28.8.13

An ihrer Stelle

Israel 2012 (Fill the void / Lemale et ha'halal) Regie: Rama Burshtein, mit Hadas Yaron, Yiftach Klein, Irit Sheleg, Razia Israely, Hila Feldman, 90 Min. FSK: ab 6

Ein spannender Einblick in eine orthodoxe, ja extremistische Glaubensgemeinschaft, in eine heutige Parallelgesellschaft. Der Film von Rama Burshtein spielt unter chassidischen Juden in Tel Aviv. Er zeigt ihre Riten, etwa die Purim-Feier mit Geld-Gaben an Bedürftige, bei der die Frauen aus dem Nebenraum zuschauen dürfen. Genau wie bei der Beschneidung eines Neugeborenen. Doch da ist das Unglück schon geschehen, die Mutter des Babys starb bei der Geburt. Nun denken andere für den Witwer Yochay über dessen Zukunft und eine baldige neue Heirat nach. Das Drama spielt sich unter der Voraussetzung arrangierter Ehen ab. Die Beschau eines möglichen Partners geschieht kompliziert im Supermarkt mit dem Hinweis „Er steht bei den Molkerei-Produkten". Dieses überkommene Konzept wird im Film nicht in Frage gestellt. Die einzige Wahl für die Schwiegermutter Rivka: Gehen Yochay und Enkel zu einer Witwe mit zwei Kindern nach Belgien oder heiratete er die 18-jährige Schwägerin Shira, die eigentlich etwas anderes mit ihrem Leben vorhatte? Shira war bislang zwar ungeduldig, aber machte gerne die umständliche Eheanbahnung mit Hilfe von Rabbi, Heiratsvermittler und Eltern mit.

Weil die Schwiegermutter das Baby und den Schwiegersohn nicht aus dem Haus lassen will, soll die junge Tochter den Schwager heiraten. Aber auch, weil die Familie des eigentlich ausgeschauten Verlobten Shira nicht will. Unverheiratete Frauen sind selten und werden in dieser Gemeinschaft ausgegrenzt. So zwingt man die Schülerin in einen Gewissenskonflikt mit begrenztem Entscheidungs-Spielraum. Die Musikerin verfällt nun bei einem Fest schon mal zum Entsetzen aller Gäste in Moll, das offene Haar wird unter einem Kopftuch versteckt.

„An ihrer Stelle" gewährt einen erschreckenden, in der Intensität von Inszenierung und Spiel faszinierenden Einblick, in dem die Gefühlswirren bei Shira und Yochay glaubhaft und bewegend für Anteilnahme sorgen. Der Film wirkt allerdings fast sanft und verharmlosend im Vergleich zu Amos Gitais schockierendem „Kadosh" aus dem Jahre 1999. Die Regisseurin Rama Burshtein entstammt selbst diesem ultraorthodoxen Milieu und präsentiert konsequent eine Binnensicht. Wenig ist vom Außen und von Tel Aviv zu sehen. In dunklen Räumen sitzen die Frauen oft zentral auf einer Bank, als erwarten sie ein Urteil. Eine Verurteilung dieser Frauen- und Gefühls-feindlichen Lebensweise oder ein Aufbegehren gegen sie findet nicht statt. Das bleibt Aufgabe des Zuschauers. Immerhin sieht sich Burshtein in der Tradition von Jane Austen, die ihre Frauen in der reglementierten Gesellschaft Englands vergangener Jahrhunderte leiden ließ. Deren ironischer Witz blitzt hier allerdings nur kurz einmal auf, als eine alte, einsame Frau dringend zum Rabbi kommt, weil niemand anders ihr sagen kann, welchen Herd sie kaufen soll.

27.8.13

R.I.P.D.

USA 2013 (R.I.P.D.) Regie: Robert Schwentke mit Jeff Bridges, Ryan Reynolds, Kevin Bacon, Mary-Louise Parker, Stephanie Szostak, 92 Min. FSK: ab 12

Was für eine unwahrscheinliche Paarung: Da kommt ein veritable Cop- und Buddy-Film mit einer Ewige-Liebe-Romanze im Stile von Spielbergs „Always" oder „Ghost" zusammen. Und es funktioniert vortrefflich. So klasse, wie das Zusammenraufen von Jeff Bridges und Ryan Reynolds als verstorbene Gesetzeshüter aus ganz unterschiedlichen Epochen. Dem deutschen Hollywood-Nachwuchs Robert Schwentke („Flight Plan", „R.E.D.") gelingt sein nächster großer Film.

Am Anfang sieht eine Schießerei in Lagerhalle aus, als stamme „R.I.P.D." vom Computer-Spiel ab und nicht vom Comic. Das Action-Spiel mit dem Raum wirkt wichtiger als alles andere, aber man sieht auch mal, was 3D tatsächlich kann. Am Ende der Szene ist unser Held tot. Nick (Ryan Reynolds), guter Polizist und wunderschön verliebt, läuft wie einst Momo staunend durch eine still stehende Szenerie. Aus dem Staunen kommt er erst mal nicht mehr raus. Rasant geht es in den Himmel und statt zu Petrus oder Jüngstem Gericht an den strahlend weißen Schreibtisch von Rekrutierungs-Offizier Proctor (himmlisch ruppig: Mary-Louise Parker). Ihr Angebot: Statt üblichem Protokollablauf, Halleluja-Singen und so, könne Nick sofort für die oberste Einsatztruppe „Rest in Peace Departement" (R.I.P.D.) loslegen. Denn es läuft auf der Erde eine Menge untoter Schurken rum, die enttarnt und eingefangen werden müssen.

So tritt der frisch Verschiedene in ein Büro-Universum mit Polizisten aus allen möglichen Zeiten ein, das wie eine Kombination aus „Man in Black" und „Matrix" wirkt. Auch die Gauner ähneln nach Enttarnung ihrer menschlichen Fassade - mittels indischem Essen! - aus wie die Außerirdischen von „MiB". Was nicht stört, nur sehr viel Spaß macht. Der Knaller ist allerdings Nicks neuer Partner: Jeff Bridges nuschelt und grummelt als unkonventioneller Revolverheld genau wie sein Sheriff im Coen-Western „True Grit". Leider hat die texanische Quasselstrippe miese Erfahrungen mit Partnern gemacht. So braucht der Neuling Nick eine ganze Weile, um alle zu überzeugen, dass unten gerade ein ganz großes Ding mit uralten Goldstücken läuft. Und mittendrin hängt Nicks alter Partner Hayes (Kevin Bacon), der ihn erschossen und es jetzt auf dessen Witwe (Stephanie Szostak) abgesehen hat.

„R.I.P.D.", diese Cop-Komödie „Made in Heaven" ist nicht nur wegen der schrägen Geschichte von Peter M. Lenkov, den originellen Charakteren, den sagenhaften Schauspielern (Jeff Bridges, Kevin Bacon, Mary-Louise Parker...), den irren Effekten und der großartigen Inszenierung von Robert Schwentke ein rundum gelungener Action-Spaß. Selten sind Filme von den großen Hintergründen (hier die Stadtlandschaften) bis in kleinste Details von Ausstattung und Drehbuch so dicht an Gags und witzigen Einfällen. Dass im Empfangsbereich des Himmels die Musik von Steely Dan laufen muss, haben wir eigentlich schon immer gewusst. Es musste nur mal einer sagen! Dass Nick und Roy auf der Erde als ein alter Chinese ist blondes Supermodell getarnt sind, wird leider viel zu selten ausgespielt. Eine Toilettenspülung dient als Aufzug zur Erde und der Ausgang ist als Reparaturladen für Videorekorder getarnt. „R.I.P.D." hingegen tarnt bestes Unterhaltungshandwerk als tollen Kino-Spaß.

Der 1968 in Stuttgart geborene Regisseur Robert Schwentke beeindruckte schon mit seinen ersten beiden deutschen Langfilmen. Dem düsteren Thriller „Tattoo" (2002) folgte 2003 die schwarze Komödie „Eierdiebe". In Hollywood ging es gleich sehr prominent weiter, als er mit Jodie Foster im „Flight Plan" für Hochspannung sorgte. Die „Frau des Zeitreisenden" (Eric Bana) war etwas weniger gelungen, aber die Comic-Verfilmung „R.E.D." war 2010 wieder ein Hit in Sachen Inszenierung, Starbesetzung (Bruce Willis, Morgan Freeman, John Malkovich und Helen Mirren) und Kassenerfolg. Den zweiten „R.E.D." überließ er Dean Parisot, doch wieder war ein Comic die Vorlage, diesmal stammt er von Peter M. Lenkov.

