30.7.22

Warten auf Bojangles


Frankreich, Belgien 2021 (En attendant Bojangles) Regie: Régis Roinsard, mit Virginie Efira, Romain Duris, Grégory Gadebois, 125 Min., FSK: ab 12

Der Beginn dieser Liebe ist wie im Film: Er tischt auf einem Empfang für erfolgreiche Unternehmer in den 50er Jahren an der Cote d' Azur gleich mehrere Lügen-Geschichten in verschiedenen Dialekten auf. Unter anderem gibt er sich als rumänischer Nachfahre von Dracula und als Sohn eines Detroiter Automobilgiganten aus. Sie tanzt derweil gedankenverloren für sich allein, bis sie seine Einladung zu Flirt annimmt - weil seine Frisur der eines preußischen Generals auf einem Gemälde bei ihr zu Hause ähnelt! Als er schließlich auffliegt, stürzt sie sich ins Meer und er hinterher.

Die gemeinsame Flucht endet auf dem Traualtar, für eine Heirat und die folgende Liebesnacht. Doch Camille (Virginie Efira) weiß, dass Männer schnell den Spaß an ihren Kapriolen verlieren. Georges (Romain Duris) braucht sein unwiderstehlich charmantes Lächeln und das Blitzen seiner Augen, um die verrückte Frau zu einer Beziehung zu überzeugen.

Jahre später haben Camille und George einen Sohn, leben aber immer noch völlig ungebunden vom Gewöhnlichen. Für dies Familienleben wird der junge Gary (Solan Machado-Graner) schon mal in der Schule verprügelt: Seine Mitschüler halten ihn für ein Lügner und Angeber, wenn er von seinem afrikanischen Reiher „Mademoiselle Redundanz" und vom Berg ungeöffneter Briefe erzählt. Die Fouquets feiern lieber Partys, als die Miete zu bezahlen. Aber die Vermieterin tanzt letztendlich auch mit.

Nach exakt der Hälfte des Films können der große und der kleine Mann der exzentrischen Camille nicht mehr verhindern, dass alles in eine Tragödie umkippt und die manisch-depressive Frau in eine monströse psychiatrische Einrichtung eingewiesen wird. Wieder hilft allein eine weitere Flucht aus der Realität: Gemäß der französischen Redensart für Luftschlösser, „ein Schloss in Spanien", flieht die Familie nach Spanien und veranstaltet ein rauschendes Flamenco-Fest zur Heilung.

„Warten auf Bojangles" weigert sich durchgehend, Krankengeschichte zu sein, und feiert das rauschende Film-Fest eines verrückten Lebens jenseits der bürgerlichen Regeln. Wie Camille einmal sagt: „Wenn die Realität banal und trist ist, erfinde dann eine schöne Geschichte für mich!" Es gibt in dem lustvoll gespielten und reich historisch ausgestatteten wie kostümierten Film einige Momente des „Das geht doch gar nicht!" Den Sohn betrunken machen, bevor die Mutter zusammen aus der Psychiatrie entführt wird? Heimunterricht bei zwei selbst keineswegs erwachsenen Eltern? Aber der Einspruch würde den Spaß an dieser schönen Tragikomödie verderben.

Auch wenn auf den Plakaten Schauspielstar Virginie Efira („Benedetta", „Ein Becken voller Männer") oben steht, die alle Gefühlslagen sehr eindringlich spielt, „Warten auf Bojangles" ist ihrem Partner Romain Duris („Eiffel in Love", „Beziehungsweise New York") wie auf den Leib geschrieben. Er wurde 1997 als „Gadjo Dilo - Geliebter Fremder" in Tony Gatlifs Musikfilm bekannt und neben seiner Reifung in der Filmreihe zu „L'auberge espagnole" (2002) glänzte er in Michel Gondrys „Der Schaum der Tage" (2013) nach Boris Vians tieftraurigem Roman. Auch stilistisch ähnelt der Film um den eigentlich herzzerreißenden Titelsong „Mr. Bojangles" dem depressiven Klassiker. Bis zum Ende sich alles in Tränen und Wasser auflöst.

Nicht ganz koscher - Eine göttliche Komödie


Deutschland 2022 (No Name Restaurant) Regie: Stefan Sarazin, Peter Keller, mit Luzer Twersky, Haitham Omari, 122 Min., FSK: ab 6

Gerade von seiner orthodox jüdischen Familie zum Verkuppeln nach Jerusalem geschickt, bricht Ben (Luzer Twersky) nach wenigen Minuten wieder zum ägyptischen Alexandria auf, um die einst größte jüdische Gemeinde der Welt zu retten. Dieser fehlt der 10. Mann für das Pessachfest und ein Polizei-Chef freut sich schon, gemäß alter Vereinbarungen den gesamten Besitz zu übernehmen. Der ziellose Ben verpasst den Flug und startet eine Odyssee durch die Wüste, in der zuerst Araber im Bus abstimmen, ob sie einen Orthodoxen mitnehmen. Später liest der wortkarge Beduine Adel (Haitham Omari) den Gestrandeten auf. Eine erst entspannte Suche nach einem entlaufenen Kamel wird existenziell, als sie drohen, in der Wüste zu ertrinken.

Überraschend frisch lässt die Komödie „Nicht ganz koscher" erst zwei, dann drei Religionen miteinander agieren. Zwischen Ben und Adel gibt es keine großen Differenzen und sie lernen sich auf ihrer Reise besser kennen. Ziel ist das utopische „No Name Restaurant" des englischen Titels, die Weisheit der Ringparabel und der gemeinsame Genuss verwandter Speisen, wie schon in Tom Robbins' Roman „Salomes siebter Schleier".

Busters Welt


Dänemark 2021 (Buster: Oregon Mortensen) Regie: Martin Miehe-Renard, mit Manfred Weber Cortzen, Magnus Millang, Ibi Støving, 92 Min., FSK: ab 0 

Buster ist elfjähriger, optimistischer Junge, der davon träumt, Meister-Magier zu werden. Völlig gegen den Trend, denn der einen Kopf größere Bully Simon-Olaf aus seiner Klasse begeistert selbst die Lehrerin mit seinen modernen Tanzeinlagen. Doch Buster lernt weiter mit dem alten, kranken Herrn Larsen, dem er jeden Abend dessen Essen ans Bett bringt. Mit seinen Tricks will das fröhliche, raffinierte Kerlchen nicht nur den Hauptpreis eines Wettbewerbs und damit einen Urlaub für die von der Arbeitslosigkeit des Vaters getroffene Familie verdienen. Auch das Herz der neuen Nachbarin Ingeborg will er gewinnen.

Das klingt dramatischer, als der sehr sympathische Kinderfilm „Busters Welt" lange ist. Jahrzehnte nach dem in Dänemark ungemein beliebten Kinderbuch „Busters verden" von Bjarne Reuter aus dem Jahr 1979 und Bille Augusts alter Verfilmung „Buster, der Zauberer" sowie dessen Kinderfernsehserie gibt es jetzt in moderner Umgebung altmodische Werte und liebevolle Menschen, die einander helfen.

Poster Busters Welt

26.7.22

Hatching


Finnland, Schweden 2022 (Pahanhautoja) Regie: Hanna Bergholm, mit Siiri Solalinna, Sophia Heikkilä, Jani Volanen, 90 Min., FSK: ab 16

Die perfekte Familie im perfekten Musterhaus für Instagram zeigt sich schaurig kalt, als eine Krähe erst ins Fenster und dann in den Glastisch stürzt. Mutter bricht dem Vogel vor den Kindern das Genick, nur verhüllt von einem Tuch. Doch am nächsten Tag hört die 12-jährige Tinja das Schreien des verletzten Tieres im Wald und findet neben ihm ein Vogelei. Das nimmt sie mit nach Hause, wo es riesig wächst und ein Monster entschlüpfen lässt, das Tinja immer ähnlicher wird. Es scheint nicht nur die personifizierte Unsicherheit des Mädchens in einer völlig kaputten Familie zu sein, es nimmt auch grausam Rache an störenden Mitmenschen.

Hanna Bergholm gestaltet ihren Mädchen-Horror mit einer fast niedlichen Kreatur, die an Skekse aus „Der dunkle Kristall" erinnert. Schaurig eher die Familie in Pastellfarben wie die Uniformen eines Kultes. Mit Bulimie und Blutflecken im Bett lässt sich der eher interessante als schreckliche Film leicht als Coming-of-Age einer jungen Frau lesen.

Der perfekte Chef


Spanien 2021 (El Buen Patrón) Regie: Fernando León de Aranoa, mit Javier Bardem, Manolo Solo, Almudena Amor, 120 Min., FSK: ab 12

In der Villa des Firmen-Chefs Julio Blanco (Javier Bardem) sticht an der Trophäenwand ein leerer Fleck deutlich beleuchtet hervor. Den „Oscar der Waagen" hat der joviale Patriarch der Waagen-Firma schon. Nun soll diese Woche die nächste Auszeichnung folgen: der Preis der Regierung für exzellente Unternehmensführung. Der nicht nur Ehre, sondern auch weitere Förderung der Region einbringt. Leider kommt ausgerechnet in dieser Woche die ausgewogene Harmonie in der Unternehmensführung, auf die Blanco so viel Wert legt, aus der Balance. Ein entlassener Mitarbeiter protestiert einfallsreich, der alte Abteilungs-Chef dreht langsam durch, die neue Praktikantin spielt ihr eigenes erotisches Spiel. Und auch Blanco selbst hilft mit, damit alles schiefgeht.

