29.9.20

Niemals Selten Manchmal Immer


USA 2019 (Never Rarely Sometimes Always) Regie: Eliza Hittman, mit Sidney Flanigan, Thalia Ryder, Theodore Pellerin, Ryan Eggold, Sharon Van Etten 102 Min. FSK ab 6, empfohlen ab 16

Richtig gelöst ist die 17jährige Autumn (Sidney Flanigan) nur beim Singen. Doch als sie beim Schulkonzert nach den langweiligen Rockern mutig einen persönlichen Song auf die Bühne bringt, ruft ein Mitschüler sexistische Beleidigungen. Ansonsten bleibt Autumn, die nach der Schule an der Supermarkt-Kasse steht, hinter regloser Mimik versteckt. Selbst als sie erfährt, dass sie schwanger ist. Die furchtbare Gynäkologin des Kaffs in Pennsylvania zeigt zur Sicherheit mal Horrorfilme über Abtreibungen, für die Minderjährige in diesem rückständigen US-Staat die Genehmigung der Eltern bräuchten. Nachdem die junge Frau, die sich niemandem anvertrauen kann, es mit Pillen und Schlägen auf den Bauch versucht hat, bricht sie mit ihrer Cousine Skyler (Talia Ryder) auf nach New York.

Wie Autumn und Skyler sich ohne Worte verstehen, ist eines der Wunder dieses wunderbar zurückhaltenden Films. Es gibt keine Erklärungen, keine Absprachen. Nachdem der Boss, der nächste rücksichtslose Mann, die kranke Autumn nicht nach Hause gehen lässt, greift Skyler nach Feierabend in die Kasse und es geht mit dem Bus in die liberale Großstadt. Auch bei der Odyssee zu den Beratungsstellen, bei den Nächten ohne Geld für ein Hotel, fallen wenig Worte - das Wichtige ist aus ihren Gesichtern abzulesen. Zwar ist die Hilfsbereitschaft der Gesundheits-Organisationen in New York fast rührend, aber irgendwie lehnt Autumn die angebotene Übernachtung ab. 

„Niemals Selten Manchmal Immer" – der Titel gibt Antworten eines Fragebogens wieder – ist nicht das übliche überzogene Abenteuer, sondern intensiv gefühlte Verlorenheit, Einsamkeit und Angst vor dem kommenden Tag. Ein ungemein vorsichtiger und rücksichtsvoller Film, ganz im Gegensatz zu den Menschen um Autumn herum, meist Männer.

Bei dem vielleicht in Rumänien (siehe „4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage"), aber nicht in den USA vorstellbaren, leisen Leidensweg, gibt es sehr viele Großaufnahmen, die Regungen bis ins kleinste Detail verfolgen. Das Konzept von Regisseurin Eliza Hittman („It felt like love", „Beach Rats") und Kamerafrau Hélène Louvart könnte man minimalistisch nennen – in der Wirkung ist es enorm. Die eindrucksvolle Hauptdarstellerin Sidney Flanigan ist eigentlich Musikerin und erstmals – und hoffentlich nicht zum letzten Mal - im Film zu sehen. Bei der Berlinale 2020 gewann „Niemals Selten Manchmal Immer" den Silbernen Bären, Großer Preis der Jury.

27.9.20

Jim Knopf und die Wilde 13


BRD 2020 Regie: Dennis Gansel, mit Solomon Gordon, Henning Baum, Annette Frier, Milan Peschel 109 Min. FSK ab 0

„Piraten der Karibik" für Kleine! Schon die ersten Szenen mit den düsteren Piraten der Wilden 13 zeigen, wohin die Kinderfilm-Reise geht: Michael Endes ebenso phantastische wie poetische Geschichte ist heute ein ruheloses Spektakel mit nett altertümlichem Ton.

Nach dem erfolgreichen Realfilm „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer" kommt zwei Jahre das zweite Jim Knopf-Buch aus den Sechzigern auf die Leinwand. Die beiden Freunde haben den Drachen Frau Mahlzahn besiegt, aber das Findelkind Jim und seine Adoptivmutter Frau Waas quälen die Fragen nach Jims Herkunft. Gleichzeitig soll die Piratenbande „Die Wilde 13" für die wütenden Drachen Jim Knopf aufspüren. Mit den Dampfloks Emma und Molly starten die Lummerländer eine ruhelose Reise auf bewegten Meeren.