26.8.13

Wir sind die Millers

USA 2013 (We're the millers) Regie: Rawson Marshall Thurber mit Jason Sudeikis, Jennifer Aniston, Emma Roberts, Will Poulter, Ed Helms, 105 Min. FSK ab 12

Eine Familien-Parodie auf Road-Movie-Tour: „Wir sind die Millers" schickt einen ungebundenen Drogendealer, eine blanke Stripperin, eine wilde Ausreißerin und eine männliche Jungfrau zum äußerst chaotischen Drogenholen nach Mexiko und bekommt einen angepassten, lieblichen Haufen Langeweiler zurück.

Das Treffen von David Clark (Jason Sudeikis) mit einem ehemaligen Klassenkameraden ist aussagekräftig: Der kleine Drogendealer hat keine Kinder, aber alles, was er braucht und auf alles eine gewitzte Antwort. Das gute Leben zerstört das Drehbuch mit einem Schicksalsschlag, der David hochverschuldet in die Gewalt seines verschrobenen Lieferanten Brad (Ed Helms) bringt. Für den soll er ein Päckchen Heroin über die Grenze Mexikos schmuggeln. Der verzweifelte Dealer will sich als harmlose Kleinfamilie mit Camper-Bus tarnen und sammelt dafür ein paar ebenso verzweifelte Existenzen auf: Seine Nachbarin Rose (kläglich: Jennifer Aniston) strippt, aber das Geld reicht trotzdem nicht für die Miete nachdem ihr Ex-Freund sie ausgenommen hat. Casey (Emma Roberts) lebt mit iPhone auf der Straße, was nicht wirklich gefährlich ist, da niemand was von dem biestigen Mädchen will. Der Nachbarsjunge Kenny (Will Poulter) hat David das alles eingebrockt und ist als harmloser Trottel die ideale Besetzung für den harmlosen Trottel.

Dass sich das „Päckchen" Heroin als Lastwagenladung herausstellt und irgendwie auch ein Gangsterkrieg drumherum stattfindet, ist nur ein Problem am Rande. Viel schwieriger ist es für den Einzelgänger David, die zickige Rose bei der Stange zu halten, beziehungsweise von der Stange weg und zum Mitmachen zu locken. Während gewagte, widernatürliche Tarnung und gefährliche Situationen die falsche Familie besser als eine echte zusammenschweißen, sind die einzelnen Situation wirklich witzig: Da hängt sich ausgerechnet eine echte Spießer-Familie wie aus dem Bilderbuch mit ihrem Camper an die Millers ran und herrliche Missverständnisse führen zu schrägen Swinger-Einlagen. Wenn dabei Jennifer Aniston ein vermeintliches Baby vor einen Laster schmeißt, ist sie tausendmal besser als in jämmerlichen Strip-Einlagen. Die us-amerikanischen Grenzkontrolleure streuen noch etwas mehr schwarzen Humor ein, wenn sie arme Kiffer totprügeln und abknallen.

Aber letztendlich ist alles brav und harmlos: Das größte Kunststück nach allen Wirrungen und Irrungen, nach vielen guten und auch sexuell frechen Gags ist, wie sich die „Millers"völlig ironiefrei beim Anti-Pol Familienseligkeit einfinden. Da vergeht einem der ganze, über lange Strecken gelungene Spaß wieder.

Planes

USA 2013 Regie: Klay Hall, 89 Min. FSK: o.A.

Vorsicht beim Gebrauchtwagen-Kauf: Disney bläst den Pixar-Erfolgsfilm „Cars" mit viel heißer Luft - siehe Ballonfilm „Up" - auf und stürzt mit diesem Billigflieger böse ab. Die Kinder-Animation „Planes" ist ein dürftige Umlackierung einer bekannten Geschichte und groß nur als Enttäuschung.

Das Sprühflugzeug Dusty träumt, während es Pflanzengift über den Feldern ausbringt, von einer Karriere als Rennflugzeug. Mit stotterndem Propeller will es die Welt sehen und umfliegen. Dafür sucht das kleine Flugzeug mit Höhenangst die Hilfe einer lokalen Legende, dem Kriegsflieger Skipper. Das klingt und sieht in der Animation auch mit den Windschutzscheiben als Augen aus wie die unwahrscheinliche Rennwagen-Geschichte aus „Cars". Nur bei „Planes" sind die Hintergründe flach wie Story und Figuren. Die originelle Detektiv-Geschichte der „Cars" fällt aus, stattdessen gibt es militaristische Trainingsroutine und ein uninteressantes Rennen. Am Ende ist Dusty eine „Inspiration für alle von uns, die mehr aus sich machen wollen, als das wofür sie gebaut sind." Und der Film ist eine Inspiration für alle, die mehr Geld aus etwas machen wollen, was nichts wert ist.

Der inhaltliche Tiefflieger „Planes" wird aus vielen Gründen kein Liebling im Kinderzimmer werden. Neben schwatzhaften Mechaniker-Sidekicks können weder ein weiblicher Konkurrent aus Indien, noch ein verrückter Mexikaner oder der hinterhältige Favorit interessieren. Ganz selten blitzen aus der gänzlich unoriginellen Grundidee ein paar gelungene Scherze auf. Etwa wenn in Indien zu Traktoren recycelte Flugzeuge als Heilige Kühe verehrt werden und Segelflieger riesige Flamingo-Schwärme bilden. Der nervige Kommentar stammt vom sprachlich extrem talentlosen Sportreporter Kai Ebel. Die simplifizierte Weltkarte zerrt pädagogisch nicht besonders geschickt Bayern und Indien in einer Flugetappe zusammen. Zudem erschreckt jede Friedens-Erziehung, wenn es als Belohnung Militärdienst und zwischendurch auch einen Luftkampf im Stile von „Top Gun" gibt. So was wird normalerweise als kostengünstige TV-Serie versendet. Auch das 3D ist in diesem Film völlig witzlos und keinen Aufpreis wert.

The Look of Love

Großbritannien 2012 (The Look of Love) Regie: Michael Winterbottom, mit Steve Coogan, Anna Friel, Imogen Poots, Tamsin Egerton 99 Min.

Der geniale Viel-Filmer Michael Winterbottom lässt in „The Look of Love" mit seinem Lieblingsdarsteller und flottem Zeitkolorit die sagenhafte Karriere des legendäre Nachtclub- und Magazin-Besitzers Paul Raymond aufleben. Eine reizvolle Zeit- und Sittengeschichte, der das familiäre Drama Raymonds eine melancholische Note gibt.

Der als Geoffrey Anthony Quinn geborene Paul Raymond (1925-2008) war eine mehr als schillernde Figur: Im London der wilden Fünfzigern reizte er in seinen Clubs die Grenzen dessen aus, was an Nacktheit erlaubt war, führte lebendige „Statuen" vor und verdiente später mit privaten Strip-Clubs, die tausende „Mitglieder" hatten. Dann stieg er als Verleger mit der gleichen Chuzpe in die Porno-Branche ein, machte aber gleichzeitig in seinem eigenen Windmill Theatre mit großen Revuen auf Kultur. Zwischenzeitlich war Paul Raymond der reichste Mann Englands, besaß als „King of Soho" ganze Straßenzüge im Londoner Vergnügungs-Viertel.

Also ein gefundenes Film-Fressen für den umtriebigen Regisseur Michael Winterbottom und seinen Lieblingsdarsteller Steve Coogan: Die wilde Sitten-Geschichte Englands und vor allem des Londoner Bezirks Soho sucht trotz des exzessiven Sexuallebens seines Protagonisten Paul Raymond (Coogan) nicht den Skandal wie Miloš Formans Biographie von „Larry Flint". Denn über Raymonds Rückblick nach dem Drogen-Tod der geliebten Tochter Debbie (Imogen Poots) im Alter von nur 36 Jahren liegt eine große Trauer. Zwischen der Euphorie über einen unglaublichen Aufstieg, den Spaß am gewitzten Finten, mit denen Raymond die prüde Justiz narrt, und dem Staunen über ein sehr intensives Sexleben wechselt Winterbottom immer wieder zum melancholischen Erzählrahmen, in dem Paul mit seiner Enkelin durch die Straßen Sohos fährt.

Paul Raymond sieht sich mit Glück und zu recht (auch wenn er vor Gericht nicht immer Recht bekommt) als moderner König Midas, dementsprechend ist sein Privatleben eine Katastrophe. Seine Ehefrau Jean (Anna Friel), mit der er sein Imperium gründete, betrügt er fast jede Nacht mit Revue-Girls. Mit dem Erfolg seiner Clubs hält der einer verlogenen Gesellschaft mit Lust den Spiegel vor, aber auch er selbst lässt kräftig Doppelmoral raushängen.

