28.12.22

Die Insel der Zitronenblüten

Spanien, Luxemburg 2022 (Pan de limón con semillas de amapola) Regie: Benito Zambrano, mit Elia Galera, Eva Martin, Mariona Pagès, Tommy Schlesser, 121 Min., FSK: ab 12

Leben und Tod - direkt und sehr dramatisch in der ersten Szene, wenn die mallorquinische Ärztin Marina (Elia Galera) in Afrika ein Kind per Kaiserschnitt zur Welt bringt, aber die Mutter nicht retten kann. Leben und Sterben, drunter machen es der gleichnamige Roman von Cristina Campos und die melodramatische Verfilmung von Benito Zambrano „Die Insel der Zitronenblüten" nicht.

Kurz darauf kommen die Schwestern Marina und Anna (Eva Martín) nach 14 Jahren Trennung wieder auf Mallorca zusammen, weil eine unbekannte Wohltäterin ihnen eine Bäckerei in Valldemossa vermacht hat. Anna will das Anwesen sofort verkaufen, weil ihr untreuer Mann sie in den Bankrott manövriert hat. Marina steht hingegen unentschieden an einem Wendepunkt ihres Lebens: In ihr wuchs der Wunsch, das Baby der Anfangsszene zu adoptieren. Ihr luxemburgischer Freund Matias, der bei der gleichen Hilfsorganisation arbeitet, fühlt sich jedoch von der Ankündigung überfahren und verschwindet erstmal, um ein paar Hilfslager aufzubauen. Während sie um eine Entscheidung ringt, Adoptionsstress und Verlobungsversprechen abwägt, versucht sie auch das Geheimnis der Wohltäterin Lola zu entdecken. Helfen könnte die ruppige Bäckerin Catalina, die mit Lola zusammen den sagenhaften „Pan de Limon" des Titels buk, doch sie weist jede Frage ihrer neuen Assistentin Marina zurück. Mittlerweile entsteht eine Wohn- und Arbeitsgemeinschaft aus drei Generationen Frauen. Bevor das Rätsel um Lola und ihr Rezept entdeckt sind, erkrankt allerdings Anna schwer. Noch mehr Geständnisse stehen an...

„Die Insel der Zitronenblüten" hat für Marina einiges in petto: Backen lernen, um die große Liebe bangen, eine Adaption mit reichlich Bestechung durchziehen und die eigene Vergangenheit aufarbeiten. Weshalb schickten ihre Eltern sie im Alter von 14 Jahren weg und ließen sie nie wieder zurück nach Hause? Zwischen den touristischen Bildern vom traumhaften Örtchen Valldemossa gibt es eine Menge Drama nach dem wohl eher trivialen Roman von Cristina Campos. Doch das alles ist gut inszeniert und gespielt, sodass man dem Erwarteten gerne folgt. Wie Lolas berühmter Zitronenkuchen mit Mohnsamen ist auch dieses Filmgenre mit Tränen am besten angerührt. Die traurige Geschichte, vom Leben, das auf rührende Weise immer weitergeht, gab es schon mal filmisch wesentlich mutiger im mexikanischen „Bittersüße Schokolade". Die Luxemburger Schauspielerin Désirée Nosbusch hat übrigens mitproduziert, was die Anwesenheit eines Luxemburger Arztes erklärt.

22.12.22

Blueback - Eine tiefe Freundschaft

Australien 2022 (Blueback) Regie: Robert Connolly, mit Mia Wasikowska, Radha Mitchell, Eric Bana, Ilsa Fogg, 103 Min., FSK: ab 6

Als ihre Mutter Dora einen Schlaganfall erleidet, kehrt die Meeresbiologin Abby (Mia Wasikowska) zurück zu ihrem Heimatort an der westaustralischen Küste. Erinnerungen kommen hoch, wie Abby als Achtjährige (Ilsa Fogg) noch Angst vorm Tauchen hatte, von ihrer Mutter (Radha Mitchell) in größere Tiefen gedrängt wurde. Und wie sie dort zum ersten Mal Blueback begegnete, einem seltenen Riesenlippfisch (Eastern Blue Groper), der in der Bucht heimisch ist. In Zukunft wird sie ihren „Freund" immer wieder besuchen. Dabei erlernt das Mädchen einen rücksichtsvollen Umgang mit den Ressourcen: Sie nehmen nur jeweils eine von drei Muscheln, damit für folgende Generationen genug übrigbleibt. Doch schon früh wird das Riff durch das Ausbaggern für größere Schiffe bedroht und ein übler Investor lässt hemmungslos selbst geschützte Meereslebewesen wegfischen. Dora kettet sich an Baufahrzeuge und wird von der Polizei festgenommen. Die sehr kämpferische Aktivistin ist jedoch mit dem Einsatz der „feigen", also zurückhaltenderen Tochter nicht zufrieden. Auch auf dem weiteren Weg des Erwachsenwerdens will Dora nicht akzeptieren, dass Abby mit einem Studium der Meeresbiologie fern von zuhause einen anderen Weg sucht, die Natur zu retten.

Aus dem gleichnamigen Roman von Tim Winton macht der australische Regisseur Robert Connolly („The Dry") eine überzeugende Öko-Geschichte. Der klassische Mix aus einer aktuellen problematischen Situation und Jugend-Erinnerungen bekommt ökologisch die volle Punktzahl. Die Wasseraufnahmen sind großartig, nach „Avatar: The Way of Water" nun ein echter Unterwasser-Film mit sterbenden Korallenriffen. „Wir reißen ein großes Loch in die Wand und werden alle hineinfallen", sagt ein Aborigine-Freund Abbys. Für die mangelnde Originalität der ruhigen Geschichte gibt es allerdings etwas Abzug. Es überzeugen trotzdem die erwachsenen Darsteller Mia Wasikowska, Radha Mitchell und besonders Eric Bana als leicht verrückter Fischer „Mad" Macka.

18.12.22

Der gestiefelte Kater: Der letzte Wunsch


USA 2022 (Puss in Boots: The Last Wish) Regie: Joel Crawford, 102 Min., FSK: ab 6

Dieser Kater hat medial viel mehr als nur neun Leben: Seinen ersten Leinwandauftritt feierte der Gestiefelte Kater 2004 in „Shrek 2 – Der tollkühne Held kehrt zurück", wo er zum Publikumsliebling wurde. Es folgten zwei weitere Shrek-Filme, 2011 ein erfolgreiches Solodebüt, Fortsetzungen und eine Serie. Jetzt gehen ihm – vielleicht wegen zu viel Abenteuer – die Leben aus, wie ein Mediziner nach gewohnt flottem Einleitungs-Abenteuer des steckbrieflich gesuchten Superstars feststellt. Gerade noch das mexikanische Dorf vor einem grimmigen Riesen gerettet und jetzt soll er aufs Altenteil in einem Heim für Katzen. Klar, dass der Gestiefelte Kater das nicht wahrhaben will. Einsicht und Angst kommen erst, als der Tod persönlich in Form eines düsteren, großen Wolfes an der Bar neben ihm sitzt.

Doch der traurige Ruhestand bei schlechtem Essen und unpersönlichem Katzenklo hält nicht lange an: Sowohl Gevatter Tod als auch rachsüchtige alte Bekannte fallen im Tierheim ein und zwingen den Kater zu Plan B: Den geheimen Ort eines mythischen Wunschsterns finden und vorher die magische Schatzkarte dazu klauen. Dann kann sich der charmante Schnurrhaargauner weitere Leben wünschen. Um die Schatzkarte kämpfen die hinterhältigen Kitty Samtpfote und der gutgelaunt geschwätzige Vierbeiner Perro, sowie Goldlöckchen und ihre drei berüchtigten Bandenbären.

Wie die knappe Zusammenfassung explodiert auch „Der gestiefelte Kater: Der letzte Wunsch" vor verrückten Figuren und Ideen. Die pausenlose Action unterhält mit viel Spaß durchgehend. Vor allem der kleine Hund Perro, der verkleidet im Katzen-Asyl lebte, ist als Side Kick in seiner gutmütigen Blödheit ein Volltreffer. Sorgfältigst auch die fantastischen Hintergründe im dunklen Wald. Die Moral, bei allem Jagen nicht zu vergessen, was man eigentlich schon hat, lässt sich nicht früh genug erlernen. „Der gestiefelte Kater: Der letzte Wunsch" ist eine Animations-Geschichte für große und ganz große Kinder, sprich Erwachsene. Vor allen Dingen der düstere Tod kann für kleinere Kinder zu beängstigend sein.

Als deutsche Stimme des tollkühnen Titelhelden ist inzwischen bereits zum fünften Mal Grimme-Preisträger Benno Fürmann („Babylon Berlin") zu hören. Als Synchronsprecher neu mit dabei sind Riccardo Simonetti („Glow Up") und Oliver Kalkofe („Schlefaz").

Oskars Kleid


Deutschland 2022, Regie: Hüseyin Tabak, mit Laurì, Florian David Fitz, Marie Burchard, 122 Min., FSK: ab 6

Ben (Florian David Fitz) ist das Muster eines frustrierten geschiedenen Familienvaters: Der Polizist ist nicht nur als Vater ein Versager, dazu ist er auch noch Ausländer- und Schwulen-feindlich, aggressiv, in jeder Hinsicht inkorrekt, ein netter Idiot und Ekel als Hauptfigur. Als seine Ex-Frau Mira (Marie Burchard) wegen einer schwierigen Schwangerschaft ins Krankenhaus muss, entführt er die gemeinsamen Kinder Oskar (Laurì) und Erna (Ava Petsch) zu sich, obwohl das eindeutig die schlechtere Lösung ist. Nun nimmt der gar nicht „woke" Wachmann die Kinder mit in den Dienst und gibt sie in der Spielecke vom Möbelhaus ab, während er sich mit Demonstranten prügelt.

Doch die wahre Herausforderung liegt darin, dass der neunjährige Sohn Oskar am liebsten Kleider trägt und jetzt Lili heißen will. Er wird von Mutter und Stiefvater Diego (Juan Lo Sasso) „als Transgender gelesen". Für Ben, der nicht besonders viel mit seiner Ex redet (und scheinbar seine Kinder nicht allzu oft sieht), ein Schock. Er schmeißt Oskars Lieblingskleid in den Müll, doch Diego bringt einen ganzen Koffer mit Mädchen-Klamotten. Oskar selbst hat keine Probleme, wird zum Unglauben der alten Männer nicht in der Schule verhauen. Was allerdings an einem Trick der Mutter liegt, die ihn als Mädchen an der Schule anmeldete. In seinem blindwütigen Aktionismus startet der Vater ein Umerziehungsprogramm, macht betont „Männersachen" und schickt Oskar mit Jungens-Kram in die Schule, was zu einer Katastrophe führt. 

Drehbuchautor Florian David Fitz und Regisseur Hüseyin Tabak wollten sich in der Vater-Sohn-Geschichte „Oskars Kleid" mit dem lange Zeit wenig beachteten Thema Transgender-Kinder „auf nachdenkliche und zugleich unterhaltsame Weise" beschäftigen. Herausgekommen ist ein überfrachteter Krampf, der als grobe Klamotte beginnt und so gerade die Kurve zu einer einfühlsamen Geschichte bekommt. Nun mag der Wandel von grob zu mitfühlend exakt dem Zustand des Polizisten Ben entsprechend. Glaubhafter wäre diese Figur allerdings, wenn sie nicht in allen Facetten unmöglich starten würde. Denn auf der Strecke bleiben zu viele Kollateralschaden: Nur weil Ben nun seinen Sohn Lili nennt und ihn selbst im Rock zur neuen Schule bringt, soll das mit der Ausländerfeindlichkeit ok sein? Und weil der verzweifelte Grobian bei einem alten Transvestiten Rat sucht, wird er diese später anständiger behandeln? Überhaupt, in welcher Zeit sind wir, wenn Transvestiten-Demonstrationen auf der Polizeistation enden?