Bald treffen Jim (Solomon Gordon) und Lukas (Henning Baum) eine unglücklich verliebte Meerjungfrau, schalten einen Magneten und dessen magisches Meereslicht wieder an, müssen Molly einsam zurücklassen, treffen den Scheinriesen Herr Tur Tur (Milan Peschel) und den Halbdrachen Nepomuk wieder. Die Freunde bringen eine Menge wieder in Ordnung und sogar Wasser- und Feuerwesen zusammen, die sich gegenseitig verachten, ohne sich zu kennen. „Lass doch mal die ganze Fürchterei, so könnt ihr ja nie Freunde werden!" Die Metaphern vom Scheinriesen, der aus der Nähe betrachtet gar nicht so schlimm ist, und vom Überwinden der Angst vor dem Unbekannten werden fortgesetzt.

Ansonsten ist von Michael Endes schönen Ideen das Poetisches nur noch als vage Erinnerung zu spüren - „Jim Knopf und die Wilde 13" vor allem aufwändig in jeder Hinsicht. Tricktechnik, atemberaubende Welten und fantastische Figuren bestimmen diesen Kinderfilm. Ein lustiger König Alfons der Viertel-vor-Zwölfte (Uwe Ochsenknecht) mit herrlichen Wortverdrehern sorgt ebenso für Humor wie die nur am Anfang gefährliche „Wilde 13". Bei all den ausgereizten modernen Mitteln der Gestaltung bleibt die Verfilmung durch Regisseur Dennis Gansel („Die Welle", „Mechanic: Resurrection") am Ende in Rede und Umgangsformen sehr schön altmodisch, die Kern-Geschichte sympathisch altbacken. Ende gut, alles gut!

Enfant Terrible


BRD 2020 Regie: Oskar Roehler, mit Oliver Masucci, Hary Prinz, Katja Riemann, Eva Mattes 134 Min. FSK ab 16

Regisseurs Oskar Roehler („Elementarteilchen", „Die Unberührbare") ist selbst ein „Enfant Terrible" des deutschen Films: Unbequem, aber erfolgreich und innovativ. Immer mal wieder wurde er als „der neue Fassbinder" gehandelt. Dass er nun einen Film über die Legende Rainer Werner Fassbinder (1945-1982) macht, war zu erwarten. Allerdings kümmert sich „Enfant terrible" weniger um die Karriere, als um den Mensch und das Monster Fassbinder.

Die Geschichte von Fassbinder beginnt auf der Bühne: Als brutaler Typ in Lederjacke und Cowboystiefeln (Oliver Masucci) übernimmt er mit provokanten Ideen rabiat die Regie. Der Hauptdarsteller Kurt Raab (Hary Prinz) wird zusammengestaucht, aber er hat „eine Filmfresse" und Faßbender sammelt schon seine zukünftigen Stars. Die er gleichzeitig emotional abhängig macht: Liebhaber und auch mal Geliebte bekommen Rollen und Aufgaben, kurz Aufmerksamkeit, danach dürfen sie im Dunstkreis ein äußerst kreativen und perversen Fassbinder-Familie darben. Ein Spiel mit Gefühlen, das für einige tödlich enden wird.

Hinter poppigen Titel und poppigen Farben zeigt Roehler Szenen aus Fassbinders Leben kongenial radikal und sinnlich: Gemalte Straßenszenen, auch die Räume sind nur Kulisse. Was man schnell vergisst, so intensiv ist das Spiel, so faszinierend ist diese Figuren. Mit einem animalischen Riesenego hetzt er rücksichtslos durch seine Karriere, geht wortwörtlich über Leichen. Immer wieder werden Filme und Bühnenstücke erwähnt, Finanzierungsprobleme oder Erfolg bis in Cannes, aber es geht in „Enfant Terrible" nicht um Interpretationen, nur um die Menschen. Vor allem um ein manipulatives Schwein, der immer wieder die Leute erniedrigt, die im verfallen sind. Allen Mitarbeitern gab er wechselnde Frauennamen. Den unverschämterweise verheirateten Günter Kaufmann ließ er hinter einem Motorrad her schleifen. Für den neuen Liebhaber El Hedi ben Salem („Angst essen Seele auf") entführt er in Algerien zwei seiner Söhne – alle werden ihm bald lästig. Gleichzeitig ist der Mann in Lederjacke ein Sensibelchen, das unter einigen der Liebes-Beziehungen sehr leidet.

Historisch nett ist „Enfant Terrible" als „Schlüsselroman" mit vielen Bekannten, doch Roehler bietet hier keine neuen Enthüllungen. Das Funktionieren des „Clans" um Fassbinder ist dagegen fühl- und erlebbar. In die Kunstwelt dieser Inszenierung kommen von außen nur ab und zu Nachrichten über terroristische Anschläge rein. Es ist das Bild eines monomanischen Film-Monsters, dass mit zunehmenden Drogen- und Tablettensüchten noch unberechenbarer wird. Spät gibt es eine Abrechnung, etwas Reue anstelle des Selbstmitleids auch.