Für TV-Kameras inszeniert der Selbstdarsteller ein gutes Verhältnis mit Tochter Debbie, danach bleibt ihr einsam nur die Droge. In dieser persönlichen Tragödie rückt die Zeitstimmung, die der geniale Regisseur etwa bei „24 Hour Party People" (2002) auch schon mit Steve Coogan einfing, in den Hintergrund. Der grelle Spaß am exzessiven Leben klingt beim alten, einsamen Paul Raymond in Moll aus. Milde, berührend melancholisch und nachdenklich wirkt dieser Winterbottom-Film nach. Ganz wie der Titel-Song „The Look of Love", komponiert von Burt Bacharach und Hal David, gesungen von Dusty Springfield. Dabei ist das stille Drama nicht nur in den Hauptrollen hervorragend besetzt. Klüger als seine Hauptfigur konzentriert sich der Film „The Look of Love" mehr auf die persönlichen Beziehungen und Tragödien als um den provokativen Exzess.

21.8.13

Kid-Thing

USA 2013 (Kid-Thing) Regie: David Zellner, mit Sydney Aguirre, Nathan Zellner, David Wingo, 82 Min. FSK ab 16

Ungeachtet aller Obszönitäten, Computer-Effekte und Millionen-Dollar-Budgets, mit denen diese Kinowoche ansonsten aufwartet, bringt dieser kleine Film aus Texas das eindrucksvollste und am stärksten verstörende Erleben: „Kid-Thing" folgt dem 10-jährigen Mädchen Annie beim Herumstreunen während einer schulfreien Zeit. Der alleinerziehende Vater und Säufer Marvin (Filmemacher und Kameramann Nathan Zellner) kümmert sich mehr um seine Ziegen als um die Tochter. So bleibt dem Kind viel Zeit, allerlei verstörende Dinge zu tun.

Die blonde Annie mit den netten Sommersprossen klaut regelmäßig im kleinen Supermarkt, bekommt allerdings auch kein Geld von Marvin. Den Verkäufer, der sie verfolgt, beschießt sie mit einem Paintball-Gewehr. Damit knallt sie auch Schädel, Kuh-Mist und -Kadaver ab. Wenn sie mit einem Baseball-Schläger in die trostlose Landschaft entsorgte Sachen zertrümmert, kann man schon Angst vor ihr bekommen. Als das Kind einem scheinbar unbekannten Mädchen im Rollstuhl die Geburtstagstorte mit dem Schläger zermatscht und ein Geschenk klaut, ist auch die Musik beim Horror angekommen.

Dann entdeckt Annie bei ihren Streifzügen eine hilflose, wohl verletzte Frau in einem Bodenloch, läuft zuerst weg, klaut dann aber ein paar Lebensmittel. Hilfe holt das Mädchen nicht, sie hält sich die Verunglückte irgendwie als Haustier. Später stellt sich das kleine Monster selbst und einem blinden Bekannten moralische Fragen: „Glaubst du an den Teufel? Denkst du drüber nach, was du tust, oder tust du es einfach?"

Das hört sich in der Zusammenfassung schlüssiger an, als es die Zellner-Brüder ist unaufgeregter Beobachtung mit vielen eingestreuten Landschaftsimpressionen präsentieren. Es passiert nicht viel in „Kid-Thing", die kleinen Szenen beschreiben vor allem den Zustand des Mädchens Annie, ohne simple Erklärungen mitzuliefern. Der Horror dieser abstumpfenden Lebensumstände, die mit entsetzlichen Entscheidungen einhergehen, zeigt sich im Drumherum mehr als in aufgesetzter Dialog-Psychologie. Ein bis hin zum schockierend rätselhaften Ende in jeder Hinsicht bemerkenswerter Film.

Sydney Aguirre beeindruckt, ohne große Regungen zu zeigen, als Annie, dem Zorn von Texas. Die Brüder David und Nathan Zellner sind Independent-Filmemacher aus Austin, Texas. „Kid-Thing" ist ihr vierter gemeinsamer Spielfilm, bei dem David Zellner das Drehbuch geschrieben und Regie geführt hat, während Nathan Zellner produziert und darüber hinaus die Rolle von Annies Vater Marvin übernommen hat.

20.8.13

Upside Down

Kanada, Frankreich 2012 (Upside Down) Regie: Juan Diego Solanas, mit Kirsten Dunst, Jim Sturgess, Timothy Spall, 104 Min. FSK ab 6

Was für Bilder! Sie ist fantastisch und tricktechnisch höchst spektakulär diese Welt, in der dauernd eine weiter drohend am Himmel hängt. In „Upside Down" gibt es nicht nur eine Zweiklassen-Gesellschaft, wie schon beim SciFi-Klassiker „Die Zeitmaschine" von H. G. Welles in wohlhabende Eloi und unterirdische Morlocks geteilte. Es ist auch eine Welt mit doppelter Gravitation. Faszinierend! Und romantisch, wenn sich die Liebe stärker als die Schwerkraft erweisen soll. Nur im Detail, im Spiel und im Dialog verflüchtigt sich die Begeisterung wie ein Gegenstand aus der anderen Welt...

Adam (Jim Sturgess) lebt in einer düsteren, ölverschmierten Welt. Mit dem Paradies immer direkt über ihm, denn dort schwebt die andere Erde, die der Reichen und Schönen. Getrennt durch die Schwerkräfte, welche die einen immer nach unten, die anderen nach oben ziehen. Was Adam besonders betrübt, ist seine verlorene Jugendliebe zu Eden (Kirsten Dunst). In verschiedenen Welten lebend, lernten sie sich im Gebirge kennen, er zog sie mit einem Seil in seine Welt, doch die Häscher des Gesetzes zertrennten die Liebe und beim Sturz von Eden in ihre Dimension verlor sie das Gedächtnis an ihn.

Jahre später entdeckt Adam Eden als Presse-Frau des bösen Transworld-Konzerns wieder und ergattert mit seinen genialen Erfindungen einen Posten in dessen Hochhaus, das auch beide Welten verbindet. Nun ist es vom surrealen Großraumbüro, bei dem sich die Cubicles am Boden und an der Decke stapeln, nicht mehr weit bis zum Treffen im doppelbödigen Tango-Palast.

Die fantastische Grundidee von „Upside Down" beschert atemberaubende Bilder mit mehr als einem Hauch von „Brazil" und ungewöhnliche Positionen. Küssen geht nur kopfüber. Aber huckepack schweben beide mit ausbalancierten Schwerkräften durch die Gegend und einander umschlingend wird ihre Liebe schwerelos. Der Wechsel von oben und unten aber auch deren Gleichzeitigkeit sind immer wieder originell anzusehen. Das absurde Auf-dem-Kopf-Stehen, etwa beim Einstellungsgespräch von Adam, drückt noch stärker die Machtverhältnisse von oben und unten aus. Die Verbindungen zur Realität sind dabei überdeutlich: Die da oben klauen Öl von denen unten und verkaufen ihnen dann Elektrizität zu Preisen, die sich keiner leisten kann. Die große Öl-Explosion, die Adams Eltern umbrachte, ist Alltag in Nigeria.

Doch so kompliziert wie die Physik und das Liebes-Verhältnis bleibt auch die Logik der Geschichte in „Upside Down". Dass die Körper in der anderen Welt ihre alte Schwerkraft behalten, bewältigt Adam mehr schlecht als recht mit seinen Erfindungen. Bei den romantischen Treffen muss er immer weg, bevor es zu heiß wird... Im wahrsten Sinne des Wortes, denn alle Gegenstände aus der anderen Welt, also auch seine Schwerkraft-Weste, erhitzen sich nach einer Weile bis zur Selbstentzündung. Der Film selbst scheitert nicht so sehr an logischen Verdrehungen, die im Science Fiction durchaus erlaubt sind, sondern vor allem wenn die Dialoge etwas länger werden. Hier fehlt die Sorgfalt, die den tollen Computer-Bilder angediehen wurde. Jim Sturgess behält als Adam stetig den Ausdruck des naiven, verliebten Jüngelchen. Kirsten Dunst schaut wie immer, was zu wenig ist, um diesen Film in die Welt des Gelingens zu heben.

Feuchtgebiete

BRD 2013 Regie: David Wnendt, mit Carla Juri, Christoph Letkowski, Meret Becker, Axel Milberg, Marlen Kruse, 105 Min. FSK: ab 16

Nein, kein Skandal, keine Schweinerei, kein Pfui-Igitt-Igitt: „Feuchtgebiete" ist ein nettes, spaßiges Filmchen für alle, denen nicht die Verbindung zum eigenen Körper und seinen Ausscheidungen komplett wegerzogen wurde. Während der übermäßige Umgang mit letzteren provokant und trotzdem nicht schamlos inszeniert wurde, bleibt die eigentliche Geschichte dahinter zu dünn.

