30.11.21

House of Gucci


Kanada, USA 2021, Regie: Ridley Scott, mit Lady Gaga, Adam Driver, Al Pacino, 158 Min. FSK: ab 12

So wie die Marke Gucci eher durch dreiste Kopien vom Flohmarkt mit absurd großen Logos bekannt ist, so kopiert Ridley Scott hier wahres Leben einer „wahren Geschichte" über den Intrigen-Stadl der Familie Gucci. Dankenswerterweise regen sich alle noch lebenden Beteiligten im Dienste der Werbung groß auf. „House of Gucci" lässt nur über grelle Verzerrungen und zugegeben klasse Schauspiel-Nummern staunen.

Auch wenn die wahre Patrizia Reggiani sich über ihre Darstellung durch Lady Gaga aufregt, es ist eigentlich nett und sympathisch, wie die junge Tochter eines Bauunternehmers 1970 hinter diesen linkischen Anwalt mit der zeitlos zu großen Brille her ist. Dass es sich um Maurizio Gucci (Adam Driver), Mode-Millionär in dritter Generation, handelt, erfährt sie erst später. Maurizio ist glücklich in dieser Liebes-Beziehung, heiratet Patrizia sogar gegen den Rat seines elitären Vaters Rodolfo (Jeremy Irons). Der schmeißt den Junior darauf raus und erst das Werben vom geschäftstüchtigen Onkel Aldo (Al Pacino) bringt ihn wieder zurück in den Familienbetrieb. Der, enttäuscht von seinem erschreckend dämlichen Sohn Paolo (Jared Leto), lädt Patrizia und den Neffen nach New York ein, zeigt ihnen die Ursprünge von Gucci in Kuhhäuten und Lederwaren. Das Umwerben mit Charme und Geschenken hat einen finanziellen Hintergrund: Sattlermeister Guccio Gucci vererbte sein 1921 gegründetes Unternehmen an beide überlebenden Söhne zu gleichen Teilen. Wer also die Macht im Familien-Konzern haben will, braucht Anteile der anderen Seite. Etwas, das den naiven Maurizio nie interessierte, Patrizia umso mehr.

Es hat was von einer auf den Laufsteg verpflanzten Lady Macbeth, wie Patrizia Reggiani den Laden Gucci übernimmt. Ihr erstes Kind ist Rückfahrticket in die Arme des todkranken Schwiegerpapas Rodolfo. Nach dessen Ableben fehlt eine Unterschrift, um millionenschwere Erbschaftssteuer zu umschiffen. Doch schon in Papas Firma fälschte Patrizia Signaturen, während der fremdging. Dreist und eigenwillig umgarnt sie Paolo mit dessen unsäglichen Mode-Entwürfen. Als sie endlich am Ziel – und Aldo im Knast – ist, verlässt sie der eitle Macho Maurizio für eine andere. Er gewinnt alles, um Gucci danach mit seinem exorbitanten Luxusleben fast zugrunde zu richten. Nur der Verkauf aller Familien-Anteile an einen Investor rettet Gucci, das gerade durch Chef-Designer Tom Ford wieder interessant wird. Die Kugel gibt Maurizio letztlich Patrizia 1995 durch ein paar schäbige Auftragskiller, vermittelt von einer schrillen Hellseherin (Salma Hayek). Nach Verbüßung einer Haftstrafe wird die ehemalige Frau Gucci nun durch diese Verfilmung bestraft.

Schon in der ganzen, geschickt schillernden Werbekampagne versprach „House of Gucci" mehr Schein als Sein. Diesen neuen Ridley Scott („Der Marsianer", „Gladiator", „Blade Runner", „Alien") kann man nur ironisch gedacht einigermaßen ertragen. Oder als Bewerbungs-Video wahrlich großartig aufspielender Stars. Die Skandal-Geschichte ist ein teurer, wenn auch nicht unbedingt geschmackvoll ausgestatteter Intrigen-Stadl mit ebenso stylischen Musik-Einsätzen. Das Drama der schlimmsten Mode aus 70er, 80er und 90ern dauert länger, als normale Filme sind, bis es beim ersten Ehestreit in einer Szene mal richtig spannend wird. Bis dahin ist „House" eine Aneinanderreihung von Momenten.

Lady Gaga spielt wie schon in „A Star is born" einfach großartig und völlig glaubhaft. Adam Driver („Marriage Story", „BlacKkKlansman") ist mit diesem hüftsteifen Idioten Maurizio nicht sehr gefordert – nur die Kälte des Verrats zeigt sich fein ziseliert im Gesicht. Scott fasst die letzten Jahre, den Niedergang des Hauses Gucci, den Erfolg von Tom Ford, den Verkauf der Anteile und den Tod Maurizios in einer Sequenz zusammen. Das könnte wie Aschenbachs Abgang in Tod und Venedig sein, wäre Maurizio nicht wie alle anderen nur eine Anziehpuppe. Paolo ist, von Jared Leto mit dicker Latex-Maske gegeben, eher Clown statt Widersacher. Pacino gibt seinem hyperaktiven Affen Aldo wieder reichlich Zucker. Doch es hilft alles nichts. Am Ende bleibt nur die Frage, ob Lady Gaga bei den Oscars Gucci tragen wird.


Die Wespe (Sky ab 3. Dezember) ***


(Deutschland 2021), Regie: Hermine Huntgeburth, mit Florian Lukas, Leonard Scheicher, Ulrich Noethen, 6 Folgen je ca. 30 Min., Altersfreigabe ohne Angabe

Das ging ins Auge: Wenn sich Dart-„Sportler" aus Eifersucht duellieren, machen sie es nicht mit Colts, sondern mit ihren spitzen Pfeilen. (Kinder, bitte nicht nachmachen!) So geschehen mit dem abgehalfterten Dartprofi Eddie (Florian Lukas), genannt „Die Wespe", und seinem jungen Zögling Kevin (Leonard Scheicher). Eddies Ehe mit Manu (Lisa Wagner) war eigentlich immer Krise, wie sein ganzes Leben. Doch als der Schüler den Mentor in der Rangliste überholt und noch eine Affäre mit Manu startet, sieht Eddie erst rot und dann auf einem Auge nichts mehr. Aber der gebrochene Mann nimmt die Krise als Chance: Mit neuem Job und gepflegtem Look will er wieder Turniere gewinnen und Manu zurück.

Unvergessen, wie „Kingpin" (Regie: Bobby & Peter Farrelly) den Bowling-„Sport" 1996 zum Thema und gleichzeitig deftig lächerlich machte. Woody Harrelson spielte einen ehemaligen Star der Szene mit Handprothese. Nun wird in der Comedyserie „Die Wespe" der Dart-„Sport" lächerlich gemacht. Wer sich mal auf der Fernbedienung vertippt hat und bei einer Dart-Sendung landete, weiß, dass es dazu nicht viel braucht. Doch Regisseurin Hermine Huntgeburth („Neue Vahr Süd", „Männertreu", „Lindenberg! Mach Dein Ding") macht aus dem Buch von Jan Berger („Der Medicus", „Ich war noch niemals in New York") einen toll auf schäbig stilisierten Spaß. 

„Die Wespe" fängt zwar mit edlem Billard an, man könnte Paul Newman, Tom Cruise und „Die Farbe des Geldes" erwarten. Doch der Tisch wird links liegen gelassen, damit Eddie und Kevin an der Dart-Scheibe ein paar Angeber abzocken können. Florian Lukas („Good Bye Lenin!", „Der Überläufer") gibt eine herrliche Mini-Version der dickbäuchigen Dart-Stars vom Sportsender: Mit Wampe und Kippe in der Hand sowie Trainingsanzügen, die nie cool waren oder werden. In der Garage, die als Trainingsplatz dient, sind selbst die Pokale rauchvergilbt. Die Musik klingt dementsprechend aus der Mode und ist nie zur Glorifizierung tauglich. Die ganze Szene besteht aus verkrachten Existenzen in schäbigen Hotels.