Die enorme Präsenz dieses Riegenegos erzeugt für Roehler der Schauspieler Oliver Masucci auf faszinierende Weise. Schon der Trailer zeigt dies mit einer grandiosen Tanz-Szene zum Hit der neuen deutschen Welle „Der goldene Reiter". So entsteht ein stark gefühltes Porträt eines Regisseurs und eines schwierigen Menschen. Dass „Enfant Terrible" umstritten sein wird, ist klar. Wegen historischer Details, verzerrenden Darstellungen von Zeitzeugen und Fassbinders politisch so was von unkorrekten Äußerungen. Doch auch darin liegt das Kongeniale dieser wunderbaren Würdigung.

Die Misswahl


Großbritannien, Frankreich 2020 (Misbehaviour) Regie: Philippa Lowthorpe, mit Gugu Mbatha-Raw, Keira Knightley, Greg Kinnear, Lesley Manville 107 Min. FSK ab 0

1970 steht in London wieder die Wahl zur „Miss World" an. Eine abgeschmackte, schäbige Fleischbeschau, deren Organisator Eric Morley (Rhys Ifans) Glamour verkaufen will, aber hinter den Kulissen um sein Unternehmen bangt. Gleichzeitig trifft die exzellente Historikerin Sally Alexander (Keira Knightley) zufällig auf die rebellische Jo Robinson (Jessie Buckley) und deren Frauengruppe. Da die unverheiratete Mutter Sally von der Ignoranz gegenüber Frauen im wissenschaftlichen Betrieb und im Alltag frustriert ist, geht sie zu einem der Treffen. Obwohl sie von den Frauen mit Hippie-Einschlag als bourgeois angesehen wird, macht Sally bei einer Aktion gegen die „Miss World"-Show mit. Beim Protest des „Women's Liberation Movement" gegen die Veranstaltung, die live für 100 Millionen Zuschauer weltweit übertragen wird, kommt es zu einer bewegenden Begegnung mit einer der Kandidatinnen.

Der Protest gegen die „Miss World"-Show von 1970 sind historisch verbürgt. Solch widerwärtigen Veranstaltungen stellen heutzutage nur noch Vorlagen für Spot und Karikatur dar. Siehe „Miss Undercover" mit Sandra Bullock. „Die Misswahl" von Regisseurin Philippa Lowthorpe („Call the Midwife – Ruf des Lebens") hingegen begeistert mit einem überraschenden Ansatz: Die Parallelhandlung um die Außenseiterkandidatin „Miss Grenada" Jennifer Hosten (Gugu Mbatha-Raw) verspottet zwar den Organisator Eric Morley und stellt den berühmten Moderator Bob Hope (Greg Kinnear) als ekelhaften Sexisten bloß. Doch die Teilnehmerinnen selbst werden mit ihren Hoffnungen und Ängsten während der entwürdigenden Dressuren und des Beglotzen ihrer Hintern sehr ernst genommen. Ebenso genau gezeichnet sind die Sorgen Sallys, die sieht wie ihre kleine Tochter schon Schönheitskönigin spielt und sich vorbereitet, einem verzerrten Schönheitsideal des Patriarchats nachzueifern. Das Treffen der beiden Hauptdarstellerinnen macht dann auch im Dialog deutlich, was heute mit „Intersektionalität" bezeichnet wird: Verschiedene Formen von Unterdrückung überschneiden sich und so ist die Misswahl für die emanzipierte weiße Frau aus dem Mittelstand ein Zeichen für Seximus. Für die dunkelhäutige Stewardess aus einer ehemaligen Kolonie dagegen eine Chance zum Aufstieg aus der Benachteiligung.

Diese unterschiedlichen Perspektiven durchziehen den ganzen Film und heben ihn von anderen Emanzipations-Dramen hervor. Der Konflikt zwischen Idealen und nahen Menschen, die anders denken und leben, ist ein schwieriger. Das zeigt „Die Misswahl" an vielen Beispielen, wobei es Regisseurin Philippa Lowthorpe und Drehbuchautorin Rebecca Frayn („The Lady") eher um Genauigkeit als um möglichst große Gefühle geht. So ist der große Eindruck dieses außergewöhnlich guten Films umso nachhaltiger.

Gott, du kannst ein Arsch sein!


BRD 2020 Regie: André Erkau, mit Sinje Irslinger, Max Hubacher, Til Schweiger, Heike Makatsch 98 Min. FSK ab 6

Til Schweiger als Pfarrer in der deutschen Kopie von „Das Schicksal ist ein mieser Verräter" ... klingt nicht sehr überzeugend. Doch „Gott, du kannst ein Arsch sein!" macht aus seiner filmgemäß harmlosen Krebs-Geschichte ein harmloses Jugendfilmchen für die geringeren Ansprüche.