Bei seiner dritten Zusammenarbeit mit Javier Bardem, macht Regisseur Fernando León de Aranoa in einer neuen gesellschafts-politischen Satire direkt die Scheinheiligkeit seines Helden klar: Während der huldvollen Aufmunterungsrede an die Belegschaft („eine große Familie") mit rührenden Floskeln liegt das wahre Gefühl im Nebenraum, wo ein entlassener Büroarbeiter mit seinen jammernden Kindern für Drama sorgt. Das Tränchen, das Blanco bei der Übergabe von Schmuck für Praktikantinnen zerdrückt, lässt sich so als Schmierentheater erahnen.

Eine Weile kann der Mann im biederen Anzug seine Sorgen und die seiner Mitarbeiter noch jonglierend in der Luft halten. Der deprimierte Produktionsleiter und Freund aus der Jugend verpennt ganze Lieferungen, weil zuhause seine Frau „mehr Luft" will. Dass dieser typisch bigott reagiert, also als eifersüchtiger Mann, der selbst eine Affäre hatte, erfahren wir mit Blanco erst später. Ebenso komisch ist die Entdeckung, wer der Nebenbuhler ist.

Das Kunststück von „Der perfekte Chef" liegt im beiläufigen Ton – sowohl der demaskierenden Anklage als auch des Humors. Plakativ ist hier nur der entlassene Angestellte, der gegenüber der Fabrik kampiert und Blanco mit seinen Parolen langsam zur Verzweiflung treibt. Der Pförtner – noch so eine wunderbare Figur in der Tradition von Blake Edwards - sympathisiert heimlich mit dem Protestierenden und schreibt sogar Slogans für ihn. Der Film ist voller kleiner Entscheidungen und ihrer Folgen: Selbstverständlich darf der widerspenstige Demonstrant, der sich längst nicht mehr kaufen lässt, nicht die Firmen-Toilette benutzen, entscheidet der Chef! Bis eine Schale der Werbe-Waage am Portal, die nie ganz ins Gleichgewicht zu bekommen war, mit Kot gefüllt ist und Blanco hineingreift.

Es ist köstlich, wie der Pate des Kapitalismus gönnerhaft einem alten Dreher seines Betriebes hilft und dabei vielfach als freundlich grinsender Elefant im moralischen Porzellanladen agiert: Zuerst holt er den Sohn des Drehers aus dem Gefängnis, nachdem der mit seinen Kumpels nordafrikanische Einwanderer brutal zusammengeschlagen hat. Die „zweite Chance" für den tumben rechten Schläger soll der dann vor dem exklusiven Modeladen von Blancos Frau bekommen. Ziemlich geschäftsschädigend, aber wegen des erwarteten Prüfungskomitees kann Blanco so einen nicht in der eigenen Firma gebrauchen. Später wird er einen Schläger gebrauchen können. Und der alte Dreher hat auch am Sonntag noch im Garten der Blancos gearbeitet ... denn wir sind alle eine große Familie! Die Amoralität des Chefs zeigt sich in einem grandios bitteren Finale, wenn Blanco seine Mitarbeiter den Regierungsvertretern vorführt, während in unseren Köpfen ihre Schicksale ablaufen. Mittlerweile ist er selbst Opfer seiner Ränkespiele.

Regisseur Fernando León de Aranoa, der an „komplexes und künstlerisch ambitioniertes Kino" glaubt, sieht seinen neuen Film als Gegenentwurf zu „Montags in der Sonne" („Los lunes al sol"), der sich mit dem Thema der Arbeitslosigkeit beschäftigte. Javier Bardem stand schon 2002 bei diesem Film von de Aranoa vor der Kamera und gewann damit, neben anderen Auszeichnungen, einen Goya Award als Bester Darsteller. 2017 folgte eine neue Zusammenarbeit „Loving Pablo". Seine schauspielerische Leistung als Drogenbaron Pablo Escobar bescherte Bardem den Publikumspreis beim Premios Platino del Cine Iberoamericano Festival sowie eine Goya-Nominierung als Bester Darsteller. Nun beweist er sein schauspielerisches und komödiantisches Können mit feinen Tönen. „Der perfekte Chef" war Spaniens Oscarvorschlag 2021 und wurde bei den Goyas mit insgesamt sechs Preisen ausgezeichnet, unter anderem als Bester Film, für die Beste Regie und den Besten Hauptdarsteller.

 

The Survivor


Kanada, Ungarn, USA 2021, Regie: Barry Levinson, mit Ben Foster, Vicky Krieps, Billy Magnussen, Peter Sarsgaard, 128 Min., FSK: ab 12

Beim Aufwärmen schlägt sich der mäßig erfolgreiche Boxer Harry Haft (Ben Foster) aus New York selber ins Gesicht. Im Ring lösen die Schläge des Gegners Erinnerungen an noch brutalere Kämpfe und Verletzungen aus: Der polnische Jude warf nach seiner Deportation im Konzentrationslager Auschwitz Leichen ins Feuer. Bis der SS-Offizier Schneider (Billy Magnussen) sah, wie er seinen Bruder Peretz (Saro Emirze) mit den Fäusten verteidigte und Harry zu „seinem Juden" machte, der in Schaukämpfen für ihn Geld verdiente. Die „Herrenmenschen" lassen zur Unterhaltung Juden im Ring gegeneinander kämpfen, wobei der Verlierer erschossen wird.

Nun, nach viel mehr schrecklichen Erlebnissen, kämpft Harry weiter und erzählt seine Geschichte dem Journalisten Emory Anderson (Peter Sarsgaard), weil er immer noch hofft, seine Liebe Leah (Dar Zuzovsky) wiederzufinden, die vor ihm ins Lager transportiert wurde. Deshalb will er auch gegen den großen Rocky Marciano (Anthony Molinari) kämpfen.

Nach der Biografie „Harry Haft" aus der Feder des Sohnes Alan Scott Haft erzählt dieser Film seine erschütternde Geschichte recht konventionell mit Gegenwartsszenen und Rückblenden. Dabei endet das Drama nicht mit Harrys erfolgreicher Flucht und dem Kampf gegen den legendären Rocky Marciano. Der folgende Alltag der Ehe mit Miriam Wofsoniker (Vicky Krieps) ist geprägt von den Traumata des Holocaust-Überlebenden. Seinen Sohn zwingt er zum Boxen und verachtet den Religionsunterricht. Zeigte doch eine der eindrucksvollsten Szenen, wie Harry nach einem Kampf ohne rituelle Kopfbedeckung durch einen Gottesdienst in den Baracken geht - den Glauben an Gott hat er verloren. Überhaupt sind die schauerlichen Aufnahmen der KZ-Kämpfe in Schwarzweiß besonders stark, die das Opfer zu einem Monster aus dunklen und hellen Flecken machen. So wie der Journalist meinte, dass sich alle Biografien aus hellen und dunklen Episoden zusammensetzen. Das Weiterleben des Überlebenden im quälenden Familienleben ist eine andere Seite, die dem Sohn und Autoren Alan Scott Haft besonders wichtig war, um Verschlossenheit und Stimmungen des Vaters zu verstehen.

Die Magnetische


Deutschland, Frankreich 2021 (Les Magnétiques) Regie: Vincent Maël Cardona, mit Thimotée Robart, Marie Colomb, Joseph Olivennes, 98 Min., FSK: ab 16

Anfang der 1980er Jahre betreiben Jerôme (Joseph Olivennes) und sein introvertierter Bruder Philippe (Thimotée Robart) auf einem Dachboden in der Provinz Frankreichs einen Piratensender. Der Sänger der Joy Division Ian Curtis ist gerade gestorben und François Mitterrand wird zum Präsidenten gewählt. Die Zeitstimmung zwischen Restriktionen von schlagendem Vater und Wehrdienst einerseits sowie Rebellion mit langen Haaren fängt „Die Magnetischen" enorm stilsicher ein. Als der stille Rebell Philippe, der die Alpha-Männchen als dumm verachtet, frischverliebt zur Armee muss, bricht für ihn eine Welt zusammen. Doch in Berlin wächst der geniale Sound-Mixer, der seiner Zeit weit voraus ist, über sich hinaus. Er entdeckt versteckte Audio-Botschaften von seiner großen Liebe Marianne (Marie Colomb) auf ihren Kassetten, während er mit dem Walkman allein in der Kantine tanzt. Die Antwort geht über die Ätherwellen des britischen Soldatensenders BFBS – atemberaubend, was Philippe im Studio mit improvisierten Mitteln an Audiokunst hinlegt. Doch in der Provinz bahnt sich eine Katastrophe an. Genial inszenierter Liebesfilm mit den Songs von Joy Division, The Undertones, Iggy Pop, Gang of Four oder Front 242.