Noch besser als Lukas ist Ulrich „Sams" Noethen („Comedian Harmonists", „Deutschstunde"), grandios mit Tattoos und Goldkettchen. Er gibt Eddies ehemaligen Kumpel Nobbe, nun Alkoholiker. Der nimmt ihn in seine winzige Laube auf und wird trocken, um Eddie wieder fit zu machen. „Leben ohne Dart ist sinnlos", sind sie sich einig. Tatsächlich klingt bei den Trainings-Einheiten der beiden kaputten Typen „Eye of the tiger" aus den „Rocky"-Filmen an. Da ist „Die Wespe" fast so fies wie der Farrellys „Kingpin". Doch mit Nobbe gewinnt die Farce auch ein ganzes Stück menschelnde Substanz. Das erste Turnier von Eddies Comeback findet mit dem trockenen Alkoholiker ausgerechnet in einer Brauerei statt und geht mächtig schief. Der Kampf gegen den fatalen ersten Schluck beginnt bei Noethen albern und endet herzzerreißend tragisch.

Und auch in den Kulissen kann der unterhaltsame Spaß über Sportler, die in Wirklichkeit keinen Sport machen, auftrumpfen: Berlin liefert einige heruntergekommene architektonische Highlights wie den „Mäusebunker", das brutalistische Tierversuchslabor der FU-Berlin. Dazu in Erinnerung an die Ballhaus-Innovationen von „Farbe des Geldes" auch ein Kameratrick, wenn im Finale die Dart-Scheibe durchsichtig wird.

„Die Wespe" ist ab 3. Dezember als komplette Staffel auf dem Streamingdienst Sky Ticket und über Sky Q auf Abruf verfügbar und wird immer freitags ab 20.15 Uhr in Doppelfolgen auf Sky One ausgestrahlt.


Benedetta


Frankreich, Niederlande 2021, Regie: Paul Verhoeven, mit Virginie Efira, Charlotte Rampling, Daphné Patakia, Lambert Wilson, 131 Min. FSK: ab 16

Für Paul Verhoeven („Basic Instinct", „Total Recall") ist Provokation quasi eine instinktive Handlung. So geriet denn auch diese Geschichte einer lesbischen Klostervorsteherin im Italien des 17. Jahrhundert zu dreistem „Camp": Platt überzogen in Story, viel nackter Darstellung und Exzessen. Das können nur Schauspielerinnen wie Virginie Efira, Charlotte Rampling und Daphné Patakia retten.

Unglaublich, dass die Geschichte vom extrem gläubigen Mädchen Benedetta Carlini (1590-1661), die in ein Kloster verkauft wird und als Hexe verbrannt werden sollte, eine wahre ist. Aber schon der schmuddelige Buchtitel der Historikerin Judith C. Brown „Schändliche Leidenschaften. Das Leben einer lesbischen Nonne" muss den zügellosen niederländischen Hollywood-Regisseur Verhoeven gereizt haben. Und auch wir sind anfangs gläubig, wenn wir die drastischen und kitschigen Jesus-Visionen der religiösen Mystikerin Carlini (Virginie Efira) sehen. Dann die Wundmale Christi an Händen, Füßen, der Stirn, ein lokaler, karrieregeiler Kirchenmann und fertig ist die zukünftige Heilige. Dazu die freche, ungezügelte Nonnenschülerin Bartolomea (Daphné Patakia aus „Djam"), von Vater und Brüdern missbraucht, was ihr allerdings nicht viel auszumachen scheint. Und noch Pest, ein Komet, die Perversionen der Inquisition – wer hat noch nicht, wer will noch mal.

Paul Verhoeven, der starke Frauen gerne nackt zeigt, gestaltet in „Benedetta" so ein wildes Durcheinander, dass es unausgegoren wirkt. Da erinnert man sich wieder, wie schrottig Verhoevens „Klassiker" „RoboCop" (1987), „Total Recall" (1990) und vor allem die desaströsen „Showgirls" (1995) eigentlich waren.

Gunpowder Milkshake


Großbritannien, Deutschland, USA, Frankreich 2021, Regie: Navot Papushado, mit Karen Gillan, Lena Headey, Michelle Yeoh, Angela Bassett, Paul Giamatti, 115 Min. FSK: ab 18

Und schon wieder ist etwas schief gegangen bei einer Gaunerei: Die wohl sehr effektive Profikillerin Sam (Karen Gillan) hat bei der ganzen Horde von Gegnern, die sie wie eine Jagd-Strecke niedergelegt hat, auch den Sohn des Gangsterbosses erledigt. Diese allzu bekannte Geschichte wäre nicht interessant, wenn wir nicht zuvor gesehen hätten, wie sich Sam als Teenager von Mutter Scarlet (Lena Headey) verabschieden musste, ebenfalls Auftragsmörderin. Denn Minuten später werden die Verfolger Mamas niedergemäht. Das alles im extrem stylischen Eis-Café bei Milchshake mit zwei Strohhalmen – „Gunpowder Milkshake".

Nun hat ihr Ziehvater Nathan (Paul Giamatti), Chef einer Agentur für Kriminelles und Mörderisches, bisher seine schützende Hand über Sam gehalten. Aber er hat Herren im Anzug im Nacken, was man tatsächlich immer wieder im Bild seines üppigen Büros sieht. So sind wir relativ schnell in der bekannten Situation: Sam hat keine Chance, aber ergreift sie.

Stil ist alles beim grandiosen Gangsterinnen-Film des israelischen Newcomers Navot Papushado: Der Auftritt starker Action-Legenden wie Karen Gillan („Avengers: Endgame", „Jumanji"), Lena Headey („Game of Thrones"), Michelle Yeoh („Tiger & Dragon") und Angela Bassett („Black Panther") wird durch Kameramann Michael Seresin („Harry Potter und der Gefangene von Askaban") und das Produktionsdesign von David Scheunemann („Deadpool 2") zu einem edlen Ausstattungs-Augenschmaus. Dazu aberwitzige Szenerien wie die Waffensammlung der Bibliothekarinnen, Pistolen und Messer versteckt in Klassikern von Virginia Woolf, Agatha Christie und Jane Austen. Das sieht mit coolen Plansequenzen in Bowlingbahn und Eis-Café mehr nach Guy Ritchie als nach Tarantino aus.

28.11.21

Faking Hitler / RTL+


Ein „Jahrhundert-Coup" des „Stern", der nach wenigen Tagen zur Lachnummer wurde: Die Entdeckung vermeintlicher Hitler-Tagebücher entblößt als Anekdote der Pressegeschichte viel über ein seltsame Hitler-Leidenschaft der Deutschen. Was aber auch schon ein Blick auf die Titelblätter von Stern, Spiegel und Co. verrät. Showrunner Tommy Wosch macht aus der Geschichte eine geschickt und dicht gestrickte Farce über sechs Folgen. (Ab 30.11. auf RTL+) 

Am 25. April 1983 stellte das Magazin „Stern" die privaten Tagebücher von Adolf Hitler vor – in „Faking Hitler" haben wir da schon seit vier unterhaltsamen Folgen miterlebt, wie sich der eitle Starreporter Gerd Heidemann (Lars Eidinger) nur zu gerne vom kleinen Kunstfälscher Konrad Kujau (Moritz Bleibtreu) alten Nazi-Kram hat andrehen lassen. Und wie der Marketing-Mensch vom „Stern" für diesen „Coup" alle journalistischen Bedenken vom Tisch wischt. Neben diesen herrlichen Albernheiten, samt kompliziertes Dreiecksverhältnis um den sensiblen „Künstler" Kujau, gibt es den Handlungsstrang der Jungredakteurin Elisabeth Stöckel (Sinje Irslinger). Bei der Suche nach der SS-Vergangenheit von Derrick-Darsteller Horst Tappert entdeckt sie mit Hilfe des jüdischen Investigativ-Journalisten Leo Gold (Daniel Donskoy) ihren eigenen Vater (Ulrich Tukur) unter den Mördern für Hitler.

