30.4.18

No Way Out - Gegen die Flammen

USA 2017 (Only the Brave) Regie: Joseph Kosinski mit Josh Brolin, Miles Teller, Jeff Bridges und Jennifer Connelly 134 Min. FSK ab 12

Der Feuerwehr-Film ist eine heiße Sache für Heldenverehrung und nicht erst seit 9/11 für Pathos mit Brandbeschleuniger. Regisseur Joseph Kosinski („Oblivion", „Tron: Legacy") lässt seinen neuesten, exzellenten Beitrag zum Genre mit toller Besetzung erst einmal auf kleiner Flamme köcheln, bis das Feuerwerk im Finale fast alles wegfegt. Eine Überraschung, für die man Feuer und Flamme sein kann.

Harte Kerle, verwegene Männer und ruppige Kameradschaft - alles da, doch „No way out" geht nicht direkt in die Feuerhölle. Für Eric Marsh (Josh Brolin) ist seine Feuerwehr-Truppe, die sich mit gigantischen Waldbränden rumschlägt, eher ein betriebswirtschaftliches Drama: Eric will sich mit seiner Truppe und der Hilfe vom Unternehmer Duane Steinbrink (Jeff Bridges, darf Country singen) gewinnbringend selbständig machen. Die 19 Männer sollen eine Hotshot-Crew werden, eine Elite-Truppe, die den Feuerwalzen den Weg abschneidet, ihnen durch rasend schnelle Rodungen und platzierte kleine Feuer die Nahrung nimmt. Die Qualifizierung braucht mit einer Art Führerscheinprüfung und trotz politischer Unterstützung seine Zeit. Was der Film ebenso vermittelt wie die schweißtreibenden Techniken der Feuerbekämpfung.

Im langsamen Aufbau bekommt der Neuling Brandon „Donut" McDonough (Miles Teller) ein Chance. Obwohl der wenig fitte Typ mit seinen Vorstrafen kaum geeignet scheint, hat Boss Marsh seine Gründe für diese Entscheidung. Man erfährt sie erst viel später. Der Ausbildung wird ausführlich und tatsächlich informativ gefolgt, ohne dass es langweilt. Die Kameradschaft bleibt nicht oberflächlich und geht ohne viele Worte in die Tiefen von Abhängigkeiten und Süchten. Aber bevor das Gequengel, dass die Männer zu lange von zuhause weg sind, überhand nimmt, bedroht ein Feuer den Heimatort der Truppe.

Nein, „No way out" ist kein Actionfilm. Hier sind mehr Menschen als Helden im Einsatz, wie Erics nervöses Bangen um die offizielle Bewertung eines eigensinnigen aber erfolgreichen Einsatzes zeigt. Nicht nur die Entwicklung von Neuling Brandon ist packend, auch Marshs Frau Amanda (Jennifer Connelly), die sich um verletzte Pferde (und auch Männer) kümmert. Für andere Filme wäre sie eine bangende und schluchzende Randfigur, hier - in diesem hauptsächlichen Männerfilm - steht sie eindrucksvoll ihre Frau. Denn das notwendige Maß an Selbständigkeit, das die Angehörigen der dauernd in Lebensgefahr abwesenden Helden aufbringen müssen, ist gut ausgearbeitetes Thema.

Nach den zwei Action-Filmen „Oblivion" (2012) und „Tron: Legacy" (2010, auch mit Jeff Bridges) überrascht Regisseur Joseph Kosinski hier mit einem gut geschriebenen, hervorragend gespielten, gekonnt inszenierten und exzellent fotografierten Werk. Kameramann Claudio Miranda zeigt erstaunlich schöne Bilder von brennend fliehenden Tieren, die auch mal still nicht der Überwältigungs-Dramaturgie folgen. Die mit stimmigen Figuren perfekt abgesicherte, äußerst sorgfältige Steigerung wird dann am tragischen Schluss noch richtig spannend. Mit einem unglaublich heftigen Finale, das auch einen schlechteren Film sehr sehenswert gemacht hätte.

Eleanor & Colette

BRD, Belgien 2017 (55 Steps) Regie: Bille August mit Helena Bonham Carter, Hilary Swank 115 Min. FSK ab 12

Die wahre Geschichte von Eleanor Riese empfängt einem mit cineastischen Schlägen in die Magengrube, die den Horror einer Psychiatrie körperlich mitempfinden lässt, welche Patienten medikamentös ruhig stellt und sie dann sich selbst überlässt. Eleanor (Helena Bonham Carter) hat sich wegen paranoider Schizophrenie einweisen lassen. Doch als ihre Ärzte sie gegen Eleanors Willen ruhig spritzen, ruft die Patientin die Anwältin Colette Hughes (Hilary Swank) an. 1989 ereignete sich dieser Streit vor den höchsten Bundesgerichten der USA, der über das Schicksal von über 150.000 Patienten der Psychiatrie entschied. Wie der Film sehr oft betont!

Eleanor ist mit ihren sehr rundlich in sackigen Klamotten und mit Hüftproblemen nicht die übliche Strahle-Heldin eines solchen historischen Gerichtsfilms. Diese Frau ist eine schwer erträgliche Klientin, meckert erst einmal über die Frisur von Colette, die sie bald aus der Psychiatrie rausholen wird. Doch mehr als der Fall erfordert die Klientin enorme Geduld. Eleanor hört kaum eine Minute zu, macht dauernd unerwartete Dinge und findet, dass richtige Kleid zu kaufen, sei wichtiger als eine Vorbereitung der Gerichtsverhandlung. Das ist auch beim Zusehen anstrengend, was zeigt, wie gut Bonham Carter spielt. Sie macht eindringlich klar, wie furchtbar die Nebenwirkungen der Medikamente sind.

Wie der deutsche Titel betont, geht es weniger um ein nicht sehr spannend inszeniertes Gerichtsverfahren. „Eleanor & Colette" konzentriert sich auf Eleanor und Colette. Die gestresste Anwältin muss das Vertrauen der egozentrischen Frau gewinnen. Wird aber auch gezwungen, sich für scheinbar sinnlose Dinge Zeit zu nehmen. Sinnloses wie das gesteigerte Interesse am Mitmenschen. Das ist sehr gut gespielt und lehrreich, doch die Figuren bleiben letztlich eindimensional in Funktion einer planmäßig bewegenden Geschichte.

„Eleanor & Colette" wirkt wie ein Nebenjob für Bille August, der sowieso mit letzten Filmen wie „Nachtzug nach Lissabon" (2012) oder „Goodbye Bafana" (2007) nicht mehr die Intensität seiner Erfolge „Fräulein Smillas Gespür für Schnee" (1996), „Das Geisterhaus" (1993) und „Die besten Absichten" (1992) erreichte.

Meister der Träume

Frankreich, BRD 2017 (Le Prince de Nothingwood) Regie: Sonia Kronlund 85 Min.

Der „afghanische Steven Spielberg" drehte trotz Besatzung, Taliban und Bürgerkrieg in den letzten 30 Jahren über 100 Low Budget-Filme im Bollywood-Stil. Dieses sehr kenntnisreiche und einfühlsame Porträt eines charmant eitlen Film-Fanaten ist gekonnt verwoben mit der Geschichte des geschundenen Landes: Was ist das für ein Mensch, der mitten im afghanischen Bürgerkrieg Filme dreht und, nachdem bei einem Raketenangriff zehn Crew-Mitglieder sterben, noch weiter filmt? Die Verknüpfung eines von Besetzung und Krieg geschundenen Landes mit dem Leben eines fanatischen Filmemachers ist die Geschichte der Dokumentation „Meister der Träume".

Der 1964 in einem zum Westen geöffneten Afghanistan geborene Salim Shaheen gilt als der afghanische Steven Spielberg, wobei Ed Wood passender wäre. Er ist gleichzeitig Schauspieler, Produzent, Regisseur und Held. Es sind einfach gemachte Genre-Geschichten mit übersichtlicher Story, die ein großes Publikum finden. Das Staunen mit offenem Mund der jungen Männer beim Zuschauen im improvisierten Kino belegt dies. Es gibt Prügel im Bud Spencer-Stil, dazu Musik- und Tanzeinlagen wie beim Bollywood-Kino. Im Gegensatz zum dortigen Überfluss fehlt es in seinem „Nothingwood", so sagt Salim Shaheen selbst, an allem.

Salim Shaheen inszeniert sich bei einer Autopanne als Macher und Anpacker, was sich denn auch mit einer passenden Filmszene von ihm doppelt lässt. Auch zur seiner Biografie mit früher Filmbegeisterung und verbotenen Kinobesuchen gibt es - fast wie bei Woody Allen - eigenes Spielfilmmaterial zum Bebildern. Seine Karriere begann als Soldat und Künstler für die sowjetischen Besatzer. Trotz Bürgerkrieg, Taliban und der Bürde der Traditionen drehte Shaheen immer weiter.

Die französische Regisseurin Sonia Kronlund hat seit dem Jahr 2000 - damals noch unter der Herrschaft der Taliban - viele Fernseh- und Radioberichte in Afghanistan gemacht und war fünfzehn Mal im Land. Dieses Porträt könnte sich als Kuriosität schnell erschöpfen. Doch wenn Shaheens Freunde, Fans, und Darsteller - in Personalunion - davon erzählen, wie nach einem Raketenangriff mit zehn Toten weiter gedreht wurde, drängen sich die erschütternden Realitäten dieses Landes in Bilder, die sich die Überlebenden unter Tränen zusammen mit der Regisseurin anschauen. Shaheen drehte auch während des Bürgerkriegs weiter. Er kommandierte eine lokale Miliz und ließ gleichzeitig seine Soldaten als Statisten auftreten. „Ich war ein Künstler-Kommandant, kein Killer."