DC League of Super-Pets


USA 2022, Regie: Jared Stern, Sam Levine, 100 Min., FSK: ab 6

DC-Comic, der schwachbrüstige Konkurrent von Marvel, versucht nun, mit einer unschlagbaren und unschlagbar blöden Idee bei den kleinsten Kinogängern etwas Revier zurückzugewinnen: Die Tiere der Superhelden müssen ihre Herrchen und Frauchen vor dem missratenen Laborexperiment des Superschurken Luthor retten. Ein genmanipulierter Hamster hat Superman, Batman, Wonder Woman, Aquaman und den Rest der Justice League gefangen genommen.

Es beginnt mit Krypto, dem Hund, der Supermann schon beim Rettungsflug von Krypton auf die Erde als Welpe begleitete. Dieser Hund mit Brille trägt ein rotes Cape und kann selbstverständlich fliegen. Er hat Röntgenblick und nur gemeinsam können sie die Lücke zwischen den Metro-Schienen schließen, um wieder mal einen Pendler-Zug zu retten. Zusammen machen sie die Verbrecherwelt unsicher. Zwischendurch klaut Krypto Hot Dogs. Witzig vielleicht, dass die kleine Quietschfigur, mit der Krypto spielt, einen Batman darstellt. Stöckchen holen macht er mit einem ganzen Baum. „DC League of Super-Pets" ist Kinderzeichentrick mit Scherzen für die ganz Kleinen und die ganz simplen Gemüter. 

Nach viel zu langer Einleitung erhalten einige traurige, vergessene Tiere spezielle Superkräfte von einem orangenen Weltall-Kristall auf Abwegen. Unter ihnen ist der genmanipulierte Hamster Lulu, die Mini-Version des wahnsinnigen Wissenschaftlers und Schurken Luthor. Die nebenbei glaubt, sie sei Luthors Liebling. Während Feldhamster Lulu ihren raffinierten Rachefeldzug startet, entdecken die anderen Tierchen ihre jeweilige witzige Superkraft: Eine Schildkröte ist rasend schnell, aber immer noch halb blind und flirtet deshalb mit einem Bauarbeiter-Helm. Ein Schwein wird unkontrolliert abwechselnd riesig oder winzig. Das Eichhörnchen setzt die Umgebung unter Strom. Bevor sie aber dem ebenfalls geschwächten Krypto zur Hilfe eilen können, muss jeder der haarigen Helden seine Angst überwinden, um die Superkräfte sinnvoll nutzen zu können. Nach einer ersten Niederlage sammelt sich die „League of Super-Pets", leckt sich die Wunden, erzählt Geschichten von früher und macht sich mit dem Song „Final Countdown" fit für die entscheidende Klopperei. Einer wertvollen Lehre für die Kleinen: Am Ende wird man sich immer prügeln müssen! Diesmal gegen einen Hamster!

Was soll man zu einem erschreckend nichtssagenden Film wie „DC League of Super-Pets" sagen? Die Kinder von Superhelden hatten wir schon, nun also die Tiere von Superhelden. Was kommt danach? Die Autos von Superhelden wären auch noch eine „tolle Idee", so irgendwie als „Transformers". Dann die Pflanzen, vielleicht auch noch die Hobbywerkzeuge oder die Fernbedienungen. Hollywood hört ja nie auf, keine neuen Ideen zu haben. Im Vergleich zur Konkurrenz vom tierischen Spaß „Pets" ist das hier ein hinkender und flügellahmer Abklatsch mit der Hauptfunktion, eine neue Generation auf die immer gleichen DC-Filme dann freigegeben ab 12 und 16 zu prägen.

Während im Original Dwayne Johnson Krypto und Kevin Hart Batmans Bulldoge Ace sprechen, wird die deutsche Version mit den Stimmen von Emilia Schüle, Tahnee, Enissa Amani und Torsten Sträter verkauft.

19.7.22

Der Sommer mit Anaïs


Frankreich 2021 (Les amours d'Anaïs) Regie: Charline Bourgeois-Tacquet, mit Anaïs Demoustier, Valeria Bruni-Tedeschi, Denis Podalydès, 99 Min., FSK: ab 12

Anaïs rennt – so ließe sich in Verweis auf Tom Tykwers „Lola rennt" sagen: Die junge Frau (Anaïs Demoustier) rennt dauernd und ist trotzdem immer zu spät. Ruhelos eilt sie durchs Leben, lebt extrem chaotisch, was „mann" scheinbar als charmant ansieht. So eilt sie auch von Beziehung zu Beziehung. Zwischendurch vergisst die Studentin alles Mögliche, die Miete, den Rauchmelder, ihre Abschlussarbeit und auch ihre Pille.

Als sie bei ihren Eltern erfährt, dass sie Krebserkrankung ihrer Mutter nach sieben Jahren zurückgekommen ist, kann man den unstillbaren Lebenshunger etwas besser verstehen. Derweil wechselte Anaïs ihren Liebhaber vom jungen Freund, der sie schwängerte, zum alten Herausgeber Daniel Moreau-Babin (Denis Podalydès). Regisseurin Charline Bourgeois-Tacquet montiert das geradezu Empörung provozierend, wenn die letzte Szene Anaïs mit dem jungen Freund zeigt und die nächste mit einem nackten Rücken über ihr im Bett. Der ist allerdings schon von Daniel. Ein frustrierter Ehemann, der wie ein alter Narr für die junge Studentin schwärmt. Auch Anaïs schwärmt, allerdings für Daniels Frau, die berühmte Schriftstellerin Émilie (Valeria Bruni Tedeschi).

Diese Schwärmerei artet herrlich komödiantisch aus: Erst spricht Anaïs Émilie auf der Straße an, immerhin die Frau ihres Liebhabers, und erzählt ihr von Seelenverwandtschaft, die sie in ihren Büchern findet. Dann verlässt sie das Colloquium, das sie als gerade erst ergatterten Studentenjob organisieren soll, um sich bei einem exklusiven Autorentreffen mit Émilie einzuschleichen. Welches sie sich selbstverständlich nicht leisten kann. Doch über einige Momente des Fremdschämens, die Anaïs allerdings überhaupt nichts ausmachen, kommt sie ihrem gestalkten Idol näher. Sehr viel näher. Bis sie küssend am einsamen Strand liegen.

„Der Sommer mit Anaïs" ist das Langfilmdebüt der Regisseurin Charline Bourgeois-Tacquet und mehr als leichtfüßig erzählte und hochkarätig besetzte Sommerromanze. Als nie ruhendes Zentrum fungiert Anaïs Demoustier, die schon 2008 in Charline Bourgeois-Tacquets Kurzfilm „Pauline asservie" spielte. Wobei der Charakter der Pauline in Anaïs fortgesetzt wurde. Die stetige Bewegung der jungen Frau war für die Regisseurin wichtiges Prinzip: „Die meisten Anweisungen, die ich den Darstellerinnen und Darstellern gab, betrafen ihre Bewegung im Raum und ihre Rhythmik. Ich arbeite viel mit Plansequenzen, die auf einer sehr genauen Choreographie basieren."

Das Ergebnis ist viel mehr als eine „Amour fou" zwischen zwei Frauen – in diesem Debüt ist alles perfekt, alles wirkt wie in einem Meisterwerk vergangener Jahrzehnte, einem Truffaut, einem Berlusconi. Die Vorbilder von Bourgeois-Tacquet sind tatsächlich „alte Franzosen" wie Jean-Paul Rappeneau mit „Die schönen Wilden" (Le Sauvage) aus dem Jahr 1975 mit Yves Montand und Catherine Deneuve oder Éric Rohmer. Sie hat auch an „Manhattan" von Woody Allen gedacht. Zudem ist sie inspiriert von „Ein Schloss in Italien" (Un château en Italie), der wunderbaren Regiearbeit ihrer Hauptdarstellerin Valeria Bruni Tedeschi („Sommer '85", „Die süße Gier").

Selbst der Auftritt dieses Stars, der selbstverständlich zum Dreh mit einem Newcomer zusagte, ist etwas Besonderes: Selten hat man die grandiose Comedienne so seriös gesehen. Bis zum großen Monolog der weisen Frau am Ende. Was tatsächlich ein Problem war, wie die Regisseurin gestand: „Valeria neigt dazu, frustriert zu sein, wenn sie die Zuschauer nicht zum Lachen bringen darf." Hinzu kommt noch der exzellente Denis Podalydès („Die schönste Zeit unseres Lebens") in der Nebenrolle des sehr schön überflüssigen Mannes und fertig sind die exquisiten Zutaten für einen in jeder Hinsicht gelungenen Film.