Im Gegensatz zu wirklich einfühlsamen Filmen wie „Tomboy" von Céline Sciamma oder „Girl" von Lukas Dhont erleben wir nicht die Perspektive des Transgender-Kindes. Hier staunen die Außenstehenden, dass ein Neunjähriger sagt, seine Kinderbilder seien „falsch". Das ist teilweise die Verlagerung von Positionen einer krampfhaften Diskussion in einen krampfhaft komischen Film. In „Oskars Kleid" diskutiert auch die Generation der Großeltern: „Aber das ist doch eine interessante Frage. Wie kann sich ein Kind in dem Alter sicher sein, dass es in der falschen Haut steckt? Woher kommt das?" Trotz viel thematischem Geholpere bringt die routinierte Kompetenz des deutschen Komödien-Kinos die Geschichte zu einem rührenden und glücklichen Ende. So gut können Kida Khodr Ramadan, Burghart Klaußner und Senta Berger allerdings nicht spielen, dass man die Webfehler vergessen würde.

17.12.22

Ennio Morricone - Der Maestro


Italien 2021 (Ennio) Regie: Giuseppe Tornatore, 163 Min., FSK: ab 12

Der berühmte Ennio Morricone (1928 -2020), Komponist von über 500 Filmmusiken, wird am ehesten durch seine Melodien erkannt, etwa das Mundharmonika-Motiv aus „Spiel mir das Lied vom Tod". Regisseur Giuseppe Tornatore, für dessen ersten Film „Cinema Paradiso" der weltberühmte Morricone die Musik schrieb, realisierte nun eine große Filmbiografie aus Konzertaufnahmen, Filmausschnitten und Stimmen prominenter Wegbegleiter: Als Trompeter kam Morricone auf ungewöhnlichem Weg zum Studium der Komposition. Danach gab es eine frühe Begegnung mit John Cage und experimenteller Musik, bevor noch unter Pseudonym erste Western musikalisch arrangiert wurden. Mit Sergio Leones „Für eine Handvoll Dollar" kam der Ruhm. Ein eher unbekanntes Kapitel sind die italienischen Songs mit Einflüssen experimenteller Musik, die das kriselnde Label RCA retteten.

„Ennio Morricone - Der Maestro" entstand kurz vor Morricones Tod im Jahr 2019. Sehr schön werden raffinierte Feinheiten der Melodien in unzähligen Interviews mit unter anderem Clint Eastwood, Quentin Tarantino und Hans Zimmer erläutert. Doch erst nach einer Stunde gibt es mehr Filmszenen, immer unglaublich exakt auf die Erklärungen geschnitten, bei denen Morricone gerne singt, flötet und trällert. Wir sehen den Komponisten nur bei der Arbeit und den Interviews. Wirklich persönlich wird diese ausführliche Biografie über einen exzeptionellen, aber zurückhaltenden Künstler nicht. Nur andere erzählen, dass Morricone die Trompete nicht mehr einsetzte, als der bislang dafür verpflichtete Vater das Instrument nicht mehr gut genug spielen konnte. Dann erzählt Morricone noch, dass er all seine Musik zuerst seiner Frau Maria vorspielte. Es bleiben zahllose Filmmomente, die sich dank seiner Begleitung eingebrannt haben, sechs Nominierungen, aber nur ein Oscar (für „The Hateful Eight") und andauernder Erfolg, wenn zum Beispiel selbst Metallica ihre Shows mit „The Ecstasy of Gold" aus dem Spaghetti-Western „Zwei glorreiche Halunken" beginnen.

13.12.22

Drei Winter

Drei Winter

Schweiz, Deutschland 2022, Regie: Michael Koch, mit Michèle Brand, Simon Wisler, Elin Zgraggen, 137 Min., FSK: ab 12

Mit extrem ruhigen Bilder zeigt „Drei Winter", wie der zugezogene Marco (Simon Wisler) in einem entlegenen Schweizer Alpendorf zuerst mit der Kellnerin und Postbotin Anna (Michèle Brand) zusammenkommt, bevor ein Gehirntumor die Beziehung belastet. Von Kopfschmerzen und emotionalen Schwankungen des Flachländers Marco berichtet der Film eher, als dass er sie zeigt. Als sich der Tumor-kranke Mann dann angeblich vor Annas Tochter entblößt, wird eine Trennung angeordnet.

Wie in Stein, von dem man reichlich sieht, gemeißelt, arbeitet „Drei Winter" mit behäbigen, statischen Szenen. Die Geschichte um eine belastete Liebe nimmt sich viel Zeit, das landwirtschaftliche Tun, Bergwelt und abgeschiedenes Dorfleben zu zeigen. Da wirken die Intermezzi eines Heimat-Chores fast erlösend. Was Anna in dieser engen Welt voller Vorbehalte gegenüber Fremden tut, erweist sich als erstaunlich. Doch das ist eine Handlung, die einen Kurzfilm nicht überstrapazieren würde. Auch die Idee, das aufs Wesentliche reduzierte menschliche Leben mit dem Animalischen zu vergleichen, kann das Interesse nicht halten.

„Drei Winter" wurde im Wettbewerb der Berlinale 2022 mit einer lobenden Erwähnung ausgezeichnet.

12.12.22

Aftersun


Großbritannien, USA 2022, Regie: Charlotte Wells, mit Paul Mescal, Frankie Corio, 101 Min., FSK: ab 12

Calum (Paul Mescal) und seine elfjährige Sophie (Frankie Corio) machen Ende der 1990er Jahre einen Strandurlaub in der Türkei und so entspannt wie diese Tage waren, zeigt es der Film: Sie gehen schwimmen, spielen Billard und schauen sich das Abendprogramm der Animateure an. Sophie filmt den Vater und sich selbst auf ihrem neuen Camcorder. Die anderen Kinder am Pool interessieren sie nicht, sie seien zu klein. Nur zwei ältere Jungs und ein Mädchen, mit dem sie knutschen, faszinieren Sophie. Kurzer Streit ist schnell beigelegt. Manchmal, wie beim Tauchausflug, ist Calum genervt, erklärt es aber umgehend.

Verhalten erzählt „Aftersun" von diesem Urlaub. Das Eincremen mit Sonnenmilch und Aftersun gehört ebenso zu den Ritualen wie seine Tai Chi-Übungen. Selbst als Sophie abends alleine draußen bleibt, mit anderen Jugendlichen feiert, den Weg zum Hotel nicht mehr findet, einen Jungen küsst und sich Calum nachts auf die Suche macht, wird das nicht dramatisch geschildert. Ein ruhiger, entspannter Urlaub halt. Doch in einigen, elegant einmontierten Momenten sehen wir die erwachsene Sophie (Celia Rowlson-Hall), die sich zwanzig Jahre später mit den alten Videos an diesen Urlaub erinnert. Vielleicht eine Erklärung für die leichte Melancholie, die in diesen Jugendbildern mitschwebt. Obwohl sehr undramatisch inszeniert, hält „Aftersun" das Interesse der Zuschauer. Das liegt an den nahen Bildern von Kameramann Gregory Oke, aber ebenfalls am Spiel von Paul Mescal und der Newcomerin Frankie Corio. Es belegt vor allem das mutige Können von Regisseurin Charlotte Wells, die auch das Buch schrieb. „Aftersun" hat einen begrenzten Kinostart, bevor er auf der Streaming-Plattform Mubi zu sehen sein wird.

Ein Triumph


Frankreich 2020 (Un triomphe) Regie: Emmanuel Courcol, mit Kad Merad, David Ayala, Lamine Cissokho, 105 Min., FSK: ab 6

Ohne große Begeisterung übernimmt Etienne (Kad Merad) die Leitung einer Gefangenen-Theatertruppe. Er will wie üblich Fabeln vortragen lassen, doch als ihm selbst das dauernde Warten in der Maschinerie der Anstalt auffällt, kommt ihm „Warten auf Godot" in den Sinn. Nach den ersten Proben wird immer erstaunlicher, wie sehr das Stück Samuel Becketts die Situation der Inhaftierten spiegelt. Das Engagement wächst bei Etienne und seinen harten Jungs. Der gefährlichste von ihnen ist leider der beste Akteur, der sich seine Rolle geholt hat, indem er dem eigentlichen Schauspieler drohte. Behelfsregisseur Etienne sieht eine große Chance auch für sich: Von einem beneideten Freund, mit dem er früher „Godot" spielte und der jetzt ein richtiges Theater leitet, bekommt er die Möglichkeit einer Aufführung mit „seinen Jungs". Nachdem die Justiz-Instanzen mühsam überzeugt wurden, kommt es schon zur Mitte des Films zu einem großen Triumph. Das authentische Spiel – bei dem Godot im Gegensatz zum Original tatsächlich auftaucht – geht auf Tournee durch Frankreich. Bis zu letzten Abend in Paris, wo das überraschende Ende nicht den üblichen Genre-Pfaden folgt.

„Ein Triumph" erzählt die wahre Geschichte des schwedischen Theater-Regisseurs Jan Jönson nach, der mit den Insassen des Hochsicherheitsgefängnisses Kumla triumphal „Warten auf Godot" inszenierte. Am Tag einer Aufführung in Göteborg verschwanden fünf seiner Schauspieler spurlos. Ein Ereignis, zu dem Beckett selbst gesagt haben sollte, dass es die beste Interpretation seines Stückes sei. Der schon mit der Entwicklung des Stoffes und der Figuren begeisternde Film wurde bei den 33. Europäischen Filmpreisen als Beste Europäische Komödie des Jahres ausgezeichnet. Kad Merad („Willkommen bei den Schti's"), der sehr beliebte französische Komödiant, spielt routiniert den Theatermann auf Abwegen mit allen Frustrationen und der Wut, die in diesem steckt. Während seine private Geschichte in den schwierigen Momenten mit der erwachsenen Tochter etwas zu kurz kommt, sind die Szenen mit den Häftlingen Moussa (Wabinlé Nabié), Kamel (Sofian Khammes), Patrick (David Ayala), Jordan (Pierre Lottin) und Alex (Lamine Cissokho) packend und toll.

5.12.22

An einem schönen Morgen

 
Frankreich, Deutschland 2022 (Un beau matin) Regie: Mia Hansen-Løve, mit Léa Seydoux, Pascal Greggory, Melvil Poupaud, 114 Min., FSK: ab 12
 
Der Alltag der Pariserin Sandra (Léa Seydoux), Mitte 30, ist bestimmt vom Leben mit ihrer Tochter, die sie allein großzieht. Zwischen Kindergeburtstagen und Fechtturnieren der aufgeweckten Kleinen verdient Sandra als Übersetzerin und pflegt liebevoll ihren kranken Vater Georg (Pascal Greggory). Der leidet am Benson-Syndrom, einer neurodegenerativen Krankheit, ähnlich Alzheimer, und kann nicht mehr sehen. Zusammen mit der Mutter Françoise (Nicole Garcia), die seit Jahrzehnten vom Vater getrennt lebt, und einer nur sporadisch auftauchenden Schwester suchen sie ein menschenwürdiges und bezahlbares Pflegeheim. Zwischendurch erscheint Sandras alter Freund Clément (Melvil Poupaud) und beginnt eine leidenschaftliche Affäre, obwohl er verheiratet ist.
 
Es braucht wohl eine Regisseurin wie Mia Hansen-Løve, um aus so viel durchaus forderndem Alltag einen schönen Film zu machen! Hansen-Løve begann ihre Karriere mit sehr persönlichen Werken über den Tod ihres Mannes, des Produzenten Hubert Balsan, in „Der Vater meiner Kinder" und über ihren hedonistischen Bruder in „Eden". Dann begeisterte sie mit „Bergman Island" und Vicky Kriebs vor der historischen Bergman-Kulisse auf Fårö. Nun drehte die Tochter von zwei Philosophen wieder semibiografisch über den Abschied vom Vater, einem Büchermenschen, dem das Benson-Syndrom vor allem die Fähigkeit zu Lesen nahm. Während Vater Georg in verschiedenen Heimen recht zufrieden wirkt und immer nur auf seine Freundin wartet, obliegt es Sandra, sich auch von der riesigen Büchersammlung deutscher Philosophie und Literatur zu trennen. In einem Notizbuch zeigt sich der fortschreitende Verlust von Zeit und Zusammenhang auf poetisch schreckliche Weise.
 