Kronlund erlaubt sich, das reiche und packende Material ohne typische Dramaturgie, etwa mit irgendeiner Katastrophe vor dem Schluss zu montieren. Eine mit viel Kenntnis Afghanistans entstandene Dokumentation, die sehr geschickt die Porträts von Land und Filmemacher verbindet.

Sherlock Gnomes

Großbritannien, USA 2018 Regie: John Stevenson 87 Min. FSK ab 0

Mit „Gnomeo und Julia" kam vor sieben Jahren noch mal ein bunter Tupfer auf die unüberschaubare Palette industrieller Zeichentrickfilme für Kinder: Die knuffig bunten Animationsfiguren waren nicht nur niedlich, sondern auch mal deftig und unverschämt. Sie fielen aus der Rolle und machten dabei auch vielen Erwachsenen (Kritikern) Freude. Für die Fortsetzung wurden die Rollen neu verteilt und alle halten sich viel zu brav an das Vorbild einer Sherlock Holmes-Geschichte.

Nachdem die in Teil eins zerstrittenen Gartenzwerg-Clans zusammen nach London gezogen sind und das vereinigte Paar Gnomeo und Julia die Einrichtung des neuen Zuhauses übernimmt, verschwinden in der ganzen Stadt alle Artgenossen. Ein kleiner Sherlock tritt in Konkurrenz von Cumberbatch und Downing Jr. als Retter des tönernen Rasen-Mobiliars auf. Die detektivistische Handlung schleppt sich allerdings mit dem Ballast von Beziehungsproblemen bei den Paaren Gnomeo/Julia und Sherlock/Watson dahin. So wird „Sherlock Gnomes" zum rastlosen Abenteuer, dem man gerne folgen würde, wenn mehr Humor am Wegesrande läge. Das ist aber falsch kombiniert. Dass Regisseur John Stevenson den ersten „Kung Fu Panda" realisiert hat, kann man hier kaum glauben. Nett sind nur Sherlocks in Schwarz-Weiß animierte Gedankengänge im Escher-Stil und die Popsongs von Elton John, der auch einen Produzenten gibt. Moriarty wirkt als Werbefigur in Form eines fast nackigen Bäckerei-Babies schön absurd, witzige chinesische Winkekatzen machen mehr Spaß als die Hauptfiguren. Irgendwas sieht zwar immer wieder mal schräg aus, aber auf Dauer ist „Sherlock Gnomes" eine erstaunliche unoriginelle Detektiv-Geschichte.

25.4.18

Avengers: Infinity War

USA 2018 Regie: Anthony Russo, Joe Russo, mit Robert Downey Jr., Josh Brolin, Chris Evans, Scarlett Johansson, 156 Min.

Die Fortsetzung von „Avengers Age of Ultron" (2015) braucht wieder mal vereinte Kräfte gegen einen ganz ganz bösen Bösewicht und wird letztendlich nicht nur die Erde, sondern auch noch das Universum ... nicht retten können. Das muss dann die nächste Fortsetzung erledigen. Irgendwann in hoffentlich nicht zu ferner Zukunft, werden sich die Menschheit oder eine intelligentere Spezies kaputt lachen, wie aus platten Marvel Comic-Heftchen mit minimaler Bedeutung derart aufgeblasene (Geschäfts-) Konzepte entstehen konnten. Dieses völlig überzogene Sammelsurium, dies unglaublich unverschämte Durcheinander ist ein Kandidat für „Schlefaz" (Schlechtester Film aller Zeiten) auf Tele 5.

Die Regisseurs-Brüder Anthony und Joe Russo durften bereits bei „The Return of the First Avenger" und „The First Avenger: Civil War" mit Action-Figürchen Millionen und viel Zeit verschwenden. Nun versucht man mit möglichst vielen Comic-Pappkameraden und überbezahlten Stunt-Darstellern ins Guinnessbuch der Rekorde zu kommen: Robert Downey Jr. kehrt zurück in seiner legendären Rolle als Tony Stark/Iron Man und kämpft erneut Seite an Seite mit Chris Hemsworth als Thor, Mark Ruffalo als Bruce Banner/Hulk, Chris Evans als Steve Rogers/Captain America, Scarlett Johansson als Black Widow und Jeremy Renner als Hawkeye. Unterstützung erhalten sie von Tom Holland als Peter Parker/Spider-Man, Paul Rudd als Ant-Man, Chadwick Boseman als Black Panther und Paul Bettany als Vision sowie Anthony Mackie als Falcon, Don Cheadle als James Rhodes und Elizabeth Olsen als Scarlet Witch.... Klingt total spannend, oder? Und ist nicht mal die Hälfte der Figuren.

Ähnlich ermüdend ist es auch, fast drei Stunden Hochglanz-Prügeleien dieser Männer und Frauen in Strumpfhosen und anderen Karnevals-Klamottenresten zuzusehen. Dieses Konzept des Overkills an allzu Bekanntem und Bekannten nennen die Produzenten tatsächlich „Meilenstein im Marvel Cinematic Universe". Und wirklich glaubt zur Zeit halb Hollywood, wenn man alles, was man hat, in einen Sack schmeißt und kräftig durchschüttelt, wäre das ein Film! Da haben super viele Leute super Visionen, mit denen man super schnell zum Arzt sollte. Oder sie wissen, dass super viele Zuschauer da sowieso reinrennen werden.

„Avengers: Infinity War" beginnt kurz spannend mit einer alten Brüder-Geschichte aus der nordirischen Mythologie. Dann stirbt Loki mal wieder und nach wenigen Minuten kloppt man sich. Wie überhaupt diese Schnitzeljagd nach sechs Infinity-Steinen zu einer unendlichen Folge von Prügeleien gerät. Bis zur Massenschlachterei mit Ork-Kopien. Die letzte, völlig unnötige Verlängerung um eine Stunde liefert nur noch pathetisches Getöse und noch primitivere Gemetzel, begleitet von albern hohlen Sprüchen. Dabei gelingt es nicht mal, diese eine, banale Geschichte bis zum Ende zu erzählen: Oberschurke Thanos siegt und lässt die Hälfte der Figuren verschwinden. Eigentlich eine gute Lösung für diese Überbevölkerung mit Superhelden. Aber leider muss es eine Fortsetzung geben.

Zwar wird die Langeweiler-Truppe der „Avengers" zwischendurch mit den spaßigen „Guardians of the Galaxy" aufgepeppt, aber die Haudrauf-Regisseure blieben die gleichen. Und der ach so machtgierige Thanos hat so super wenig böses Charisma, dass er in einem guten Film nicht mal als Nebenfigur überleben würde. (Wie erfrischend und gut war da doch Tilda Swinton in „Doctor Strange"!) Dieser super unübersichtliche Mix aus ganz unterschiedlichen Action-Untergenres ist nur super lang und super langweilig.

24.4.18

Madame Aurora und der Duft von Frühling

Frankreich 2017 (Aurore) Regie: Blandine Lenoir mit Agnès Jaoui, Thibault de Montalembert, Pascale Arbillot, Sarah Suco 89 Min. FSK ab 0

Ab 50 geht es bergab, meint ihr Arzt, und die Schiebetüre fängt schon damit an, Aurore (die großartige Agnès Jaoui) nicht wahrzunehmen. Die lebenslustige Frau steht in der Mitte des Lebens ... oder vielleicht irgendwo etwas später. Beim neuen Job in der Kneipe bekommt sie einen albernen „Künstlernamen", ihre ältere Tochter ist schwanger, während die jüngere noch zuhause wohnt und dort lauten Sex hat. Aurore hingegen hat nur ihre Wechseljahre. (Sie heißt übrigens tatsächlich Aurore und nicht Samantha, wie sie der Chef umtauft, oder Aurora, wie es der deutsche Verleih macht.)

Wechseljahre und schwangere Tochter, das heißt doppelt hormon-geladene Abrechnungen. Und auch die Bilanz des typisch weiblichen Arbeitslebens ist nicht prickelnd, wie eine feministisch ausrastende Beraterin des Arbeitsamtes der bald Arbeitslosen deutlich macht. Und dann gibt es da die Kollegin, die minutenlang nur mit Satzanfängen redet.

„Madame Aurora" begeistert herzlich mit reihenweise Knaller-Szenen, die von der einnehmenden Geschichte Aurores zusammengehalten werden. Zwischendurch fallen auch mal scharf analysierende Sätze, wie im Gespräch von Putzfrau (ehemals Bauingenieurin) zu Putzfrau (ehemals Kellnerin): „Ihr Weißen lernt die Diskriminierung erst im Alter kennen".

Doch dieser wunderbare Film vollbringt das Kunststück leicht und gleichzeitig echt zu sein. Er hat einen sehr schönen, feinen Humor. Wie beim unausweichlichen Flirt, der mit dem Jugendfreund ausbricht ... während dieser als Gynäkologe ihre schwangere Tochter untersucht. Aurores Freundin macht zwischendurch einem Wildfremden, der mit einer viel jüngeren Frau promeniert, eine herrliche Szene. Und ein stilvolles Date mit lauten Opern-Sängern zwischen den Restaurant-Tischen verläuft wegen der Sanges-Lautstärke teilweise in Zeichensprache. Dass es trotzdem schön romantisch wird, zeigt das Gelingen der Inszenierung von Regisseurin und Ko-Autorin Blandine Lenoir („Zouzou"). Mehr noch: Die vielen wunderbaren, komischen, rührenden Szenen werden stellenweise von solchen traumhaften Momenten des Lebens und fürs Leben übertroffen, wegen denen man doch ins Kino geht.