„Feuchtgebiete" ist eine ZDF-Koproduktion, da ist es wenig überraschend, dass es um Hämorriden geht, gegen die der Senioren-Sender sicher gut Werbung schalten kann. Aus den Kritiken zu Charlotte Roches Roman „Feuchtgebiete" weiß sicher jeder, dass sich die Protagonistin Helen (Carla Juri) bei der Schamrasur böse verletzt und im Krankenhaus der Entlassung verweigert - notfalls durch Selbstverstümmelung an der gerade verheilten Anal-Wunde. Mehr erzählen wird allerdings über die mangelnde Intim-Hygiene der jungen Skaterin Helen. Wenn sie anfangs zum Applizieren einer Hämorriden-Salbe buchstäblich in eine überschwemmte öffentliche Toilette „eintaucht", mit den Pobacken - und dem Dazwischen - aufwischt, was andere mit Hygiene-Tüchern und Desinfektions-Sprays eifrigst entfernen, dann reizen die „Feuchtgebiete" mal direkt ein paar Ekels-Grenzen aus.

Doch wie die Kniebeuge in der ersten Einstellung in Nahaufnahme mit gekonnter Ironie etwas ganz anderes suggeriert, ist auch später im Film alles halb so schmierig. Das zwanghafte Herausfordern der eigenen Abwehrkräfte geht einher mit sympathisch zwanglosem Verhältnis zum eigenen Körper und der eigenen Lust. „Ficken und Avocado-Bäume züchten" bezeichnet Helen als ihre Hobbies - so erlebt sie auch sexuell mehr, als das ZDF ansonsten in einem Jahr versendet. Glücklich ist sie dabei aber nur zeitweise, denn Nebeneffekt des Aufenthalts im Krankenhaus soll auch eine Zusammenführung der geschiedenen Eltern sein.

Die sind mit Meret Becker als hygienisch überspannte Gottesanbeterin und Axel Milberg als über-potentem Lebemann erstklassig besetzt. Carla Juri passt als Helen in diesen schnellen, witzigen und mit klarem Ziel provozierenden Film. Nebenbei beeindruckt die junge Tessinerin auch damit, wie sie stimmlich die Übermutter dieser Geschichte, Charlotte Roche, imitiert. Vor allem aber Regisseur David Wnendt, der schon mit „Die Kriegerin" für Aufsehen sorgte, ist zu danken, dass aus der Vorlage Roches, den Erwartungen und dem Skandalisierungs-Potential ein anständiger, witzig unanständiger Film wurde. Nur wer selber noch nie auf Toilette war oder Durchfall hatte, könnte hier schockiert sein. Dass unsere westliche Gesellschaft vielleicht zu viel verschließt, wenn sie auf dem Örtchen hinter sich abschließt, ist Roches dabei ausgetestete These, die nicht nur Urin und Kot, sondern durchaus auch Hand und Fuß hat. Dass Helen dabei ein Trauma bewältigen muss, ist die etwas dünne Geschichte hinter dem lauten, aber nicht sinnlosen Fäkal-Spaß.

Pain & Gain

USA 2013 (Pain & Gain) Regie: Michael Bay, mit Mark Wahlberg, Dwayne Johnson, Anthony Mackie, Tony Shalhoub, Ed Harris, 125 Min. FSK ab 16

Die Erfolgs-Liste von Michael Bay ist eindrucksvoll, auch wenn er zuletzt mit „Transformers" eher lächerlichen und peinlichen Kram gemacht hat: Zuvor war er mit „Bad Boys" (1994), „Pearl Harbor" (2001), „Armageddon - Das jüngste Gericht" (1998) oder „The Rock" (1995) als Regisseur und Produzent eine der großen Geldmaschinen Hollywoods. Nun allerdings hat er diesen Gipfel endgültig verlassen, macht nicht mehr „The Rock", sondern muss mit Ex-Wrestler Dwayne „The Rock" Johnson und „Pain & Gain" eine Action-Komödie drehen, die einiges Potential für Goldene Himbeeren hat.

Der amerikanische Traum mal anders definiert: Jeder hat die Chance, im Fitness-Studio etwas aus sich zu machen. Also auch ein Anabolika-verseuchter Muskelberg wie Daniel Lupo (Mark Wahlberg), für den Fitness patriotisch ist. So macht der Muckibuden-Trainer aus einem Senioren-Club in Miami ein Muskel-Mekka, auch wenn er dafür persönlich Körper-Enthaarungen durchführt. Da dies für das Erbsenhirn (siehe oben, Anabolika) immer noch nicht der große Erfolg ist, entführt Daniel mit einem Kollegen und Paul Doyle (Dwayne Johnson), einem trockenen Alkoholiker und gläubigen Ex-Knasti, den reichen Kunden Victor Kershaw (Tony Shalhoub). Mit erzwungen lustiger Folter überschreibt dieser all seinen Besitz. Doch den Reichtum verprassen die drei minderbemittelten Gauner schnell und irgendwann schlägt die Polizei in Armeestärke zu. So erzählte wohl auch ein Zeitschriften-Artikel die „wahre Geschichte".

„Pain & Gain" beginnt quälend langatmig und bringt trotz vieler Versuche keinen Spaß. Einfalt und klägliches Scheitern sollen komisch sein, landen aber, auch mangels komödiantischem Talent bei Wahlberg und Johnson, immer in der Abteilung peinlich. Das ist nicht das, was man mit Michael Bay bislang in Verbindung brachte. Ästhetisch sieht es zwar noch aus wie ein guter Film. Während früher jedoch in der Verpackung effektive Popcorn-Action war, ist es jetzt nur noch ein lauwarmes Lüftchen. Irgendwo fiel „Pain & Gain" zwischen dem makabren „Fargo" und Danny DeVitos witzigem „Die unglaubliche Entführung der verrückten Mrs. Stone" (1986) ins Nirwana der Super-Flops. Der Film ist nicht viel intelligenter als seine Protagonisten und hat auch nicht mehr Komödien-Potenz als sie (siehe oben, Anabolika).

13.8.13

Can't Be Silent

BRD 2013 Regie: Julia Oelkers 83 Min. FSK: o.A.

Das „Band Aid"-Projekt zur deutschen Asylpolitik wollte Musiker Heinz Ratz mit seiner Band „Strom & Wasser" sicherlich nicht machen. So ist „Can't Be Silent" nicht nur der übliche Konzert- und CD-Film geworden, sondern ein ziemlich authentisches Stück Musik- und Flüchtlingsgeschichte. Bei Solidaritätskonzerten für Asylbewerber lernte Heinz Ratz einige gute, in ihrer Heimat zum Teil sehr bekannte Musiker kennen. Daraufhin beschloss er, mit ihnen unter dem Namen Band „The Refugees" eine Tour und eine CD zu machen. Wo sich schon die Asyl-Problematik zu einem dramaturgischen Element entwickelt: Deutsche Asylbewerber dürfen sich nicht frei bewegen, sind bei Reisen zu Auftritten oder Aufnahmen immer auf die Gnade ihres Sachbearbeiters angewiesen. Davon erzählen Interviews, aber vor allem die meist gerappten Lieder von Flüchtlingen. Aber auch von den Ertrunkenen vor Griechenland und der dauernden Angst vor nächtlicher Abschiebung.

Regisseurin Julia Oelkers gelang es, einigen Menschen aus den Asylbewerberheimen ein Gesicht und eine Stimme zu geben. Damit setzt sich „Can't Be Silent" positiv von üblichen Gutmenschen-Konzert- und -Solidaritäts-Filmen ab. Die Dokumentation ist allerdings auch nur eine Teilansicht der Situation. Sie argumentiert mit guter Absicht, aber zeitweilig unter seltsamen Prämissen: Wenn Organisator Heinz Ratz bedauert, dass die tollen Musiker unter erbärmlichen Umständen leben müssen. Dann wäre das also bei Nicht-Musikern ok? Die nächtliche Abschiebung wird beklagt, doch der Verlauf des Verfahrens oder die Gründe der Ablehnung finden im Film keinen Platz.

12.8.13

Camille - Verliebt nochmal!

Frankreich 2012 (Camille redouble) Regie: Noémie Lvovsky, mit Noémie Lvovsky, Samir Guesmi, Judith Chemla, Yolande Moreau, Michel Vuillermoz, Denis Podalydès, Jean-Pierre Léaud, Mathieu Amalric, 115 Min.

