film nach dem Drehbuch von Terry Rossio („Shrek", „Aladdin") Wortwitz, tolle Figuren sowie eine herrlich schräge Geschichte, geistreich und umwerfend komisch präsentiert. Da erweist sich eine kleine, blecherne Aufzieh-Maus als sehr lebendig, Gevatter Tod hat als Begleiter und Mitarbeiter ein winziges Ratten-Gerippe. Zudem erklärt Malicia, die fantasiereiche Rahmen-Erzählerin, wunderbar Mechanismen solch einer modernen Märchengeschichte - in der sie selbst vorkommt! Allerdings ist sie nicht die Einzige, die sich selbst kommentiert. Darauf weist der eitle Maurice hin und auch darauf, dass er sogar im Titel vorkommt! Das gewitzte Mädchen Malicia bekommt als Strafe Stubenarrest, aber außerhalb ihres Zimmers, damit sie nicht noch mehr in ihren Büchern lesen kann. So macht sie bald Teil der Gang von Maurice aus.

Im Original spricht David Thewlis den schaurigen Ratten-Chef „Boss Man". Die deutsche Version arbeitet mit den Synchronstimmen von Bastian Pastewka, Janin Ullmann und Jerry Hoffmann.