23.4.18

Early Man

Early Man

USA, Großbritannien, Frankreich 2018 Regie: Nick Park 89 Min., FSK ab 0

„Early Man" beginnt mit ungewöhnlicher Geschichtsschreibung: Dinosauriern und Steinzeitmenschen in einem Bild, mit einem noch heißen Meteoriten-Kern wird erst einmal Fußball gespielt! Aber bevor man sich didaktisch wertlos aufregt, überzeugt der Witz der bärtigen Knetmasse-Figuren. Der junge Held Dug vom Steinzeit-Stamm mit den vielen komischen Typen will mit der Tradition brechen und mal was Größeres als Kaninchen jagen. Aber er landet nach einem Überfall von mächtigen Bodenschatz-Räubern plötzlich in einem fantastischen Mittelalter. Hier sind das Rad, das Schweizer Messer, geschnitten Brot und Bronze-Geschirr bereits erfunden. Die Bronze-Zeit halt. Dug stolpert in eine Art römischer Arena, in der das Heilige Spiel gespielt wird - Fußball. (Die Filmemacher sind Briten!)

Im unvergleichlichen Stil der Stop Motion-Knetanimationen vom Aardman Studio („Wallace & Gromit", „Shaun, das Schaf", „Chicken Run – Hennen rennen") zeigt „Early Man" vom Oscar-Gewinner Nick Park ein herrliches Kuddelmuddel der Menschheits-Geschichte, in dem sich alles um den Ball dreht.

Das ist in den Ideen wunderbar detailverliebt bis zu den Krokodil-Wäscheklammern, die echte Mini-Krokodile sind, dem Rasier-Käfer und dem Urzeit-Wildschwein Hognob als Haustier, Masseur und Harfenspieler. Man isst Ursuppe, eine riesige, menschenfressende Ente terrorisiert die Einöde und der herrlich verrückte Nachrichten-Vogel nimmt den Twitter-Vogel aufs Korn.

Hinter all den umwerfend komischen Einfällen ist die Grundidee jedoch erschreckend primitiv, geradezu steinzeitlich: Ein Fußball-Duell zwischen den überlegenen Ausbeutern der Bronze-Zeit und den nicht nur fußballerisch rückständigen Vertriebenen der Steinzeit. Selbstverständlich hat man nur als Team die Chance, gegen die überbezahlten und überkandidelten Spieler von Real Bronzio über sich selbst hinaus zu wachsen. Da Goona aus der Stadt als Trainerin die Seiten wechselt, ist „Early Man" auch etwas „Early Emanzipation".

Die Trainings-Routine in den Badlands ist halt Routine, die Erklärung der Regeln für Neandertaler wiederum ein Volltreffer für sich. Es gibt Bestechung, rohe Gewalt, überzogene Eintrittspreise und den Anführer Juergen mit irgendeinem deutschen Akzent - echter Fußball auf der Insel halt. Dazu viele tolle Wortwitze (die Würstchenbude „Jurassic Pork"), die hoffentlich auch die Synchronisation überleben.

17.4.18

Wildes Herz

BRD 2017 Regie: Charly Hübner, Sebastian Schultz 94 Min. FSK ab 12

Nie waren sie wertvoller als heute: Während sich das Musikgeschäft langsam an den Begriff Verantwortung in Bezug auf Antisemitismus annähert, hat die Punkband „Feine Sahne Fischfilet" schon immer Haltung gezeigt. Der Schauspieler Charly Hübner („3 Tage in Quiberon", „Magical Mystery") zeigt als Regisseur zusammen mit Sebastian Schultz und Sebastian Schultz ein sehr persönliches Porträt des Frontmannes Jan „Monchi" Gorkow.

Privataufnahmen eines hyperaktiven Kindes, Erinnerungen am Lagerfeuer, Konzertaufnahmen, Gespräche mit den Eltern, aber auch mit seinem Polizeibeamten, der mittlerweile wie ein Freund Jans Haltung respektiert und bewundert. „Wildes Herz" dokumentiert den erstaunlichen Wandel von einem vorbestraften Hansa Rostock-Ultra zu einem lauten Kämpfer gegen Nazis in Mecklenburg-Vorpommern.

Im Bewusstsein der Katastrophe von Rostock-Lichtenhagen 1992, dem Versagen des Staates, tritt Jan selbst gegen die rechten Idioten auf, singt gegen „dreckige Nazischweine und Rassisten".

„Wildes Herz" ist die Geschichte einer Band, die aus einem kleinen Dorf in den Weiten Mecklenburg-Vorpommerns stammt, vom Verfassungsschutz beobachtet wird, weil sie gegen rechts auftritt. Mit Punk-Furor, energischem Lokalpatriotismus, bei Rock am Ring und eines wellenschlagender Wahlkampftour sehen wir „Feine Sahne Fischfilet" in dieser Langzeit-Dokumentation. Jan „Monchi" Gorkow zeigt sich dabei als lockerer, spaßiger Kerl, der auch ernste Statements kann, wenn es politisch wird. Und in Mecklenburg-Vorpommern ist vieles politisch.

Charly Hübner, der aus Mecklenburg stammt, legt mit seinem Regiedebüt auch eine starke Stellungnahme für die Band „Feine Sahne Fischfilet" und ihren Kampf hin. Distanzlos im besten Sinne macht er sich die linke und gerechte Sache zu eigen, begeistert und macht Laune.

Roman J. Israel, Esq.

USA 2017 Regie: Dan Gilroy, mit Denzel Washington, Colin Farrell, Carmen Ejogo 123 Min., FSK ab 6

Ein Rechtsanwalt eröffnet ein Verfahren gegen sich selbst! Die Anklage, seinen Prinzipien untreu geworden zu sein, könnten viele führen. Wenn es der Anwalt Roman J. Israel, rundlich verkörpert von Denzel Washington, macht, dieser überaus, ja geradezu autistisch gerechte Mann, dann hat es komische und tragische Züge.

Roman J. Israel ist mit seinem Afro-Look, mit seinen sehr altmodischen Klamotten aus der Zeit gefallen. Man kann sich geradezu vorstellen, wie er, im Hinterzimmer der Kanzlei vergraben, die Fälle seines Chefs vorbereitet und mit enormem Rechtswissen unterfüttert hat. Was in den USA umso wichtiger ist, da das Rechtssystem nicht hauptsächlich auf einen Regel-Codex, sondern viel auf bereits gefällte Urteile fußt, die Roman scheinbar alle im Kopf hat. Der Bulldog genannte Kanzlei-Chef, ein alter Bürgerrechts-Kämpfer erntet den Ruhm, Roman ein mickriges Gehalt.

Nun liegt die Bulldogge im Koma, die Kanzlei soll aufgelöst werden. Draußen in der Rechts-Praxis von Los Angeles kommt ein nerviger Nerd wie Roman nicht an, er wird in seinem ersten Verfahren direkt zu einer Strafe verdonnert. Obwohl er selbstverständlich im Recht ist. Von Arbeitslosigkeit bedroht, geht er schließlich auf das Angebot eines ganz anderen Anwalts ein: George Pierce (Colin Farrell) leitet vier Kanzleien, hat eine deftige Preisliste, feine Anzüge und ein protziges Auto. Romans ausgezeichnetes Gedächtnis weiß genau, wie schlecht der schicke Typ ist, der die Kanzlei übernehmen soll, weiß dass Pierce seine Klienten als Geschäftsmann schon mal an die Staatsanwaltschaft ausliefert. Ein Blender, ein Geldmacher trifft auf einen, der die Gesellschaft immer noch zu einer gerechteren machen will.

Die Tragik der Figur von „Roman J. Israel, Esq.", also dem Anwalt Roman J. Israel, liegt erst einmal darin, dass er ein kaum arbeitsfähiger Fachidiot ist. Dann aber verkauft er seine Ideale, stellt sein Leben auf den Kopf und verpasst dabei tragischerweise die junge Aktivistin, die gegen alle Wahrscheinlichkeiten sehr an seinem alten Ich interessiert ist.

Dieser alte Kämpfer für die Bürgerrechts-Bewegung ist ein Relikt, müsste eigentlich eine Legende sein. Die unscheinbare Figur, von einem unauffälligen Denzel Washington gespielt, wird charakterisiert durch Black Power, Comics und Jazz in seiner kleinen, dunklen Wohnung. Diese mal ganz andere Rolle liefert nebenbei einen kritischen Einblick ins us-amerikanische Rechts-System mit den Firmen, die daran verdienen. Das sind nicht nur die professionellen und eher unethischen Anwaltskanzleien, das sind auch die privaten Gefängnisse, die Nachschub brauchen.

So ist „Roman J. Israel, Esq." die tragische Geschichte einer Person, auch personifizierte Parabel des Verfalls von institutionalisierter Gerechtigkeit. Der bullige Bürgerrechts-Kämpfer liegt im Koma. Die Gerechtigkeit selbst steckt im dunklen Stübchen und in der eigenen Beschränkung fest, nicht in der Lage, praktisch etwas zu bewegen. Und überdeutlich, mit einem kleinen, eher peinlichen als pathetischen Twist am Ende, das aktuelle Rechtswesen in feiner Schale, aber ohne Substanz. Nicht Gerechtigkeits-Streben sondern Gewinn ist Antrieb.

Klingt banal, ist es auch. Regisseur und Drehbuchautor Dan Gilroy („Kong: Skull Island", „Nightcrawler") schrieb das im Ansatz interessante Stück für Denzel Washington, der sich selber mitproduzierte. Das ist nicht elegant oder glänzend erzählt, arbeitet viel mit deutlichen filmischen Mitteln, bleibt aber wenigstens in der Hauptperson immer packend.

16.4.18

Die Pariserin: Auftrag Baskenland

Die Pariserin: Auftrag Baskenland

Frankreich 2017 (Mission Pays Basque) Regie: Ludovic Bernard, mit Elodie Fontan, Florent Peyre, Daniel Prévost, 98 Min., FSK ab 0

Ist das jetzt Auto- oder Paris-Werbung, was der Filmverleih als „zauberhafte Bilder" bezeichnet? Auf jeden Fall belanglos, wie die ganze klägliche französische Komödie, die sich wieder über „die Anderen" amüsiert, aber diesmal wirklich nur die gröbsten Bestandteile dieses abgedroschenen Konzepts ausweidet.