Spätestens wenn der Schauspieljob nur noch ein Aushilfs-Splatter ist, der Ehemann Eric nach 25 Jahren geht und man auch noch die gemeinsame Wohnung verlassen soll, taucht sicher ein Gedanke auf: „Was habe ich bloß falsch gemacht, was hätte ich anders machen sollen?" Die Schauspielerin Camille Vaillant (Noémie Lvovsky) hätte vielleicht schon früher mal drüber nachdenken und weniger oft zur Flasche greifen sollen. Doch jetzt ist es zu spät, jetzt ist Silvester 2011. Aber wenigstens sind die Freundinnen zum wilden Feiern da. Punkt Mitternacht jedoch fällt Camille in Ohnmacht und wacht 25 Jahre früher als Teenager wieder auf...

Es ist das Jahr 1985 und in einem Jahr wird Francis Ford Coppola „Peggy Sue hat geheiratet" auf die Leinwand bringen. Einen Film mit dem gleichen Idee, aber während Kathleen Turner mit viel Schminke zum Teenager wird und ähnliche Filme zwei Schauspielerinnen einsetzen, spielt Noémie Lvovsky einfach ihr jüngeres Ego. Und das funktioniert vortrefflich: „99 Luftballons" auf Sonys Walkman, dazu die Klamotten und Autos der 80er. Als sehr passender Anachronismus läuft „One day baby, we'll be old" von Asaf Avidan. Sehr amüsiert verfolgt die (Erfahrungs-) reife Camille die Rituale der Schule bis sie beim Nachsitzen ausgerechnet Eric (Samir Guesmi) begegnet. Noch verletzt von der zukünftigen Trennung, geht sie ihm aus dem Weg, doch bei der Bühnenprobe zu Goldonis „Die Verliebten" kann sie ihm nicht mehr ausweichen.

Jetzt ist auch die erwachsene Camille tatsächlich verwirrt: Zerstört das Leben die Liebe oder die Liebe das Leben? Soll sie auf Erics deutliche Avancen während der Party eingehen, der ein erster, umwerfender Kuss folgen wird. Noch mal 25 Jahre große Liebe erleben und dann wieder die große Enttäuschung? Zudem wird Camilles Mutter wahrscheinlich in 39 Tagen an einem Hirnschlag sterben und die Tochter versucht, das zu verhindern.

„Camille - Verliebt nochmal!" ist eine mehr als charmante, reizende sowie sympathische Komödie und dabei ein poetisches Gedankenspiel. Camille glaubt nach Scheidung und miesem Verlauf der Schauspiel-Karriere, das Leben sei mit 40 vorbei. Dabei - auch das vermittelt der Film sehr schön - beginnt es gerade. Das Gewinnende verdankt der Film vor allem dem mehrfach überzeugenden Spiel von Autorin („Clubbed to Death", 1996), Regisseurin („Vergiß mich!", 1994) und Hauptdarstellerin Noémie Lvovsky. Die lebenslustige 48-Jährige macht ohne Schminke oder Tricks glauben, dass sie 16 Jahre alt ist. Dabei ist herzzerreißend, wie ihre Camille den Tod ihrer Mutter zu verhindern sucht. Als Dessert gibt es zwei großartige Schauspieler als Eltern dazu: Yolande Moreau und Michel Vuillermoz. In kleinen Nebenrollen sieht man Jean-Pierre Léaud als alten Uhrmacher, der geheimnisvoll weise verkündet, dass die Abwesenheit verstorbener Eltern eine Leere erzeugt, die einen aufsaugt. Oder Mathieu Amalric als lüsterner Literaturlehrer und Denis Podalydès als Physiklehrer und Eingeweihter Alphonse. Wer sonst könnte ein Zeitreisen glauben und 25 Jahre geduldig die Auflösung erwarten? Das Publikum braucht sich bis dahin nur zwei Stunden zu vergnügen.

Gold

BRD, Kanada 2013 Regie: Thomas Arslan, mit Nina Hoss, Marko Mandic, Lars Rudolph, Uwe Bohm, Peter Kurth, 96 Min. FSK: ab 12

Deutscher Western, das war für lange Zeit der Karl May-Film aus Jugoslawien. Was mit dem „Wilden Westen" so viel zu tun hatte, wie die Edgar Wallace-Studioaufnahmen mit England. Das durchaus viele deutsche Pioniere dem Aufbruch „Go West" folgten, ist hingegen echte Geschichte. Genau wie der Goldrausch, der ab 1896 Menschen aus aller Welt zum Klondike-Fluss an der Grenze von Kanada zu Alaska lockte. Auch eine Truppe gescheiterter Auswanderer aus Deutschland will mitmachen und zieht - statt über die Pazifik-Passage von San Franzisko aus - über eine extrem lange, mühsame und gefährliche Strecke ohne irgendwelche Wege in Richtung Klondike.

Emily Meyer (Nina Hoss) schließt sich in Ashcroft, der nördlichsten Bahnstation Kanadas, einer Gruppe deutscher Amerika-Auswanderer an, die mit der national eigenen Gründlichkeit und Ordnung organisiert zu sein scheint. Der Leitung des Zylinder tragenden Wilhelm Laser (Peter Kurth), der immer wieder sein bereits gefundenes Gold vorzeigt, folgen auch das Ehepaar Dietz, der Journalist Gustav Müller (Hark Bohm) und der Familienvater Rossmann (Lars Rudolph). Als Hilfskraft ist Carl Boehmer (Marko Mandic) dabei. Er erlebt als erster eine überhebliche Ignoranz der deutschen Truppe, die sich später auch gegenüber anderen Nationen, den Eingeborenen und gegenüber der Natur äußert. Schon am Anfang der 1500 Kilometer langen Strecke brechen Planwagen und Pferde zusammen, die Karten taugen nichts und die Teilnehmer zeigen sich meist von der schlechtesten Seite.

Selbstverständlich haben die Glückssucher eine Menge Schicksal im Gepäck: Der frustrierte Schreiberling trägt schwer am Fusel für seinen Alkoholismus, Emily Meyer sucht die Freiheit vom Ehe-Gefängnis und Rossmann versucht einem Trauma zu entkommen. Das individuelle Scheitern wird im zähen Verlauf des Films weniger als spannende Abfolge denn als Abhaken und Zurücklassen von Figuren inszeniert.

Das filmische Erlebnis, das uns Thomas Arslan („Im Schatten", „Dealer", „Geschwister - Kardesler"), ein Vertreter der „Berliner Schule", bereitet, evozierte bei der Berlinale-Premiere die Metaphern „Marterpfahl" und „sattelwund gesessen". Ein unfreiwilliges „Hossa" ging nur durch das Publikum, als einem der Abenteurer nach einem Tritt in die einzige Bärenfalle in weiter Wildnis mit stumpfer Säge das Bein amputiert wird. Diese Szene bleibt in Erinnerung. Dass ausgerechnet Lars Rudolph wahnsinnig wird, war hingegen so gut wie sicher, also wenig originell. Den Rest von (Nina) Hoss und Reiter tauscht man gerne gegen Hoss von der Ponderosa.

Ganz im Ernst schafft es selbst das enorme schauspielerische Können von Nina Hoss nicht, diesem staubigen Ritt Leben einzuhauchen. Die Verweigerung von großen Perspektiven und Gefühlen mag erfolgreich sein - auf Kosten des Miterlebens. Ein Mitdenken wird allerdings auch nicht belohnt, dazu ist „Gold" analytisch zu dürftig. Nicht mal Katzengold, eher Katzenjammer.

The Bling Ring

USA 2013 (The Bling Ring) Regie: Sofia Coppola, mit Katie Chang, Israel Broussard, Emma Watson, Claire Julien, Taissa Farmiga, Georgia Rock, Leslie Mann, 87 Min. FSK ab 12

Sofia Coppola und Paris Hilton. Zwei Erbinnen großer Imperien, zwei Prinzessinnen besonderer Reiche: Sofia Coppola ist die Tochter des legendären Francis Ford Coppola, „Der Pate"-Regisseur, Film-Visionär, New Hollywood-Ikone und als Zoetrope-Produzent immer wieder zu allen Risiken bereit. Mit diesem Papa schrieb sie als 18-Jährige das Drehbuch zu einer der „New Yorker Geschichten" (1989), wurde dann mit dem atmosphärisch einzigartigen „The Virgin Suicides - Verlorene Jugend" 1999 richtig anerkannt und 2003 mit „Lost in Translation - Zwischen den Welten" sowie Bill Murray berühmt. Auch „Marie Antoinette" (2006) und „Somewhere" (2010) waren interessante Filme, so dass sie jetzt eigentlich ohne Erwähnung ihres Vaters durch die Presse gehen könnte. Paris Hilton hingegen ist reiche Tochter und Skandal-Nudel von Beruf. Dass diese Ikone einer Kultur der Oberflächlichkeit nun selbst in „The Bling Ring", Sofia Coppolas Verfilmung einer wahren Hollywood-Diebstahlserie, auftritt, ist wahrscheinlich die größte Ironie ihrer „Karriere".