Ruhelos und erfrischend, immer wieder komisch und dann berührend, bestes Schauspiel, schönste Bilder, ein scheinbar endloser Redefluss und doch pointierte Dialoge. Das Schwärmen für den Sommerfilm „Sommer mit Anaïs" könnte noch eine Weile weitergehen, wenn man sich nicht einfach im beglückten Staunen verliert. Staunen auch über den Menschen Anaïs. Der letzte Satz des Films lautet „Ich bin nicht einverstanden." Es ist kein Happy End, aber auch keine Resignation. Anaïs findet - und da ist die Regisseurin mit ihr einer Meinung - „auf eine Leidenschaft zu verzichten, wäre sträflich, es wäre eine Beleidigung des Lebens".

Men - Was dich sucht, wird dich finden


Großbritannien, USA 2022 (Men) Regie: Alex Garland, mit Jessie Buckley, Rory Kinnear, Paapa Essiedu, 100 Min., FSK: ab 16

Alex Garland ist Regisseur so interessanter und visionärer Filme wie „Ex Machina" (2015) und „Auslöschung" (2018) sowie Autor von „The Beach" (2000) und „28 Days Later" (2002). Sein Meisterwerk „Men" ist nun raffinierter Horror und genialer Filmessay über die Unterdrückung der Frau durch ein vielköpfiges Monster namens „Men" – Männer. Eine in jeder Faser, in jedem Bild packende Kino-Sensation.

Es sollte Erholung auf dem Lande für Harper (Jessie Buckley) werden, die Befreiung von einem traumatischen Ereignis, dem Selbstmord ihres Mannes (Paapa Essiedu), von dem sie sich gerade trennen wollte. In betörend schönen Bildern stürzt er vorm Fenster in die Tiefe. Ihre Blicke treffen sich für Sekunden, danach findet sie ihn in bizarrer Haltung, teilweise aufgespießt auf der Straße. Ein schauriges Kunstwerk.

Das abgelegene Cottage in einem winzigen Dorf sollte Harper Ruhe bringen. Der Vermieter (Rory Kinnear) ist jedoch schon ein sonderlicher Kauz mit übergriffigen Scherzen. Besonders der Hinweis auf die verbotene Frucht, die Harper direkt vom Apfelbaum geklaut hat, lässt sich in seiner beklemmenden Drohung nicht weglachen. Ein Spaziergang in extrem grüner Landschaft lässt die junge Witwe wieder lachen, fast wirkt es, als könne sie hier ihre Trauer überwinden. Bis ein sehr langer dunkler Tunnel auf ihrem Weg liegt und der Film die Klaviatur des Horrors sanft antippt. Harper spielt mit dem Echo, verläuft sich dann aber und wirkt gefangen in der Landschaft. Dann steht ein nackter Mann mit blutigen Narben (Rory Kinnear) auf der Wiese. Es ist noch witzig, wie er die ganze Zeit in die Fenster lugt, während sie nichtsahnend per Video eine Wohnungsführung für ihre Freundin macht. Die erste Attacke des Eindringlings kann Harper abwehren, der Mann wird verhaftet. Doch dann verhalten sich auch Polizist und Priester grenzüberschreitend, der Geistliche gibt ihr sogar die Schuld an der Gewalt ihres Ex-Mannes.

Männer sind alle gleich – in „Men" sind sie es tatsächlich, alle Männerrollen auf dem Land werden gespielt von Rory Kinnear. Im Pub ist Harper geradezu umzingelt von ihnen. Das ist nicht nur exzellent gespielt, auch tricktechnisch absolut ernsthaft realisiert. Wobei bei dem wunderbar sensiblen Spiel von Jessie Buckley (Oscar-nominiert für „Frau im Dunkeln") mit ihren sehr ausdrucksstarken Mundwinkeln die Inszenierung doch die Hauptrolle hat: „Men" zeigt reizvolle Traumsequenzen und heftige Horror-Schlitzereien, aber niemals simplen Horror. Die Bedrohung verläuft lange ohne direkte Gewalt. Es ist kein Kinder- oder Teenager-Spiel, hier geht das Grauen tiefer, hält länger an und gräbt sich auch in die Filmgeschichte ein.

Einen großen Anteil hat daran auch die Kamera von Rob Hardy („Mission: Impossible – Fallout"): Das Blutrot der Selbstmord-Szene korrespondiert mit einem Raum im Cottage und dem absurden Finale voller Transformationen und Neugeburten der bedrohlichen Männlichkeit. Dicht verwoben wie der ganze Film. „Men" könnte Lars von Trier-Stoff sein, dem in Verwechslung von Werk und Aussage sicher auch Frauenfeindlichkeit vorgeworfen wird. Dabei führt Garlands Meisterwerk doch nur auf genial kunstvolle Weise die mehr psychische als physische Übergriffigkeit von Männern vor. Mit einer keineswegs wehrlosen Frau.

Monsieur Claude und sein großes Fest


Frankreich 2021 (Qu'est-ce qu'on a tous fait au bon dieu) Regie: Philippe de Chauveron, mit Christian Clavier, Chantal Lauby, Ary Abittan, 99 Min., FSK: ab 0

Der erzkonservative Rassist Monsieur Claude (Christian Clavier) darf nach dem erschreckenden Erfolg von „Monsieur Claude und seine Töchter" (2014) nun zum zweiten Mal nachlegen: Zuerst ließ er seine Fremdenfeindlichkeit an den ethnisch und religiös abweichenden Ehemännern seiner vier Töchter aus. Nun, nachdem diese wegen der Ereignisse in Teil zwei alle nicht ausgewandert, sondern zu ihm in die Provinz gezogen sind, wird ganz dick aufgelegt. Zum 40. Hochzeitstag des konservativen Dickschädels und seiner vernachlässigten Frau reisen „zur Überraschung" alle Schwiegereltern an – mitsamt deren eigenen Vorurteilen und Rassismen.

„Monsieur Claude und sein großes Fest" ist zum Schenkelwundklopfen, eine Zote schlägt die letzte tot. Der „afrikanische" Schwiegersohn bekommt eine Bühnenrolle als Jesus. In der allgemeinen, scherz-geladenen Aufregung um diese Besetzung wird dem Grundgedanken von Claude, Jesus sei so weiß wie ein Baguette gewesen, nie widersprochen. Blond war er außerdem!

Seine Schwipp-Schwager re-inszenieren derweil im Garten einen jüdisch-arabischen Nachbarschaftsstreit: Wegen der Äpfel des jüdischen Schwiegersohnes, die auf Petersilien des arabischen fallen, wird die Motorsäge angesetzt und David baut wieder eine Mauer. Zur Sammlung lächerlicher Figuren gesellt sich der millionenschwere deutsche Kunsthändler Helmut mit scheinbarem Interesse an den Bildern einer der Töchter und tatsächlichen Gelüsten gegenüber der Mutter. Monsieur Claude kann so auch noch seinem Deutschenhass freien Lauf lassen.

Namen spielen hier bewusst keine Rolle, weil die Figuren nur Abziehbilder in Funktion von Scherzen gegen Toleranz und Weltoffenheit sind. Alles Andere oder Neue wird lächerlich gemacht, auch die vegetarische Schwiegertochter. Wenn das Schlussbild eine Gemeinsamkeit jenseits aller Unterschiede behauptet, die im Film vorher nirgendwo vorkam, muss man sich fragen, ob die Millionen von Zuschauern und Zuschauerinnen in Frankreich und Deutschland mit Spaß ihre Lektion gelernt haben. Oder vielleicht endlich mal über das lachen durften, „was man ja alles nicht mehr sagen darf"!!1!

Bibi & Tina - Einfach anders


Deutschland 2021, Regie: Detlev Buck, mit Katharina Hirschberg, Harriet Herbig-Matten, Benjamin Weygand, 105 Min., FSK: ab 0

„Bibi und Tina" ist auf dem Weg von Kinderhörspielserie „Bibi Blocksberg" über Zeichentrickserie und Realfilmen zur Amazon-Serie mittlerweile ein Klassiker. Dass dieser keinen Staub fängt, dafür sorgt Regisseur und Koautor Detlev Buck im fünften Film des Neustarts der erfolgreichen Musical-Mischung aus kleiner Teenie-Hexe und Reiterhof-Geschichten. Bibi (Katharina Hirschberg) und Tina (Harriet Herbig-Matten) begrüßen drei schwierige Feriengäste auf dem Martinshof: Silence spricht nicht, Spooky glaubt an Außerirdische und Disturber sagt Bibi den Kampf an. Gleichzeitig ist ein süßes Alien gelandet und der mysteriöse Schauspieler V. Arscher (Kurt Krömer) klaut in mehreren witzigen Rollen Graf Falko (Holger Stockhaus) Titel und Schloss.

„In was für einer Soap bin ich denn hier gelandet?" heißt es mal ironisch, aber übervoll mit nicht wirklich dramatischen Geschichten und tollen, aufwändig produzierten Musiknummern überzeugt dieser Spaß immer noch. Und dann gibt es statt dem finalen Duell hier Gewaltfreie Kommunikation gegen Mobbing – unglaublich!