Grandios werden hier haufenweise Verknüpfungen und Verstrickungen komprimiert. Unter der gelungenen Regie von Wolfgang Groos und Tobi Baumann hat Tukur als Jura-Professor und Spezialist für Gerechtigkeit mit furchtbarer Vergangenheit tatsächlich die stärkste und bewegendste Szene. Dieser Strang verhindert, dass „Faking Hitler" die gleiche Unbedarftheit hinlegt, wie einst die sensationsgeilen Journalisten des „Stern".

Eine große Nummer ist vor allem der Konrad Kujau von Moritz Bleibtreu. Mit deftigem Dialekt liegt er meist im Bade, ist ansonsten die Made in den Haushalten seiner beiden Frauen. Die mäßigen Fälschungen – schon „Schtonk" amüsierte sich über die falsche Initiale auf dem Einband – verkauft er mit einer Bauernschläue, die für viele Lacher gut ist. Lars Eidinger, der Star, ist von der ersten Szene an grandios, wenn sich sein Auto in Zeitlupe überschlägt und er selbst dabei noch ein paar erstaunliche Ausdrücke für die Kamera parat hat. Dass Heidemann, dieser Ritter des Checkbuch-Journalismus, tatsächlich Görings Boot besitzt und mit Görings Tochter ins Bett geht, gibt dem satirischen Affen Zucker. Ebenso, wenn sich in Boston Frau Hitler und Frau Göring begrüßen. Aber ausgedacht ist hier nur einiges. Zuviel ist leider tatsächlich so gewesen.


23.11.21

À la Carte! - Freiheit geht durch den Magen


Frankreich, Belgien 2021 (Délicieux) Regie: Éric Besnard, mit Grégory Gadebois, Isabelle Carré, Benjamin Lavernhe, 113 Min., FSK: ab 0

Die Revolution im Restaurant

Wie Königin Marie Antoinette meinte, das hungernde Volk solle doch Kuchen (eigentlich: Brioche) essen, wenn es kein Brot mehr habe, hält sich als Anekdote rund um die französische Revolution. Dass in dieser Zeit auch das Restaurant entstand, wie wir es heute kennen, ist hingegen historisch korrekt. Éric Besnards („Birnenkuchen mit Lavendel") ebenso sinnlicher wie geistreicher Film macht daraus eine fiktive Geschichte von Genuss, mehrfacher Emanzipation und Revolution.

Wir schreiben das geschichtsträchtige Jahr 1789: Pierre Manceron (Grégory Gadebois), begnadeter Koch, arbeitet für den Duc de Chamfort (Benjamin Lavernhe). Zwar ist der stille Manceron der Stolz des Herzogs, aber dann macht der hässliche, dekadente Adel in gourmet-kritischen Bonmots seine „Délicieux" genannte Vorspeise herunter. Weil „erdige" und deutsche Zutaten wie Kartoffeln drin seien! Manceron entschuldigt sich nicht und findet sich mit dem bücherliebenden Sohn bald in den Ruinen der väterlichen Poststation wieder. Stolz und dickköpfig beginnt der rundliche Mann, Brot zu backen und Suppen aus den Kräutern der Gegend zu kochen. (Das erinnert schon an ganz moderne Konzepte wie vom „Noma" in Kopenhagen.) Beides erfreut sich bald großer Beliebtheit. Sogar die angebliche Konfitüren-Macherin Louise (Isabelle Carré) bietet sich resolut als Küchen-Gesellin an. Die Postkutscher verändern bald den Fahrplan für die besonderen Mahlzeiten Mancerons. Der kann es kaum erwarten, dass sein exzellenter neuer Ruf den alten Herrn herbeilockt. Doch nicht nur er hat noch eine Rechnung mit dem Herzog offen...

Wie der literarische gebildete Sohn Benjamin (Lorenzo Lefèbvre) den Vater im freien Geiste Rousseaus animiert, sich von der Herrschaft Chamforts loszusagen, ist einer der vielen historischen Verweise im wunderbar dichten, vielschichtigen und überraschenden Meisterwerk „À la Carte! - Freiheit geht durch den Magen". Das Sahnehäubchen vom historischen und Liebes-Film ist die spielerische Nacherzählung vom Entstehen der modernen Restaurants. Tatsächlich waren es die in der Französischen Revolution ohne kopflose Herrschaft arbeitslos gewordenen Köche, welche die Anzahl der Restaurants in Paris in wenigen Jahren von unter Hundert auf mehrere Hunderte anstiegen ließen. Doch aus diesem trocken Wiki-Wissen macht Besnard einen wunderschönen Spaß: Manceron erfindet etwa moderne Küchen-Spielereien wie die „Amuse bouche". Historisch korrekt jedoch, dass ein Wechsel vom großen Gasttisch zu Einzeltischen stattfand. Ebenso kam die Menükarte auf, mit der neuerdings zu jeder Zeit, die dem Gast beliebte, gegessen werden konnte. Später kam die Boullion hinzu, aber das ist eine andere Geschichte von den Suppen, die hier nur geringschätzig nebenbei erwähnt werden. Der Sohn will anders modern auf Fleisch verzichten, weil es aggressiv mache. Dabei hungert ihm nach Neuigkeiten aus dem revolutionären Paris. Das herrlich bürgerliche Finale fasst grandios den Wechsel vom Menü bei Hofe zum volkstümlichen Gastmahl unter Gleichen zusammen. (Schade nur, dass sich mittlerweile mit dem ganzen kulinarischen Kult eine neue kapitalistische Aristokratie der Gourmets entwickelt hat.)

„À la Carte!" ist weit von der belanglosen Nettigkeit vieler französischer Filme entfernt, wie sie Éric Besnard selbst mit „Birnenkuchen mit Lavendel" abgeliefert hat. Bei reichlich vielen Plots passt auch noch ein soziologische und kultur-historischer Hintergrund vom Feinsten hinein. Dabei gelangen im einfachen Setting der frisch restaurierten Poststation exquisite Aufnahmen, das Schauspiel ist sowie zum Fingerlecken. Im Menü der Küchen-Filme ist dies sicher der historisch nahrhafteste.

Hope (2019)


Norwegen, Schweden 2019 (Hap) Regie: Maria Sødahl, mit Andrea Bræin Hovig, Stellan Skarsgård, 126 Min., FSK: ab 12

Dass eine Tumor-Diagnose ohne Chance auf Heilung am Anfang eines trotzdem beglückenden Films stehen kann, beweist „Hope" mit der autobiografischen Geschichte der Regisseurin Maria Sødahl: Es ist kurz vor Weihnachten, als die Choreografin Anja (Andrea Bræin Hovig) von einem erfolgreichen Auslandsaufenthalt zu ihrer Familie zurückkehrt. Und die Kopfschmerzen von einem großen Tumor stammend diagnostiziert werden. Ein Jahr nachdem der Lungenkrebs scheinbar erfolgreich besiegt wurde. Schmerzen und Panik sind groß, trotzdem beschließt Anja mit ihrem Mann, dem Regisseur Tomas (Stellan Skarsgård), den sechs Kindern nichts zu sagen. Und dann macht er ihr im Sprechzimmer eines Arztes auch noch einen Heiratsantrag.

Märchenhafte Weihnachten, Anjas Geburtstag, eine Hochzeit, Neujahr und wahrscheinlich ein baldiger Todestag in einem Rutsch – „Hope" hält sich nur scheinbar nicht zurück. Denn der bewegendste und schönste Film der Woche bleibt ohne übertriebene Dramatik lebensnah, sehr detailliert und glaubhaft. 