Es ist eine Welt unverschämten Reichtums und unvorstellbar offener Türen: Die Teenagerclique um die Schülerin Rebecca (Katie Chang) und ihren neuen Kumpel Mark (Israel Broussard) ist ein Haufen extrem oberflächlicher Jugendlicher auf Diebestour durch die Wohnungen von Promis in Los Angeles. Junge Menschen ohne innere Werte aber mit exakter Kenntnis von Markenlabeln. Der richtige Stil ist alles und Hauptthema ihrer Gespräche. Dabei verbindet sich die Droge Konsum bald mit dem Reiz des Einbruchs. Aus den Klatschspalten erfahren sie, welche Hollywoodstars vorübergehend abwesend sind und rauben dann mit erstaunlicher Leichtigkeit die leerstehenden Häuser aus. Oder feiern gleich eine Party darin. Vor allem die peinlich geschmacklose (echte!) Villa von Paris Hilton wird immer wieder heimgesucht. Das dort rumlaufende Handtaschentier freundet sich fast mit den Einbrechern an.

Das Leben der Gang, zu der auch Nicki (Harry Potters Emma Watson ganz ungewohnt), ihre Schwester Sam (Taissa Farmiga) und Freundin Cleo (Claire Julien) gehören, wird immer ausgelassener. Ihre Dauerparty, selten unterbrochen von Schulbesuchen, imitiert in Ausstattung und Gehabe die Promi-Idole. Selbstverständlich wird alles nahezu live per Facebook übertragen. Was ihnen zum Verhängnis wird: Denn die Polizei liest auch dort mit und erkennt geklaute Handtaschen oder Schuhe wieder. Ganz wie in der Geschichte des echten Bling Rings, der schließlich ebenfalls vor Gericht landete. Auf Basis des Zeitschriftenartikels darüber schrieb Coppola ihr Drehbuch.

Sofia Coppola schafft es wieder, mitreißende Bilder und Stimmungen auf die Leinwand zu bringen. Dazu ist ihr „Bling Ring"ein Who-is-who von Skandal-Promis sowie Star Map und Architekturführer von Beverly Hills. Also auch eine kleine böse Abrechnung mit Hollywood. Doch der Spaß an den ebenso albernen wie bedauernswerten „Fashion Victims" weicht schnell einem anhaltenden Kopfschütteln. Was sind das für Jugendliche? Soziologische Gedanken führen nicht weiter, die Clique umfasst vom vernachlässigten Jungen bis zum religiös verbrämten Mädel reichlich Variationen jugendlichen Heranwachsens. Aber auch sonst können die Figuren in dieser nach realen Ereignissen erzählten Geschichte nicht interessieren, höchstens amüsieren.

8.8.13

Locarno 2013 - Christopher Lee und Moritz Bleibtreu die ersten Stars

Locarno. Komische Filme und dramatisches Wetter bestimmten den Auftakt des 66. Internationalen Filmfestival Locarnos (7.-17. August). Mit einem Knaller eröffnete am Mittwochabend das Piazza-Programm. Mark Wahlberg und Denzel Washington rauften sich in der intelligenten Action-Komödie „2 Guns" gekonnt zusammen. Für das eindrucksvolle echte Gewitter, dass am Ende das große Action-Gewitter im Südschweizer Open Air-Kino der Piazza Grande verhagelte, war sicherlich Zauberer Saruman verantwortlich: Christopher Lee, der an diesem Abend eine Auszeichnung des Festivals erhielt, nimmt man auch diese Rolle aus „Herr der Ringe" glatt ab. Moritz Bleibtreu machte am verregneten Tag danach als falscher Inder einen guten Eindruck - sein Film „Vijay und ich" hat allerdings nicht das Format für einen Publikums-Favoriten auf der Piazza.

Baltasar Kormákur überraschte mit „2 Guns", der durchaus mit „Pulp Fiction" vergleichbar ist. Der Isländer beigeisterte von „101 Reykjavik" (2000) bis zum aktuellen Kinofilm „The Deep" (2012) eher mit eigenwilligen Arthouse-Werken. Er arbeitete aber auch schon in dem schwächeren Schmugglerfilm „Contraband" (2012) mit Mark Wahlberg zusammen. Nun liefert das Ex-Modell Wahlberg mal wirklich witzige Dialoge ab. Mit einem übercoolen Denzel Washington spielt er ein Pärchen Undercover-Agenten, die allerdings jeweils nichts von der Tarnung des anderen wissen. Als sie in einer kleinen Bank statt der erwarteten drei Millionen eines mexikanischen Drogenbosses gleich 43 Millionen schmutziges Geld der CIA klauen, kommt es zur großen Konfrontation us-amerikanischer Institutionen. CIA, Drogenfahndung, die Navy und andere Gangster schenken sich nichts. Das ist in einer gelungenen Buddy- und Action-Komödie mal eine wirklich originelle Besetzung und gleichzeitig Systemkritik von ganz schwerem Kaliber, die am 3. Oktober ihren deutschen Start hat.

Ein ganz großer der Kinogeschichte machte zuvor seine Aufwartung. Der 91-jährige Christopher Lee, Kino-Ikone als Dracula und Saruman, Darsteller in fast 300, auch anspruchsvolleren Filmen, gab dem 66 Jahre jungen Festival die Ehre. Und kostete die Aufmerksamkeit mit einer großen Würde aus. Lee ließ sich zwar im Rollstuhl zu den Terminen fahren, sprudelte dann aber quicklebendig einige seiner zahllosen Anekdoten aus einem ereignisreichen Leben hervor. Dabei reicht die Spannweite seiner Erfahrungen von Steven Spielberg bis Billy Wilder.

Wilder, sagte jemand Wilder? Will Wilder heißt die Figur von Moritz Bleibtreu in Sam Garbarskis mäßiger Komödie „Vijay und ich" und damit legt der Regisseur von „Irina Palm" die Latte ziemlich hoch. Denn wie der frustrierte Schauspieler Will, der als grünes „Pech-Kaninchen" eine Kinder-TV-Show unsicher macht, vermeintlich stirbt und als Inder verkleidet, erst sein eigenes Begräbnis und dann das Schlafzimmer seiner Frau heimsucht, ist nur als Idee überzeugend. Ausgerechnet Garbarski scheitert in dieser belgisch-deutsch-luxemburgischen Produktion, die auch in NRW gedreht wurde, an der Atmosphäre vieler Szenen. Nur die Schauspieler ziehen den Spaß durch, wobei Patricia Arquette als Bleibtreus Partnerin kaum wiedererkennbar zurückhaltend agiert. Wenn auch der Humor nicht an den legendären Billy Wilder heranreicht, das „Standing" von Moritz Bleibtreu in dieser internationalen Produktion kann sich sehen lassen.

Auch auf der Pressekonferenz spielt er gut mit: Dass er, aus einer großen Schauspieler-Familie stammend und mit ernstem Theater aufgewachsen, selbst immer ein Komiker sein wollte, nimmt man ihm gerne ab. Auch wenn es zu perfekt zu seiner Rolle als Will Wilder passt, der ein der neue Marlon Brando werden sollte und nun als TV-Hase im Schaumstoffkostüm berühmt ist. „Vijay und ich" läuft am 5. September in Deutschlands Kinos an. Bis dahin wird anscheinend noch eine Menge Regen in den Lago Maggiore fließen, denn während Wettbewerb und Nebensektionen in hunderten neuer Filme eine Reise um die Welt antreten, schaut die deutsche Presse auf den eigenen Bauchnabel. Der heißt „Feuchtgebiete" und läuft Montag im Wettbewerb.

7.8.13

42 - Die wahre Geschichte einer Sportlegende

USA 2013 (42) Regie: Brian Helgeland, mit Chadwick Boseman, Harrison Ford, Nicole Beharie, Christopher Meloni, 123 Min. FSK: o.A.

42 ist für Eingeweihte die Antwort auf „die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest", meint Douglas Adams im „Anhalter durch die Galaxis". Etwas enger betrachtet bedeutet die Zahl den Fans des us-amerikanischen Baseballs einen Meilenstein der Gleichberechtigung. Denn mit dieser Rückennummer war Jackie Robinson 1947 der erste schwarze Spieler der zuvor rein weißen Major League. Trotzdem ist „42" kein Nischenfilm für Baseball-Fans oder afroamerikanisches US-Publikum sondern ein ganz großer Film mit universellen Themen, gleich mehreren Oscar-Kandidaten und einem weiteren Beleg für das enorme Können von Regisseur Brian Helgeland („L.A. Confidential", „Sin Eater", „Ritter aus Leidenschaft").