„An einem schönen Morgen" – der Titel taucht im Original auf Deutsch als Literaturzitat auf – wird trotz eines prominenten Ensembles gänzlich von Léa Seydoux („Blau ist eine warme Farbe", „James Bond 007: Spectre") getragen. Es zeichnet diesen französischen Super-Star aus, dass sie auch „ganz gewöhnlich" spielen kann. Ihre Sandra schlägt sich tapfer durch ein Leben voller kleiner Dramen, ohne dass der Film sich zum Melodram aufschwingt. Er wiegt sogar die Tragik des Abschieds durch kleine Glücksmomente auf.

 

She Said


USA 2022, Regie: Maria Schrader, mit Carey Mulligan, Zoe Kazan, Patricia Clarkson, 129 Min., FSK: ab 12

Carey Mulligan und Zoe Kazan spielen eindrucksvoll den Anfang von #metoo aus journalistischer Sicht nach: Die Jagd auf den Filmmogul und Vergewaltiger Harvey Weinstein wirkt scheinbar nüchtern erarbeitet, ist aber trotzdem schockend und bewegend. Regisseurin Maria Schrader macht nach ihrem Erfolg mit dem Emmy-Sieger „Unorthodox" einen weiteren großen Schritt in Hollywood.

Die deutsche Filmemacherin Maria Schrader entscheidet sich klar und klug für die Perspektive der Frauen – der Täter Harvey Weinstein ist im ganzen Film nur einmal kurz von hinten zu sehen. Die Hauptrollen spielen die Reporterinnen der „New York Times" Megan Twohey (Carey Mulligan) und Jodi Kantor (Zoe Kazan). Megan versuchte schon Donald Trump wegen seiner sexuellen Übergriffe festzunageln, bevor sie ein Kind bekam und wegen zahlloser Angriffe über einen Ausstieg vom Job nachdachte. Dann steigt sie 2017 in die Ermittlungen ihrer Kollegin Jodi ein. Einer der ersten Berichte von Frauen, die von Harvey Weinstein zum Sex gezwungen wurden, stammt von Ashley Judd („Doppelmord", „Bug – Tödliche Brut"). Doch auch die erfolgreiche Schauspielerin, die sich selbst spielt, traute sich nicht, gegen den Gewalttäter aufzutreten. So reihen sich die erschütternden Berichte aneinander, immer nach dem gleichen Muster: Versprechungen an junge Talente, die Treffen in Hotelzimmern, Weinsteins Auftritt im Bademantel, das Duschen, die Drohungen...

Anzeigen blieben erfolglos und sind nicht mehr im Archiv der Polizei auffindbar. Viele Frauen unterschrieben Schweigevereinbarungen und können heulend in Interviews nicht die Wahrheit sagen. Der Einfluss des überaus erfolgreichen Filmproduzenten und Oscar-Siegers („Shakespeare in Love") ist zu groß. Doch Megan und Jodi geben nicht auf und erarbeiten sich mit mühsamer Recherche das unwiderlegbare Bild eines gnadenlosen Machtmenschen, der reihenweise Frauen missbraucht hat.

Erstaunlich an Maria Schraders Nacherzählung des Anfangs der #metoo-Bewegung ist die scheinbar nüchterne Inszenierung: Lange wird auf Rückblenden zu den Verbrechen verzichtet, die dann im letzten Teil des Films umso wirkungsvoller einsetzen. Die Regisseurin vertraut ganz auf die (Nach-) Erzählung der furchtbaren Situationen, auf die Schilderung vom Erleiden der Gewalt. Das scheint vom Papier her wenig reizvoll, erweist sich aber als Prinzip „She said" – „Sie sagte ..." - im Film dank exzellenter Darstellerinnen als erschütternd. Statt Winkelzüge der Gegenseite aufzuzeigen, sehen wir den schwierigen Alltag der Journalistinnen mit geduldigen Männern in den jeweiligen Beziehungen. Der Aspekt, dass beide eine Tochter haben, lässt sich ohne weitere Betonung als Motivation erkennen, dass denen so etwas nicht passieren soll.

Die bekannte Schauspielerin Maria Schrader („Aimée & Jaguar", „Vergiss mein Ich") begeisterte als Regisseurin schon mit der Stefan Zweig-Biografie „Vor der Morgenröte" und der sensationell erfolgreichen Miniserie „Unorthodox" über die Flucht einer orthodoxen Jüdin. Nun bewahrt sie sich in ihrem Hollywood-Debüt einen eigenen Stil und lässt vor allem den entscheidenden Frauen der historischen #metoo-Bewegung ihren Raum.

28.11.22

Mehr denn je


Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Norwegen 2022, Regie: Emily Atef, mit Vicky Krieps, Gaspard Ulliel, Bjørn Floberg, 123 Min., FSK: ab 12

Die Luxemburgerin Vicky Krieps („Der seidene Faden") dominiert diese eigenwillige Krankheitsgeschichte vor norwegischer Landschaft. Der plötzliche Tod ihres Filmpartners Gaspard Ulliel nach den Dreharbeiten macht „Mehr denn je" der deutschen Regisseurin Emily Atef („3 Tage in Quiberon") gleich auf mehreren Ebenen zu einer Reflexion über Leben und Sterben.

Hélène (Vicky Krieps) wird von einer seltenen Lungenkrankheit aus dem Leben gerissen, schon kleine Anstrengungen rauben ihr den Atem. Trotzdem will sie mit ihrem Partner Mathieu (Gaspard Ulliel) in Bordeaux nichts verpassen. Sie kiffen, lieben sich, gehen mit Sauerstoff-Flasche zu einem Konzert. Vom Mitleid der Freunde will Hélène nicht hören. Ebenso wenig vom Plan, dass ihr eine Lungen-Transplantation ein neues Leben geben könnte. Was immer wieder zum Streit mit ihrem ungeduldigen Partner führt. Dann entwickelt sie die verrückte Idee, mühsam allein nach Norwegen zu reisen. Dort erwartet sie eine karge Hütte und dauernde Helligkeit der Mittsommer-Nacht, die sie nicht schlafen lässt. Der mysteriöse Chat-Partner aus dem Internet sieht auch ganz anders aus, als sie sich das vorgestellt hatte. Sie war von seinem Blog fasziniert, in dem er nicht wehleidig über seine Krebs-Krankheit berichtet. Bald genießt sie die Abgeschiedenheit des einsamen Fjords, die eiskalten Bäder und auch die Kommunikationsprobleme auf der abgelegenen Insel. Für Mobilfunkempfang klettern die Einheimischen erst auf den „SMS-Hügel". Dorthin führt Hélène atemlos ihr vermeintlich letzter Spaziergang zwischen schmerzendem Abschied und sturer Entschlossenheit. Als Mathieu ihr hinterher reist, muss sie wieder um ihre Vorstellung vom Ende des Lebens kämpfen.

Der intensive und berührende „Mehr denn je" ist über lange Strecken eine Solonummer der exzellenten luxemburgischen Schauspielerin Vicky Krieps („Corsage"). Lebenshunger, Angst, vor dem, was kommt, Liebe und Einsamkeit spiegeln sich in einfühlsamer Mimik und in dem körperlichen Ausdruck einer schwer fassbaren Entscheidung. Zusätzlichen emotionalen Gehalt erhält das Drama durch den nachträglichen Tod des Darstellers Gaspard Ulliel bei einem Ski-Unfall im Januar dieses Jahres.

27.11.22

Call Jane


USA 2021 Regie: Phyllis Nagy mit Elizabeth Banks, Sigourney Weaver, Chris Messina, 121 Min., FSK: ab 12

Wie die schwangere Joy von einem Kreis heftig rauchender Ärzte erfährt, dass ihr eigenes Leben im Vergleich zum Ungeborenen nichts wert sei, wäre gute Satire - wenn es nicht so furchtbar wahr ist: 1968 in Chicago, die Schwangerschaft schwächt das Herz der wohlsituierten Anwaltsgattin lebensbedrohlich, doch Abtreibung wird selbst in solchen Fällen nicht erlaubt. Alleine dem Horror illegaler Schwangerschaftsabbrüche ausgesetzt, bringt ein Aushang die Rettung: „Pregnant? Need help? Call Jane!" („Schwanger? Hilfe? Ruf Jane an!"). Während die mitfühlende Gwen zum Eingriff begleitet, versucht Joy herauszufinden, wer denn Jane sei. Tatsächlich verbarg sich hinter dem Namen nach historischen Fakten ein Kollektiv engagierter Frauen. Die Führung beim „Jane Collective" hat im Film, der einen schweren Kampf auch mit Humor und etwas Rührung nachzeichnet, eine endlich mal wieder groß aufspielende Sigourney Weaver als Virginia. Die Hauptrolle der sich mutig emanzipierenden Joy zeigt in vielen Nuancen zwischen Angst und Euphorie die auf die Weise selten zu sehende „lustige Blondine" Elizabeth Banks. Erinnert man sie doch aus „Die Tribute von Panem" oder „Pitch Perfect" eher oberflächlicher.

Dass der anhaltende Kampf um selbstbestimmtes Leben für Frauen nach Mike Leighs „Vera Drake" und Cristian Mungius „4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage" wieder in einem starken historischen Film behandelt wird, ist nicht nur wegen der neuerlichen Entscheidung des Obersten Gerichts der USA leider brennend zeitgemäß. „Call Jane" begeistert dabei vor allem zu Beginn mit vielen, genau beobachteten Details, welche Zeitumstände und Leben einer hochintelligenten Frau in der Nixon-Ära nachempfinden lassen. Eine breit angelegte Sicht auf das Thema bringt sogar das Problem der Intersektionalität in die schwierige Entscheidung der Gruppe, welche der in vielfältiger Weise unterdrückten und misshandelten Frauen für den Eingriff ausgewählt werden. Die Bühnenautorin und Regisseurin Phyllis Nagy inszenierte bislang zwar nur „Mrs. Harris" fürs TV, wurde aber mit ihrem Drehbuch zu Todd Haynes' „Carol" für einen Oscar nominiert. Das „Jane Collective" führte, bis es 1972 aufflog, circa 11.000 Abtreibungen durch, ohne dass eine Frau dabei starb. Diese Arbeit wurde 1973 unnötig, als sich der Supreme Court im Fall „Roe v. Wade" für das Recht auf Abtreibung aussprach. Das gleiche Gericht, das nun die Uhren wieder zurückdrehte.

Die stillen Trabanten


Deutschland 2022, Regie: Thomas Stuber, mit Martina Gedeck, Nastassja Kinski, Charly Hübner, 120 Min., FSK: ab 12

Aus den gleichnamigen Kurzgeschichten von Clemens Meyer („Als wir träumten") machen „Die stillen Trabanten" mit sehr prominenter Besetzung reizvolle Porträts von Menschen an sozialen Bruchstellen: Die ihrem Parka versteckte Christa (Martina Gedeck) reinigt Züge für die Bahn und muss mit Beschwerde der gnadenlosen Leitung fertig werden. Sie hatte in einem Abteil zwei Kirschkerne übersehen! Beim allabendlichen Schöntrinken des tristen Lebens („Noch eine Maria?") trifft sie im verlassenen Leipziger Bahnhof auf Friseurin Birgitt (Nastassja Kinski), die ebenfalls von Vorgesetzten schikaniert wird und den Frust mit Sektchen runterspült. Die Frauen fühlen sich direkt voneinander angezogen, von Männern haben beide sowieso genug.