Der Vater der Braut (2022)

USA 2022 (Father of the Bride) Regie: Gary Alazraki, mit Andy Garcia, Gloria Estefan, Adria Arjona, 118 Min., FSK ab 6

Nach Spencer Tracy 1950 und Steve Martin 1992 ist nun Andy Garcia „Der Vater der Braut". Dadurch bekommt der komödiantische Familiengefühls-Klassiker einen Latino-Touch, stammt doch Garcias Billy Herrera aus Kuba und kam ohne jeden Besitz mit einem Boot, verfolgt von Haien, wie er es immer erzählt, in den USA an. Das Aufeinandertreffen von sehr konservativem Vater und aufgeschlossener Lieblingstochter wurde leicht aufgefrischt: Diesmal machte die erfolgreiche Anwältin Sofia Herrera (Adria Arjona) ihrer Liebe Adan Castillo (Diego Boneta) einen Heiratsantrag. Der mag keinen Sport im TV und verteidigt Mittellose, aber des Brautvaters Attacken auf den Softie verebben, als dessen millionenschwerer Vater auftaucht. Ein Hahnenkampf um die Ausrichtung der Hochzeit beginnt, wobei die Wünsche des Paars keine Rolle spielen. Billy rastet völlig aus, weil seine Frau kurz vorher die Scheidung angekündigt hat.

Anfangs zeichnet der Heimkino-Film von HBO sorgfältig Familienprobleme auf, bevor die Hochzeitsroutine mit ihm losgaloppiert. Doch im Sturm der üblichen Katastrophen findet er sich wieder mit ein paar Momenten echter Gefühlen und Menschen.

13.7.22

The Gray Man


USA 2022, Regie: Anthony Russo, Joe Russo, mit Ryan Gosling, Chris Evans, Ana de Armas, 122 Min., FSK: ab 16

Der Actionthriller um schmutzige CIA-Geschäfte ist als einer der Netflix-Hits des Jahres für wenige Tage in ausgewählten Kinos zu sehen. Tage, die man nutzen sollte, um den Knaller der Russo-Brüder mit Ryan Gosling als besserer Bond ganz groß erleben zu können.

Der Gefangene Court Gentry (Ryan Gosling) bekommt Besuch von Donald Fitzroy (Billy Bob Thornton), der ihm nicht nur langersehnte Kaugummis mit dem richtigen Melonen-Geschmack mitbringt. Er verspricht auch als „Zauberfee mit unpassendem Aussehen" Gentry sofort aus dem Knast zu bringen und ihm die restlichen Jahrzehnte der Haft zu ersparen. Dafür müsse er nur das, was ihn ins Gefängnis gebracht hat, ab jetzt für die Gesellschaft tun. Genauer: Für die CIA böse Menschen umbringen.

18 Jahre später feiert „The Gray Man" das chinesische Neujahr mit einem Action-Feuerwerk: Gentry ist mittlerweile bekannt als Sierra Six, Auftragskiller des Auslandsgeheimdienstes für Aktionen unter dem offiziellen Radarschirm. Sein aktuelles Opfer, das er nach einer aufregenden Verfolgung erlegt, erklärt mit seinen letzten Atemzügen, dass er Sierra Vier sei. Also Kollege mit gleicher Ausbildung, der vom CIA-Boss Denny Carmichael (Regé-Jean Page) abgeschossen werden soll, weil er zu viel wusste. Begehrtes „MacGuffin" für den Rest des Films ist nun ein USB-Stick mit den Machenschaften Carmichaels. 

Die Brüder Anthony und Joe Russo haben mit „Captain America: The Winter Soldier" (2014), „Captain America: Civil War" (2016), „Avengers: Infinity War" (2018) und „Avengers: Endgame" (2019) ein paar von Marvels erfolgreichsten Filmen verantwortet und eine dementsprechende Fangemeinde. Die knallige Netflix-Produktion „The Gray Man" wirkt nun wie eine Steigerung der überlangen Marvel-Arbeiten und gleichzeitig wie Befreiung von ihnen: Die Action über die schmutzige Agenten-Welt ist unglaublich rasant erzählt, die Handlung fliegt um den Erdball, wobei die übliche Öde solchen Film-Tourismus' völlig entfällt, wenn Prags Altstadt im ausufernden Feuerwechsel halb geplättet wird. Ein sagenhaft spektakulärer Flugzeugabsturz mit lässig ironischem Ryan Gosling mittendrin gehört zu den weiteren Höhepunkten. Wie überhaupt die Besetzung durchgehend überzeugt: Das Wiedersehen mit Billy Bob Thornton („Fargo") als Agenten-Vater erfreut. Chris Evans darf, genial gegen seinen „Captain America" besetzt, grandios den psychopathischen Ex-Agenten spielen, der beim Foltern Schoppenhauer über den Wert des Leidens zitiert. Einen besonders starken Einsatz hat Ana de Armas („James Bond 007: Keine Zeit zu sterben") als einzige Agentin auf der Seite von „Six". Nachdem sie ihn das xte Mal aus dem größten Schlamassel geholt hat, kommentiert dieser: „Mein Ego hat ein paar Kratzer. Ich würde dich auch gerne mal retten."

Selbst wenn das Ende zu übertrieben ausfällt, gelingen den Russo-Brüdern auch da einige Höhepunkte des Haudrauf-Genres. Selbstverständlich mit der unvermeidlichen Portion Gefühl: Denn unser Killer mit dem guten Herzen will am Ende nur noch die Nichte seines Mentors retten. Wenn sich Claire (Julia Butters) am Ende mal wieder die Ohren zuhalten soll, weil für ihr Überleben haufenweise CIA-Beamten sterben müssen, stellt sich allerdings doch die Sinnfrage dieses Action-Spaßes.

12.7.22

Meine Stunden mit Leo


Großbritannien 2022 (Good Luck to you, Leo Grande) Regie: Sophie Hyde, Emma Thompson, Daryl McCormack, 97 Min., FSK: ab 12

Gegen Unsicherheit und Nervosität hilft Nancy (Emma Thompson) auch kein Sekt. Sie wartet in der unpersönlich sterilen Umgebung eines Hotelzimmers. Nancy ist eine seit zwei Jahren verwitwete Lehrerin im Ruhestand. Nun hat sie sich endlich getraut und auf die Anzeige eines Callboys geantwortet. Der junge Leo Grande (Daryl McCormack) - das sehen wir schon auf seinem Weg ins Hotel - ist hingegen völlig entspannt, locker, charmant zu jedem. Auch die erste Annäherung, respektvoll, höflich: „Ist es ok, wenn ich Sie zur Begrüßung auf die Wange küsse?"

Diese entspannte Haltung braucht er allerdings bei dieser schwierigen Kundin: Bevor sich Nancy etwas Spaß erlaubt, muss die Verkopfte erst intellektuell abklären, ob das in Ordnung ist, mit einem „Sex worker", einem Sex-Arbeiter. Gefällt ihm der Job? Wieso macht er das? Und dann die Vorbehalte gegenüber dem eigenen Aussehen: Ob sie wohl die älteste Frau sei, mit der er jemals ...?

„Meine Stunden mit Leo" sind gebuchte Stunden von Nancy mit einem Sex-Arbeiter in einem Hotelzimmer. Allerdings geht es um Sex vor allem im Gespräch. Bevor wir ein wenig nackte Haut sehen, entblößen sich beide in ihrer Persönlichkeit bei diesem intensiven, geistreichen und berührenden Kammerspiel. Dabei öffnet sich zuerst die ältere Frau in ihrem nervösen Redefluss. Auf den ersten Blick weiß die ehemalige Lehrerin genau, was sie will. Der aufgeregte Monolog bringt gleich einen Haufen Geständnisse: Zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes will sie das erste Mal wieder Sex haben. Aber tatsächlich wäre Leo auch erst der zweite Mann überhaupt in ihrem Leben. Ein Leben, in dem sie noch nie einen Orgasmus gehabt hat und nicht mehr bereit ist, ihn vorzutäuschen, wie sie es immer bei ihrem Mann gemacht hat. Diese Offenheit ist mehr gewagt als pure Nacktheit.

Nun hat sie eine Liste mit sexuellen Praktiken, die sie ausprobieren möchte. Doch zwischen zu vielem Denken und jugendlicher Ängstlichkeit leitet Leo weise den Weg zu wahren Bedürfnissen. Nancy muss herausfinden, was sie eigentlich will. Dabei werden Klippen wie wenig sexy Gespräche über Mütter und Söhne umschifft. Allerdings wird es von Treffen zu Treffen immer persönlicher. Nancy überschreitet die Grenzen ihrer Vereinbarung und setzt die Treffen aufs Spiel...

Wie gut „Meine Stunden mit Leo" der australischen Regisseurin Sophie Hyde gelungen ist, wird bei der Vorstellung klar, wie peinlich, schmierig oder lächerlich alles leicht hätte werden können. Mit der gleichen Sensibilität, die Leo an den Tag legt, lässt der Film den Unsicherheiten seiner weiblichen Hauptfigur Raum. Es lässt sich lächeln, aber vor allem mehr und mehr mitfühlen mit einer hoffentlich historischen Sexual-Biografie, die in mehreren „Sitzungen" überwunden wird.