Deutlich die ähnlichen Erfahrungen der Filmregisseurin Maria Sødahl, wenn die Nebenwirkungen Anja hyperaktiv machen und wir uns über einen Hausputz im Eiltempo amüsieren können. Geistreich geht das Paar, das sich eigentlich auseinandergelebt hatte, mit der Situation um: Auf sein „Wie geht es dir?" antwortet sie, deren Sehnerv eingeklemmt ist, „Blind"! Beim grandiosen Weihnachtsfest hängen alle balancierend und lachend in einem großen Knoten auf Papa, der vorher die Hausarbeit an die älteren Kinder delegiert hatte. Selbst die Liebe, die im Alltag verloren gegangen ist, lebt in Todesnähe wieder auf.

Die Abschiede vor der Operation sind nicht einfach anzusehen, aber „Hope" ist kein Melodram, das explizit auf die Tränendrüse drückt. Die Fast-Tragikomödie zeigt eine problematische Beziehung, in der doch noch viel Liebe, Verständnis und innige Kenntnis des anderen steckt. Das macht aus „Hope" auch einen Liebesfilm. Und eine Anti-Rauch-Kampagne.

Respect (2020)


USA 2020 Regie: Liesl Tommy, mit Jennifer Hudson, Forest Whitaker, Audra McDonald, 145 Min., FSK: ab 12

Das wechselhafte Leben der großartigen „Queen of Soul" und Bürgerrechtsaktivistin Aretha Louise Franklin (1942 – 2018) in einer recht konventionellen Biografie – dass „Respect" trotzdem ein toller sehenswerter Film ist, verdankt er seiner Hauptdarstellerin Jennifer Hudson („Dreamgirls") und ihrer starken Interpretation der Franklin-Hits.

Die Kindheit der noch „Re" genannten Aretha zeigt der Film eindrucksvoll und schockend: Da ist der prominente Kreis von Kultur-Menschen im Hause des Vaters und Predigers C.L. Franklin (Forest Whitaker). Der Bürgerrechtsaktivist Martin Luther King so etwas wie ein Onkel. Dann vergewaltigt einer der anderen Männer das kleine Mädchen in ihrem Zimmer. Mit zwölf Jahren wird Aretha Franklin ihr erstes Kind bekommen, mit vierzehn das zweite. Die Montage fängt diese Grausamkeiten mit Andeutungen im Bild ab: Wir sehen nur, wie der Vergewaltiger die Tür von innen verschließt. Erst viele Szenen später zeigt eine Rückblende das Kind schwanger. Der frühe Tod der Mutter ist allerdings ein emotionaler Hammer. Das Mädchen verstummt für mehrere Wochen, wird dann vom Vater zum Singen in der Kirche gezwungen. Männer bestimmen lange Arethas Leben und keineswegs zum Vorteil der Frau. Der gewalttätige Ehemann Ted White (Marlon Wayans) bringt die begnadete Komponistin und Sängerin zwar weg vom Kopieren weißer Erfolge. Als nach neun erfolglosen Alben mit Produzent Jerry Wexler (Marc Maron) und der Rückkehr zum Soul die Hits kommen, geben Teds Schläge weiter die Richtung an. Eine späte Emanzipation, schön mit passenden Songs begleitet („Think (Freedom)"), übergibt den Star und Workaholic nun in den Griff des Alkoholismus. Stilvoll gefilmt, sind es vor allem die freien Interpretationen des Schauspielstars Jennifer Hudson, die „Respect" zu mehr als respektabler Biografie machen.

22.11.21

In den Uffizien


Deutschland 2020, Regie: Corinna Belz, Enrique Sánchez Lansch, 100 Min., FSK: ab 0

Der wunderbare Dokumentarfilm über die Uffizien in Florenz und deren neuem, deutschem Leiter Eike Schmidt ist nicht nur ein Traum, weil er den Hort unzähliger Kunstschätze, das Erbe der Medici und das zentrale Bildgedächtnis der Renaissance aus ungewöhnlichen Perspektiven zeigt. Im überflutenden Reiz der Kunstwerke werden neben dem reichlich steifen deutschen „direttore" auch die Schließer bei ihrer Arbeit zwischen den bedeutenden Werken oder ein Aufseher mit zusätzlichem „zyklopischem Auge" vorgestellt. Der leitende Bibliothekar Claudio Di Benedetto wirkt wie der eigentliche Hausherr, der scheinbar seit Jahrhunderten die Kunstwerke „für die Gegenwart, aber vor allem für die Zukunft bewahrt". Er erzählt auch, wie der Palazzo Pitti als Flüchtlingslager diente. Derweil bereitet Kunsthistoriker Schmidt akribisch einen neuen Raum für Leonardo vor und nebenbei erfährt man etwas über seine Präsentations-Philosophie. Für Sponsoren, die nicht so genannt werden sollen, macht er vor der Kamera die Uffizien selber sauber. Und kämpft um die Platzierung eines Stücks moderner Kunst, das von den Selfie-Schießenden kaum beachtet und die Zeiten wohl nicht überdauern wird. Die Allegorien der Zeit in den Deckenkassetten betrachten auch dies unaufgeregt. Ein exklusiver Einblick wie vor dem Massentourismus oder während des Lockdowns.

Das schwarze Quadrat

Deutschland 2021, Regie: Peter Meister, mit Bernhard Schütz, Sandra Hüller, Jacob Matschenz, 100 Min., FSK: ab 12

Der Austausch des frisch geraubten und titelgebenden Malewitschs soll ausgerechnet auf einem Kreuzfahrtschiff stattfinden. Wenn die beiden Gauner im ebenfalls geklautem Reisegepäck Travestie-Kostüme finden, ist klar, dass die Verwechslungsklamotte billiges Boulevard-Theater wird. Und zwar - wie die Bühnenshow mit den nun falsch besetzten Bowie- und Elvis-Imitatoren - nur mäßig unterhaltsam.

Hannes (2021)

Deutschland 2021, Regie: Hans Steinbichler, mit Leonard Scheicher, Johannes Nussbaum, Lisa Vicari, 91 Min. FSK: ab 12

Schon der gemeinsame Motorrad-Trip von Moritz (Leonard Scheicher) und Hannes (Johannes Nussbaum) wird in jugendlicher Wildheit und Dolomiten-Landschaft überzogen gezeigt. Der Rest des Films lässt nach dem schweren Unfall, der Hannes ins Koma bringt, dann keineswegs nach. Der nicht recht lebenstüchtige Moritz übernimmt nun den Job des Freundes im Pflegeheim, lebt für ihn weiter. Die persönliche Entwicklung läuft im Zeitraffer ab, der Rest des Lebens um ihn hat die Gewichtigkeit von Teenieparty-Filmen. „Hannes" wurde vom eigentlich besseren Regisseur Steinbichler („Winterreise") nach Rita Falks Roman unangenehm durchschaubar auf das ganz große Gefühl hin inszeniert.

17.11.21

Große Freiheit


Deutschland, Österreich 2021 Regie: Sebastian Meise, mit Franz Rogowski, Georg Friedrich, Anton von Lucke, 116 Min. FSK: ab 16

Der Auftakt ist eigentlich unvorstellbar und doch erst junge Vergangenheit in Deutschland: Hans Hoffmann (Franz Rogowski) wird 1959 wegen sexueller Handlungen mit anderen Männern zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt. In der Bundesrepublik Deutschland! Doch in dem auf ruhige und intensive Weise tief bewegenden Drama um den berüchtigten Paragrafen 175 wird es in einer früheren Zeitebene noch viel schlimmer. Die erste Haft für Hans wegen Homosexualität nach dem Krieg ist eine direkte Verlängerung des Aufenthalts im Konzentrationslager. Weil der junge Mann dort schon 14 Monate überlebt hat, braucht er „nur noch" vier Monate im nicht für alle freien neuen Deutschland einzusitzen.