Bistrobesitzer Jens (Albrecht Schuch) entschuldigt in seinem Imbiss dafür, dass sein Gehilfe den orientalisch aussehenden Gast Hamed (Adel Bencherif) wegen der Anschläge von 9/11 dumm anmacht. Nicht nett ist allerdings, dass Jens sich ohne Bedenken an dessen Frau Aischa (Lilith Stangenberg) ranmacht, die vor der Konvertierung zum Islam anders hieß. Bei der nächtlichen Zigarette im Treppenhaus flirtet er hemmungslos mit der Frau im Kopftuch und erzählt von den „Stillen Trabanten", den Lichtern umliegender Hochhäuser. In einem von ihnen, einem Ausländerwohnheim, dreht Wachmann Erik (Charly Hübner) seinen Runden und sucht die Nähe der jungen russischen Emigrantin Marika (Irina Starshenbaum).
 
Regisseur Thomas Stuber entwickelte wie schon bei den exzellenten „In den Gängen" und „Herbert" in Zusammenarbeit mit Clemens Meyer die Porträts suchender Menschen, die wie Trabanten kurzzeitig zueinanderkommen. Dabei wird den interessanten Figuren eine ruhige Konzentration und ein mitfühlend milder Blick entgegengebracht. Selbst beim in seinen Verführungsversuchen gnadenlosen Jens, der vom Verstehen wollen und vom Interesse an seinen Mitmenschen geleitet ist. Wie schon bei der Lagerarbeiter-Romanze „In den Gängen" mit Franz Rogowski und Sandra Hüller tragen bekannte Darstellerinnen und Darsteller die feinen Studien angeblich „einfacher" Menschen. Martina Gedeck („Wunderschön", „Ich bin dann mal weg") verschwindet völlig in ihrer abgearbeiteten Figur ohne Hoffnung. Nastassja Kinski („Paris, Texas") berührt als einsame Friseurin in einen ihrer sehr seltenen Auftritte.

21.11.22

Zeiten des Umbruchs


USA, Brasilien 2022 (Armageddon Time) Regie: James Gray, mit Anne Hathaway, Anthony Hopkins, Jeremy Strong, 115 Min., FSK: ab 12

James Gray, angesehener Regisseur spannender Thriller in osteuropäischen Einwanderer-Milieus („Little Odessa", „The Immigrant"), erzählt in „Zeiten des Umbruchs" von seiner eigenen Jugend in New York. In dem semi-autobiografischen Gesellschaftsbild der USA der 80er erlebt er als wenig aufgeweckter Junge Rassismus und Ungerechtigkeit. Bemerkenswert ist, dass die sich nicht gegen die eigene jüdische Familie richtet, sondern vor allem gegen den chancenlosen schwarzen Schulfreund.

Im Spätsommer 1980 fängt für Paul Graff (Banks Repeta) ein neues Schuljahr an und die Strafecke der Klasse bringt ihn mit dem sitzengebliebenen Schwarzen Jonathan (Jaylin Webb) zusammen. Gleich am nächsten Tag nutzen die Freunde, um bei einem Ausflug zum Guggenheim-Museum auszubüxen und auf eigene Faust die Stadt zu entdecken. Es wird nicht der letzte Streich der beiden sein, doch seltsamerweise bangt man nicht allzu sehr um den wohlbehüteten Paul, der Zeichner werden will. Die reizvoll nachgeahmte Zeit mit der aufkommenden Rap-Musik lässt sich ohne großes Nagelkauen genießen.

Auffällig werden diese „Zeiten des Umbruchs" nicht vom Schmerz des 11-Jährigen darüber bestimmt, dass er von den Eltern als zu langsam oder gar dumm bezeichnet wird. Auch nicht vom Tod des geliebten Großvaters (Anthony Hopkins), sondern von den Ungerechtigkeiten gegenüber Jonathan und der Unfähigkeit Pauls, ihm zu helfen. Denn das hat ihm der jüdische Opa, ein Einwanderer aus der Ukraine, mitgegeben: Es solle ein „Mensch" sein – auch im englischen Original jiddisch ausgesprochen. Er solle sich also für Gerechtigkeit einsetzen. Hopkins „stiehlt" in wenigen großartigen Momenten diesen Film, Anne Hathaway hat einige ansprechende Szenen.

„Zeiten des Umbruchs" sind auch Zeiten des politischen Wandels, denn der Originaltitel „Armageddon Time" entlehnt sich eines frühen Ausspruchs Ronald Reagans, dass die Zeit Armageddons bevorstehe, und spannt sich über zwei Monate, vom ersten Schultag Pauls bis zur Wahl Ronald Reagans am 4. November. Die Privatschule, auf der Paul nach zu viel Ärger landet, ist die elitäre Kew-Forest School, auf der ein Mäzen namens Fred Trump das Sagen hat und seine Tochter, die spätere Staatsanwältin Maryanne Trump (Jessica Chastain) neoliberale Reden hält. Die Verbindung von Reagan zu Trump ist unübersehbar.

20.11.22

Shattered - Gefährliche Affäre


USA, Deutschland, Schweiz 2021 (Shattered) Regie: Luis Prieto, mit Lilly Krug, Cameron Monaghan, John Malkovich 92 Min., FSK: ab 16

Wenig subtil nähert sich die durchnässte, knapp bekleidete junge Sky (Lilly Krug) im Supermarkt dem einsamen Millionär Chris (Cameron Monaghan). Zu einfach folgt sie seiner Einladung in eine abgelegene, luxuriöse Hightech-Villa. Die plumpe Verführung lässt keinen Zweifel daran, dass der ältere Tech-Millionär ausgenommen wird. Das „Wie" folgt schnell und brutal: Nach einem Überfall auf der Straße ist Chris im Rollstuhl und hilflos in Skys folternden Händen. Mit bald verratenen Passwörtern werden alle Konten geplündert, die Wohnung ist schon länger ausgeräumt. Der ehemalige Vermieter der Räuberin - John Malkovich in verschenkter Rolle - kommt ihr auf die Spur und ziemlich schnell durch ein Samurai-Schwert um. Dies Blutbad gibt einen Vorgeschmack auf ein Finale härterer Gangart.

„Shattered" als Erotikthriller zu bezeichnen, wäre zu viel der Ehre – alles ist hier zu offensichtlich. In der Hauptrolle spielt Lilly Krug, Tochter von Veronica Ferres, die eiskalte und zynische Killerin, ohne großen Eindruck zu machen. Mama hat den Film mitproduziert.

Emily


Großbritannien, USA 2022, Regie: Frances O'Connor, mit Emma Mackey, Oliver Jackson-Cohen, Adrian Dunbar, 130 Min., FSK: ab 12 

So bekannt und populär Emily Brontës Roman „Stürmische Höhen" aus dem Jahr 1847 immer noch ist, Details aus dem Leben der Autorin sind selbst bei der keineswegs schreibfaulen Brontë-Familie Privatsache geblieben. Deshalb entwirft „Emily" eine in Gefühlen und Bildern schwelgende biografische Vermutung über Emily Brontë (1818-1848).

Emily (Emma Mackey) wächst als Tochter eines Pfarrers im ländlichen Yorkshire auf und gilt im Ort als sonderbar. Gemeinsam mit ihren drei Geschwistern denkt sie sich Geschichten und Fantasie-Welten aus. Aber vor allem die ältere Schwester Charlotte (Alexandra Dowling), die auswärtig als Gouvernante arbeitet, verlangt nun mehr Ernst im Leben. So bleiben unter dem strengen Regime des Vaters Patrick (Adrian Dunbar) nur Eskapaden mit dem rebellischen und Opium-süchtigen Bruder Branwell (Fionn Whitehead). Und die heimliche Begeisterung für den neuen Hauslehrer William Weightman (Oliver Jackson-Cohen), dessen poetische Predigt über göttlichen Regen sie enorm begeisterte. Nachdem sie sich beim Französisch-Unterricht anfangs streiten, entflammt unter sehr sittenstrengen Bedingungen ihre Liebe.

Während man eine überraschend selbständige Emily Brontë lange nicht schreibend sieht, macht sie im Sturm der Gefühle schließlich das, was sie ihrem Bruder und dessen Romanversuch vorwarf: Viel stürmische Höhen, endlose Beschreibungen und exaltierte Stimmungen. Emma Mackeys („Sex Education", „Eiffel in Love") expressive Mimik beherrscht den Film und sorgt wie die moderne symphonische Musik für euphorische Gefühle. Der australischen Schauspielerin Frances Ann O'Connor gelingen in ihrem eindrucksvollen Regiedebüt reihenweise tolle Szenen: Die Umarmung mit dem verbannten Bruder durch im Wind wehende weiße Wäsche, ein schauerliches Spiel mit einer Maske, unter der Emily zu ihrer verstorbenen Mutter wird und eine euphorische Opium-Episode mit dem Bruder. Dazu selbstverständlich die dramatische Liebe zu Weightman mit ebenso dramatischer Zeitlupe und viel Regen, die bewusst Parallelen zu „Stürmische Höhen" aufweist. Das trefflich ausgestattete und kostümierte Historienstück wirkt vor allem durch seine unabhängige Hauptfigur alles andere als verstaubt und gestrig.

14.11.22

Die goldenen Jahre

Schweiz, Deutschland 2022, Regie: Barbara Kulcsar, mit Esther Gemsch, Stefan Kurt, Ueli Jäggi, 91 Min., FSK: ab 12

Nach seiner Pensionierung bekommt nicht Peter (Stefan Kurt) die erwartete Krise, sondern seine Ehefrau Alice (Esther Gemsch). Sie hat große Pläne und ihm geht es auch ohne sehr gut. Eine Kreuzfahrt durchs Mittelmeer – angeblich ein Geschenk der Kinder – soll helfen, aber Peter lädt seinen kürzlich verwitweten Freund Heinz (Ueli Jäggi) ein, mitzukommen. Die Fahrt mit dem fünften Rad am Kreuzfahrtschiff eskaliert so sehr, dass Alice in Marseille aussteigt. Aus dem Boot und aus der Ehe – sie brauche Zeit für sich selbst. Die getrennten Wege führen zu einigen Überraschungen.

Die Senioren-Komödie, der erfolgreichste Schweizer Spielfilm seit Beginn der Corona-Pandemie, legt gut gespielt, aber beschaulich und höchstens nett los, um im Verlauf der Ausbrüche eben mit diesen Überraschungen zu punkten. Die ganze Familie wird lernen, dass getrennte Wege nichts Schlechtes ist. Und als Happy End gibt es eine Wohngemeinschaft, die auch die nächste Generation noch erstaunt.

25.10.22

Rise up

Deutschland 2022, Regie: von Marco Heinig, Steffen Maurer, Luise Burchard, Luca Vogel, 92 Min., FSK: ab 12

Der Dokumentarfilm eines Regie-Kollektivs kombiniert ein sehr allgemeines Lamento über den Zustand unserer Gesellschaften mit den Äußerungen von fünf Aktivistinnen und Aktivisten. Der clevere Mix der Interviewten verbindet junge Frauen, die in Chile und Kurdistan unbedingt irgendwas verändern wollen, mit einer Befreiungskämpferin aus Südafrika, einer Widerständlerin der DDR und einem Kämpfer für unterdrückte Afroamerikaner. Dabei sind die geäußerten Empfindlichkeiten auf der Kommentarspur zum Teil auf dem Niveau von sehr emotionalem Slam Poetry. Da wird undifferenziert gegen Kapitalismus schwadroniert und auch den Faschismus muss man hier und da aufhalten. Oft beziehungslos werden eifrig gesammelte Demobilder vermischt – es geht mehr um Stimmung als um Analyse. (Die Luxus-Bilder des bösen Systems stammen ironischerweise aus der Film-Mekka Cannes.) Umso wertvoller und interessanter hingegen die Erfahrungen und Enttäuschung derjenigen, die nicht nur wie die Chilenin, Lust verspüren irgendwas anzuzünden, sondern tatsächlich mit ihren Revolutionen etwas bewegt haben. Wenn auch nicht das, was sie wollten.