Oscar-Gewinnerin Emma Thompson machte ihre eindrucksvolle Karriere nicht nur anfangs mit großartigen Literatur-Interpretationen wie „Wiedersehen in Howards End" (1992), „Was vom Tage übrig blieb" (1993) oder „Viel Lärm um nichts" (1993). Es ist generell ihre sichere Rollen-Wahl, die auffällt. Auch wenn sie mit „Cruella" (2021), „Men in Black" und „Harry Potter" mittlerweile in der Blockbuster-Liga auftauchte, spielt sie fast immer besonders intelligente Frauen: In „Wit" (2001) von Mike Nichols als Professorin, die in ihrem Krankenzimmer mit tödlichem Krebs konfrontiert ist. Oder als Familienrichterin in einem schweren Zwiespalt beim „Kindeswohl" (2017) nach Ian McEwan. Nun verkörpert sie die Rolle eines sehr späten sexuellen Erwachens mit aller Verletzlichkeit, mit dem intellektuellen Widerstreben ungemein glaubhaft.

Regisseurin Sophie Hyde ist beim Mainstream-Film bislang unbekannt, dabei gewann 2013 ihr Spielfilmdebüt „52 Tuesdays" (Regie, Produzentin, Co-Autorin) um die Sexualität einer Jugendlichen und die Transsexualität von deren Mutter den Regiepreis in Sundance und den Gläsernen Bären bei den Berliner Filmfestspielen. Für die Serie „The Hunting", in der Lehrer entdecken, dass mit Nacktfotos von Schülerinnen und Schülern gehandelt wird, erhielt sie Australian Academy Awards für das beste Drehbuch und den besten Nebendarsteller Richard Roxburgh. Zudem gewinnt sie den Australian Writers Guild Award für die beste Serie. Hyde lebt und arbeitet auf dem Land der Ureinwohner Kaurna in Südaustralien und macht provokante und intime Dokumentationen, Filme und Fernsehen. Wobei das Außergewöhnliche bei „Meine Stunden mit Leo" darin liegt, wie unspektakulär der berührende Weg bis zur völligen Nacktheit und Zufriedenheit verläuft.

Eine Sekunde


China 2020 (Yi miao zhong/One Second) Regie: Zhang Yimou, mit Yi Zhang, Haocun Liu, Fan Wei, 103 Min., FSK: ab 12

Während der chinesischen Kulturrevolution flieht der ausgemergelte Zhang (Yi Zhang) aus einem Arbeitslager im trostlosen Nordwesten Chinas, um in einem Dorfkino die Wochenschau anschauen zu können, in der seine Tochter zu sehen sein soll. Doch er kommt nicht nur zu spät zur Vorstellung, er sieht auch, wie die Waise Liu (Haocun Liu) eine Filmrolle klaut. Auf dem Weg ins nächste Dorf entwickelt sich in atemberaubenden Wüstenlandschaften eine raffinierte bis ruppige Rangelei um den Film. Es ist ein Stückchen Wochenschau mit deftiger Parteipropaganda, das Liu in einen Lampenschirm für ihren kleinen Bruder umwandeln will, damit der beim Licht der Glühbirne anständig lernen kann. Der verzweifelte Zhang erhofft sich einen kurzen Blick auf die Tochter, die er seit Jahren nicht mehr sehen hat. Angekommen ist allerdings der Hauptfilm das Problem, der aus den Filmdosen gefallen ist und sich malerisch im Staub verteilt. Unter Anleitung des alten Vorführers „Onkel Kino" („Filmrollen sind Schätze für uns") wird „Heroische Söhne und Töchter" aufwändig und ganz vorsichtig entknotet und gereinigt. Unter anderem mit Essstäbchen. Wiederum wunderbare Szenen, wie die Kinofans mit ihren Fächern ganz sanften Wind erzeugen, damit der Film vorsichtig trocknet. Während das riesige Kino schließlich bis auf die letzte Ecke vollgequetscht der Propagandafilm erlebt, hat Zhang seine Tochter immer noch nicht gesehen...

Seine Weltpremiere sollte „Eine Sekunde" 2019 bei den Internationalen Filmfestspielen in Berlin feiern, wurde dann aber kurzfristig zurückgezogen, wegen angeblicher technischer Schwierigkeiten in der Postproduktion. Erst 2021 wurde der Film schließlich wieder aus dem Giftschrank geholt und eröffnete, mittlerweile um eine Minute gekürzt, das Filmfestival von San Sebastian, lief anschließend bei den Filmfestivals in Toronto und Zürich. Ohne plakativ oder melodramatisch zu werden, stellt „Eine Sekunde" die Unmenschlichkeit der Kulturrevolution deutlich heraus. Was viele andere vorher auch machten, sodass über die Gründe der Zensur spekuliert werden kann. Wie der Film ist auch der chinesische Regisseur Zhang Yimou eine ambivalente Erscheinung: Derzeit einer der wichtigsten und einflussreichsten Filmemacher in China, erlebte er als Teil der umstrittenen „fünften Generation" von Regisseuren erste internationale Erfolge mit „Rotes Kornfeld" (1987, Gewinner des Goldenen Bären), „Judou" (1990, im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes), „Raise the Red Lantern" (1991, Gewinner des Silbernen Löwen von Venedig) und „Leben!" (1994, Grand Jury Prize von Cannes). 2002 sorgte sein staatstragendes Kampfkunst-Epos „Hero" für Irritationen. Nach den Blockbustern „House of Flying Daggers" (2004) und „Der Fluch der Goldenen Blume" (2006) durfte er bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking die Regie bei der Eröffnungs- und der Schlussfeier führen.

Die Suche nach einem einzelnen Filmbild in der Wüste, das zwei Jahre zuvor verloren ging. Ein eigentlich furchtbar deprimierendes, aber auch grandioses Bild beschließt ein weiteres Meisterwerk des Chinesen Zhang Yimou. Wie seine geschundene Helden im Katz-und-Maus-Spiel um eine Filmrolle, wird auch um seine Wahrheiten unter dem chinesischen Regime gekämpft. Und da ist ein gutes Stück Film unter all den Blockbustern so schwer zu finden wie ein Filmschnipsel in der Wüste.

Vier Wände für Zwei


Spanien 2019 (El Inconveniente) Regie: Bernabé Rico, Juana Acosta, Kiti Mánver, 94 Min., FSK: ab 6

Sara (Juana Acosta), erfolgreiche Chefin eines Unternehmens für Lebensversicherungen in Sevilla, schaut sich ein kleines, überraschend günstiges Appartement an. Nur die Hälfte vom Marktpreis müsse sie zahlen, meint der geschwätzige Immobilienmakler Óscar (Carlos Areces). Er meint auch am Telefon, die Kundin sei „etwas trocken, aber interessiert". Womit Sara gut charakterisiert ist: Die Haare und der ganze Gesichtsausdruck streng. Keine Reaktion auf die plumpen Scherze. Von Untergebenen eher gefürchtet, als geachtet. Zum Abschluss der Wohnungsbesichtigung verfehlt Óscar auch nicht das letzte Fettnäpfchen, indem er den Grund für den niedrigen Verkaufspreis erklärt. Es gäbe die „Unannehmlichkeit" – spanisch „El Inconveniente" des Originaltitels – der noch lebenden Besitzerin Lola (Kiti Mánver). Die Unannehmlichkeit tritt nach dem Verschwinden der Gäste rauchend aus dem Wandschrank, in dem sie sich versteckt hatte. Was für ein Auftritt!

Die kalte Geschäftsfrau, die damit rechnet, dass die alte Kettenraucherin mit den drei Bypässen es nicht mehr lange machen wird, kommt zurück, um Lola zur Vertragsunterzeichnung abzuholen. Es ergibt sich ein herrliches Aufeinanderprallen unterschiedlicher Typen: Im Morgenmantel lädt die schrullige Alte die gestylte Sara zu Kaffee und Teilchen ein, während der Notartermin drängt. Mit verblüffender Offenheit entlockt sie der Käuferin, dass diese mit zwei Jahren rechnet, bevor Lola stirbt und sie selbst einziehen kann. Denn ihre Ehe mit Daniel (Daniel Grao) läuft nicht mehr und Sara plant einen pragmatischen Ausweg. Doch das wird sie später gestehen, wenn sich die Frauen nach vielen humorvollen Reibereien nähergekommen sind.

„Vier Wände für Zwei" ist das mehrfach ausgezeichnete Spielfilmdebüt von Bernabé Rico. Der Film lebt vor allem vom grandiosen Zusammenspiel der beiden Hauptdarstellerinnen, vom Aufeinandertreffen der äußerlich extrem unterschiedlichen Charaktere. Über einige Wendungen wird Sara erfahren, was wahr ist im Leben und worum es wirklich geht. Eine wohltemperierte Gefühlsachterbahn mit überraschendem Ende und schönem Schlusssatz: „Du bist verrückt!" „Nein, ich lebe! Wir leben!!!"