Sibylle (Elodie Fontan) ist ein gestresstes, aber überfordertes Business-Fräuchen, so wie es sich der patriarchale Altherren-Film vorstellt: Gut anzusehen und so süß tollpatschig. Liiert mit einem eingebildeten, lieblosen und ekelhaften Wirtschafts-Fuzzi, kauft sie erfolgreich kleine Läden für eine Supermarkt-Kette auf. Auch bei einem seltsamen Alten im baskischen Bayonne ist sie erfolgreich. Doch diesmal hat sie das Schwarzgeld einem Geschäfts-Unmündigen zugeschoben, weshalb sie noch mal aus Paris in die verhasste Provinz muss. Mit dabei, ihr unterbelichteter Jung-Schwager, der ein Praktikum machen muss. So trifft Sibylle bei einem Volksfest auf Ramuntxo Beitialarrangoïta (Florent Peyre). Dorf-Macho, frisch aus dem Knast entlassen und immer kurz davor auszurasten. Aber dieser Klampfen-Held ist endlich mal ein richtiger Mann und nicht so ein Heini im Anzug. Zwar wissen alle im Dorf, was Sibylle eigentlich will, aber sie versucht die Tarnung einer Pariser Einkäuferin für regionale Waren aufrecht zu erhalten. Ramun will den Laden des Onkels keineswegs verkaufen und die Großstadt-Zicke bluten lassen. So kämpft sie sich trotz ihrer Allergien durch die lokale Landwirtschaft.

Dieser schlechte Witz in Film-Form ist Sch'ti mit angedeutetem Raubtier-Kapitalismus,
etwas provinzieller Dickköpfigkeit im Stile von Asterix, Folklore, dem Lockruf des baskischen Schäfers und ETA-Geballer. Aber im Prinzip ein Dummchen unter lauter Trotteln. Dazu inszenatorische Magerkost, wobei die ganze Handlung auf sehr tönernen Füßen steht. Zum Glück erspart sich die Synchro bei dieser lahmen und schmerzlich dummen Komödie diesmal - im Gegensatz zu den Sch'tis - den lokalen Dialekt.

15.4.18

Lady Bird

USA 2017 Regie: Greta Gerwig, mit Saoirse Ronan, Laurie Metcalf, Tracy Letts, Lucas Hedges, 95 Min. FSK ab 0

Die großartige Schauspielerin Greta Gerwig („Frances Ha", „Maggies Plan", „Jackie", „Jahrhundertfrauen") widmet ihre erste Regie ihrer Heimatstadt Sacramento und dem letzten High School-Jahr. Saoirse Ronan ist darin die Verkörperung der jungen Gerwig in einer verrückten, einfühlsamen und gefühlvollen Episode des Erwachsenwerdens.

Nur Sekunden nach dem stundenlangen Hörspiel von „Früchte des Zorn" mit gemeinsamer Heulerei bricht bei der Autofahrt Streit aus. Christine „Lady Bird" McPherson (Saoirse Ronan) und ihre gnadenlos harte Mutter (Laurie Metcalf) verstehen sich nicht allzu gut, eigentlich gar nicht. Nun ist Christine, die sich selbst Lady Bird nennt, wahrlich kein einfacher Teenager und auch nicht wahnsinnig clever. Doch Lücken im Wissen ersetzt sie mit viel Charakter und Einstellung - egal welche. Es ist 2003, für Lady Bird das letzte High School-Jahr mit Theaterprojekt, erster Liebe und der Frage, welche Schule als nächstes kommt. Zwar will sie möglichst weit von zuhause weg, aber die Noten sind nicht prickelnd und die Familie kommt mit dem Geld schon jetzt kaum über die Runden.

„Lady Bird" ist von den Eckpunkten her zwar ein High School-Film, aber gänzlich ohne all die tausendfach gesehenen Klischees. Diese Jugend in und die Liebeserklärung für das völlig uncoole Sacramento lässt einen endlich etwas mehr verstehen, wie das in den USA abgeht und was das bedeutet, mit diesen großen Lebensschritten dort drüben.

Aber vor allem lässt dieser tolle Film Lady Bird erleben: Die in ihrer kirchlichen Schule mit furchtbarer Anti-Abtreibungs-Propaganda eine Wendung zum Angepasst-Sein vollzieht, sich von der richtigen Freundin entzweit und vor allem doch probiert, von der Mutter geliebt zu werden. Die eine beängstigende Mutter ist: Dauernd meckernd, macht sie mit brutalen Hinweisen auf die finanzielle Lage der Familie schlechtes Gewissen und meint, eine schlechte lokale Schule würde für das Talent der Tochter schon reichen.

Man kommt nicht umhin, immer wieder Greta Gerwig selbst in dieser Figur der Lady Bird zu sehen. Zu ähnlich ist die Leidenschaft für Theater und Kultur, die trotzige Entschlossenheit, die linkischen Verrenkungen aus lauter Unsicherheit. Gerwig ist tatsächlich selbst im kalifornischen Sacramento aufgewachsen und meint, „keines der Ereignisse hat exakt so stattgefunden. Aber dem Film wohnt ein wahrer Kern inne, was Themen wie Zuhause, Kindheit und Aufbruch angeht." Tatsächlich geht „Lady Bird"ohne großes Trara mit der intensiven, gleichberechtigten Mutter-Tochter-Beziehung zu Herzen. Hier tritt trotzig eine jugendliche Heldin auf, aber der Film hat auch die etwas erwachsenere Sicht auf die Verletzungen, die ungestüme Jugendlichkeit wirklcih frei aufwachsender Kinder verursacht. Greta Gerwig hat schon mehrere Drehbücher als Ko-Autorin verfasst, beispielsweise zusammen mit ihrem Partner Noah Baumbach für den wunderbaren „France Ha", mit ihrer ersten Regiearbeit „Lady Bird" verblüfft und begeistert sie erneut.

Solange ich atme

Großbritannien 2017 (Breathe) Regie: Andy Serkis mit Andrew Garfield, Claire Foy, Tom Hollander, Hugh Bonneville, Diana Rigg, 118 Min., FSK ab 12

Der Beginn ist zum Weglaufen: Dekadentes Kolonialisten-Nichtstun in Kenia, etwas britisches „Out of Africa", ein kitschiges Zweier-Glück zwischen Robin Cavendish (Andrew Garfield) und seiner frischvermählten Diana (Claire Foy). Bis Robin im Jahr 1958 in Kenia an Polio erkrankt, was ihn vom Hals abwärts lähmt. Die Lunge eingeschlossen. Entgegen aller Prognosen lebt Robin länger als nur ein paar Monate an der Lungenmaschine und wird nach England geflogen. Er kann sogar wieder sprechen. Und wiederum gegen die Meinung der Fachleute, gegen den ausdrücklichen Befehl des Chefarztes überlebt er sogar außerhalb des deprimierenden Krankenhauses. Es ist der Verdienst Dianas, ihn dort rauszuholen, wo er nicht mehr weiterleben wollte. Das bislang schöne Ehe-Anhängsel beweist ihre wahre Liebe in unerschütterlicher Treue und Hartnäckigkeit.

In erstaunlicher Eigeninitiative von Diana und ihren Brüdern erschaffen sie dem Gelähmten ein Leben in einem neuen Zuhause. Wo er endlich eine Beziehung zu seinem kleinen Sohn aufbauen kann. Mit wieder erwachendem Lebensmut entwickelt Robin einen Rollstuhl, der ihm und seiner Beatmungsmaschine erlaubt, nach draußen zu fahren. Bald wird das Paar wieder so abenteuerlich und reiselustig wie vor seiner Erkrankung.

Dass die Marketing-Abteilung diesen Film als „atemberaubend" bezeichnet, ist geschmacklos - und falsch: „Solange ich atme" ist extrem rührselig, vereinfachend (Robin muss in seinem ganzen Leben nie auf Toilette) und steigert am Ende sogar den Druck auf die Tränendrüsen im quälend langen Abschied zu Cole Porters Song „True love". Das ist nicht nur so, weil dieser Film so richtig Kasse machen soll, sondern auch weil er eine sehr persönliche Geschichte darstellt: Robin und Diana Cavendish sind die Eltern des Produzenten Jonathan Cavendish („Bridget Jones – Schokolade zum Frühstück"), belegt durch ein paar Originalaufnahmen im Abspann.

Auch der echte Robin kämpfte dafür, seinen speziellen Rollstuhl in Serie gehen zu lassen, und so tausenden Menschen, die an einer künstlichen Lunge hingen ein besseres Leben zu ermöglichen. Den Widerstand von Gesundheits-Bürokraten und bornierten Ärzten speist der Film dabei als Karikatur ab. Robin Cavendish tritt im Film auch einem verbreiteten Glauben entgegen, „solche behinderten Menschen sollte man nicht nach draußen lassen". Es ist heute unvorstellbar, wie wenig er und andere Patienten akzeptiert wurden, ja, überhaupt als Menschen angesehen wurden.

Trotzdem verläuft „Solange ich atme" bis auf die fast komische Flucht aus dem Krankenhaus und einem fast tödlichen Stromausfall (mit britisch trockenem Humor bei der Rettung) weitestgehend undramatisch. Als bei einer Spanien-Reise irgendwo in der Pampa das Beatmungsgerät durchbrennt, wird das tagelange Warten auf die Reparatur - mit konstanter Handbeatmung! - zu einer Party mit der einheimischen Bevölkerung.

Der bekannte Schauspieler Andy Serkis (Gollum aus „Der Herr der Ringe") liefert hier seine erste Regie-Arbeit ohne Auffälligkeiten ab. Andrew Garfield („Hacksaw Ridge"), der schlechtere Spiderman, gibt seinem Robin routiniert ein schelmisches und trotziges Gesicht. Claire Foy aus der Serie „The Crown" unterstützt ohne besonderen Eindruck zu machen, und wird gut unterstützt von Tom Hollander, der Dianas beide (!) Zwillingsbrüder spielt.