Rheingold (2022)


Deutschland, Italien, Niederlande, Frankreich 2022, Regie: Fatih Akin, mit Emilio Sakraya, Mona Pirzad, Kardo Razzazi, 138 Min., FSK: ab 16

Der neue Kinofilm des begnadeten Hamburger Regisseurs Fatih Akin („Aus dem Nichts") ist kontrovers – schon in sich selbst: Eine Musiker-Biografie mit recht wenig Musik, ein stellenweise bewegendes Flüchtlingsporträt und dazu in einigen Momenten witzig gemeinte Gewalt-Exzesse wie bei Quentin Tarantino. Trotzdem ist „Rheingold" mehr als nur routinierte Biografie des kurdisch-stämmigen Rappers Giwar Hajabi alias Xatar, auf dessen autobiografischen Roman „Alles oder Nix" der Film basiert.

Das Gefängnis ist Giwars erste Erinnerung und so scheint es nur konsequent, dass er wieder im Gefängnis landet: Der erwachsene Giwar Hajabi landet in einer völlig überfüllten irakischen Zelle. Selbst hier gibt es Grenzen und Regionen, der Kurde muss in die Ecke zu seinen Leuten. Schon als Kind musste er im irakischen Gefängnis erleben, wie sein Vater blutend und zerschnitten nach der Folter zurück in die Zelle kam. Der war berühmter Komponist und Dirigent im Iran, musste vor der Gewalt der Religiösen fliehen. Eine kurze, heftige Szene zeigt die mörderische Übernahme der Barbaren, wenn sie in ein Konzert eindringen und die Kultivierten erschießen. Danach wurde Giwars Mutter Heldin im bewaffneten Kampf der Kurden, gebar den Sohn allein in einer Höhle, während um sie Granaten einschlugen. Das Gefängnis war dann eine Zwischenstation auf der Emigration über Paris nach Bonn.

Der erwachsene Giwar machte nach einer kriminellen Karriere im Getto von Bonn inzwischen seine eigenen Erfahrungen mit dem Knast, doch das Wiedersehen mit schwedischen Gardinen des Irak hat keinen politischen Hintergrund, der Folterer äußert sogar Sympathien mit dem Kurden. Allerdings will er unbedingt wissen, wo das Gold versteckt ist, das der zum Xatar Gewandelte in einem Raubzug erbeutete. (Xatar ist die kurdische Bezeichnung für „Gefahr".) Dieses „Rheingold" wird mit einer Wagner-Ouvertüre zum Leitmotiv.

Es ist eine wilde Geschichte, die der erfolgreiche Rapper Xatar in seiner Biografie „Alles oder Nix" erzählt. Idealer Filmstoff und Fatih Akin gelingt es, in einem lebendigen Hin und Her gleichzeitig die vielen Ereignisse packend darzubieten und als formend für die Person Xatars aufzuzeigen: Vom mittlerweile wieder als Dirigent arbeitenden Vater wird Giwar zum Klavierspiel gedrängt. Doch dass seine Mutter, einst Musikantin, für die Klavierstunden putzen muss, macht den Jugendlichen zum Dealer. Die erste heftige Prügel, die er einstecken muss, führt zu einer Veränderung von Körper und Mentalität. Xatars brutale Rache ist eine Gangster-Bio von Scorsese in Kurzform. Ohne dass noch wirklich viel in Giwars Kopf passiert, werden in Folge nur Drogen-Mengen und Ego größer. Zwar gibt es immer wieder ein Interesse des raffinierten Geschäftsmannes am Rap, nebenbei wird Schwesta Ewa in einem Bordell entdeckt. Doch was Xatar berühmt gemacht hat, das erste, im Knast aufgenommene Album, ist auf die letzten fünfzehn Minuten komprimiert.

Fatih, der im Jahr 2008 die Karlsmedaille für Europäische Medien zusammen mit dem französischen Regisseur Abdellatif Kechiche erhielt, hat sich in seinen Filmen ebenso engagiert und klug mit Gewalt von Radikalen beschäftigt wie mit Literaturverfilmungen für gemischte Reaktionen gesorgt. „Der goldene Handschuh" (2019), die Hamburger Serienmörder-Geschichte nach dem Roman von Heinz Strunk, schockierte mit extremen Szenen und Morden. Gleichzeitig begeisterte das genau gestaltete und gespielte Milieu um die Szene-Kneipe des Titels. „Aus dem Nichts" (2017) beschäftigte sich mit Diane Kruger in der Hauptrolle eindringlich mit den Folgen des vom „Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) verübten Kölner Bombenanschlags, ähnlich wie „Atlas" in dieser Kinowoche. Auch das Meisterwerk „Auf der anderen Seite" (2007) drehte sich um Terror und Tod. Bei den Internationalen Filmfestspiele von Cannes 2007 gab es dafür den Preis für das beste Drehbuch und den Preis der Ökumenischen Jury.

Frühere Erfolge wie „Kurz und schmerzlos" (1998) über eine Freundes-Gang aus Einwanderer-Kindern, das italienische Liebesdrama „Solino" (2002), die griechisch kulinarische Filmkomödie „Soul Kitchen" (2009) mit Moritz Bleibtreu oder das filmische Erdbeben „Gegen die Wand" (2004) mit einem überwältigenden Birol Ünel könnte man in die Schublade „Immigranten-Kino" stecken, hätte sich nicht Akin auch ganz bewusst mit einer enormen Vielfalt dagegen gewehrt.

Der enorm talentierte Fatih Akin kann kaum einen schlechten Film machen. Selbst so gefährliches Terrain wie das Biopic eines Prominenten meistert er mit einfühlsamen Entwicklungsmomenten eines Immigranten-Schicksals. Trotzdem überzeugt „Rheingold" nicht durchgehend: Wiewohl klasse gespielt, inszeniert und montiert sind die Gangster-Geschichten mit den Tarantino-Brutalitäten Leerlauf für die interessantere Figur. Die Xatar-Fans wird das nicht stören, sie hätten allerdings mehr Musik ihres ambivalenten Idols erwartet.

24.10.22

See How They Run


Großbritannien 2022, Regie: Tom George, mit Sam Rockwell, Saoirse Ronan, Adrien Brody, 98 Min., FSK: ab 12

„Die Mausefalle", das am längsten ununterbrochen aufgeführte Theaterstück der Welt, hätte fast nach der 100. Aufführung jede Ambition auf diesen Rekord vergessen müssen. Denn ausgerechnet zur Jubiläumsfeier des Suspense-Bühnenhits im Londoner West End gibt es 1953 einen Mord. Klar, den gibt es allabendlich auf der Bühne des Agatha Christie-Stücks, doch diesmal liegt der bekannte und berüchtigte US-amerikanische Regisseur Leo Kopernick (Adrien Brody) tot in der Kostümabteilung. Während er noch gerade den üblichen Werdegang eines solchen Krimis geringschätzig kommentierte. Denn er soll den Bühnenerfolg für den Erfolgsproduzenten von „African Queen", John Woolf (Reece Shearsmith), verfilmen. Selbstverständlich nicht so langweilig wie üblicherweise mit Mord, Verhör der vielen Verdächtigen und Gegenüberstellung mit Auflösung in einem einsam gelegenen Landhaus.

„See How They Run" bietet uns nun genau das: Mord, Verhör der vielen Verdächtigen und Gegenüberstellung mit Auflösung in einem einsam gelegenen Landhaus. Nicht nur in der „Mausfalle", sondern auch im anderen Falle von Kopernick. Der machte sich allein auf der Jubiläums-Party so viele Feinde, dass Tom Georges Krimi-Komödie ein schieres Vergnügen daran hat, all die herrlich überzeichneten Figuren vorzustellen, zu verdächtigen und zu befragen. War es doch erst die Prügelei mit dem Hauptdarsteller Richard Attenborough (Harris Dickinson), die Kopernick in die Torte und das Büffet fliegen ließ und ihn zum Wechseln der Klamotten in die fatale Kostümabteilung brachte. Auseinandersetzungen über das radikal geänderte Drehbuch gab es mit dem überkandidelten Autoren Mervyn Cocker-Norris (David Oyelowo) schon „Drei Wochen vorher". Solche Rückblenden mag dieser ebenso wenig wie die anderen Änderungen des Regisseurs. So wenig, dass es sogar eine Morddrohung gab.

Grandios komisch sind die personellen Ergänzungen der üblichen Verdächtigen: Sam Rockwell gibt den Theater-ignoranten Inspector Stoppard, der erst mal den Tatort untersucht – den Tatort des Bühnenstücks! In Splitscreens des Privatlebens beschäftigt sich Stoppard mit Laubsägearbeiten, so wie der einsame Ober-Rechercheur Gibbs aus der Krimi-Serie „NCIS" im Keller an seinem Boot arbeitet. Während der nicht allzu engagierte und trinkende frustrierte Stoppard in Anflügen von Trotteligkeit an Inspector Clouseau aus „Der rosarote Panther" oder Rowan Atkinsons „Johnny English" erinnert, ist Saoirse Ronan als überambitionierte Nachwuchs-Kriminalistin Constable Stalker kaum wiedererkennbar und trotzdem umwerfend komisch. Die clevere Polizistin, die eine wandelnde Film-Enzyklopädie ist, tritt dauernd in Fettnäpfchen, meist wunderbar falsche Formulierungen. „Cherchez la femme, wie die Belgier sagen". Rockwells Figurenname Stoppard verweist auf die postmodernen, selbstreflektiven Stücke von Tom Stoppard. Da turnen bei „Rosencrantz and Guildenstern are Dead" beispielsweise Shakespeares Nebenfiguren unter und über der Handlung von „Hamlet" rum. Das gleiche Prinzip sorgt auch bei „See How They Run" für den Rahmen, mit dem die uralte Krimi-Handlung aufgefrischt wird. Klasse wird es aber vor allem durch die irrwitzigen Dialoge, die vielen Querverweise und durchgehend exzellentes Schauspiel.

Atlas (2021)


Schweiz, Belgien, Italien 2021, Regie: Niccolò Castelli, mit Matilda De Angelis, Helmi Dridi, Irene Casagrande, 90 Min., FSK: o.A.

„Frei" erschallt das erste Wort im Film. Die kletterbegeisterte Allegra (Matilda De Angelis) gibt ihrer Seilschaft dieses Signal, aber die Freiheit der Bergsteiger über den Wolken ist euphorisch und überträgt sich durch die Bilder von Kameramann Pietro Zuercher ins Kino. Dann schneidet der Film auf eine nicht mehr leuchtende, eine düstere und schweigsame Allegra. Sie wurde Opfer eines Terroranschlags, bei dem drei ihrer Freunde ums Leben kamen. Zu sehen ist die verheerende Explosion erst spät im einfühlsamen Film: In der klugen Montage von Esmeralda Calabria gehört es zum Heilungsprozess, dass sich die äußerlich und innerlich Verletzte nicht dem furchtbaren Ereignis stellt - wir sehen es also auch nicht. Dafür erleben wir dank einer grandiosen Schauspielleistung von Matilda De Angelis („Der Göttliche Andere", „Der Schatz des Duce") jeden Schritt der Rehabilitation intensiv mit. Vor allem das im Gebirge so wichtige Greifen muss Allegra mit verletztem Arm neu erlernen, aber auch ihr Gleichgewicht wieder finden. Ganz praktisch auf der Slackline und ebenfalls im übertragenen Sinn. Parallel muss sich die junge, einst lebenslustige Frau mit ihren vorwurfsvollen Gefühlen gegenüber den Tätern auseinandersetzen, ohne in die platte Fremdenfeindlichkeit des Vaters zu verfallen. Dabei träumte sie vom Besteigen des Atlas-Gebirges in Marokko und ist jetzt fasziniert vom Oud-Spieler Arad (Helmi Dridi), einem Flüchtling aus dem Nahen Orient.