Sehr amerikanisch verklemmt und weltfremd plant Steffi (Sinje Irslinger) ihren ersten Sex auf der Abschlussfahrt in Paris. Doch dann kommt der 16-Jährigen eine Krebsdiagnose dazwischen – selbst mit Chemotherapie hat sie nur noch ein paar Monate zu leben. Während sie weiterhin den ganzen Film über das strahlende Leben ohne einen Hauch von Schmerzen sein wird, rebelliert sie gegen den Behandlungsplan der Mutter (Heike Makatsch). Mit dem Zirkusartisten Steve (Max Hubacher), ein deutscher Ryan Gosling, bricht sie mit geklautem Auto auf und aus. Mama und der verpeilte Papa (Til Schweiger) fahren hinterher.

Im Schnelldurchgang Schnaps trinken, ein Tattoo machen lassen und mit einem Jungen schlafen – das ist die „Bucket List" der braven Steffi. Nicht bedauern, was man nicht gemacht hat, sondern feiern, was man erlebt hat, so lautet die Lehre aus den bunten Bildchen, die zwischendurch wie eine Autowerbung aussehen. „Gott, du kannst ein Arsch sein!" ist vor allem viel Oberfläche, selbst der versiffte Zirkus-Wohnwagen sieht poliert versaut aus. Und dass kerngesunde, strahlend schöne Menschen plötzlich eine tödliche Krankheit haben, ist sehr Hollywood.

Inspiriert vom gleichnamigen Buch mit der wahren Geschichte von Stefanie Pape, aufgeschrieben von Frank Pape, präsentiert der Film von André Erkau („Das Leben ist nichts für Feiglinge", „Happy Burnout") alles lauwarm: Nicht zu viele Gefühle, lieber positive als traurige. Ein wenig Action nach einem Tankstellenklau. Ab und zu richtig witzige und schlagfertige Dialoge, aber auch furchtbares Deutsch wie „den Unterschied machen". Auch die Besetzung überzeugt nicht: Sinje Irslinger wirkt als Steffi nur lieb und niedlich. Der Steve, Max Hubacher, verdient eine vielschichtigere Rolle. Heike Makatsch zeigt, was richtig gutes Schauspiel hier hätte leisten können. Til Schweigers Besetzung sollte ein Witz sein und ist schlapper: In „Knockin' on Heaven's Door" von Thomas Jahn und 1997 war er der Wilde, der mit dem Todkranken zum Meer ausgebrochen ist. Nun gibt es einen flapsigen Hinweis, dass nicht alle Krebskranken ans Meer wollen! Wenn Til Schweiger für den raffiniertesten Moment des Films sorgt, sagt das viel über den mäßigen Rest.

23.9.20

Brave Mädchen tun das nicht


USA 2020 (A nice girl like you) Regie: Chris Riedell, Nick Riedell, mit Lucy Hale, Leonidas Gulaptis, Jackie Cruz, Adhir Kalyan, Mindy Cohn 94 Min.

Was „brave Mädchen" tun, ist hier ganz stark eine Frage von Geschmack und mehr oder weniger enthemmter Lebensart. Was „brave", sprich: langweilige, Filme nicht tun, ist hingegen klar: Sie machen keinen Spaß, sie provozieren nicht wirklich und bringen überhaupt nichts.

Für die Violinistin Lucy (Lucy Hale) ist gefühlsloser Sex im Pyjama das Maß aller Dinge. Auch sonst wirkt sie ziemlich langweilig und als sie ihren Freund mit Pornos erwischt, stellt sie ihm ein Ultimatum: Sie oder die Pornos. Jeff bezeichnet sie als verklemmt und verlässt sie. In ihrer Verzweiflung erstellt Lucy eine Sex-to-do-Liste mit Stripclubs, Sexshops und Pornomessen, die sie mit ihren Freunden abarbeitet. Dass sie schon beim ersten Punkt einen Traummann trifft, ist ebenso langweilig wie Lucy selbst und der Rest des Films.

Sind Sie in der Lage ein leicht anzügliches Wort für Genitalien laut auszusprechen? Dann muss Ihnen das Rumgezicke von Lucy schon bei dieser „Prüfung" sehr blöd und unglaubwürdig vorkommen. Sicher wird es im großen Reich der Hemmungen und Selbstbeschränkungen ein kleines Segment von Publikum geben, dass sich genau hier wiederfindet. Dann viel Spaß. Der Rest wird kopfschütteln oder sich gar provoziert fühlen von diesem vergeblichen Versuch eines filmischen Keuschheitsgürtels etwas anzüglich zu tun. Ausgestattet mit der blassen, maximal „niedlichen" Hauptdarstellerin Lucy Hale („Pretty Little Liars", „Katy Keene") kann dieses, selbst im Angesicht vieler Dildos, völlig reizlose Filmchen mit schlechtem Drehbuch nur „brav" bleiben.