14.4.18

The 15:17 to Paris

USA 2017 Regie: Clint Eastwood, mit Spencer Stone, Anthony Sadler, Alek Skarlatos, Mark Moogalian 94 Min., FSK ab 12

Clint Eastwood ist einer der intelligentesten alten Männer, die mit Stühlen sprechen. Und reaktionärer Waffenfan. Nun hat der Regisseur nach einer langen Reihe von erstaunlichen bis sehr guten Filmen mit „The 15:17 to Paris" filmisch etwas ähnlich Dämliches abgeliefert, wie öffentlich mit einem Stuhl zu sprechen. Die Geschichte von drei US-Hohlköpfen, die mit all ihren Muskel und ihrer Ausbildung zum Morden in einem Schnellzug nach Paris 2015 zufällig einen Attentäter überrumpelten, wird genau von diesen drei US-Hohlköpfen gespielt. Und - Überraschung! - Schauspielen können sie auch nicht.

Der deutsche Verleih wollte „The 15:17 to Paris" vor der Presse verstecken, obwohl er schon überall auf der Welt gefloppt ist. Doch dieses Attentat auf den guten Film-Geschmack und den Weltfrieden ist unaufhaltbar: Clint Eastwood lässt nicht nur das, was am 21. August 2015 im Zug passierte, von den tatsächlichen Akteuren nachspielen, er fügt auch noch die Lebensgeschichte der drei amerikanischen Freunde Spencer Stone (Spencer Stone), Anthony Sadler (Anthony Sadler) und Alek Skarlatos (Alek Skarlatos) seit ihrer Schulzeit hinzu. Die drei waren nicht besonders helle Schüler, aber Spencers Mama vertraut in der Schul-Sprechstunde auf „ihren Gott". So entwickeln sich kleine Waffenfans, die dauernd aus dem Unterricht fliegen. Immer wenn einen diese seltsame Jungs-Biografie zukünftiger Militaristen langweilt, werden ein paar Sekunden von dem eingeblendet, um was es eigentlich geht.

Stone, der noch am ehesten als Schauspieler durchgehen kann, wird mit seinem mächtigen Kinn und einer erstaunlichen Unbedarftheit zur Hauptfigur. Wobei mit sich beim Altern nicht viel ändert, auch als Soldat ist Stone zu spät und muss diszipliniert werden. Dann folgen nichtssagende Reisefilmchen aus Rom, Venedig, Berlin und Amsterdam mit viel Alkohol und anderen Drogen. Bevor das Ende mit einer Viertelstunde Action die drei „Helden" gebiert.

Was bei Eastwoods Pilotenfilm „Sully" noch kritisch nachbetrachtet wurde, ist hier ein distanzloses (in Kamera und Haltung) Abfilmen des unweigerlichen Buches der drei. Eastwood will uns allen Ernstes erzählen, dass schlechte Schüler, die ihr Leben lang nur Blödsinn im Kopf haben, mit ihrer ganzen Waffen- und Kriegsbegeisterung eines Tages etwas Gutes für die Gesellschaft tun werden. Nämlich einen arabisch aussehenden Menschen niederringen, der zu lange auf Toilette war. Ganz böse gesagt. Was tatsächlich interessant wäre, die Gründe und das Vorlebens des Attentäters, bleibt völlig ausgeblendet.

Der große Regisseur Eastwood entdeckte selbst in der Massenschlachterei von Iwo Jima bei seinen zwei Filmen darüber etwas Menschlichkeit. Seine reiche Filmographie hätte einiges zu seiner Verteidigung anzuführen. Doch das wären zu viele Worte für dieses in jeder Hinsicht unnötige Filmchen.

10.4.18

Papa Moll und die Entführung des fliegenden Hundes

Schweiz, BRD 2017, (Papa Moll) Regie: Manuel Flurin Hendry, mit Stefan Kurt, Luna Paiano, Maxwell Mare, Yven Hess, Lou Vogel, 90 Min. FSK ab 0

Die immer sympathisch bemühte Comic-Figur „Papa Moll", die in Deutschland in den Junior-Heften zu sehen war, war Vorlage für diese bunte und klamaukige Schweizer Kindergeschichte. Papa Moll muss am Wochenende allein auf die Kinder aufpassen und gleichzeitig in der Schokoladenfabrik die Produktion steigern. Da ist klar, dass Papa Moll mit all diesen Anforderungen untergehen wird. Ganz konkret beim Tauchgang in der Schokomasse, weil eine Haselnuss das Rührwerk blockiert. Seine Kinder sind mittlerweile die Geiseln der mobbenden Gören von Molls Vorgesetzten. Zwischendurch muss noch ein Zirkus-Hund entführt, zurückgebracht und wieder entführt werden.

„Papa Moll und die Entführung des fliegenden Hundes", das ist Werbung für Schweizer Schokolade und etwas Willi Wonka. Denn alles sieht putzig aus, die Figuren, ihre Frisuren und die Schweizer Musterstadt. Die Handlung ist Klamauk im Stile von „Dick und Doof" oder „Tim und Struppi". Die große Ähnlichkeiten der Realfiguren zur Comic-Vorlage ist allerdings die einzige Ähnlichkeit zu Spielbergs Comic-Verfilmung „Tim und Struppi". Die Leistung von Stefan Kurt („Pettersson und Findus II & III", „Ein Tick anders", „Die Affäre Semmeling") als Papa Moll liegt darin, dass man ihn nicht erkennt.

Ansonsten viel Zirkus, echter Zirkus, Slapstick und auch Kasperletheater. Der Dackel-Quäler vom Zirkus, die charmante Lehrerin, der trottelige Dorf-Gendarm oder der neoliberale Chef („Quantität statt Qualität. Heutzutage kann man den Leuten jeden Mist verkaufen, Hauptsache es ist viel Mist.") sind alle schön hölzerne Figuren. Bis Papa Moll endlich auf seine Kinder hört, muss noch die Fabrik in die Luft fliegen. Das unterhält ohne weitere Nebenwirkungen kurzfristig und nicht zu schnell - wir sind immer noch in der Schweiz!

Steig. Nicht. Aus!

BRD 2017 Regie: Christian Alvart, mit Wotan Wilke Möhring, Hannah Herzsprung, Christiane Paul, Fahri Yardim, 109 Min. FSK ab 12

Ja, ist denn schon WM? Oder wieso verirrt sich ein halbgares deutsches TV-Stückchen ins übervolle Kino? Der Berliner Bauunternehmer Karl Brendt (Wotan Wilke Möhring) will schnell seine Kinder Josefine (Emily Kusche) und Marius (Carlo Thoma) zur Schule bringen. Doch im Stress zwischen (von der Frau) verpasstem Hochzeitstag und Problem in der Firma droht ein Unbekannter per Telefon damit, das Auto in die Luft zu sprengen, sollten Karl oder die Kinder aussteigen. Das haben schon Colin Farrell und andere nach dem Motto „Leg. Nicht. Auf!" oder „Geh. Nicht. Vom. Gas!" erlebt. Und Wotan Wilke Möhring hält sich in der Solonummer ganz gut, entfernt kann man sogar an Tom Hardy allein am Autotelefon in „No turning back" denken.

Der Erpresser will auf jeden Fall sehr viel Geld. Die Teenie-Tochter auf der Rückbank macht selbstverständlich alles andere, als was man ihr sagt. Und verrät auch in höchster Not die Affäre der Mutter. Denn dass dies alles kein Aprilscherz ist, zeigt sich, als das Auto von Karls Partner mit zwei Personen in die Luft fliegt. Der kleine Marius bekommt einen Splitter ab und verblutet nun langsam. Karls Frau und alle anderen vermuten derweil, dass Karl aus Verzweiflung seine Kinder entführen und sogar umbringen will.

Die Ehepartner müssten sich gerade jetzt vertrauen, was ausgerechnet die Ehebrecherin nicht leisten kann. Das geht mäßig spannend durch, bis plötzlich die große Action in Berlin mit vielen Autos, Hubschraubern und Sightseeing von Konzerthaus und Gendarmenmarkt aufgefahren wird. Da funktioniert dann gar nichts mehr.

Die Rache der Entmieteten im gentrifizierten Berlin ist eine nette Idee, aber hier mäßig umgesetzt, und so eine Argumentation schadet der guten Sache. Christiane Pauli wird dabei als fremdgehende Ehefrau zu wenig gefordert. Und auch das sonstige Personal spielt sich eher auf TV-Niveau ein. Der beschränkte Kommissar erweist sich als zu beschränkt, um dem Konstrukt etwas hinzuzufügen. Das alles wirkt so, als wenn dies der Pilot zu einer Serie ist und wir die Bombenentschärferin (Hannah Herzsprung) ab jetzt jede Woche Gutes tun sehen können. Erst im Abspann hat der Schlusssong „Die Kaputtilation" der Berliner Band Grossstadtgeflüster mehr Power, Witz und Schwung als der ganze Film.

9.4.18

3 Tage in Quiberon

BRD, Österreich, Frankreich 2017 Regie: Emily Atef, mit Marie Bäumer, Birgit Minichmayr, Charly Hübner, Robert Gwisdek, 116 Min., FSK ab 0

„Ich bin eine unglückliche Frau von 42 Jahren und ich heiße Romy Schneider!" So beginnt der mittlerweile eher französische als deutsche Filmstar, der seine „Sissy"-Vergangenheit noch immer nicht los ist, ein historisches Interview mit dem „Stern". 1981, ein Jahr vor ihrem Tod, verbringt Romy Schneider (Marie Bäumer) drei Tage mit ihrer Freundin Hilde (Birgit Minichmayr) in dem bretonischen Kurort Quiberon. In der Anti-Wellness-Klinik direkt am Strand gibt es eine extrem karge Diät, zwischendurch werden die Kurgäste mit kaltem Wasser abgespritzt. Dementsprechend gieren sie auch einen eingeschmuggelten Croissant an. Trotz ganz schlechter Erfahrungen mit der deutschen Presse willigt die Schauspielerin ausgerechnet in ein Interview mit dem „Stern"-Reporter Michael Jürgs (Robert Gwisdek) ein. Mit dabei ist der Fotograf Robert Lebeck (Charly Hübner), ein alter Freund Romy Schneiders.