Regisseur Niccolò Castelli erarbeitete den Stoff zusammen mit seinem Koautor Stefano Pasetto nach einem wahren Ereignis, einem Terroranschlag in Marrakesch, bei dem drei Tessiner umkamen. Er interviewte die Überlebende und sieht die Angst der Allegra als eine aktuelle Erscheinung unserer Gesellschaften. Unabhängig von weitergehenden Bedeutungen packt die mühsame Heilung der jungen Frau durch intensives Spiel und hervorragende Inszenierung. Dass sich im fühlbaren Unterschied zwischen dunklem Luganer Stadtleben und den eindrucksvollen Aufnahmen freier Berg-Landschaft ein Weg ins Licht abzeichnet, nimmt nichts von der Eindringlichkeit dieses konzentrierten Porträts eines getroffenen Menschen und eines extremen Zustands.

Werner Herzog - Radical Dreamer


Deutschland 2021, Regie: Thomas von Steinaecker, 90 Min., FSK: o.A.

Die Zeitschrift „Time" zählt Werner Herzog zu den 100 einflussreichsten Menschen der Gegenwart. Wim Wenders und Volker Schlöndorff, die Kollegen aus der Film-Generation des Neuen Deutschen Kinos, loben seine Einzigartigkeit. Junge Regie-Stars wie Chloé Zhao und Joshua Oppenheimer schließen sich an. Prominente wie Robert Pattinson, Christian Bale und Nicole Kidman hören gar nicht auf, von völlig durchgeknallten Episoden zu erzählen.

Die Person Werner Herzog, der im September seinen 80. Geburtstag feierte, ist schwer zu fassen: als Filmemacher vom abenteuerlichen „Fitzcarraldo" (1982) bis zu Hollywood-Aufträgen wie das Remake „Bad Lieutenant" (2009), als Schauspieler zuletzt die schon legendären Auftritte im Star Wars-Universum von „The Mandalorian" (2021). Der herzogliche Einfluss und seine Popularität vor allem in den USA sind enorm, vielleicht ist der Auftritt bei „The Simpsons" als Walter Hotenhoffer mehr Adelsschlag als ein Stern auf dem Hollywood walk of Fame. Die wunderbare Dokumentation „Werner Herzog - Radical Dreamer" schafft es erstaunlicherweise recht gut, den modernen Mythos Werner Herzog mit sehr persönlichen Momenten zu verbinden. Poetisch zieht sich das Traummotiv durch den ganzen sehr sehenswerten Film.

18.10.22

Der Nachname


Deutschland 2022, Regie: Sönke Wortmann, mit Iris Berben, Christoph Maria Herbst, Florian David Fitz, Caroline Peters, Justus von Dohnányi, 87 Min., FSK: ab 0

Die ersten zwei Minuten erzählen wie im Serienfernsehen den ersten Film nach. Deshalb auch hier, was bisher im „Nachname"-Vorläufer „Der Vorname" geschah: Beim Familientreffen kündigte der werdende Vater Thomas (Florian David Fitz) an, sein Kind Adolf nennen zu wollen. Schon beim Aperitif kochte so der Abend bei Schwester Elisabeth (Caroline Peters) und Schwager Stephan (Christoph Maria Herbst) hoch. Letzterer, Germanistik-Dozent und prinzipien-steifer Bildungsbürger, verwies auf diesen Hitler und dass gerade in rechtslastigen Zeiten dieser Name tabu, wenn nicht gar verboten sei. Mit dabei im streitlustigen Familien-Patchwork war der adoptierte Bruder René (Justus von Dohnányi), dessen Liebesbeziehung zur Mutter Dorothea (Iris Berben) am Ende aufflog.

Reichlich Aufregung also und „Der Nachname" scheint die vier Jahre später mit jeder Pore übertreffen zu wollen: Diesmal findet das disharmonische Familientreffen auf der Insel Lanzarote statt. Mutter Dorothea und Adoptivsohn René haben ins geliebte Familiendomizil geladen und wollen etwas verkünden. Doch schon im Leihwagen dorthin gibt es Streit zwischen dem Ehepaar Stephan und Elisabeth sowie den frisch gebackenen Eltern Thomas und Anna. Also unter den Partnern und auch noch mit dem anderen Paar. Vor allem für Thomas ist es ein Schock, wie René das Landgut verändert hat. Der erste von überbordend vielen Knallern ist dann, dass Dorothea und René ihren Kinderwunsch verkünden. „Mit einer Leihmutter", legen sie vor den verblüfften Kindern nach. „Aber ohne Reagenzglas" ist dann der Schlusspunkt der ersten dicken Überraschung. Erst später wird Thomas erfahren, dass die attraktive Tochter der Haushälterin, der er gerade noch nachstellte, lesbisch und die Leihmutter ist.

Dies ist wie gesagt, erst der erste von zu vielen Momenten, die alles auf den Kopf stellen sollen. Nur mit Hilfe von Mutters Haschkeksen, an denen sich bald alle vergreifen, bleibt es zwischendurch mal kurz ruhig. Dass es ja noch eine Heirat gegeben hat und Mami jetzt nicht mehr Böttcher heißt, wäre der nächste Aufreger. Und dann muss für die neue Erbfolge erweiterte Bruchrechnung zu Rate gezogen werden, was sowohl den karrieremäßig geknickten Erbsenzähler Stephan als auch den erektil verklemmten Vielverdiener Stephan brüskieren.

An dem titelgebenden Problem von „Der Nachname" ist zu erkennen, wie rückständig die an den Haaren herbeigezogenen Streitgründe eigentlich sind. Schon der Schriftzug der Filmtitel sah nach 60er-Jahre aus und dass Frauen nicht den Namen ihres Mannes annehmen wollen, war tatsächlich damals ein Diskussionsthema. Ebenso sind Probleme mit Zugewinngemeinschaften und Eheverträgen aus gutem Grund schon lange nicht mehr auf der Leinwand zu sehen gewesen. Hängt hier Drehbuch-Autor Claudius Pläging noch zu sehr in der Vergangenheit seines „Catweazle"? Auf jeden Fall fehlt der verkrampften Komödie eine eigentliche Substanz. Es wird nur um des Dauerstreitens willens dauernd gestritten. Was im amerikanischen Film als Utopie eines Patchwork-Zusammenlebens interessant gemacht wird, ist hier allein kleinbürgerliches Aufeinanderrumhacken.

Dazu ist alles hochgradig unoriginell: Die letzten Überraschungen waren schon zu früh zu ahnen. Damit es noch komplizierter wird, wird eine Halbschwester aus dem Hut gezaubert. Und auch, dass Stephan seinen beim Hinflug verspäteten Koffer pünktlich zur Abreise wieder bekommen würde, wusste man schon nach fünf Minuten. Das viele Reden bringt zumindest ab und zu einen komödiantischen Treffer. Manchmal funkt es im Dialog, etwa wenn Stephan mit Geldsorgen meint, „diese Privatschulen sehen alle aus wie Hogwarts und zaubern einem das Geld aus der Tasche." Deutlich ist „Der Nachnahme" anzumerken, dass die literarische Vorlage fehlt: „Der Vorname" war erst ein Theaterstück, bevor er in Frankreich zum Kinoerfolg und von Sönke Wortmann eingedeutscht wurde. Dem biederen Film-Handwerker der deutschen Regie-Garde fiel auch jetzt wieder nichts Bemerkenswertes ein. Symptomatisch, dass nach (wenigstens) gnädig kurzer Laufzeit niemand eine Idee für einen originellen Abspann hatte. Wir sehen nur Aufnahmen des leeren Hauses und der Innenräume. Das sind die lahmsten „outtakes" in der Filmgeschichte. Und auch der Film hat Chance für Negativ-Hitlisten – trotz der sehr prominenten Darstellerinnen und Darsteller. Es ist nur zu hoffen, dass nicht im Stil der furchtbaren französischen Klamotte um „Monsieur Claude" weitere Folgen drohen.

Lyle - Mein Freund, das Krokodil


USA 2022 (Lyle, Lyle, Crocodile) Regie: Josh Gordon, mit Javier Bardem, Constance Wu, Winslow Fegley, 107 Min., FSK: ab 0

Wie sich der charismatische Magier Hector P. Valenti (Javier Bardem) über den Dienstboten-Eingang in die Talent-Show schleicht, ist eine große Nummer! Doch der eigentliche Zauber-Akt geht kläglich schief, wie scheinbar schon oft vorher. Am Boden zerstört, hört Hector eine tolle Stimme in einer Zoo-Handlung und entdeckt ein kleines singendes und tanzendes Krokodil. Das klaut er umgehend, nimmt es mit nach Hause und träumt von großer Karriere für beide. Aber Lampenfieber lässt das Krokodil erstarren und aus dem Erfolg wird erst mal nichts.

Der Extraklasse-Schauspieler Javier Bardem singt, tanzt und steppt … beim Dreh mit einem unsichtbaren Partner, was seinen Schwung sichtbar nicht bremst. Doch leider will es die Geschichte, dass Bardems nicht besonders vertrauenswürdige Figur für eine Weile verschwindet und damit auch jeder Schwung aus dem Film. Ohne Hector erleben wir, wie Katie (Constance Wu) und Joseph Primm (Scoot McNairy) zusammen mit ihrem Sohn Josh (Winslow Fegley) in die leere Wohnung ziehen. Josh wurde von der übervorsichtigen Mutter zu einem extrem ängstlichen Jungen erzogen, dem auch seine technischen Assistenten nicht in der bedrohlichen neuen Umgebung helfen. Sein Schreck ist besonders groß, als er auf dem Dachboden das lebendige Krokodil Lyle entdeckt. Dabei ist Lyle völlig harmlos und verschluckt nur aus Versehen die dumme Angora-Katze, die ihm ins Maul springt, um sie bald wieder ziemlich durchnässt auszuspucken.

So ist ganz schnell die Angst vorbei und ohne große Überwindung folgt der Junge nächtlich dem Krokodil durch dunkle Gassen der Stadt. Das Containern bei den Restaurants macht Spaß und ignoriert alle Allergie-Vorbehalte der Mutter. Lyle ist das ideale Schreckgespenst für die neurotische Frau, doch einer nach dem anderen werden fast alle Hausbewohner mit einer Gesangsnummer begeistert und zu besseren Menschen. Sogar Familienvater Joseph, der zu viel arbeitet und zu ernst wurde. Lyle bringt ihn dazu, bei Ringkämpfen auf dem Dachboden seine alte Leidenschaft herauszukramen, was ein wenig Slapstick in den müden Film bringt.

Trotzdem bleibt diese Familien-Geschichte lange ohne Schwung und Sehvergnügen. Bis Hector P. Valenti zurückkehrt und erneut das Chaos ausbricht. Vor allem der griesgrämige Nachbar Mr. Grumps (Brett Gelman) aus der Souterrain-Wohnung setzt alles in Bewegung, damit Lyle verschwindet.

„Lyle - Mein Freund, das Krokodil" ist zwar zeitweilig aufwändig und flott gemacht, aber bleibt seltsam, weil die psychologische Entwicklung völlig vernachlässig und auch ansonsten in der Handlung viel rumgeholpert wird. Das Krokodil Lyle ist ein liebenswerter, gutmütiger und immer optimistischer Charakter - kurz: etwas langweilig. Vor allem wenn das beliebte und handgezeichnete Kinderbuch des Autors Bernard Waber maßlos auf Filmlänge gestreckt werden muss. Allerdings kann Lyle nicht sprechen, dafür sehr gut singen. Womit wir beim Grundgesetz des Musicals wären: Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man trällern! Wehmütig denkt man angesichts der schwachen Performance von Lyle an die tanzenden Krokodile aus Disneys „Fantasia" und an die viel lebendigeren Bühnen-Tiere von „Sing".