Das schockt selbst den groben Zellengenossen Viktor (Georg Friedrich), der zuerst nicht mit einem Schwulen in der Zelle sein will. Die „175" an der Tür kennzeichnet Hans. Viktor hat die „211", er sitzt wegen Mord aus Eifersucht an seiner Frau, wie er erst sehr spät erzählen wird. Jetzt hat der starke Mann aber Angst, angefasst zu werden, und stellt die Zelle auf den Kopf: „Ich bin net so einer". Erst als er die eintätowierte KZ-Nummer sieht, ist auch er von der Unmenschlichkeit der systemübergreifenden Strafe schockiert. Viktor wird ihm die Nummer des Terrors heimlich nachts in der Zelle überstechen.

„Große Freiheit" ist kein Gefängnisfilm mit gewaltsamen Szenen der Unterdrückung. Vielmehr eine Liebesgeschichte, die hauptsächlich im Knast stattfindet und auch dort endet. Es ist erstaunlich und schmerzlich, wie selbstverständlich sich Hans hinter Gittern bewegt. Im Dunkel der erneut verordneten Einzelzelle klären Rückblenden über die Abfolge von Verurteilungen auf. Wir erleben Hans nur ganz kurz draußen. Super8-Aufnahmen in der Natur mit seinem jungen Geliebten, der auch verurteilt wird, wirken fast surreal in dem bedrückend schönen Chiaroscuro, mit dem die französische Kamerafrau Crystel Fournier die Zellen zeichnet.

Die große bittersüße Geschichte des Films wird allerdings die mit Viktor sein. Er ist nicht der dumpfe Homophobe, dazu ist diese Gestalt selbst viel zu gebrochen. Ein zu Lebenslang verurteilter Mörder, der sich erst als Junkie selbst einsperrt. Denn eine Bewährungs-Verhandlung verpennt er, weil er sich eine Überdosis setzt. Das gibt dem Verhältnis von Hans und Viktor, die immer wieder im Knast aufeinandertreffen, eine neue Wendung. Eine respektvolle Freundschaft ist im Laufe der Jahre entstanden. Der Abhängige will nun in die Zelle des Schwulen, damit der ihm als Freund beim kalten Entzug hilft. Diesmal ist es ein Sich-Nahe-Kommen ganz anderer Art.

„Große Freiheit" feierte seine Weltpremiere in Cannes in der Neben-Sektion „Un Certain Regard", wo er den Großen Preis der Jury erhielt. Zudem wurde er beim Filmfestival in Sarajevo als bester Film ausgezeichnet. Der Darstellerpreis ging an der Österreicher Georg Friedrich („Stereo", „Wild", „Mein bester Feind"), doch eigentlich wird der Film gemeinsam von Franz Rogowski und Georg Friedrich in den Hauptrollen getragen. Als am Mythos untergehender Tieftaucher in „Undine", als Nazi-Emigrant in „Transit", als Stapler-Fahrer „In den Gängen" oder als frustrierter Konzernsohn (von Isabelle Huppert) in „Happy End" - Franz Rogowski ist in jedem Film, unter jeder Regie ein Erlebnis. In „Große Freiheit" bekommt sein grandioses Spiel besonders viel Raum. Oder besser: Hier wirkt es umso mehr beim, nein, nicht Kammerspiel, aber doch intensivem Aktieren auf engstem Zellen-Raum. „Große Freiheit" – ein Kinoereignis und ein Mahnmal gegen die grausame Unmenschlichkeit, die Liebe in vielen Ländern immer noch verbieten will.

Mit eigenen Augen


Deutschland 2020, Regie: Miguel Müller-Frank, 110 Min. FSK: ab 12

Das aufblühende Genre der Dokumentationen über Journalisten wird um diese Innenansicht der Monitor-Redaktion des WDR ergänzt. Sorgfältige Recherche im Redaktionsalltag wird anhand von spektakulären Fällen dem dämlichen Schlagwort „Lügenpresse" entgegengesetzt. Heute um 20 Uhr ist Regisseur Miguel Müller-Frank in Aachen im Apollo zu Gast.

Mitra


Niederlande, Deutschland, Dänemark 2021, Regie: Kaweh Modiri, mit Jasmin Tabatabai, Shabnam Tolouei, Mohsen Namjoo, 108 Min., FSK: ab 12

Das Drama um die in den Niederlanden lebende Psychologin und Exil-Iranerin Haleh (Jasmin Tabatabai), die nach Jahrzehnten die Frau entdeckt, die vermeintlich ihre Tochter ans Khomeini-Regime auslieferte, ist in mehrfacher Hinsicht spannend: Die Ergründung einer Tat der Vergangenheit, aber auch das Rätsel, was im Inneren dieser scheinbar gefestigten intellektuellen Frau abgeht. Weshalb nähert sich die furchtbar Selbstgerechte mit ihrem Bruder (Singer-Songwriter Mohsen Namjoo) so auffällig der jungen Tochter der Verdächtigen? Aber ein neuer Terror der geheimen Widerstands-„Organisation" im Exil hat das Verurteilen längst in eigene Hände genommen. Hinter all dem steht die große Frage nach den menschlichen Kosten eines (v)erbitterten Widerstandes.

Jasmin Tabatabai („Der Baader Meinhof Komplex", „Elementarteilchen") verkörpert das in einer reifen Rolle mit zwei Gesichtern grandios. (Wobei man diese exzellente Besetzung mit der Deutsch-Iranerin im Trend schneller Aufregebereitschaft als „klischeehaft" bezeichnen könnte.) Regisseur Kaweh Modiri inszenierte dicht und einfühlsam. Die bewegende Historie ist teilweise seine eigene, auch seine Schwester Mitra wurde hingerichtet.

16.11.21

Die Addams Family 2


USA 2021 (The Addams Family 2) Regie: Greg Tiernan, Conrad Vernon, Laura Brousseau, Kevin Pavlovic, 93 Min.

Zumindest für Film-Teenager scheint irgendwann die Frage zu kommen, ob diese peinlichen Eltern tatsächlich die leiblichen sein können. Die geniale Wednesday, berüchtigt für ihr eiskaltes Verhältnis zur Familie und den an Jugendkriminalität grenzenden Scherzen auf Kosten des Bruders, bekommt es beim wissenschaftlichen Schulwettbewerb von einer Holografie eingeflüstert: Du wurdest nach deiner Geburt vertauscht. Papa Gomez Addams und das Drehbuch nehmen diese pubertäre Familienkrise zum Vorwand, in einem aberwitzigen Gefährt – Geisterschloss auf Rädern – einen Roadtrip zu starten. Die Addams lassen die Niagarafälle überlaufen und jagen den Grand Canyon in die Luft. Am Slapstick, den Wednesday mit der Voodoo-Puppe in Gestalt ihres Bruders anstellt, können Kinder noch Spaß haben, doch die typischen Selbstfindungs-Probleme sind Teenager-Material. Und das hohe intellektuelle sowie psychologische Niveau machen „Die Addams Family 2" vom Duo Conrad/Vernon („Shrek 2", „Madagascar 3") zum Spaß auch für Große.

Die erwachsene Animation schafft es, den ewigen Prequels (dt: Wiederholung) und Sequels (dt: Wiederholung) einen wirklich neuen Twist zu geben. Der uralte Addams-Kult von TV und Kino, von Zeichen- und Real-Film, wird mit einem wichtigen Thema für Heranwachsende verbunden. Das Stichwort Problem-Film dabei in jeder Szene zigfach weggelacht mit Scherzen, Zitaten und vor allem richtigen Charakteren mit Ecken und Kanten. Aktuell und doch uralt ist Gomez Schlusssatz: „Different is what the D in Addams stands for" – Wir waren schon immer anders, sprich: Divers.