Diese „3 Tage in Quiberon" zeigen zwei Gesichter der Romy Schneider: Das lebenslustige, und die Verletzte, Scheue, deren Sohn David nicht mehr bei ihr leben will. Aber erst einmal geht es mit der Freundin und den zwei Männern von der Presse abends heimlich in die Kneipe. Die Reste einer Hochzeitsgesellschaft fühlt sich geehrt und berührt von dem unverstellten Mensch Romy. Denis Lavant kommt als Poet vorbei, man singt und tanzt. Hilde kann Romy erst in Sicherheit bringen, als diese schon viel zu viel gesagt hat. Am nächsten Tag bestellt Jürgs Champagner zum Interview. Die Freundin, die drauf achten wollte, dass Romy dem Journalisten nicht zuviel erzählt und nicht auch noch Tabletten nimmt, gibt auf und zieht ab.

Betrunken, unsicher, schwach und völlig offen, so tritt der in Deutschland ungeliebte Star einem hinterhältigen, verlogenen Interviewer entgegen, der in seinem eiskalten Zynismus nebenbei auch noch Hilde herunter analysiert. Aus Romys kindlicher Begeisterung wurde die Angst vor der Einsamkeit, die Sorge um das Geld.

„Romy" wurde übrigens schon einmal 2009 im gleichnamigen TV-Film von Torsten C. Fischer mit Jessica Schwarz in der Verkörperung des gebrochenen Stars gezeigt. Regisseurin Emily Atef („Das Fremde in mir", „Töte mich") drehte „3 Tage in Quiberon" jedoch inspiriert von den Schwarz-Weiß-Fotos Robert Lebecks ebenfalls in Schwarz-Weiß. Und interessiert sich nicht für eine komplette Biografie. Keine Erwähnung der Eltern Magda Schneider und Wolf Albach-Retty, selbst Leinwand-Stars. Nur brüske Ablehnung der „Sissi"-Filme, mit denen sie berühmt wurde. Kein Wort über die Beziehung zu Alain Delon. Trotzdem wäre dies eine interessante Momentaufnahme im schwindenden Leben von Romy Schneider (1938 -1982). Doch die Darstellung der Romy durch Marie Bäumer („Der Geschmack von Apfelkernen", „Zum Geburtstag"), eine der am meisten unterschätzten deutschsprachigen Schauspielerinnen, macht diese stillen Tage zu einem fesselnden Film. Bäumers Romy rührt mit müden Augen und tiefen Rändern darunter, aber vor allem in ihrer großen Verzweiflung. Auch die enorme Offenheit gegenüber einem Promi-Hai ist einnehmend gespielt. Dabei legt Robert Gwisdek („Das Wochenende", „Schoßgebete") seinen Michael Jürgs nicht nur berechnend und negativ an. Charly Hübner („Vor der Morgenröte", „Magical Mystery",„Steig. Nicht. Aus!") ist als Robert Lebeck sowieso ein Gewinner. Wie der Film wahrscheinlich auch, denn er gilt schon jetzt als Favorit für den Deutschen Filmpreis.

A Quiet Place

USA 2018 Regie: John Krasinski, mit John Krasinski, Emily Blunt, Millicent Simmonds, Noah Jupe, 90 Min., FSK ab 16

Horrorfilm, Science Fiction, Stummfilm und sensationeller Thriller - eine ganze Menge für einen Film! „ A Quiet Place" ist all das, aber vor allem ein ungeheuer spannender, sagenhaft einfallsreicher und besonders einmaliger Film. Nie war es so beängstigend, im Kino eine Stecknadel fallen zu hören!

„Mach kein Geräusch, denn wenn sie dich hören, jagen sie dich!" Unter dieser Bedingung lebt eine vierköpfige Familie nach der Alien-Invasion schon über ein Jahr auf einer isolierten Farm versteckt. „Versteckt" allerdings nur akustisch mit dicken Matratzen schallgedämpft und immer auf Zehenspitzen gehend, denn die mörderischen Wesen orientieren sich alleine mit ihrem Gehör. Also ist dieser Film fast ohne Dialoge. Wie Taubstumme verständigen sich alle vermittels Zeichensprache. Man könnte platt sagen: Endlich mal nicht so ein Rede-Film. Und das ist tatsächlich durchgehend äußerst spannend. Da fällt es erst gar nicht auf, dass die etwas bockige Tochter wirklich taub ist und sehr darunter leidet. Die Hörgeräte, die der ingeniöse Vater baut, helfen erstmal gar nicht. Einige andere raffinierte Lösungen dieser Figur von John Krasinski und des Films von John Krasinski gelingen hingegen hervorragend: Für den romantischen Tanz zu Neil Youngs „Harvest Moon" wird ein Pärchen-Kopfhörer zusammengelötet.

Gefühle gibt es auch ohne Worte eine Menge. Weil - wie wir miterlebt haben - der jüngste Sohn vor den Augen der anderen von einem Alien erwischt wurde, ist die Mutter wieder schwanger. Das führt in dieser Extremsituation am Rande zur klassische Rollenverteilung Jäger und Hausfrau, aber auch zu besonders raffinierten, um nicht zu sagen, fiesen Einfällen: Die da wären, sich einen Nagel in einen Fuß treten, ohne zu schreien. Und schließlich eine möglichst lautlose Geburt. Was unglaublicherweise gelingt und zu einem gesunden Kind führt, das ... selbstverständlich schreit! Da ist „A Quiet Place" dann wirklich Horror, bei dem man sein Herz zu laut pochen hört. Aber auch ein sehr alltäglich nachvollziehbarer und damit effektiver. Die konsequent durchgezogene Grundidee wirkt so gut und intensiv, dass man im Kino vor sich selbst erschrickt, wenn man ein Geräusch macht. Was vielleicht nur eine hinterhältige Rache Krasinskis an den üblichen Popcorn-Knisterern ist.

Wie in vielen der letzten guten Alien-Filme („Monsters") sieht man die außerirdischen Wesen erst so gut wie nicht. Das lange Warten belohnen die Kreatur-Designer dann aber damit, dass man Aug in Aug mit einer sehr schön fiesen Alien-Variation steht. Die musikalische Tonspur ist dabei selbstverständlich auch angenehm zurückhaltend, aber effektiv eingesetzt. Die ausgezeichnete Emily Blunt („Der Teufel trägt Prada", „Edge of Tomorrow", „Into The Woods") spielt hervorragend in dieser Hauptrolle, die mal nicht zu einer weiblichen Haudrauf-Variante ausartet. Ihren Filmmann spielt der Regisseur und Mit-Autor John Krasinski, den man von „Away We Go", „Fremd Fischen" oder „13 Hours: The Secret Soldiers of Benghazi" kennt. Nach der Comedy-Serie „Das Büro" (2005) legte er 2009 mit „Brief Interviews with Hideous Men" sein Regiedebüt hin. Diese dritte Regiearbeit ist nun direkt einer der Meilensteine der Filmgeschichte, endlich mal wieder eine komplett neue Idee, die im Gedächtnis bleiben wird. Etwas hilft dabei die Tatsache, dass „A Quiet Place" so unglaublich atemberaubend spannend ist, wie schon lange kein Film mehr.

8.4.18

Layla M.

Niederlande, Belgien, BRD 2016 Regie: Mijke de Jong, mit Nora El Koussour, Ilias Addab, Hassan Akkouch, 98 Min., FSK ab

Layla M. könnte eine spät pubertierende Jugendliche sein: Nervig besserwisserisch geht sie in Gegenposition zu den Eltern. Etwas anders ist der Fall, weil die gute Schülerin Layla, die kurz vor ihrem Abschluss steht, irgendwann im Niqab am Tisch sitzt. Der Schleier lässt nur die Augen frei, das Essen wird reichlich schwierig und der aufgeklärte Vater rastet aus. Wie es zu dieser ersten Radikalisierung kam, erklärt der Film recht seltsam und untergräbt damit seine eigene Hauptfigur. Ist es tatsächlich Rassismus gegen die aus Marokko stammenden Einwanderer, wenn ein weißer Schiedsrichter Laylas wild gefordertes Abseits für ihren Verein ignoriert? Und sie auf ihr aggressives Gemecker eine entsprechend grobe Antwort erhält? Vielleicht setzt der Film aus den Niederlanden einfach den dort speziellen Alltags-Rassismus gegenüber „Marokkanern" voraus. Erwähnt wird für Laylas zunehmend aggressives Verhalten selbstverständlich der rechte Druck von Wilders, gegen den ein Verfahren wegen ausländerfeindlicher Aussagen läuft. Sie ihrerseits ist begeistert von Hassprediger-Videos und noch mehr von Abdel, der diese filmt.

So wirken Gehirnwäsche übers Internet und Romeo-Verführung für die Reise in den Nahen Osten wenig bedrohlich. Dass sich diese besondere Form von Jugend-Rebellion allerdings für eine Selbstmord-Attentäterin begeistert, erschreckt schon. Doch auch von der anderen Seite her funktioniert der Film der angesehenen niederländischen Regisseurin und Autorin Mijke de Jong nicht: Nach der Flucht an die Grenze zu Syrien erweist sich der rasch angetraute Jung-Spielberg des Dschihad als muslimischer Macho. Und Layla, die unter den härtesten Radikalen die emanzipierte Frau rauskehrt, ist dann überrascht, dass ihr Mann das Tanzen verbietet. Tatsächlich überraschend wirkt höchstens sein Gesinnungswandel innerhalb weniger Stunden. Das mag sicher auch so passieren, aber viel mehr als diese Erkenntnis – „so was passiert" – vermittelt der Film nicht. Zudem ist er langweilig. Die Stufen der Entfremdung der eigentlich integrierten Fremden wirken eher papiern als gelebt, behauptet und nicht verständlich. Vielleicht liegt es auch an der Synchronisation. Die Empfehlung: Besser des einfühlsame und berührende französische Radikalisierungsdramas „Der Himmel wird warten" sehen.