17.10.22

November (2022)


Frankreich 2022 (Novembre) Regie: Cédric Jimenez, mit Jean Dujardin, Anaïs Demoustier, Sandrine Kimberlain, 107 Min., FSK: ab 12

Am 13. November 2015, als die deutsche Fußballnationalmannschaft im Pariser Stade de France Bombenanschläge in der Innenstadt „überspielt", sterben in Bars, Restaurants und im Club Bataclan 130 Menschen. 683 werden schwer verletzt. „November" zeigt nun die folgenden fünf Tage aus der Perspektive der Einsatzkräfte. Ohne dass die gerade ereigneten Attentate selbst zu sehen sind, verfolgt die Antiterror-Einheit von Héloïse (Sandrine Kiberlain) und Fred (Jean Dujardin) Spuren und vermeintliche Täter. Um solche juristischen Feinheiten, dass für jeden bis zur Verurteilung eine Unschuldsvermutung gilt, kümmert sich „November" als Action-lastiger Film allerdings nicht. In dem dunklen, vor Polizei-Macht strotzenden Werk wird energisch recherchiert und zugegriffen. Falls doch Zweifel aufkommen, wer im Recht ist – es gibt auch erschütternde Befragungen mit überlebenden Opfern im Krankenhaus. Nur ein unsympathischer Waffenhändler darf erwähnen, dass die problematische Integration von Arabischstämmigen vielleicht ein Grund für die Popularität des IS in bestimmten Kreisen ist.

Jean Dujardin („The Artist") spielt mal völlig unironisch den lange Zeit sachlich bleibenden Chef der Einheit. Keine besonders fordernde Rolle, in einem rasant geschnittenen Informationsfeuerwerk, wie es Oliver Stone seit „JFK – Tatort Dallas" auch gerne veranstaltet. Was vorgeblich wie ein neutraler Bericht der resoluten Rache eines Staates erscheint, stellt durchaus eine politische Position dar. Auffällig ist, wie wenig nach Ursachen und Hintergründen gefragt wird. Dabei hatte Oscar-Preisträgerin Kathryn Bigelow im Meisterwerk „Zero Dark Thirty" (mit Jessica Chastain) über die Ergreifung von Osama bin Laden bewiesen, wie differenziert so eine Geschichte gebracht werden kann. Bis zum deftigen Action-Finale, in dem die blinden Maschinengewehrsalven der Einsatzkräfte minutenlang eine Wohnungstür durchlöchern, ersetzt Cédric Jimenez („Bac Nord") in seinem „November" Handlung durch Aktivismus. In den französischen Kinos landete der Film auf Platz 1 der Kino-Charts und erreichte in seiner ersten Kinowoche weit über eine halbe Millionen Besucher.

Anima - Die Kleider meines Vaters


Deutschland 2022, Regie: Uli Decker, 99 Min., FSK: ab 6

Kurz bevor ihr Vater stirbt, erfährt die lesbische Filmemacherin Uli Decker, dass er heimlich gerne Frauenkleider trug. Diese großartige Dokumentation berührt mit zwei sich spiegelnden Schicksalen in der bayrischen Provinz, bei dem beide nichts voneinander wussten, aber sicherlich ahnten, was der und die andere verheimlicht. Auch wenn die Familie meint, es wäre besser, den guten Eindruck zu bewahren, entdeckt die Regisseurin und Tochter nachträglich mit Witz und Mitgefühl das verborgene Leben des Vaters. Dabei gibt es nicht nur alte Fotos und Interviews mit der Ehefrau zu dem sehr überraschenden und spannenden Thema, auch die Zwischenszenen mit kleinen Animationen sind optisch reizvoll gestaltet. „Anima - Die Kleider meines Vaters" ist eine persönliche Dokumentation, die viel über die allgemeine Situation erzählt, in der Franz Josef Strauß den Fernseher dominierte und als „Hilfe" die Einweisung in eine psychiatrische Anstalt drohte, wo „Neigungen kuriert" werden sollten. Eine ungewöhnliche Geschichte, sehr klug beobachtet und einfühlsam erinnert.

11.10.22

Triangle of Sadness

 
Schweden, Deutschland, Frankreich, Dänemark 2022, Regie: Ruben Östlund, mit Harris Dickinson, Charlbi Dean, Woody Harrelson, Iris Berben, Sunnyi Melles, 147 Min., FSK: ab 12
 
Der Cannes-Sieger 2022 „Triangle of Sadness" entführt auf Kreuzfahrt und einsame Insel. Doch statt Traumschiff gibt es Kotz-Orgien im Stil von „Little Britain" und das bitterböse Sezieren gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Regisseur Ruben Östlund, der schon mit „The Square" vor fünf Jahren die Goldene Palme gewann, entwirft ein Triptychon rund um die Models Carl (Harris Dickinson) und Yaya (Charlbi Dean), die sich als Influencer in Sachen Schönheit durchs Leben schlagen. Zuerst in einem Streit zu zweit, dann auf einem Luxusschiff im Sturm und schließlich hilflos gestrandet.
 
In die Welt der Models führt uns ein überkandidelter Reporter, während sich Carl für einen Job vorstellt. Am Abend essen Carl und Yaya zusammen in einem luxuriösen Laden. Obwohl – zusammen? Die Influencerin ist eher mit ihrem Handy beschäftigt und ignoriert sowohl ihren Partner als auch die Rechnung auf dem Tisch zwischen ihnen. Was zu einem heftigen Streit führt, bis sie gesteht, dass es für sie ein weibliches Machtspielchen sei, das Bezahlen zu vermeiden. Auch wenn sie einiges mehr verdient als er.
 
Für eine Reise auf einer Luxusjacht reicht es noch, wie der zweite Teil zeigt. Wir sehen das schöne wie eitle Pärchen, aber auch die Scharen von Angestellten, die sie nach Motivationsgeschrei den ganzen Tag von vorne und hinten bedienen. Ein gefundenes Fressen für Ruben Östlund, der die Klassen-Diskrepanz in vielen bösen Szenen ausspielt. Da ist die aufs Abstellgleis geschobene Ehefrau Vera (großartig: Sunnyi Melles) des schweinisch reichen russischen Düngemittel-Herstellers Dimitry (Zlatko Burić), die meint, auch die Angestellten sollten mal schwimmen. Worauf die Köche, Mechaniker, die Stewardessen und Stewards und die Putzfrauen sich widerwillig anstellen müssen, um einmal ins Meer zu rutschen. Carl, der so für Gerechtigkeit beim Bezahlen kämpfte, sorgt dafür, dass ein griechischer Deckarbeiter vom Schiff gehen muss. Eifersüchtig beschwerte er sich über den nackten Oberkörper des Arbeiters. Der Höhepunkt dieser Konfrontation ist die besoffene Diskussion zwischen Kapitän Thomas Smith (Woody Harrelson) und dem Düngemittel-Russen. Der Kapitän lallt Marx-Zitate über alle Lautsprecher des Schiffes, der Kapitalist antwortet mit Sprüchen von Ronald Reagan. Derweil übergibt sich der Rest des Schiffes während eines aus den Fugen geratenen Captains Dinners mitten im heftigen Sturm.
 
Dass der Kahn schließlich sinkt, liegt aber am Anschlag von einigen Piraten. Es stranden aus der Gruppe der Superreichen Carl, Yaya und der Russe. Dazu Paula (Vicki Berlin), die Domina-Chefin des Kabinen-Personals, und die Putzfrau Abigail (Dolly De Leon). Blöderweise ist sie die Einzige, die Fischen und Feuermachen kann, was die Machtverhältnisse radikal verkehrt. Auch der Wert der Schönheit wird hier reduziert auf eine Packung Salzstangen, die Carl dafür bekommt, dass er die Nacht mit Abigail verbringt.
 
Der neue soziologische Analyse-Spaß des Schweden Ruben Östlund unterhält durchgehend mit scharfer Bloßstellung von gesellschaftlicher Ungerechtigkeit und der gnadenlosen Demaskierung des feinen Scheins. Nicht zufällig und wie schon beim Vorgänger „The Square" spiegeln feierliche Essen und Empfänge den Zustand der Gesellschaft. Damals sorgte ein Schauspieler, der seine Affenrolle extrem ins Animalische ausspielte, für beklemmende Situationen. Nun sorgt heftiger Wellengang für ein allgemeines Übergeben und die Meeresfrüchte für immensen Durchfall. Purer Slapstick der fäkalen Sorte, passend zum Russen, der damit prahlt, dass er durch Fäkalien reich geworden ist.
 
Spätestens auf der Insel ist Östlunds Analyse-Besteck feiner: Die Gesichtsausdrücke der Mächtigen, die mal schnell, mal langsamer erkennen, dass sie nun machtlos sind, amüsieren jeden Linken köstlich. Abigail selbst hat im Finale den eindringlichsten Moment, der die grausame Kluft zwischen Reichen und Dienerschaft zu einer schwergewichtigen Entscheidung bringt. Iris Berben wird mit ihrer Rolle einer reichen Schlaganfall-Patientin, die nur noch „In den Wolken" sagen kann, eher vom Film mitgeschleppt, bekommt aber einen großen Moment im Schluss-Gag. Charlbi Dean, die Darstellerin der Yaya, ist am 29. August nur 32-jährig verstorben. Zum Dreh sagte sie: „Ich fühle mich so sehr mit der gesamten Besetzung und Crew verbunden – es sind Freunde geworden, die ich für immer haben werde."

10.10.22

Der Passfälscher


Deutschland, Luxemburg 2021, Regie: Maggie Peren, mit Louis Hofmann, Jonathan Berlin, Luna Wedler, 116 Min., FSK: ab 6

„Das hat schon seine Richtigkeit, dass ihr dann euresgleichen weggeräumt!" bekommt der Jude Cioma Schönhaus (Louis Hofmann) von der linientreuen Hausmeisterin zu hören, als er die Leichen von Nachbarn, die sich mit Ofengasen umgebracht haben, in den Keller bringen soll. Das ist dann aber auch einer der wenigen schockierenden Momente in den Lebenserinnerungen von Schönhaus (1922-2015), der mit einer erschreckenden Leichtigkeit und enormem Optimismus den antisemitischen Terror der Nazi überlebte.

Cioma Schönhaus ist „Der Passfälscher" keineswegs aus politischer Überzeugung oder aus einem Widerstandsgeist. Der junge Grafiker fälscht 1942 Kennkarten, um sein gutes Leben ohne Judenstern weiterführen zu können. Zusammen mit seinem besten Freund Det (Jonathan Berlin) verkauft er die Wertsachen aus der Wohnung seiner Eltern, die bereits deportiert wurden. Zwar verschließt ein hinkender Nazi-Bürokrat alles hinter Siegeln, doch Cioma schert so was nicht. Die Marktweiber, welche die Freunde mit Lebensmitteln versorgen, beschenkt er mit ganzen Stoffballen. Die kriegswichtige Arbeit, die ihn vor dem Abtransport schützt, erledigt er mehr schlecht als recht. Begeistert begibt er sich auf Feiern und geht regelmäßig ausessen. Auch schon mal zusammen mit Det in geborgten Marine-Uniformen. Dabei lernt er Gerda (Luna Wedler) kennen und lieben. Auch eine Jüdin, die sich auch mit geborgter Identität unter die Nazis mischt. Allerdings nur aus purer Not für Lebensmittelkarten. Ansonsten kann sie nichts mit dem Leichtsinn Ciomas anfangen. Er begibt sich mitten ins Leben und unter Menschen, weil seiner Ansicht nach die besten Verstecke dort sind, wo alle hinsehen! Cioma nennt es Mimikry, wird aber vom Auftraggeber der Fälschungen, einem Widerstandskämpfer, welcher später der Gestapo in die Hände fällt, zurechtgestutzt.