Auch wenn es Spike Lee nicht gefallen wird, ist es der weiße Team-Chef Branch Rickey (Harrison Ford), der das Marktpotential eines schwarzen Baseball-Spielers erkennt. Er weiß aber auch, was den Pionier in einem Land der Rassentrennung erwartet. Übelste Beleidigungen von Publikum, Gegnern und Mitspielern, Rauswürfe aus Hotels und sogar durch einen lokalen Rassisten-Sheriff vom Platz. Obwohl Jackie Robinson (Chadwick Boseman) exzellenter Spieler und kämpferischer Dickkopf ist, fällt die Aufgabe ihm zu. Wie hart es ist, nicht zurückzuschlagen, lässt „42" in der glorifizierenden und sicher auch immer mal verharmlosenden Schilderung von Robinsons Karriere deutlich miterleben. Hauptdarsteller Chadwick Boseman füllt die Rolle mit viel Leben, Charme und Charisma. Die noch bessere Wette auf einen Oscar stellt jedoch Harrison Ford dar, der Branch Rickey als Vaterfigur spielt, die sich nur den Anschein eines zynischen Geschäftsmannes gibt, dann aber als Humanist erweist.

Weitere erstklassige, gut ausgearbeitete Rollen bis hin zum Radio-Kommentator, eindrucksvolle digitale Wiederbelebungen alter Stadien und vor allem Helgeland als exzellenter Filmemacher runden diesen eindrucksvollen Film ab, der nur am Ende in Sport-Routine verfällt. Was vor allem im Gedächtnis bleibt und bewegt sind die großen und kleinen Widerstände gegen alltäglichen Rassismus, der beispielsweise in der Bundesliga auch 75 Jahre später noch zu hören ist.

6.8.13

Wochenendkrieger

BRD 2012 Regie: Andreas Geiger mit Nicole Busch, Chris Fano, Sven Fronecke, Gregor Knape, Dirk Neumann, 94 Min.

Die Dokumentation porträtiert fünf Menschen die in ihren Identitäten zwischen Alltag und Mythos wechseln. Jedes Wochenende tauchen sie ein in die Fantasy- Welt der Live-Rollenspiele mitten in den deutschen Wäldern, wo sie in einem Laienspiel den trivialen Kampf von gut Gut gegen Böse nachstellen. Ihr Alltag sieht im Gegensatz zu bunten Kostümen oft grau aus. So grau wie DDR-Wohnungen mit Trabi im Garten der Elfenkönigin Lenora. Oder auch mal grün wie beim Dirk, Herrscher der Untoten, der im Alltag ein Sekretär der Grünen-Fraktion im Bundestag ist. Er formuliert es klar: In den Sitzungen würde er gerne mal den Mund aufmachen, aber darf nur Protokoll führen.

Die Biologie-Lehrerin Chris, die unter ihren verschiedenen Fantasy-Rollen auch die Eisprinzessin hat, hat über das Spiel ihre Schüchternheit verloren. Klar, aber wie das Spiel funktioniert und was die Faszination dabei ist, bleibt verschlossen in der nur netten Doku. Die Erzählung eines Kriegszuges als roter Faden und einige Spielszenen der Fantasy-Laien werden zu ernst genommen und ermüden auf Dauer. Selbst den vermeintlichen Stars dieser Szene will man nicht allzu lange folgen.

Trance

GB 2013 (Trance) Regie: Danny Boyle, mit James McAvoy, Vincent Cassel, Rosario Dawson, 101 Min.

Danny Boyles reiches und abwechslungsreiches Regie-Schaffen spannt sich von „Trainspotting", einem Kultfilm der Neunziger, bis zu „Slumdog Millionär", der indischen Hollywood-Sensation, die gleich acht Oscars einheimste. Dass auch „Trance" trotz erkennbarer Handschrift und Tonspur wieder überrascht, liegt an der äußerst raffinierten Geschichte mit ihren vielen Wendungen: Über eine flotte Schnitt- und Szenenfolge landen wir mitten in einem großen Kunstraub. Gerade wurde Goyas wunderbares Gemälde „Flug der Hexen" für 25 Millionen bei einem Londoner Auktionator versteigert, da dringen Gangster ins Gebäude ein, werfen Gasgranaten und zerstören die Überwachungsanlagen. Simon (James McAvoy), ein junger Kunstauktionator und Erzähler dieser Szene, verfährt nach Protokoll, schnappt sich das Bild, verstaut es in einer Spezialtasche und will es in einen Safe mit Zeitschloss schmeißen. Doch davor wartet schon Gangster Franck (Vincent Cassel), anscheinend Masterbrain des Kunstraubes. Als Franck jedoch Simon mit dem Kolben seines Gewehrs ko schlägt, geht in dessen Gehirn etwas schief.

Denn schnell zeigt sich eine nächste Schicht unter dem vermeintlichen Überfall. Simon arbeitete eigentlich mit den Gangstern zusammen, beraubte aber im Chaos selbst die Räuber und weiß nun nach dem Schlag auf den Kopf nicht mehr, wo er die wertvolle Leinwand versteckte. Da selbst das blutige Ziehen der Fingernägel dem Gedächtnis nicht nachhilft, versuchen sie es mit Hypnose. Die zufällig ausgewählte Elizabeth Lamb (Rosario Dawson) wird über ein witziges Medley von Ängsten und Problemchen als exzellente Spezialistin vorgestellt. Sofort durchschaut sie aber auch die seltsame Situation, dass Simon nicht wirklich seine Autoschlüssel sucht und dass die Sitzung über ein verstecktes Mikrophon Mithörer hat. Nach noch einer überraschenden Wende gibt die resolute und kluge Elizabeth plötzlich dem knallharten Gangsterboss Franck die Anweisungen: Damit Simon sich erinnert, brauche er Vertrauen, er befürchte - wieso nur? - von der Gang umgebracht zu werden. Deshalb erzählen die harten Kerle nicht nur von ihren schlimmsten Ängsten, sie geben Simon sogar die Kontrolle, vermittels eines Kode-Wortes diese in den Gruppensitzungen aufzurufen! Elizabeth sitzt nun wie eine strenge Lehrerin den schweren Jungs vor.

Es ist schon sensationell, wie Boyle es schafft, selbst bei solch aberwitzig komischen Situationen die Spannung der „Trance" enorm hoch zu halten. Überraschungen gibt es weiterhin in einer zeitweise schwindelerregend raschen Folge. Manchmal verliert Simon die Übersicht, ob er wacht oder träumt. Bild-Spielereien mit Glas und Spiegeln verstärken diesen faszinierenden Effekt. Dabei eröffnet sich die Erinnerung schließlich sehr technik-originell in Form eines iPad.

Dass „Trance" ein Danny Boyle-Film ist, machen Musik, die schräge Kamera sowie ungewöhnliche Perspektiven von Kamerameister Anthony Dod Mantle, knallige Farben und Sounds schnell klar. Ansonsten zeigt sich das gelungene Verwirrspiel von einer einzigartigen Raffinesse. Die letzte große Überraschung darf nicht verraten werden, doch sie schafft es dem schon längst packenden Gangsterfilm eine ganz andere, menschliche Dimension zu geben. Auch wenn vielleicht eine logische Frage offen bleibt, das verstärkt nur die Vorfreude auf eine nochmalige Doyle-Trance.

This is the end

USA 2013 Regie: Seth Rogen, Evan Goldberg, mit James Franco, Jonah Hill, Seth Rogen, Jay Baruchel, Danny McBride, Rihanna, Emma Watson ca. 95 Min.

„Das ist das Letzte!" - so lautet ganz offiziell der eigentliche Titel dieser filmischen Energie- und Zeitverschwendung: Die angesagten Schauspieler Jonah Hill, Seth Rogen und Jay Baruchel tun so, als geben sie sich ganz persönlich und verhalten sich in ihrem angeblich wirklichen Leben wie Kinder. Wie sehr reiche und reichlich beschränkte Kinder. Dazu gibt es auch noch ein paar ernsthafte und bessere Darsteller wie James Franco und Emma Watson, die bei einer drogen- und alkohol-verseuchten Party mitmachen. Ein ganzer Tisch voller Gras und Joint ist die Überraschung, mit der Seth (Rogen) seinen Freund Jay (Baruchel) begrüßt. Während man sich wieder mal Gedanken über den Untergang der Kultur des Abendlandes macht, geht im Film wenigstens Los Angeles den Bach runter: Vor der Villa von James Franco (James Franco) toben Erdbeben, brechen Vulkane aus und Wesen der Unterwelt verspeisen jeden, der nicht bei drei in Francos Keller hockt. Und wenn die Verzweiflung (im Kino) am größten ist, schweben haufenweise Menschen in den Nachthimmel. Leider die Falschen: denn unsere bekannten untalentierten Schauspieler bleiben uns noch eine Stunde Filmqual lang erhalten. Dass sie eine Himmelfahrt erlösen soll, ist so hirnrissig wie der Rest. Dieser Kinobesuch bleibt ein Himmelfahrtskommando.