22.9.20

Ooops! 2 - Land in Sicht


BRD, Irland, Luxemburg 2020 (Ooops! Back in the Deep End) Regie: Toby Genkel, Sean McCormack 82 Min. FSK ab 0

Warnung: Dieser Film kann Farbempfinden und -Geschmack ihrer Kinder nachhaltig beschädigen! Bunt! Das fällt zuerst wieder auf bei der Fortsetzung des Animationsfilms „Ooops! Die Arche ist weg…". Bunt und ruhelos. Obwohl die Arche seit Wochen unterwegs ist und sich die Vorräte dem Ende zuneigen, passiert dauernd irgendetwas im selbstverwalteten und friedvollen Tierreich. Die durchtrainierte Taube, die wie immer schon den Job hat, nach Land zu suchen, löst eine Slapstick-Lawine aus. Meist sind es aber zwei Freunde, der Nestrier Finny und das Grymp-Mädchen Leah, die für Chaos sorgen und dann sogar über Bord gehen. Dabei entdecken sie eine einsame Insel, auf der sich haufenweise Nestrier vor der gefräßigen Außenwelt verstecken...

Diese Nestrier sind liebe, naive Figuren mit starkem Basteldrang und vor allem bunt! Diese teilweise deutsche Animation zeigt eher plastik-hafte Tiere mit minimalen Charakterzügen. Wichtiger ist in „Ooops", dass immer was los ist. Zeit, jemand genauer kennen zu lernen, gibt es nicht. Probleme, mit denen sich kleine Zuschauer identifizieren könnten? Fehlanzeige! Geredet wird in diesem einfachen Kinderfilm aber viel, allerdings meist ohne Witz in den Dialogen - die Erwachsenenbegleiter gehen ganz leer aus. (Moderatorin Janin Ullmann, Schauspieler Christian Ulmen und Koch Tim Mälzer können wie gewöhnlich auch stimmlich nichts Besonderes hinzufügen.)

Während „Ooops" nur aufgesetzt das Zusammenleben verschiedener Arten feiert, bedient sich das Buch vieler Ideen aus großen Weltraum- und Indiana Jones-Filmen. Ob das hektische Finale mit Vulkanausbruch, Lavaströmen und Meteoritenhagel noch kindgerecht ist, kann bezweifelt werden.

Pelikanblut


BRD, Bulgarien 2019 Regie: Katrin Gebbe, mit Nina Hoss, Katerina Lipovska, Adelia-Constance Ocleppo 127 Min. FSK ab 16

Ein Kinobetreiber meinte einmal im Gespräch mit Filmkritikern, das Wort „Problem-Film" sei nicht erwünscht im Text, es würde abschrecken. Mittlerweile sind sogar extreme Problem-Filme angesagt: Nach „Systemsprenger" erzählt auch „Pelikanblut" von einem schwer erziehbaren Kind, konzentriert sich aber auf die opferbereite Mutter und driftet nach langem Leiden ins Okkulte ab.

Die 45-jährige Wiebke (Nina Hoss) ist Spezialistin für schwierige Fälle, das sieht man schon, wenn sie bockige Polizei-Pferde mit viel Geduld zur Zusammenarbeit bringt und zwingt. Sie lebt mit ihrer neunjährigen bulgarischen Adoptivtochter Nikolina auf ihrem Reiterhof. Nun adoptiert sie mit der fünfjährigen Raya ein weiteres Mädchen aus Bulgarien. Das niedlich aussehende Kindlein mit dem blonden Haar erweist sich bald als sehr aggressiv, bösartig, gewalttätig und gemeingefährlich. Das ist eine Belastung für die größere, nun vernachlässigte Adoptivtochter, die schon vorher Albträume hatte. Und für Wiebke, die mit ihren Pferdetrainings-Tricks nicht mehr weiterkommt. Raya beißt und schlägt in Kindergarten und Freundeskreisen um sich. Ein konstant schreiendes Kind trägt auch beim Pferdetraining nicht zur Entspannung bei. Doch trotz der Diagnose einer schweren morphologischen Störung, eines unheilbaren Hirn-Schadens aufgrund frühkindlicher Vernachlässigung, gibt die verbissene Wiebke nicht auf.