Das Land meines Vaters


Frankreich, Belgien 2019 (Au nom de la terre) Regie: Edouard Bergeon, mit Guillaume Canet, Veerle Baetens, Anthony Bajon, 104 Min. FSK: ab 12

Wie ein Cowboy reitet der junge Pierre Jarjeau (Guillaume Canet) durch die seine französischen Felder. Er kam zurück aus den USA, um den Hof des Vaters teuer zu erwerben. 17 Jahre und zwei Kinder später sieht die Welt mit Halbglatze und vielen Schulden anders aus: Der hartherzige Vater Jacques (Rufus) lässt sich immer noch abbezahlen. Meint aber trotzdem, er könne auf „seinem Land" machen, was er will. Vor allem die Vorbehalte gegen Pierres Frau Claire (Veerle Baetens) drückt er mit wenig freundlichen Worten aus. Dabei ernährt die liebevolle Ehefrau als Buchhalterin auf der Arbeit und zu Hause eigentlich die Familie. Trotz allem ist Piere glücklich mit seiner Familie, versteht sich hervorragend mit klugem Sohn, der ihn bewundert.

Trotz enormen finanziellen Drucks immer neuer Projekte und Schulden bleibt „Das Land meines Vaters" lange undramatisch, bis die „Krankheit durch Arbeit" zum Selbstmord führt. Pierre bringt sich mit seinem eigenen Giftcocktail um, Glyphosat ist auch dabei. Regisseur Edouard Bergeon verfilmt in seinem Debüt klug und berührend die eigene Familiengeschichte. Dass dies ein spektakuläres Thema ist, haben schon viele nordamerikanische Filme bewiesen. Dort richtete sich der Kampf vor allen Dingen gegen die Banken. Nun wird kein Gegner herausgestellt. Gegenübergestellt sind lediglich die alte, „bessere" Landwirtschaft des sturen Vaters, die aber auch ohne Antibiotika nicht überleben konnte. Das Drama packt mit authentischer, erdverbundener Erzählung und tollen Darstellern. Trotz des Dramas des Vaters wird es immer mehr der Film der großartigen Belgierin Veerle Baetens („The Broken Circle").

10.11.21

Billie - Legende des Jazz


Großbritannien 2019, Regie: James Erskine, 98 Min. FSK: ab 12

Auf der Basis von Interview-Aufnahmen der in den in den 70ern verstorbenen Journalistin Linda Lipnack Kuehl zeichnet diese Dokumentation erneut die Karriere der legendären Sängerin Billie Holiday nach. Mit reduzierten Mitteln von Tonbandaufnahmen und restauriertem, teils farbigem Archivmaterial vermag „Billie" nuancierter und trotzdem bewegend das tragische Drogen-Schicksal, das starke Statement mit „Bitter Fruit" und die Verfolgung durch das FBI zu vermitteln. Sogar besser als der letzte Spielfilm „The United States vs. Billie Holiday".

9.11.21

Last Night in Soho


Großbritannien 2021, Regie: Edgar Wright, mit Anya Taylor-Joy, Thomasin McKenzie, Matt Smith, Terence Stamp, Diana Rigg, 117 Min. FSK: ab 16

Die verwaiste Eloise Cooper (Thomasin McKenzie) zieht vom provinziellen Cornwall zum Modedesign-Studium ins wilde London. Nicht nur ihre Klamotten sind altmodisch, sie verhält sich geradezu altbacken zwischen den Party-People in ihrem Studenten-Hotel mitten im Lebe-Viertel Soho. Und flieht in ein altes Haus voller Erinnerungen. Das seit den 70ern nicht mehr renoviert wurde, wie die Vermieterin Alexandra erzählt. Geradezu fantastisch wird der „Umzug" in der ersten Nacht, als sich Eloise im swingenden Soho der Sechziger Jahre wiederfindet. Das schüchterne Mädchen vom Lande sieht sich im Spiegel nach einem auch tricktechnisch grandiosen Wechsel als die freche und mutige Sandy (Anya Taylor-Joy). Die angehende Sängerin erobert den Club auf der anderen Seite der Straße und auch den Musik-Manager Jack (Matt Smith). Dieser vermeintliche Freund und Partner wird allerdings bald zu ihrem Zuhälter.

Über viele Spiegelungen wechselt die aufregende Geschichte zwischen Eloise und Peggy. Die Studentin schaut im Pyjama dem Treiben des gedemütigten Alter Ego zu. Sie sieht sich im Spiegel in den schillernden Klamotten des Nachtlebens, die sie zu neuen Entwürfen für ihr eigenes Studium inspirieren. Doch immer mehr von Sandras Leben dringt ins Zimmer ein und mit ihm die ekligen Freier. Bis ein Messer gezückt wird und Sandy blutüberströmt auf ihrem Bett liegt.

Nun brachte sich schon Eloises Mutter wegen einer Schizophrenie um. Was die Polizeibeamten schnell herausfinden, als die Studentin einen Mord melden will, der vor Jahrzehnten in ihrem Zimmer stattgefunden haben soll. Droht der Wahnsinn, an der ihre Mutter litt, auch sie zu ergreifen? Oder läuft hier noch jemand herum, der ein Leben auf dem Gewissen hat?

Das Werk von Regisseur und Autor Edgar Wright wirkte in seinen größten Erfolgen, in der „Cornetto-Trilogie" mit „Shaun of the Dead" (2004), „Hot Fuzz – Zwei abgewichste Profis" (2007) und „The World's End" (2013) wie eine filmische Lachparade voller Filmzitate. Ein Spaß mit Genre-Parodien. Doch seit dem sensationellen musikalischen Thriller „Baby Driver" (2017) verlagerte sich der Fokus von den zwei Scherzkeksen Simon Pegg und Nick Frost in den Cornetto-Hauptrollen zum enormen Können des Regisseurs. Der gestaltete nebenbei mit dem Drehbuch wesentlich Spielbergs „Die Abenteuer von Tim und Struppi – Das Geheimnis der Einhorn" (2011) und die Marvel-Verfilmung „Ant-Man" (2015) mit.

Nun schwelgt Wright richtig im Stil und in den (referentiellen) Songs der Swinging Sixties: „Downtown" von Petula Clark, diesmal gesungen von Anya Taylor-Joy alias Sandy, oder Burt Bacharachs „Wishin' and Hopin'", gesungen von Dusty Springfield würden für den Zeitkolorit reichen, doch die Ausstattung hat sichtbar Überstunden geleistet. So kann Wright äußerst stilvoll die Fantasy-Geschichte ausmalen, die etwas an Neil Gaimans Ausflüge in ein doppelbödiges London erinnert. Da es Frauen in den so schillernden 60ern keineswegs besser ging als in #metoo-Zeiten, gerät Sandys Leben auch zum ekligen Horror. Die aus „Das Gamengambit" berühmte Anya Taylor-Joy lässt mit ihren Riesenaugen eine hoffnungsvolle junge Frau gekonnt erst aufscheinen und dann verblassen. Matt Smith, der „Timelord" aus „Dr. Who", erschreckt als charmant-schmieriger Verführer Jack. In den nicht unwichtigen Nebenrollen erweist Wright dem alten britischen Film eine Referenz: Diana Rigg, als Emma Peel aus der Fernsehserie „Mit Schirm, Charme und Melone" selbst eine Ikone der Sechziger, spielt die Vermieterin Miss Alexandra Collins. Und Terence Stamp, der Frauenheld, war im richtigen Leben mit Julie Christie und Brigitte Bardot zusammen. Also ist auch „Last Night in Soho" wie schon „Baby Driver" ein in bis ins Kleinste gelungenes Kino-Glanzstück.