3.4.18

Film Stars Don't Die in Liverpool

Großbritannien, USA 2017, Regie: Paul McGuigan mit Jamie Bell, Annette Bening, Vanessa Redgrave, Julie Walters 106 Min. FSK ab 6

Bei der Verfilmung einer ungewöhnlichen und tragischen Liebe der Oscar-Preisträgerin Gloria Grahame (Annette Bening) muss man Grahame (1923-1981) und ihre Filme wie „In a Lonely Place" (1950) mit Humphrey Bogart oder Vincente Minnellis „Stadt der Illusionen" (1952) gar nicht kennen. Bening und Jamie Bell, der ihren wesentlich jüngeren Liebhaber Peter Turner spielt, gehören zu den Schauspielern, denen man alles abnimmt, die einfach so präsent sind, dass man ihnen gerne folgt, egal wen sie spielen.

Der Film basiert auf den Memoiren von Turner und beginnt damit, wie Gloria Grahame einige Jahrzehnte nach ihren Hollywood-Erfolgen in einem einfachen Liverpooler Hotel den kleinen Schauspieler Peter Turner aufreißt. Der verfällt der sehr sexy Frau tatsächlich. Er folgt ihr in die USA, wo das Glück zu zweit durch ihre herrische Art zerstört wird. Jahre später bricht Gloria in Liverpool vor einer Theatervorstellung zusammen und will nur noch wie ein kleines Kind im Haus von Peter und seinen Eltern gepflegt werden. Es dauert eine Weile, bis er herausbekommt, dass sie Krebs hat.

„Film Stars Don't Die in Liverpool" ist eine traurige, aber sehr berührende Geschichte von einer Liebe, die tatsächlich bis an den Tod weiterlebt. Es ist klasse, wie sie anfangs zusammen im Kino „Alien" schauen - er mit allen anderen in Panik, sie lacht sich kaputt. Später sorgen biografische Detail für Irritation bei Peter, denn Gloria hat auch bei ihren vier Ehemännern (u.a. Nicolas Ray) immer eine Vorliebe für junge bis illegal junge Partner gepflegt.

Die ungewöhnliche Geschichte vom kleinen Schauspieler und der Oscar-Gewinnerin gelingt mit tollen Bilder und Inszenierungsideen. Die frische und die zerbrechende Liebe werden nebeneinander montiert. Wenn Missverständnisse, zu wenig Gespräche und dumme Geheimnisse zur Trennung führen, ist das in Nahaufnahme sehr ergreifend. Auch Turners liebevolle Familie wurde mit unter anderem Julie Waters als Mutter toll besetzt.

Das Zeiträtsel

USA 2018 (A Wrinkle in Time) Regie: Ava DuVernay, mit Reese Witherspoon, Oprah Winfrey, Mindy Kaling, Chris Pine, Zach Galifianakis, 110 Min. FSK ab 6

Digitaler Hokuspokus und esoterischer Plumperquatsch: Disney beweist, wie mit großem Aufwand viel schief gehen kann. Regisseurin Ava DuVernay scheitert inhaltlich, ästhetisch und in der Schauspielführung. Meg Murry (Storm Reid) hat das übliche Teenager- und Schul-Problem, dass sie als Außenseiterin gemobbt wird. Der Grund dafür ist diesmal, dass ihr Vater, ein brillanter Wissenschaftler, vor vier Jahren verschwand. „Glaube an dich und finde die richtige Frequenz" lautete sein Rezept für Reisen in Zeit und Raum. Nun kommen drei märchenhafte Gestalten den halb-verwaisten Geschwistern Murry zu Hilfe. Wobei Reese Witherspoon („Der große Trip – Wild") durch ihre Geschwätzigkeit und eine riesige Oprah Winfrey („Der Butler") schon durch ihre Ausstaffierung nicht nur Kinder verschrecken können.

Es beginnt ein nie sinnhafte Reise durch fantastische Planeten und Welten mit schönen Bildern,
schwatzhaften Blumen und einem Fantasia-Flug auf dem Drachen. Nur sieht der diesmal wie Blattsalat aus. Die hier besonders banale Gegenüberstellung Licht gegen Dunkelheit erklärt übersichtlich gleich Mobbing, Neid, Selbsthass und Gewalt mit einem bösen schwarzen Loch.

Doch das wahre Übel ist dieser esoterische Quark im Stile von „Man muss eins mit sich selbst und dem Universum werden!" Drumherum wurde eine Geschichte gestrickt, der man anmerkt, wie sehr die Hand von guten Drehbuchautoren fehlt. Fantasy- und Märchenelemente poltern in ziemlich wahlloser Folge durcheinander, dazu langweilt eine kleine, vorsichtige Teeny– Liebesgeschichte. Das ist weder überzeugende Utopie noch ein interessantes philosophisches Lebenskonzept. Auch die Schauspieler, selbst die namhaften, überzeugen nie. Diese Figuren könnten gut in irgendeinem Schwarzen Loch verschwinden und das wäre dann eine gute Sache für die Welt.

2.4.18

Ready Player One

USA 2018 Regie: Steven Spielberg mit Tye Sheridan, Olivia Cooke, Ben Mendelsohn, 140 Min., FSK ab 12

Spielberg als großes Spielkind - der Regisseur von „Schindlers Liste", „Der weiße Hai", „E.T." und vielem anderen unterhält mit seinem neuesten Meisterwerk „Ready Player One" fantastisch und hält der eskapistischen Unterhaltungskultur gleichzeitig den Spiegel vor. Von Fans sehnsüchtig erwartet, begeistert Steven Spielbergs Action-Abenteuer „Ready Player One" nach Ernest Clines gleichnamigem Bestseller bereits seit einer Woche überall von den USA bis zu den Niederlanden.

Das Jahr 2045 zeigt herrlich spielerisch die Vereinzelung der menschlichen Monaden in ihren kleinen Zellen, abgeschirmt von der eigentlichen Welt, wenn Wade Watts (Tye Sheridan) sich an und durch übereinander gestapelte Container-Hütten zu seinem Ziel bewegt. Das Ziel für ihn und alle anderen ist Oasis, das gigantische virtuelle Universum, das den Rückzugsort vor einer nicht besonders reizvollen Realität bietet. Über einen verkabelten Helm und Anzüge mit Bewegungs-Sensoren „bewegen" sich die Spieler tatsächlich in diesen Welten. Dort findet Wade seine Freude und seine Freunde.

Als James Halliday (Mark Rylance), der exzentrische Schöpfer von Oasis stirbt, hinterlässt er sein Erbe als Wettbewerb in dieser Welt: Er versteckte ein „Easter Egg", ein virtuelles Osterei, in seinem Spiel und über drei Aufgaben sind die Schlüssel dazu auffindbar. Nun ist Wade tatsächlich der größte Fan von Halliday und die zahllosen Besuche im Filmmuseum über jeden Moment im Leben des Schöpfers zahlen sich aus. Der unbekannte Junge gewinnt das erste Rennen, indem er die Regeln auf den Kopf stellt, und seine Figur Parzival wird als Spitzenreiter auf der Jagd nach dem Heiligen Gral selbst zum Gejagten.

Ja, echt! Parzival auf der Jagd nach dem Heiligen Gral, in dem DeLorean aus „Zurück in die Zukunft", gescheucht von King Kong und dem T-Rex aus „Jurassic Park", begleitet vom Motorrad von „Akira", das Art3mis gehört, der griechischen Göttin der Jagd ... Die pop-kulturellen Anspielungen vor allem aus den 80er Jahren sind zahl- und endlos in „Ready Player One". Begleitet von Van Halens „Jump" zum Auftakt, Blondie mittendrin und „Staying alive" zum schwerelosen Tanz im Geisterhaus von Kubricks „Shining". Wer diese Hinweise alle erwischen will, braucht beim rasanten Tempo von Action und Erzählung schon eine Super-Zeitlupe.

Wie jedoch die „Gunter" - für egG hUNTER - bis zur großen futuristischen Schlacht gegen den großen, bösen Konzern in all ihren fantastischen Erscheinungen und schließlich auch in der Realität die Suche durchziehen, ist oft umwerfend komisch und in jedem Moment mitreißend inszeniert. Dies ist schließlich Steven Spielberg. Und der macht keineswegs nur oberflächliche Pop-Kultur. Siehe „E.T.".

Spielberg präsentiert nicht nur einen unendlichen Spaß mit Referenzen und Zitaten aus allen möglichen Genres vom Teenie-Film bis zum Horror-Klassiker. „Ready Player One" zeigt auch Drohnen für Pizza-Lieferung und Bomben-Attentate. Eine Welt der Vereinzelung, die man heute schon erkennt, wenn man mal als Einziger den Blick vom Smartphone losreißt.

Dieser sagenhafte Film ist gleichzeitig der mit außerordentlicher Brillanz ausgeführte, überdrehte Traum eines Spielkindes aus den 80ern und Zivilisations-Kritik. Es ist ein buntes Märchen, dass auf mehreren Ebenen dem Cyber-Space die Spiele-Maske vom Kopf reißt. Spielbergs letzter Film „Die Verlegerin" war eine Würdigung des Gestern, „Ready Player One" springt weit in eine verführerische Zukunft. Und: Ist nicht Spielberg selbst so ein Zauberer und Verführer wie Halliday? Die herrlich naive Lösung: Das Internet bleibt in Zukunft Dienstags und Donnerstags geschlossen.