The Owners


Großbritannien, Frankreich, USA 2020, Regie: Julius Berg, mit Maisie Williams, Sylvester McCoy, Rita Tushingham, 92 Min., FSK: ab 16

Drei junge Idioten und ihre nicht ganz dämliche Freundin brechen in ein Haus ein und werden von den Eigentümern – englisch: The Owners – überrascht. Die Brutalitäten mit Teppichmesser, Kreissäge und Vorschlaghammer richten sich erst gegen die alten Leutchen, doch nach wenig überraschender Wende sieht sich die Generation des Zielpublikums als Gejagte im versperrten Gebäude. Der alte Doktor Richard Huggins (Sylvester McCoy) mit der vertrauenserweckenden Tonlage besorgt den Einbrechern ein böses Erwachen und Mary (Maisie Williams) kämpft im Horror-Haus um ihr Leben.

„The Owners" ist abgestandener Horror aus dem Jahr 2020, der uns in einer Kinoflauten-Woche untergeschoben wird. Er basiert auf der Graphic Novel „Une nuit de pleine lune" von Hermann und Yves Huppen. Das Genre der „Home Invasion" („Don't Breathe") wird wieder zur Falle für die Überfallenden, das Personal sind die stillosen Enkel von Tarantino und Guy Ritchie. Bei der Besetzung bangen wir um „Game of Thrones"-Star Maisie Williams und erleben noch einmal die Sixties-Ikone Rita Tushingham („Last Night in Soho"). Ohne teures Styling erweisen sich Gewalt und Kriminalität jedoch als sehr banal.

11.7.22

Everything will change


Deutschland, Niederlande 2021, Regie: Marten Persiel, 92 Min., FSK: ab 6

In nicht so ferner Zukunft leuchtet Natur nur noch rot. Nach dem nächsten großen Massensterben gibt es so gut wie keine Tiere mehr. 2054 entdeckt ein junger Mann in einem Antiquariat das Foto einer Giraffe und versucht, mit Freunden herauszubekommen, ob es das seltsame Wesen wirklich jemals gegeben hat. Am Ende ihrer Suche entdecken sie in einer Art Arche für ausgestorbene Spezies einige alte Wissenschaftler, die erzählen, was passiert ist.

Von tricktechnisch interessant verfremdeten Spielszenen entwickelt sich die Dokumentation „Everything will change" zu einer Aneinanderreihung von Talking Heads und Thesen, vermischt mit Aufnahmen von aktuellen Waldbränden, Rodungen und Flutkatastrophen. Die Grundidee lautet, dass gerade jetzt der entscheidende Moment für eine Wende ist. Mit einigen originellen Ideen kann der Empfänger des Wim Wenders Stipendiums der Film- und Medienstiftung NRW jedoch höchsten bereits Überzeugte überzeugen, erschrecken und motivieren.

6.7.22

Thor: Love and Thunder


Thor: Love and Thunder

USA 2022, Regie: Taika Waititi, mit Chris Hemsworth, Natalie Portman, Tessa Thompson, Christian Bale, Taika Waititi, 119 Min., FSK: ab 12 

Im eindrucksvollen vierten Teil von Marvels Thor-Reihe kombiniert der exzellente neuseeländische Regisseur Taika Waititi („Jojo Rabbit") abenteuerliche Albernheiten und Haudrauf-Heldentum mit deftiger Rührung. Es gibt ein Wiedersehen mit Thors Lieben, dem Hammer Mjölnir und der Astrophysikerin Jane Foster, gespielt von Natalie Portman. Wobei Chris Hemsworth ein stoisch muskelbepackter und übersensibler Fels in der Brandung von überkandideltem Action-Blödsinn bleibt.

Thor (Chris Hemsworth) ist ja nicht nur Hammergott, man könnte ihn auch Jojo-Gott nennen, so sehr schwanken Körperumfang und Stimmungen. Nun muss er wieder vom Ruhestand zurückkehren, weil der galaktische Killer Gorr (Christian Bale), Spitzname: Götterschlächter, die Auslöschung aller Götter anstrebt. In einer bewegenden ersten Szene führen Hitze, Trockenheit und Hunger zum Tod seiner kleinen Tochter. Die Begegnung des gläubigen Vaters mit dem verantwortlichen Gott ist eine große, zynische Enttäuschung und macht den Verzweifelten zum Schlächter der Götter. Theodizee im Marvel-Universum: Für seine Rache entführt Gorr zuerst alle Kinder von Asgard und stellt Thor dann eine Falle. 

Marvel-technisch muss Thor jedoch erst seine neue Gang der „Guardians of the Galaxy" unter der Führung von Star-Lord Peter Quill (Chris Pratt) verlassen, mit der er sich am Ende von „Avengers: Endgame" verbündet hat. Das gibt zum Abschied im grellen Comic-Trip eine Schlacht gegen aggressive Wuschel-Wesen zu Hard Rock. Um Gorr zu bekämpfen, bekommt Thor Hilfe von Walküren-Königin (Tessa Thompson) und dem Steinmonster Korg, „gespielt" vom Regisseur und Ko-Autor Taika Waititi selbst. Ein Wiedersehen gibt es mit des Blondie-Gottes Ex-Freundin Jane Foster (Natalie Portman), die – zu Thors großer Überraschung – nicht nur weiß, wo Thors Hammer hängt, sie schwingt ihn nun selbst auch ziemlich kraftvoll. In einer Rückblende erfahren wir von der schwierigen Trennung des einst netten Pärchens und er hört von ihrer Krebserkrankung. Auf die der magische Hammer Mjölnir nicht positiv wirkt. 

„Thor: Love and Thunder" bekommt am Ende durch Janes Krankheit ernste Töne, im Wechsel mit der größten Dosis Albernheit im ganzen Marvel-Universum. Wie zum Beispiel die Eifersucht zwischen dem Hammer Mjölnir und Thors neuer Waffe, der Axt Stormbreaker. Während Thor selbst Probleme damit hat, dass Mjölnir nun bei jemand anderem ist. Die Romantik in diesem Heldenfilm sprüht denn auch eher zwischen dem blonden Gott und seinen Waffen, weniger mit der Menschenfrau.

Der Höhepunkt des prallen neuen Hammerfilms ist das Duell zwischen Thor und Gorr auf einem Fels im All mit irre abstrakten Schatten-Monstern, wobei Christian Bale nicht nur hier den anderen Stars die Szene stiehlt. Der Schmerz eines schweren Verlustes - Bale erweist sich erneut als perfekter Darsteller für solche tiefen Gefühlslagen, wie man seit seiner Batman-Rolle weiß. Herrlich albern dagegen der Kurzauftritt von Russell Crowe als fetter Zeus in Röckchen, der mit seltsamem griechischen Dialekt von Orgien schwafelt. Positiv ebenfalls, „Thor: Love and Thunder" schafft es so gerade, unter zwei Stunden zu bleiben. Eine angenehme Bescheidenheit im über alle Maßen aufgeblasenen Marvel-Universum.

Problematisch bleibt Natalie Portmans Rolle: Als einer der intelligentesten Menschen der Erde wird ihre Astrophysikerin Jane Foster regelmäßig zum stotternden Weibchen, wenn Thor seine Muskeln zeigt. Es ist feministisches Empowerment, dass sie auch mit dem traditionellem Männer-Werkzeug umgehen kann. Doch die Handlung erzählt uns, dass es nicht gesund für Frauen sein soll. Dieser Konflikt führt allerdings zu dem rührenden Gefühls-Finale mit einem großen Verlust und einem Neuanfang für Thor. Die Botschaft der klugen Frau: „Verschließe dein Herz nicht!"

Der neuseeländische Oscar-Preisträger Taika Waititi („Thor: Tag der Entscheidung") sorgt vor und hinter der Kamera immer wieder für viel Vergnügen: Nicht allein als erfahrener Marvel- und Star Wars-Regisseur („The Mandalorian"), auch das Historiendrama „Jojo Rabbit" war recht erfolgreich. Aber charakteristischer als sein Ansatz eines Holocaust-Films war die mehrfache Beteiligung an der äußerst diversen Vampir-WG in „5 Zimmer Küche Sarg" (2014) als Haupt-Darsteller und danach in der Serie „What we do in the Shadows" als Produzent und Gast-Darsteller. Schrägster Humor mit Herz und überbordend voll origineller Ideen. Nun liefert er die blödesten und stärksten Szene in all den zu vielen Superhelden-Filmen ab.

5.7.22

Liebesdings


Deutschland 2022, Regie: Anika Decker, mit Elyas M'Barek, Lucie Heinze, Peri Baumeister, 99 Min., FSK: ab 12

Elyas M'Barek spielt in dieser Romantischen Komödie den Filmstar Marvin Bosch „mit dem vollen Konto und dem leeren Herzen", den ein Skandälchen vom Erfolgsweg abbringt: Als er sich vom Rummel des Roten Teppichs und unmöglicher Interviews verdrückt, landet er im feministischen Off-Theater und trinkt aus Versehen viel zu viel von einem „magischen Tee". Es dauert reichlich lange, bis der Clou raus ist, dass Marvin sich bei der Theaterfrau Frieda (Lucie Heinze) vorm Medienrummel versteckt und die Liebe zuschlägt.