Elise und das vergessene Weihnachtsfest


Norwegen 2019 (Snekker Andersen og den vesle bygda som glomte at det var jul) Regie: Andrea Eckerbom, mit Miriam Kolstad Strand, Trond Espen Seim, Anders Baasmo Christiansen, 70 Min. FSK: ab 0

Der erste Weihnachtsfilm des Jahres wird üblicherweise so freudig begrüßt wie der erste Spekulatius in den Regalen vom Spätsommer. „Elise und das vergessene Weihnachtsfest" ist nun auch noch aus 2019 und Norwegen. Doch die liebevoll heimelige Darstellung eines übersichtlicheren „Früher" und die originelle Geschichte erzeugen viel Kino-Vorfreude.

„Kannste vergessen", lautet üblicherweise das Urteil für zu frühe Weihnachtsfilme. „Elise und das vergessene Weihnachtsfest" führt allerdings sehr witzig vor, was passiert, wenn Weihnachten vergessen ist. Und vieles andere: Elise lebt in einem niedlichen Dorf, in dem die altmodischen Bewohner „jeden Tag etwas Neues vergessen". So vergisst ein Nachbar immer wieder, dass er in der ersten Etage keinen Balkon hat, und plumpst mit viel Slapstick auf den Dorfplatz. Elise selbst tritt mit kurzem Rock vor die Tür und bemerkt frierend, was sie seit gestern vergaß: Es ist Winter! Außerdem hat das Mädchen eine Ahnung: „Ich glaub, der 24. ist ein ganz besonderer Tag..." Denn Frau Gunderson backt spontan Ingwerkekse.

Bis geklärt ist, weshalb der Weihnachtsmann seit Jahren das Dorf übersieht, und endlich Geschenke zum Dorfbankett bringt, gibt es vor allem viel zu lachen. Etwa wenn die Kleine sich mit dem Auto auf den Weg zum Tischler macht, von dem das Holzding mit den 24 Türen stammt. Staunen lässt sich über eine ganz neue Art von Weihnachtsbaum: Riesig, innen hohl und voller Geschenk-Pakete. Überhaupt macht die liebevolle Ausstattung einen Großteil des Reizes von „Elise" aus. Der Kinderfilm zeigt eine bessere Vergangenheit, in der alle Hipster-Klamotten trugen.

Lieber Thomas


Deutschland 2021 Regie: Andreas Kleinert, mit Albrecht Schuch, Jörg Schüttauf, Jella Haase, 157 Min. FSK: ab 16

Autor und Regisseur Thomas Brasch (1945-2001) ist nicht nur schillernde und brüchige Figur des Kulturbetriebes, in den er sich nie einordnen lassen wollte. Als Sohn des Stellvertretenden Ministers für Kultur der DDR, Horst Brasch, rebellierte er gegen SED-Staat und nach der Ausbürgerung gegen ie kapitalistische Kultur – Brasch als kreativer Aufrührer deutsch-deutscher Geschichte. Zudem reicht sein „Frauenverschleiß" für einige Seiten im Goldenen Blatt der Kulturelite: Mit der Sängerin Bettina Wegener hatte er ein Kind. Sandra Weigl, die Nichte der Brecht-Witwe Helene Weigl, bringt ihn zum Berliner Ensemble, während er nach einer Gefängnisstrafe noch als Dreher in einer Fabrik malochen muss. Mit der jungen, anderweitig frisch verheirateten Schauspielerin Katharina Thalbach als nächster Partnerin lässt er sich in den Westen abschieben.

Rau und ungehobelt wie der schwarzweiße Film ist der „Kerl" Thomas Brasch (stark: Albrecht Schuch): Macho hätte man früher im Westen gesagt. Mit Schalk in den Augen und statt eines dummen Spruchs immer Poetisches auf den Lippen. Faszinierend! Und doch vergnügt und leidet sich dieser Typ in Andreas Kleinerts („Freischwimmer", „Wege in die Nacht") kurzweiligem Film eher höflich zurückhaltend durch seine Biografie. Von 1955 an mit heftigem Bulling auf der Militärschule, bei der die DDR ironischerweise in Tradition preußischer Unterdrückung steht. Dem frühen Wunsch Braschs, Schriftsteller zu werden, und der Weigerung der Regierungs-Kumpel von Papa, ihn zu veröffentlichen. Letztlich verrät ihn sogar der Vater wegen Teilnahme an den Protesten gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings, Tiefpunkt eines lebenslangen Vater-Sohn-Konflikts. Nach dem zu frühen Tod bleiben viel Theater und Poesie, vier bemerkenswerte Filme und ein nicht vollendeter Riesen-Roman.

Who's Afraid of Alice Miller?


Schweiz 2020 Regie: Daniel Howald 101 Min. FSK: unbekannt

„Das wahre ‚Drama des begabten Kindes'" war in Buchform die Antwort des Therapeuten Martin Miller auf den Bestseller „Das Drama des begabten Kindes" seiner berühmten Mutter und Psychoanalytikerin Alice Miller (1923-2010). Diese Dokumentation folgt nun dem großen alten Mann, der sich weiterhin an seiner Kindheit abarbeitet, zu den Wurzeln der jüdischen Familientragödie in Polen. Zum Auftakt schockt die Diskrepanz zwischen literarischer Verteidigung des Kindes und den Schlägen, die der eigene Sohn Martin täglich durch den Vater erlitt. Erst mit über 60 Jahren hat Martin Miller erfahren, dass er das erste halbe Jahr seines Lebens bei einer Freundin der Mutter gelebt hat, weil die Mutter ihre Dissertation schrieb. Hier präsentiert der Protagonist den ganzen Schmerz seiner Kindheit, heult bei TV-Interviews der Mutter. Die von Katharina Thalbach gelesenen Briefe der Alice Miller adressieren den Sohn auf vernichtende Weise, vergleichen ihn gar mit Hitler. Der Film bezieht klar Position für Martin, höchstens die ehemalige Freundin der Mutter, Irenka Taurek, schweigt manchmal vielsagend zu den Vorwürfen. Als in den Aufzeichnungen ein Mann mit dem Namen des Vaters auftaucht, der jüdische Flüchtlinge erpresst hat, wird es ein sehr spekulativer Krimi. Wobei die Reise nach Polen und die Begegnung mit Menschen, die Dokumente der Judenverfolgung archivieren, doch etwas Empathie für das Schicksal selbst des schlagenden Vaters hervorruft.

 

3.11.21

The Many Saints of Newark


USA 2020 Regie: Alan Taylor, mit Alessandro Nivola, Michael Gandolfini, Ray Liotta 121 Min. FSK: ab 16

Die Vorgeschichte zur Serie „Die Sopranos" eröffnet mit den raffinierten Ideen einer Erzählung aus dem Grab von Richard „Dickie" Moltisanti (Alessandro Nivola) und der Besetzung des jungen Anthony Soprano durch Michael Gandolfini, dem Sohn des Serienstars James Gandolfini. Im Jahr 1967 werden die üblichen Machtkämpfe der Mafia-Familien infolge der Rassenunruhen erweitert um afro-amerikanische Gangs, die auch ein Stück vom illegalen Kuchen haben wollen. Ansonsten ist dies in Stil, Story, Kostüm und Gewalt ein typischer, wenig herausragender Mafioso-Film. Regisseur Alan Taylor bleibt hinter seinen Serienarbeiten von „Die Sopranos" zurück.

Bergman Island


Frankreich 2020 Regie: Mia Hansen-Løve, mit Vicky Krieps, Tim Roth, Mia Wasikowska, 113 Min. FSK: ab 12 

Die exzellente und in der Film-Szene bestens vernetze französische Regisseurin Mia Hansen-Løve erzählt erneut autobiografisch und äußerst kunstvoll. Nach dem Selbstmord ihres Ehemannes, des Produzenten Humbert Balsan, in „Der Vater meiner Kinder" (2009), folgten ebenfalls biografisch „Eine Jugendliebe" und der Musikfilm „Eden" auf Basis von Erfahrungen ihres Bruders Sven Hansen-Løve. Nun lebt sie mit dem berühmten Regisseur Olivier Assayas zusammen und ihr neuestes Werk führt ein Paar Filmemacher auf genial verspielte Weise ins schwedische Haus der Legende Ingmar Bergman.