Basierend auf Schönhausens autobiografischen Bericht „Der Passfälscher" hat Autorin und Regisseurin Maggie Peren („Die Farbe des Ozeans", „Stellungswechsel", „Napola – Elite für den Führer") einen erstaunlichen Geschichtsfilm inszeniert. In einem zentralen Dialog mit einem älteren Fälscher meint dieser: „Ich glaube, sie unterschätzen die Welt da draußen und sie übersetzen ihre Rolle darin." Ciomas typisch freche Antwort lautet: „Ich glaube, ich schätze die Welt zu sehr, um nicht eine Rolle darin einzunehmen." Der junge Schauspieler Louis Hofmann („Dark" „Unter dem Sand", „Freistatt") macht diesen jüdischen Hochstapler in der Tradition von Felix Krull mit seinem unglaublichen Einfallsreichtum, Charme und einer gehörigen Portion Chuzpe glaubhaft. Als der Täuscher, der immer mit einem ramponierten Badeausweis unterwegs ist, doch mal in der Klemme steckt, nimmt er dreist den faschistischen Kommandoton an und meistert auch diese Notsituation. So wie vielleicht seine Wahrnehmung, versucht der Film, grausame Realitäten weitgehend auszublenden. Da dies nicht gelingen kann, ist auch „Der Passfälscher" bei aller Scharlatanerie eindringlich erschreckend. Eine erstaunliche (Lebens-) Geschichte in angemessener filmischer Umsetzung. Der wahre Schrecken wird in Textzeilen vor dem Abspann nachgereicht.

Belleville. Belle et Rebelle


Deutschland, Frankreich 2022, Regie: Daniela Abke, 98 Min., FSK: ohne Angaben

Der wunderbare Dokumentarfilm „Belleville. Belle et Rebelle" porträtiert das Belleville, Pariser Einwandererviertel par excellence, durch seine Menschen und seine Geschichte. Alles dreht sich um das „Bistro chantant" namens „Le vieux Belleville", in dem abends die Gäste zusammen mit den Künstlern populäre Chanson singen. Den Führer durch Viertel und Film macht der alte Baske und Revolutionär Lucio, ein Charakter und geborener Geschichtenerzähler. Bei einem Besuch am Grab des Kommunarden Eugene Pottier auf Père-Lachaise singt Lucio das Liebeslied „Le Temps des Cerises" (Die Zeit der Kirschen) von J.B. Clément. Gleichzeitig fragt er sich, wieso die Franzosen heute so reaktionär und so gleichgültig geworden sind. Wie in dieser rührenden Szene dreht sich im schwarzweißen „Belleville" alles um Geschichten und Geschichte. Die meisten Häuser hier und in anderen Pariser Vierteln sind von Ausländern gebaut worden. Ein alter Maler dokumentiert die Wandlung des Viertels und die Veränderungen. Über Fotografien schwelgt Cafébesitzer und Chronist Joseph in Erinnerungen. Die Dokumente zeigen altes Leben und die einschneidenden Zerstörungen durch Neubauten. Die Fotos stammen von Robert Bober, Regieassistent von Truffaut, Schriftsteller, Fotograf und Filmemacher. Und in der Dokumentation dokumentiert alles noch einmal der schottische Bistro- und Wandmaler Steven.

Dabei ist „Belleville. Belle et Rebelle" kein gefälliger Liederzyklus, denn erst nach über 20 Minuten erklingt das erste Lied im Café. Trotzdem gefällt und begeistert er mit der Kunst des guten Dokumentarfilms, nämlich interessante Menschen zu finden und sie dann einfach zu zeigen. Dieser außergewöhnliche Film bietet dazu einen Querschnitt durch das Viertel mit enormer Breite und Tiefe. Und selbst als es darum geht, eine ETA-Aktivistin zu unterstützen, gibt es noch ein Lied dazu. So kann man „Belleville" viel lebendige und aktive Nostalgie bescheinigen, was kein Widerspruch, sondern ein besonderer Reiz ist.

Meine Chaosfee & Ich


Deutschland, Luxemburg 2022, Regie: Caroline Origer, 79 Min., FSK: ab 12

Die kleine, freche Zahnfee Violetta hat ihre Prüfung vergeigt, will aber trotzdem ihr Können in der Menschenwelt beweisen. Das sorgt für Chaos in der Feenwelt und beim zwölfjährigen Mädchen Maxi. Die ist gerade in die graue, stinkige Großstadt gezogen und will wieder aufs Land. Zudem gefällt ihr die neue Patchwork-Familie mit den beiden Jungs vom Öko-Freund der Mutter gar nicht. So verbünden sich die verpeilte Zahnfee und das unglückliche Kind für ein Abenteuer, das Violetta und Maxi wieder nach Hause bringen soll.

Der kunterbunte Animationsfilm für kleine Kinofans bringt in seiner dichten Handlung eine Menge bekannter Themen auf die Leinwand: Die Heldinnen-Reise einer dreisten Zahnfee, die Verlorenheit in einer frischen Patchwork-Familie und der ökologische Kampf gegen einen Immobilien-Spekulanten. Auch wenn die Niedlichkeit der Fee eher Kinderkram für die Mädchen sein mag, die schon alles verstehen – die Mischung funktioniert, die Figuren sind sympathisch und die Animation geriet detailreich sowie sorgfältig.

4.10.22

Mona Lisa and the Blood Moon


USA 2021, Regie: Ana Lily Amirpour, mit Jun Jong Seo, Kate Hudson, Craig Robinson, 107 Min., FSK: ab 16

Gerade in einer Blutmondnacht aus jahrelanger Lethargie erwacht, irrt die junge Mona Lisa Lee (Jeon Jong-seo) durch die Straßen von New Orleans und zwingt jeden, der sie stoppen will, mit purer Geisteskraft, sich selbst zu verletzen. Als sie die Stripperin Bonnie (Kate Hudson) trifft, erkennt die sofort die Möglichkeiten und nutzt Mona Lisa rücksichtslos für Rache und Räubereien aus. Mit Bonnies zehnjährigem Sohn Charlie entwickelt das Mädchen jedoch eine besondere Freundschaft. Allerdings ist der Polizist Officer Harold (Craig Robinson), der sich wegen ihr ins Bein schoss, humpelnd hinter ihr her.

Die amerikanisch-iranische Regisseurin Ana Lily Amirpour begeisterte schon 2015 mit dem Vampirfilm „A Girl Walks Home Alone at Night". „Mona Lisa and the Blood Moon" ist nun ein irrer Trip voller Inszenierungslust, in dem das ehemalige Film-„Schätzchen" Kate Hudson („Almost Famous") grandios trashig und egozentrisch agieren darf. Augenschmaus wie ein neonbeleuchteter Eckladen mit einem unglaublichen Nachthimmel darüber, wird ergänzt von einem mitreißenden Techno-Soundtrack.

The Woman King


USA 2022, Regie: Gina Prince-Bythewood, mit Viola Davis, Thuso Mbedu, Lashana Lynch, 144 Min., FSK: ab 12

In der Tradition von „Gladiator" und „Braveheart" erzählt dieses Hollywood-Spektakel von einem großen Befreiungskampf. Jedoch mit anderen Vorzeichen: Die Heldinnen sind westafrikanische Amazonen, die sich selbst vom Fluch des Sklavenhandels befreien. Alle Diversitäts-Häkchen sind gesetzt und die Unterhaltung stimmt auch bei Gina Prince-Bythewoods erstem Ausflug ins Action-Genre. Oscar-Gewinnerin Viola Davis („Ma Rainey's Black Bottom", „Fences", „How to Get Away with Murder") teilt sich die Hauptrolle mit der jungen und ebenbürtigen Thuso Mbedu („The Underground Railroad").

Im westafrikanischen Königreich von Dahomey verteidigen die Agojie Freiheit und Marktwege. Sie sind eine rein weibliche Einheiten von Kriegerinnen mit bemerkenswerten Kampfkünsten. Im heftigen Gemetzel der Eröffnungsszene werden ahnungslose Männer in der Nacht von Generalin Nanisca (Viola Davis) und ihren Kämpferinnen überfallen. Sie wollen einige der ihren befreien und schlachten dabei alle Männer des Dorfes ab. Die Heimkehr ist ein Triumphzug – mit umgedrehten Geschlechterrollen: Männer und kleine Jungs dürfen den Clan der Kämpferinnen und ihre Generalin nicht anschauen! Der Sieg fordert aber auch Opfer in Naniscas Truppe und sie beschließt, eine neue Generation auszubilden.

Zeit für den Auftritt der zweiten Hauptfigur mit einer kleineren, mehr persönlichen Geschichte: Die junge Nawi (Thuso Mbedu) schubst ihren arrangierten Ehemann weg, nachdem der sie geschlagen hat. Ihr Vater bietet sie deshalb als Geschenk an den König an, doch Naniscas rechte Hand Amenza (Sheila Atim) bringt sie als Lehrling zu den Kämpferinnen. Dort fällt Nawi vor allem als Trotzkopf auf, zeigt aber auch einiges Talent an den Waffen. Die alte Geschichte von dem jungen Rebellen, der sich nicht an die Regeln hält und damit die seinen rettet, gibt es diesmal mit einer Rebellin. Später reibt sich Nawi vor allem an einer Regel der Agojie: Sie leben im Zölibat - keine Männer, keine Kinder. Trotzdem fällt sie Nanisca auf, lange bevor beide eine ganz andere Verbindung entdecken.

In der großen Handlungslinie will Nanisca den jungen König Ghezo (John Boyega) überzeugen, aus dem Kreislaufhandel mit Sklaven und portugiesischen Waffen auszusteigen. Denn das Königreich von Dahomey zahlt mit Menschen Tribut an einen arabischen Stamm, der wiederum in ihrer Küstenfestung mit den Portugiesen handelt. Um die Handlung kräftig mit Gefühl aufzupeppen (Buch: Dana Stevens und Story von Schauspielerin Maria Bello, „Navy CIS"), taucht noch ein portugiesisches Halbblut auf, der seine Wurzeln im Dorf der Nanisca sucht und zusammen mit Nawi Liebe findet. Deren Vorgeschichte als adoptiertes Waisenkind liefert weitere Substanz für Überraschungen und Emotionen.

Gina Prince-Bythewood („Die Bienenhüterin") selbst nannte „Gladiator", „Der letzte Mohikaner" und „Braveheart" als Inspiration für ihren neuesten Film. Der ist schon erstaunlich, weil die Regisseurin bislang hauptsächlich Liebesfilme drehte. Liebesfilme mit schwarzen Frauen im Zentrum, die sich befreiten und entwickelten. Die erste Ausnahme war jedoch 2020 die Netflix-Produktion „The Old Guard" über eine Gruppe Unsterblicher, welche die junge Nile (Kiki Layne) aufnehmen. „The Woman King" überträgt nun das Heldenepos und den Befreiungskampf eines Volkes in einen anderen Kulturbereich. Einer, der nicht nur filmisch „unterbelichtet" ist.

Als ob „The Woman King" möglichst viel auf einmal aufholen will, zieht der Film alle Register mit einer wiedergefundenen Waise und einer Mutter, die einst ihr Baby weggab. In dies emotionale Setting ist das große historische Thema eingebaut, nicht mehr die gefangenen Feinde als Sklaven zu verkaufen, sondern mit den anderen Reichtümern des Landes zu florieren. Dies Plädoyer Naniscas aus dem Jahr 1820 ist selbstverständlich auch das Argument aktueller Diskussionen, den Ausverkauf der afrikanischen Rohstoffe zu beenden. Mit der Liebesgeschichte über die Grenzen der Völker hinweg, hat „The Woman King" fast zu viel Material. Und erinnert an sehr kitschige Filme des alten Hollywood. An große und gelungene Filme Hollywoods.

Bei allem Gelungenen leidet der Film wieder enorm unter einer geradezu idiotischen Konzeptionsidee: Die meisten der Figuren sprechen ein Englisch mit irgendwie „afrikanischem" Dialekt. Dabei ist klar, dass die Bevölkerung dort ihre Sprache durchaus ohne Dialekt beherrscht. Diese Sprachverfremdung verdummt den Eindruck der Protagonistinnen auf unverschämte Weise.