Unter all den oft seltsamen Versuchen, von Schauspielern sich dokumentarisch selbst darzustellen (siehe Joaquim Phoenix' Mocumentary „I'm Still Here"), ist dies der blödeste. Produzent, Autor, Regisseur und Blödeldarsteller Seth Rogen hat Nachgespräche und einen Nachdreh zum eigenen Film „Ananas Express". Dazwischen In-Dialoge, die entweder dämlich sein sollen oder bemühten Small Talk als dämlich bloßstellen wollen. Und dann parodieren sie alle ein paar Katastrophenfilme. Sollen essentielle Sätze wie „Ich will nicht in James Francos Haus sterben" witzig sein? Dass ausgerechnet der ausgezeichnete James Franco einen Haufen unwichtiger Darsteller beherbergt, ist jedenfalls irritierend wie eine Möbius-Schleife in dieser kläglichen Kammerspiel-Klamotten-Apokalypse.

Lone Ranger

USA 2013 (Lone Ranger) Regie: Gore Verbinski, mit Johnny Depp, Armie Hammer, Helena Bonham Carter, Tom Wilkinson, William Fichtner, 130 Min.

„Pirates of the Caribbean" auf dem Trockenen: Johnny Depp ändert seine Schminke minimal und schon reitet er ebenso wirr wahnsinnig wie Captain Jack Sparrow auf den Wellen nun als albern tragische Rothaut mit Vogel durchs Death Valley. Piraten-Produzent Jerry Bruckheimer und -Regisseur Gore Verbinski variierten auch die Handlung nur minimal, gingen mit dem alten Western-Comic "Lone Ranger" sehr spaßig locker um, mischten etwas "Lied vom Tod" hinein und fertig ist ein äußerst unterhaltsamer Kinohit, dem es gut tut, dass der extrem laute Materialverschleißer Bruckheimer in der staubigen Prärie nicht so viel zum Raumschmeißen hat.

Ein klassischer Western aus letzten Phase der us-amerikanischen Pionier-Zeit: Für Bodenschätze sind Land, Ehre und Prinzipien längst verschachert, Indianer und Büffel fast alle abgeschlachtet. Aber die Eisenbahn kommt pünktlich zum Zusammenschluss von Ost- und West des Halbkontinents. An diesem Schnittpunkt von Technik- und anderer Geschichte landet 1869 John Reid (Armie Hammer) als Mann des Gesetzes, der trotz staub- und blei-geschwängerter Luft keine Waffe benutzen will. Sein älterer Bruder hat den Job des Texas Rangers, dazu Johns ehemalige Geliebte Rebecca als Frau. Doch alle Gesetzeshüter sterben in einem klassischen Canyon-Hinterhalt des in jeder Hinsicht fiesen Outlaws Bud Cavendish. Nur John wird vom sehr seltsamen Indianer Tonto (Johnny Depp) gerettet. Oder eigentlich ist es ein mythisches, weißes Pferd, das dieses Bleichgesicht weiterleben lässt. Was zu aberwitzigen Diskussionen des edlen Gauls mit dem edlen Wilden führt. Trotzdem sorgen Ketten und andere Fährnisse des Schicksals dafür, dass John und Tonto aneinander gebunden bleiben. Mit viel Widerwillen des neuen, einsamen „Lone Rangers", der sich auch zu der für ihn typischen Maske überreden lassen muss und damit fortan den Dauer-Spot des Films ertragen muss: „Was soll eigentlich diese Maske?"

Schnell merkt man in der rückblickenden Rahmenerzählung und der ebenso komischen wie abenteuerlichen Handlung, dass „Lone Ranger" die alten Jungs-Comics nicht ganz ernst nimmt: Die „Lone Ranger"-Markenzeichen von Held mit Ross auf Hinterbeinen kommentiert Tonto trocken: „Mach das bloß nie wieder!" Johnny Depp gibt auch hier die eigentliche Hauptfigur so unverwechselbar, dass er ebenso sein Piraten-Outfit hätte tragen können. Der nicht nur wegen Maske gesichtslose Held Reid/Hammer muss sich noch hinter eindrucksvolle Nebendarsteller wie Tom Wilkinson als böser Geist der kapitalistischen Gier oder Helena Bonham Carter als Bordell-Chefin mit scharf schießendem Elfenbein-Bein einreihen.

Bruckheimer und Verbinski, deren Spezialität eher das laute Zerstören von möglichst vielen, möglichst großen Dingen ist, halten sich angenehm zurück. Nur mit der Eisenbahn müssen sie gleich zweimal aufwendig spielen, dabei Zugraub und -Verfolgungsjagd in einem gewaltigen Spektakel unter Begleitung des Radetzky-Marsches (!) zusammenknallen lassen. Ebenso wenig dezent gerieten die „Spiel mir das Lied vom Tod"-Zitate, bei denen eine Taschen-Uhr die Mundharmonika ersetzt. Immerhin zeigt die Aktien-Action rund um Land- und Silberraub recht raffiniert schon früh, wo es lang geht mit diesen Vereinigten Staaten. „Lone Ranger" ist ein Comic-Spaß, der den amerikanischen Traum von der Gier verkauft und ansonsten problemlos unterhält.

Gloria

Spanien/Chile 2012 (Gloria) Regie: Sebastián Lelio, mit Paulina García, Sergio Hernández, 110 Min.

Das fesselnd ungewöhnliche Porträt „Gloria" lebt von seiner Hauptdarstellerin Paulina García, die für ihre vielschichtige und intensive Figurenzeichnung im Februar verdientermaßen den silbernen Bären der diesjährigen Berlinale
gewann. Allein über ihr Gesicht könnte man ohne Ende reden: Das einer lustvollen, lebendigen Frau oder einer seltsamen, älteren Dame? Ist es jung oder müde? Und wie alt ist Gloria eigentlich? Ihre beiden Kinder sind erwachsen, die schwangere Tochter will zu ihrem Freund nach Schweden ziehen. Die geschiedene Gloria scheint derweil das Nachtleben von Santiago de Chile zu genießen. Schick angezogen geht sie in Bars und zum Tanzen, macht Männer, die viel älter als sie selbst wirken, auf sich aufmerksam. Vor allem wenn sie mit großer Lust tanzt, lebt Gloria auf und ihr Gesicht wirkt trotz dieser unmöglichen Riesenbrille wieder wie das eines jungen Mädchens.

Irgendwann trifft sie auf den sieben Jahre älteren Rodolfo, der ihr schöne Liebesgedichte vorliest. Eine Beziehung wächst, auch hier verhalten sich die Senioren plötzlich wie Teenager. Kleine Geständnisse, die Unsicherheit und die Leidenschaft im Bett. Rodolfo zeigt Gloria seinen Fun-Park mit der Paintball-Arena. Der Familie mit den erwachsenen, aber furchtbar unselbständigen Töchtern stellt er Gloria jedoch nicht vor. Die stören nur immer wieder mit ihren Anrufen. Gloria hingegen nimmt Rodolfo mit zum Geburtstag des Sohnes. Als es mit Ex-Mann und Familienerinnerungen dort allerdings zu intim wird, verschwindet der neue Freund spurlos. Die enttäuschte Frau bricht den Kontakt ab, woraufhin sich der Grauhaarige wie ein kleiner Junge verhält...

Nur vordergründig ist „Gloria" eine Beziehungsgeschichte mit den Hoffnungen auf ein neues Glück und dem Weitermachen nach der Enttäuschung. Regisseur Sebastián Lelio konzentriert sich ganz auf seine Titelfigur und die macht auch die ganze Faszination des mit kleinen Details fesselnden Films aus. Selbstverständlich passiert auch einiges um Gloria herum. Der laute und aggressive Junkie aus der Wohnung über ihr verliert ein Päckchen mit Gras und spät entdeckt die Frau diese Möglichkeit der Entspannung. Fast zu spät kommt allerdings auch die Entdeckung einer Augenkrankheit, die vielleicht die Eulen-Brille erklärt. Doch all dies spiegelt vor allem eine Entwicklung zu größerer Offenheit und eine Emanzipation von Bild und Blick der anderen. Wenn Gloria schließlich zur schnulzigen Titelhymne „Gloria" ohne Brille auf die Tanzfläche voller Freunde geht, ist das irritierend, aber auch berauschend im Glück einer neuen Freiheit. Doch wie das Gesicht von Paulina García und wie der Film überhaupt bleibt auch diese Szene offen, auf einzigartige und selten gute Weise. „Gloria", Gloria und García sind eine dreifaltige Offenbarung des Kinos, die man auf keinen Fall verpassen sollte.