Tatsächlich muss man bei so einem kleinen Teufel wie Raya an „Systemsprenger" mit der mächtig aggressiven Benni denken. Wobei es in „Pelikanblut" weniger um das Problem-Kind als um die Problem-Mutter geht. Nina Hoss legt eine ruhige Überlegenheit in den Blick ihrer sichtbar vernarbten Wiebke, aber auch eine Verbissenheit. Die Pferdehof-Mama hat selbst Probleme mit Bindungen und Beziehungen. Der muskulöse und hilfsbereite Polizeireiter, der ihr den Hof macht, wird immer wieder abgewiesen.

Das biblische Motiv des Titels „Pelikanblut" erklärt die Opferbereitschaft einer Pelikan-Mutter, die in ihre eigene Brust sticht, um die eigene Brut mit Blut zu ernähren. Mit Menschen ist das nicht nur anstrengend, sondern auch ermüdend. Man staunt erst über die unendliche Leidensfähigkeit der Adoptivmutter, dann wundert man sich. Wenn die paar Grusel-Elemente und wirklich horrenden Maßnahmen Wiebkes zu einem Exorzismus führen, belastet das Glaubwürdigkeit und Konzept des Films über alle Maßen. Derart irritierte Regisseurin Katrin Gebbe schon mit ihrem Debüt „Tore tanzt". Die Frage, ob das alles Gewinn oder vertane Zeit ist, stellt sich auch dem Zuschauer.

19.9.20

Persischstunden


Russland, Weißrussland, BRD 2019 Regie: Vadim Perelman, mit Nahuel Pérez Biscayart, Lars Eidinger, Jonas Nay 127 Min. FSK ab 12

In der Tradition von „Das Leben ist schön" und „Jakob der Lügner" zwingt das KZ-Drama „Persischstunden" einen belgischen Juden, sein eigenes „Persisch" zu erfinden und zu unterrichten. Nur diese Lüge kann ihm das Leben retten. Das historische Drama mit Nahuel Pérez Biscayart und Lars Eidinger in den Hauptrollen bewegt mit einer poetischen Idee und dosierten Schrecken deutscher Geschichte. 

Der junge jüdische Belgier Gilles (Nahuel Pérez Biscayart) wirkt etwas naiv, als er 1942 im übervollen Gefangenen-Transport sein Brot gegen ein Buch mit seltsamen Schriftzeichen tauscht. Doch wie in bitteren Märchen wird dieses seine Rettung, als die Deutschen alle Juden in einem Wald grausam und regungslos erschießen: Der scheinbar sinnlose Ruf „Ich bin Perser!" lässt die Todes-Schergen einhalten. Denn der Koch des nahen Konzentrationslagers sucht einen Iraner, weil er davon träumt, in Teheran ein Restaurant zu eröffnen. So wird Gilles nach drängenden Fragen und unter Todesangst zum Lieblings-Gefangen des SS-Hauptsturmführers Koch (Lars Eidinger). Er soll diesen in einer Sprache unterrichten, von der er kein einziges Wort kennt!

Diese aberwitzige Situation ist auf eigene Weise spannend, weil man sich kaum vorstellen kann, dass jemand allein in seinem Kopf eine neue Sprache entwickelt und sich den wachsenden Wortschatz tatsächlich merkt. Zudem kann Gilles, der tagsüber noch in der Küche arbeiten muss, keinen Stift benutzen. Zum Glück wird er auch als Schreibkraft für die Lagerlisten eingeteilt und kann sich so heimlich ein chiffriertes Wörterbuch erstellen.

Vorlage des Films ist die Erzählung „Erfindung einer Sprache" des renommierten Drehbuchautoren Wolfgang Kohlhaase. Darin ist der Gefangene ein niederländischer Student. Neben Anklängen an Roberto Benignis „Das Leben ist schön" erinnert die Geschichte auch an den alten DEFA-Film „Jakob der Lügner" nach dem gleichnamigen Roman von Jurek Becker (Regie Frank Beyer). Zwei humanistische Kino-Traditionen, die im Kern fortgeführt werden, denn Gilles' Lösung zum Memorieren der erfundenen Worte ist raffiniert und berührt eine Essenz jüdischen Gedenkens: Er nutzt die Namen der Gefangenen und Ermordeten, um daraus persisch klingende Worte zu bilden. So ist die Sprache, die der herzlose Offizier Koch so liebt, eine Erinnerung an die Menschen, die auch er umgebracht hat.