Die romantische Idee von „Ein Herz und eine Krone" bis „Notting Hill", wobei Elyas M'Barek diesmal die Prinzessin ist – keine schlechte Idee für einen Film mit dem populären Star. Auch die Pointen punkten immer mal wieder. Leider werden Themen wie Feminismus, Transgender, Beziehungsunfähigkeit, Abtreibung oder Einsamkeit super schnell und oberflächlich runtergeleiert. Dazu noch eine dunkle Geschichte aus der Vergangenheit mit völlig unmotiviert angepapptem Verrat schlecht entwickelt untergemischt. Einzig Maren Kroymann ist als authentischer Bühnen-Beitrag glaubhaft und gut.

Corsage


Österreich, Frankreich, Luxemburg, Deutschland 2022, Regie: Marie Kreutzer, mit Vicky Krieps, Florian Teichtmeister, Manuel Rubey, 114 Min., FSK: ab 12

Elisabeth von Österreich-Ungarn (1837-1898) erfreut sich als mediale Figur weiterhin großer Beliebtheit, was sicher mit der parallelen Welle von Filmen um Prinzessin Diana zu tun hat. Während man die kitschige Sissi-Trilogie der 50er Jahre mit Romy Schneider und Karlheinz Böhm lange als Relikt der Vergangenheit belächelte und parodierte („Sissi – Beuteljahre einer Kaiserin" von Walter Bockmayer, „Lissi und der wilde Kaiser" von Michael „Bully" Herbig), lebte die Adels-Verehrung plötzlich wieder auf: 2009 und 2012 gab es wieder Spielfilme und 2021 sogar die RTL-Serie „Sisi".

Die Wiener Regisseurin und Drehbuchautorin Marie Kreutzer („Der Boden unter den Füßen", „Was hat uns bloß so ruiniert?") nähert und entfernt sich in „Corsage" nun der historischen Figur. Die Zwänge der 40-jährigen Kaiserin Elisabeth von Österreich (Vicky Krieps) zeigt treffend das zweite Bild, in dem genau nachgemessen wird, auf wie viele Zentimeter die Hüfte mit der Corsage eingezwängt wurde. Scheinbar leistet die aus Ungarn stammende Gattin des kaiserlich und königlichen Herrschers Franz Joseph (Florian Teichtmeister) einige Anstrengungen, um den repräsentativen Aufgaben des Hofes zu entsprechen. In der Badewanne hält sie unter Wasser möglichst lange die Luft an. Doch als ihr in der Öffentlichkeit dreiste Vorwürfe wegen ihrer Abwesenheit und ihres Gewichts ins Gesicht fliegen, fällt sie in Ohnmacht. Simuliert, wie sie später belustigt den Hofdamen vormacht.

„Corsage" ist das Porträt einer Frau, die sich vielfältig ihrer Zwänge entledigt. Sie lässt den mit angeklebtem Backenbart peinlichen Gatten vor der Tür stehen, während sie drinnen mit dem guten Freund scherzt. Einen Liebhaber in England besucht sie begleitet von ihrer Schwester und dem erwachsenen Sohn. Doch trotz Freiheiten fühlt sie sich unterfordert. Ihr Interesse an der Politik, der letztlich tragisch verlaufenden Balance im Vielvölkerstaat zwischen Ungarn und den Serben, wird knapp abgekanzelt. Frühe Experimente mit dem Film gefallen ihr. Gleichzeitig sucht sie andauernd Bestätigung für ihre noch nicht verblühte Schönheit, will angesehen und bewundert werden. Dabei entfremdet sie sich von der Tochter, die beim Vater aufwächst.

Marie Kreutzers „Sissi" ist in der konsequenten subjektiven Perspektive dem letzten Diana-Spielfilm „Spencer" von Pablo Larraín sehr ähnlich. Mit einer grandios einnehmenden und präsenten Vicky Krieps („Der seidene Faden", „Old") im Zentrum modernisiert sie den Historien-Film durch ein paar Pop-Songs („Help Me Make It Through the Night") und zeigt der Hofgesellschaft nicht nur sinnbildlich einen Stinkefinger. Richtig raffiniert allerdings der teils nur angedeutete Twist des Verschwindens der Kaiserin: Lässt sie sich anfangs von der in einem unmenschlichen Akt zur Treue verpflichteten Hofdame Marie (Katharina Lorenz) hinter Schleier und Hütchen vertreten, erfüllt sie im Schlussbild die unhistorische Prophezeiung, im Mittelmeer unterzugehen, statt in Genf erstochen zu werden. Ein in vieler Hinsicht faszinierendes Porträt, ganz weit weg vom üblichen Kaiserinnenschmarrn.

Rifkin's Festival


USA, Spanien, Italien 2020, Regie: Woody Allen, mit Wallace Shawn, Gina Gershon, Elena Anaya, 92 Min., FSK: ab 12

Altmeister Woody Allen ließ sich seinen 51. Film wieder von einer europäischen Region finanzieren, diesmal von San Sebastian. Das dortige Filmfestival inspirierte zu einer herrlich cineastischen Altherren-Komödie: Der filmbegeisterte Autor Mort Rifkin (Wallace Shawn) begleitet seine jüngere Frau, die Presseagentin Sue (Gina Gershon). Doch Filmfestivals sind nicht mehr das, was sie mal waren, lamentiert das kleine Männlein mit Halbglatze und Bauch in unvorteilhafter Jeans. Es geht nicht mehr um Kunst, um die großen europäischen Meister; eine junge Blondine wird als perfekt für die Rolle von Hannah Arendt im Eichmann-Prozess angesehen. Was Mort eigentlich antreibt und scheinbar todkrank macht, ist die Eifersucht auf Sues aktuellen Kunden, den jungen, angesagten Regisseur Philippe (Louis Garrel). Die bissigen Bemerkungen des Fachidioten im klassischen Film werden vom Nebenbuhler allerdings gar nicht wahrgenommen. Ja, er selbst wird beim Essen zu dritt völlig ignoriert. Grund genug für Herzklabaster, doch verursacht erst die von alten Freunden empfohlene Ärztin Dr. Jo Rojas (Elena Anaya) richtige Herzrhythmusstörungen bei Mort.

Der alte Narr verliebt sich in die junge Ärztin und macht sich tatsächlich Hoffnungen, weil sie sehr unter ihrem Ehemann, dem leidenschaftlichen Maler Paco (Sergi López), leidet. Leidenschaftlicher Pinselschwinger war bei Woody Allen bereits Javier Bardem in „Vicky Cristina Barcelona" und lächerlich menschliche Gefühlsirrungen gab es in jedem Film. Reizvoll wird das alte Allen-Repertoire an der malerischen Biskaya-Bucht durch Morts Schwarzweiß-Visionen im Stile seiner Idole Fellini, Godard oder Bergman. Da sieht sich der Verlierer in der Rolle Belmondos „Außer Atem" im Bett neben seiner angebeteten Ärztin. Gina Gershon bekommt einen Liv Ullmann-Moment in Schwedisch. Und in der (neben einem Fellini-Jahrmarkt) schönsten Szene spielt Christoph Waltz als Tod aus Bergmans „Das siebente Siegel" Schach mit Mort. Der alte Mann kommt schließlich mit der Lächerlichkeit davon, der Film mit seinem undramatischen Humor.

4.7.22

Willkommen in Siegheilkirchen - Der Deix Film


Deutschland, Österreich 2021, Regie: Santiago Lopez Jover, Marcus H. Rosenmüller, 85 Min., FSK: ab 12

Die Welt des österreichischen Karikaturisten, Grafiker und Cartoonisten Manfred Deix (1949-2016) war keine schöne – immer wieder rieb sich der Künstler an seinen bigotten Landsleuten, zeichnete sie unförmig und geifernd. So sieht auch das biografisch angehauchte Heimatdorf des „Rotzbubs" in den 60er Jahren aus: Schon zur Geburt – eine traumatische Erfahrung für Baby und Zuschauer – gibt es Altherrenwitz von der Hebamme. In der Schule herrscht das Denken des Priesters, in der Kneipe von Rotzbubs Vater wabern Nazitum und Fremdenfeindlichkeit. Einen ersten Erfolg landet der Junge bei pubertierenden Mitschülern mit Zeichnungen der „Monroe von Siegheilkirchen", der Nachbarin mit den riesigen Brüsten. Richtig verliebt er sich in das Roma-Mädchen Mariolina, deren Mutter wegen anderer Kneipen-Gäste nicht bedient wird. Zwei Alt-Nazi planen gar ein Bomben-Attentat auf die Roma, doch mit ein paar fortschrittlichen und weltoffenen Menschen kann der aufblühende Rotzbub das verhindern. Mit der trefflichen Hässlichkeit Deix'scher Karikaturen wird der Mief der Nachkriegszeit schwungvoll entblößt.