Das Künstlerpaar Tony (Tim Roth) und Christine (Vicky Krieps) reist zur Bergman-Woche auf die Insel Fårö. Beide wollen ihre nächsten Drehbücher schreiben, der bekannte US-amerikanische Regisseur wird dazu sogar in das Haus einquartiert, wo „Szenen einer Ehe" (1973) gedreht wurde. „Der Film, wegen dem sich Millionen scheiden ließen", kommentiert die 25 Jahre jüngere Christine angesichts des Betts aus dem Film lachend. Während die beiden Kreativen Bergman-Filme sehen und historische Drehorte besichtigen, bleibt ihre Beziehung seltsam distanziert.

Schon vor einem raffinierten Rollenwechsel beim Film-im-Film begeistert „Bergman Island" mit seiner genial verspielten Atmosphäre. Die Leichtigkeit von Mittsommernacht und Nouvelle Vague lässt Fahrrad-Ausflüge zu Stränden und aus Bergman-Klassikern bekannten Wäldchen genießen. Während Tony versetzt wird und die tatsächlich existierende „Bergman-Safari" im Bus mitmacht, bekommt Christine ihre persönliche Tour durch einen mysteriösen schwedischen Filmstudenten.

Ihre Arbeit läuft allerdings nicht so leicht: Während Tony seinen auch sexuellen Fantasien seitenlang freien Lauf lässt, kommt Christine mit ihrer Geschichte nicht weiter. Als sie ihm diese erzählt, lässt er sich immer von Anrufen seines Produzenten unterbrechen. Dabei ist diese Binnen-Erzählung wundervoll beziehungsreich und reizvoll: Mia Wasikowska spielt Regisseurin und Hochzeitsgast auf der gleichen Insel Fårö, mit der gleichen Bergman-Leidenschaft. Ihre Figur Amy trifft nach Jahren die unglückliche Liebe ihres Lebens wieder. Dabei streift die Geschichte Orte der Rahmenhandlung und der Epilog treibt das großartige Wechselspiel noch weiter...

„Bergman Island" lief im Wettbewerb in Cannes, was bei der Vernetzung von Mia Hansen-Løve keine Überraschung ist. Dass so ein wundervoller Film nicht die Goldene Palme gewann, ist dagegen fast schockierend. Aber die Jury wählte mit „Titane" das Laute, Grelle, anstelle der feinen Filmkunst. Auch wenn sich der Bergman-Hintergrund auf Wiki-Wissen beschränken sollte, bietet „Bergman Island" großen Film-Genuss. Es erklärt sich von allein, dass bei der Privatvorführung in Bergmans Kino trotz Mühen kein fröhlicher Film gefunden werden kann – und nachher regnet es auch noch.

Neben allen Spielereien geht es der Partnerin von Olivier Assayas („Carlos – Der Schakal", „Die wilde Zeit", „Die Wolken von Sils Maria", „Personal Shopper") selbstverständlich darum, wie Frau in einer Partnerschaft zweier Filmemacher*innen gegenüber dem erfolgreicheren Mann die kreative und persönliche Unabhängigkeit bewahren kann. Die luxemburgische Schauspielerin Vicky Krieps wächst in der Hauptrolle Christines über sich selbst hinaus. Sie stellt mit sehr natürlich wirkendem Spiel sogar ihren sensationellen Part in „Der seidene Faden" (Phantom Thread) neben Daniel Day-Lewis in den Schatten. Äußerst gelassen zurücktretend daneben der Superstar Tim Roth in der Rolle des Erfolgsregisseurs. Der sich am Ende vielleicht um das gemeinsame Kind kümmert, während die Frau den Film macht.

Ammonite


Großbritannien 2020, Regie: Francis Lee, mit Kate Winslet, Saoirse Ronan, Gemma Jones, 118 Min. FSK: ab 12

Wie Kate Winslet das Aufbrechen einer emotionalen Versteinerung erleben lässt, ist quasi historisch! Ihre Figur, die einst gefeierte Paläontologin Mary Anning (1799-1847) verkauft im Provinznest Lyme Regis an der Südwest-Küste Englands Nippes mit Muscheln an Touristen. Meist jedoch sucht und bearbeitet sie an der einsamen Küste gefundene Fossile. Unfreundlich, gar biestig, geht sie Kunden an. Kontakt hat sie nur zur kranken Mutter (Gemma Jones). Ein reicher Fan des früheren Ruhms von Mary zahlt erst für Lehrstunden, dann lässt er seine junge Frau Charlotte (Saoirse Ronan) mit „milder Melancholie" zu Kur im ungeselligen Lyme zurück. Die angeordneten Bäder verursachen eine schwere Erkältung, die widerwillige Begleiterin Mary muss nun sogar die Pflege Charlottes übernehmen, wobei die Frauen sie erstmals näherkommen.

Es ist grandios, wie die einstige Galionsfigur von „Titanic" nun ruppig und sehr maskulin am Strand die Röcke hochbindet und pinkelt. Nun wissen wir seit der Serie „Mare of Easttown", dass Kate Winslet mehrere Filmstunden mürrisch gucken kann. Wie sie allerdings bei einem seltenen sozialen Ereignis an unterdrückter Eifersucht fast explodiert, weil die zukünftige Geliebte Charlotte mit einer ehemaligen Liebe plaudert, ist oscarreif.

Beim langsamen Ende der emotionalen Eiszeit Marys ist die grausam unterdrückte Karriere einer Frau, der realen Paläontologin Mary Anning (1799-1847), fast Nebensache. Die großartige Fotografie von Sand, Klippen und wilder See ist exquisit, ansonsten wird in der Kino-Regie des Theatermannes Francis Lee Einiges zu deutlich gemacht.

2.11.21

Happy Family 2


Deutschland, Großbritannien, USA 2021 Regie: Holger Tappe 103 Min. FSK: ab 0

Die etwas langweilige Familie Wünschmann muss wieder zu ihren Ursprüngen zurück, als ihre alte Baba Yaga von der Monsterjägerin Mila Starr entführt wird. Denn Emma, Frank, Fee und Max sind eigentlich Vampirin, Frankensteins Monster, Mumie und Werwolf. So geht es ruhelos und mit Action-Fokus zum Monster von Loch Ness, dem Yeti aus dem Himalaja und zum „King Conga". Der deutsche Disney-Animationsnachbau ärgert mit plastikhaften Figuren, oberflächlichen Attraktionen und nervig viel Hin und Her.

Die Geschichte meiner Frau


Ungarn, Deutschland, Italien, Frankreich 2021 (A feleségem története) Regie: Ildikó Enyedi, mit Gijs Naber, Léa Seydoux, Louis Garrel, Sergio Rubini, 169 Min. FSK: ab 12

Schauspielerisch sicher der reizvollste Film dieser Kinowoche, trumpft die historische Amour fou mit grandiosem Spiel nicht nur von Léa Seydoux („Blau ist eine warme Farbe", „James Bond: Keine Zeit zu sterben") auf. Auch der Niederländer Gijs Naber fesselt als souveräner Kapitän Jakob Störr, der aus einer Laune heraus beschließt,  die nächste Frau, die das Café betritt, zu heiraten. Schicksalhaft kommt die junge Lizzy (Seydoux) herein und macht das Spiel mit. Doch mehr und mehr verunsichern ihn die frechen Freiheiten der begehrten Schönen.
Nach einem Roman von Milán Füst ergründet der wunderbar fotografierte und ausgestattete Film der Berlinale-Siegerin Ildikó Enyedi (mit „Körper und Seele") die Belastbarkeit des Patriarchats in den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts, in Paris und Hamburg. Ein verführerisches Meisterwerk.