Regisseur Vadim Perelman („Haus aus Sand und Nebel", „Das Leben vor meinen Augen") baut auf schaurig gutes Schauspiel von Lars Eidinger, wenn dieser mit fast wahnsinnigem Blick sagt: „Wie du bereits gemerkt hast, bin ich ein gutmütiger Mensch." Völlig von eigener Güte überzeugt, gibt er Gilles andere Kleidung – „Ich hab im Lager etwas zugenommen, aber dir sollten sie passen." Dieser eklige, herrische Kommandant entgleitet zwar auch mal in Richtung Hitler-Imitation, ist aber durchgehend gelungen. Die Darstellung des Transport-Lagers ist architektonisch eine sorgfältige und glaubhafte Mischung verschiedener realer Lager. Eindimensional sind hingegen alle anderen deutschen Figuren, alles Sadisten und Intriganten, dazu ordinär und banal. Während die andern um ihr Überleben kämpfen, beschäftigen sich die Soldaten und Lagerhelferinnen mit banalen Eifersüchteleien, rachsüchtigem Klatsch und Penisgrößen. Auch wenn „Persischstunden" nicht immer ausgewogen und gelungen ist, in der erschütternden Schlussszene verfehlte er seine Wirkung nicht. 

18.9.20

David Copperfield (2020)


Großbritannien, USA 2019 Regie: Armando Iannucci, mit Dev Patel, Hugh Laurie, Tilda Swinton, Ben Whishaw 119 Min. FSK ab 6

Literaturverfilmungen konkurrieren oft mit alten Büchern um die stärkere Verstaubtheit. Ausgerechnet beim besonders heftig verfilmten Charles Dickens gibt es nun einen Lichtblick: „David Copperfield" macht mit der Machart mehr Spaß als mit der Geschichte.

Die Werdung von David Copperfield ist eine bewegte, aber keine nette Geschichte: Auf 600 Seiten des Bildungsromans von Charles Dickens erleben Kind, Junge und Mann immer wieder fiese Schicksalsschläge. Nach der Geburt aus der Perspektive des Babies endet eine glückliche Zeit mit seiner verwitweten Mutter Clara (Morfydd Clark) durch den bösen Stiefvater. Das vermeintliche Internat ist eine Flaschenfabrik und die typische brutale Kinderarbeit des Manchester-Kapitalismus. Nach vielen turbulenten Ereignissen bringt erst die Flucht zu seiner Tante Betsey Trotwood (Tilda Swinton) wieder etwas Sonnenschein in Davids Leben. Doch der fiese Studienkollege Uriah Heep stürzt die ganze Familie wieder ins Unglück, bevor die gerade noch erlebte eigene Geschichte als erfolgreiches Buch die Rettung bringt.

Der Film „David Copperfield" eilt mit einer bunten und verrückten Idee nach der anderen im Dampflock-Tempo durch den Roman-Stoff. Da weht es mitten in der Erzähl-Szene einen Vorhang zur Seite, zum nächsten Kapitel oder gleich zum nächsten Lebensabschnitt. Oder Film-Projektionen auf Wand und Gesichter erzählen weiter, während die bedröppelten Figuren davor stehen. Regisseur Armando Iannucci („The Death of Stalin") bricht auf herrliche Weise immer wieder die Erzählperspektive und ist damit tatsächlich dem Roman sehr nah. Dazu zeigen verzerrte Perspektiven und ausgefallene Kameraobjektive eine exquisite Ausstattung. Kostüme und Kulissen sind in der avancierten Form richtig zeitgemäß.

Alles findet im Rahmen einer Erzählung von Copperfield selbst statt, wobei er auch zwischendurch mal mit den Beteiligten diskutiert, ob sie in einer Szene vorkommen oder nicht. Die vielen schillernden Figuren, verkörpert von einer unglaublich auserlesenen Schauspieltruppe, tragen ebenfalls zum Genuss dieses Films bei: Dev Patel („Lion – Der lange Weg nach Hause"; „Best Exotic Marigold Hotel") gibt den erwachsenen Copperfield mit schöner Verschmitztheit. Tilda Swinton („Grand Budapest Hotel") ist als schrulligen Tante Betsey wunderbar schräg. An ihrer Seite spielt Hugh Laurie („Dr. House") den sympathische verwirrten Mr. Dick und Peter Capaldi („Paddington", „Dr. Who") taucht immer wieder als mittelloser Familienvater auf.

Das multi-ethnische Ensemble, dessen Farbspektrum überhaupt nicht dem Original entspricht, ist ein interessanter Beitrag zur Diskussion um so genannte Minderheiten im Film. Insgesamt zeigt „David Copperfield" ein tolles Filmspektakel, dessen Geschichte durch die fantastische Inszenierung ironischerweise zum uninteressantesten Teil wird.

Blackbird

Blackbird

USA, Großbritannien 2019 Regie: Roger Michell, mit Susan Sarandon, Kate Winslet, Mia Wasikowska, Sam Neill 97 Min.