Transit (2018)

BRD Frankreich 2018 Regie: Christian Petzold, mit Franz Rogowski, Paula Beer, Godehard Giese, 101 Min. FSK: ab 12

Christian Petzold, der Regisseur mit den klügsten deutschen Filmen, versetzt seine „Gespenster" in einer genial freien Adaption von Anna Seghers' Roman „Transit" aus dem Jahr 1944 in das Marseille verzweifelter deutscher Flüchtlinge. „Phoenix" ist diesmal Georg (Franz Rogowski), der die Identität des verstorbenen Schriftstellers Weidel annimmt, um ein Visum der mexikanischen Botschaft zu erhalten.

Petzold geht den Stoff mutig mit der genialen Idee an, die Flüchtlings-Situation deutscher Immigranten mit der von afrikanischen Opfern des Heute zu verbinden. Die Kneipen, Polizeiwagen und -Sirenen aus Paris und Marseille sind gegenwärtig. Die Situation ist die des besetzten Frankreichs der 40er Jahre. Georg ist einer der Vertriebenen, der sich vor allem treiben lässt. Bei einem Gefälligkeitsgang kommen die Manuskripte, Briefe und Visa-Unterlagen von Weidel in seine Hände. Der Schriftsteller hat sich in seinem Pariser Hotel umgebracht. Und es ist vor allem das konsequente Missverstehen des Beamten in der Botschaft, das Georg veranlasst, die Identität und damit die Visa und Fluchtmöglichkeiten von Weidel anzunehmen. Doch auch Weidels Frau Marie (Paula Beer) ist in der Stadt und sucht ihren Mann, den sie in Paris sitzenließ...

Die Situation der Flüchtlinge ist nicht nur pervers, sie ist auch absurd: Man darf nur bleiben, wenn man nicht bleiben will. Nur wer Visa und Karten für die rettenden Schiffspassagen hat, wird nicht verhaftet. Und alle Durchgangsländer wollen zudem Transit-Visa. So findet das Leben im „Transit" wartend in kleinen Hotels, den Lobbys der Konsulate, in den Cafés und Bars am Hafen statt. Georg freundet sich mit Driss an, dem dunkelhäutigen Sohn seines auf der Flucht gestorbenen Genossen Heinz. Hier, beim Fußball-Spiel mit dem kleiner Jungen marokkanischer Abstammung, im Gespräch mit deutschen Fußball-Vokabeln von heute vermischen sich die europäischen Flüchtlingsströme der 40er mit den aktuellen in anderer Richtung.

Der raffiniert konstruierten Geschichte mit überraschender Wende mitten im Film gelingt ein äußerst spannender Identitätswechsel, mit dem man sich sofort in die Situation der Verfolgten versetzt fühlt. Auf dieser „Road to Nowhere" (Talking Heads im Abspann), der Straße ins Nirgendwo, wollen all die fluchtbereiten Menschen ihre Geschichten erzählen. Der Off-Text, üblicherweise gerne der pure Originaltext, lässt dabei anachronistische Elemente einfließen, wie George A. Romeros Zombiefilm „Dawn of the Dead" von 1978. Und das ist nicht nur ein „Gag", denn die Gestalten, die in Marseille in der Hoffnungslosigkeit feststecken, haben etwas von Zombies, von lebenden Toten. Überdies hungern und sterben sie in diesem Wartezimmer der Freiheit noch bevor die Deutschen tatsächlich einmarschieren.

Petzold setzt hier seine bekannten Motive um Nicht-Ort und fremde Identitäten auch aus „Yella" und „Wolfsburg" fort. Das ganze, vielleicht noch faszinierendere, ungeheuer kluge und dichte Gedankenkonstrukt dahinter ist in Begleittexten ausgebreitet. „Transit" wird so zu einem Anti-„Casablanca", einem deutlich entromantisierten , aber trotz der nüchternen Inszenierung in einer verpassten Liebesgeschichte sehr emotionaler Blick auf Flüchtlinge vor dem Nazi-Regime. „Shooting Star" Franz Rogowski („Love Steaks", „Victoria"), der zuletzt in Hanekes „Happy End" als Freund der Flüchtlinge beeindruckte, fesselt in der Hauptrolle mit der stillen Intensität der allerbesten Leinwand-Stars. Sehr bewegend auch Paula Beer, die Hauptdarstellerin der aktuellen ZDF-Serie „Bad Banks", als orientierungslos herumirrende Marie mit der großen Frage „Wer vergisst schneller, der Verlassene oder die, die ihn verlassen hat?" Im außerordentlich guten Ensemble zeigt die Besetzung des Barbesitzers und Erzählers durch Matthias Brandt, wie genial dicht dieser Film gewebt ist: Der Sohn des Nazi-Flüchtlings Willy Brandt bewirtet hier quasi die Gespenster seiner Vätergeneration.

1.4.18

Pio

Italien, Brasilien, BRD, Frankreich, USA, Schweden 2017, Regie: Jonas Carpignano, mit Pio Amato, Koudous Seihon, Damiano Amato, Francesco, 118 Min., FSK: ab 12

Nach der Flüchtlings-Geschichte „Mediterranea" (2015) inszeniert Jonas Carpignano wieder einen packend authentischen Film mit Roma, Flüchtlingen und Italienern im Süden des Landes: Der 14-jährige Pio (Pio Amato) lebt mit seiner Roma-Großfamilie in A Ciambra, einer kleinen Gemeinde in Kalabrien. Der Junge kann nicht lesen, dafür raucht und trinkt er wie ein Großer. Die Siedlung erlebt regelmäßig Polizei-Razzien, wegen geklautem Kupfer, abgezapftem Strom. Italiener, so genannt von den Roma, kommen vorbei, um Aufträge zu verteilen. Pios älterer Bruder Cosimo (Damiano Amato) soll Häuser ausrauben oder Autos stehlen. Als Cosimo und der Vater von der Polizei erwischt werden, will Pio sich gegenüber der Familie beweisen. Er gibt ein geklautes Auto dem Besitzer für 300 Euro zurück, stiehlt im Zug Koffer von Reisenden.

„Pio", der 2017 in Cannes erstmals gezeigt wurde, ist kein gewöhnliches Sozialdrama. Die Darsteller sind meist Laien, die in ihrem eigenen, tatsächlich existierenden Viertel spielen und heftigen Dialekt sprechen. So ergibt sich eine pralle Geschichte mit intensiven Aufnahmen, zügig erzählt, sehr packend geschnitten. Der Film wirkt authentisch, nahe dran, mittendrin. Neorealismus von heute.

Auf naheliegende und selbstverständliche Weise zieht Pio Tricksereien durch, wie alle anderen in der Umgebung. Was allerdings schief geht, als er einen italienischen Auftraggeber der Familie bestiehlt. Er, der sich mit den afrikanischen Flüchtlingen gut versteht, sogar in Aviya (Koudous Seihon) einen älteren Freund hat, muss diesen verraten, um seine Familie zu retten. Die nüchtern beobachtete Zeit zwischen Kindheit und Mann-Sein bettet „Pio" in gefühlvolle bis poetische Momente. Eine intensive Trauerfeier bewegt mit Musik und Gesang. Mühsam formulierend erzählt Pios Großvaters von besseren Zeiten. In den menschenleeren nächtlichen Straßen sieht der Junge ein verlorenes Pferd - symbolisch für frühere Freiheiten des „ziehenden Volkes". Heutzutage bleibt Pio scheinbar keine Wahl als mit den Armen die noch Ärmeren auszubeuten.

Gringo

USA 2018 Regie: Nash Edgerton, mit Joel Edgerton, Charlize Theron, David Oyelowo, Thandie Newton, Bashir Salahuddin, 111 Min., FSK ab 16

Der kleine Angestellte Harold Soyinka (David Oyelowo) wird mit den Realitäten des neoliberalen US-Kapitalismus konfrontiert. Sein großkotziger Angeber Richard (Joel Edgerton), ein besonders verlogenes Ekel, das sich als Freund ausgibt, will ihn nach der kommenden Fusion feuern und lästert über seine ehemals übergewichtige Ehefrau. Während einer Geschäftsreise nach Mexiko, wo eine Fabrik Marihuana in Pillenform produziert, kündigt schon mal Harolds Ehefrau Bonnie (Thandie Newton) wegen eines Liebhabers. Aus dem braven Angestellten wird ein frustrierter, der beschließt, sich selber zu entführen. Die zynischen Reaktionen seiner Bosse Richard und Elaine (Charlize Theron) sind vielsagend. Gleichzeitig checkt ein kleiner Drogenkurier im Billighotel und Versteck von Harold ein und Richards Bruder, ein ehemaliger Killer, soll den Fall unkonventionell lösen.

Das beliebte Rezept für eine Action-Komödie um krumme Geschäfte, illegale Substanzen und skrupellose Bosse funktioniert hier trotz prominenter Besetzung nur sehr mäßig. Neben dem guten David Oyelowo („Selma", „Der Butler", „A United Kingdom") kann allein Charlize Theron („Atomic Blonde", „Fast & Furious 8") als extrem ordinäre karriere-geile Frau punkten. Der Rest entwickelt sich träge und will zeitweise den schwarzen Humor von Coen und Tarantino erzeugen. Aber dazu reicht ein mexikanischer Gangster-Boss, der sich über Beatles-Alben auslässt, nicht aus. Richtig witzig ist das nur am Rande, etwa bei der gelangweilten Sekretärin, die dauernd Katzenvideos guckt. Bis endlich die Post abgeht, haben andere Filme schon ganze Städte platt gemacht. Derweil stolpern die Ideen und Wendungen nur so übereinander. Allein ein gerechtes Happy End stimmt versöhnlich, ansonsten hat dieser künstlich nachgemachte Action-Kick höchsten Placebo-Wirkungen.