Warum sollte man die Mona Lisa neu malen? Weil eine prominente Person Model sitzen möchte? Mit „Blackbird"
drängt sich die Sinn-Frage eines Remakes heftig auf, auch wenn schon das dänische Original „Silent Heart" nicht ganz überzeugte. Eine Familie und viele oberflächliche Klischees finden sich ein, weil die schwer kranke Mutter selbstbestimmt aus dem Leben scheiden möchte.

Das Remake, bei dem wieder Christian Torpe das Buch schrieb, macht es nicht wirklich geschickter, wenn der Film direkt mit Lilys (Susan Sarandon) Krankheit ALS ins Bild fällt. Wer dann heran fährt und auftritt, ist weniger Personen als Figur: Die gestresste und alles kontrollierende Tochter Jennifer (Kate Winslet) mit lächerlichem Ehemann und zu stillem Sohn. Dann die rebellische Tochter Anna (Mia Wasikowska) mit Suchtproblemen sowie der neuen Geliebten, die auch die alte ist. Zuletzt Lilys älteste Freundin (Lindsay Duncan) - für die spätere Überraschung im Film. Alle bringen den üblichen Haufen persönlicher Probleme mit.

„Es" wird auch nach wenigen Minuten erwähnt: Die Familie kommt nicht nur für den Geburtstag zusammen, sondern auch für den ersten Todestag. Denn Mama hat sich entschieden, morgen aus dem Leben zu scheiden. Pflichtschuldig wird darüber mal gestritten. Selbst Annas Plan, alles mit einem Anruf bei der Polizei zu stoppen, zerplatzt hier im Remake wie eine Seifenblase.

Auch „Blackbird" hat seine Momente. Lily geht mit einer schockierenden Offenheit mit ihrer Situation um, morgens ruft sie die jungen Leute zum Frühstück: „Kommt runter, ich bin bald tot." Dann kiffen alle Generationen entspannt zusammen, bevor das nächste Problem kommt, dann das rührselige Schlussbild. Kate Winslet ist als Jennifer kaum zu erkennen, auch weil sie aus der Rolle nichts Bemerkenswertes macht.

Man kann sich dem Scheitern dieses Remakes auch über die Ausstattung nähern: während im Dänemark des Originals das kleine Haus genug Platz bot, schön in der Natur lag und geschmackvoll eingerichtet war, ist bei „Blackbird" in den USA alles übermäßig und protzig: Der Reichtum, die Anzahl der Räume, das Design. Das gleiche gilt für die Schauspieler-Riege und andere Produktionswerte. Der Kern der Sache geht bei dieser äußerlichen Angeberei völlig verloren.

15.9.20

The Outpost

USA, Bulgarien 2020 Regie: Rod Lurie, mit Scott Eastwood, Caleb Landry Jones, Orland Bloom 123 Min.

Ein Haufen Jungs, die mal grobe oder fiese Scherze machen, aber immer brav Mutter und Frau anrufen, werden von wilden Horden bärtiger Turbanträger überfallen. Besser kann man diesen typischen Kriegsfilm leider nicht zusammenfassen. Die widerwärtige, auf wahren Ereignissen basierende Helden-Geschichte von 54 US-Soldaten, die im afghanischen Hinterland gegen Taliban kämpfen, führte zu einigen Orden, einem Sachbuch und nun zu einem Film für den dumpfen US-amerikanischen Patriotismus. Die Soldaten sitzen sinnlos in der Falle der umgebenden Gebirgszüge und laufen unheimlich naiv in einem Land rum, das sie nicht besonders mag. Auch wenn der erste von drei Kommandanten versucht, die greisen Stammesältesten zu kaufen, erfahren wir über diese nur, dass sie hinterhältig zu jedem Betrug bereit sind!

Während anfangs die regelmäßigen Beschießungen wie ein Spiel gesehen werden, auf das sogar gewettet wird, ist die letzte Stunde des furchtbaren Films ein durchgehendes Gemetzel. Diese afghanische Alamo geriet hochgradig uninteressant oder verachtenswert unangenehm, auch weil einem die amerikanischen Soldaten nie nahekommen - das Buch gibt keine Anhaltspunkte zum Kennenlernen oder gar zur Identifikation. Übrig bleibt ein Ballerspiel mit halb-bekanntem Personal.

Die Rückkehr der Wölfe


Schweiz 2019 Regie: Thomas Horat 95 Min. FSK ab 6

Der Wolf ist weit gekommen: Auch hinter ihm laufen schon Leute mit Plastikbeuteln herum und sammeln seinen Kot auf! Selbst wenn die Dokumentation „Die Rückkehr der Wölfe" beim verbissenen Streit um die Neuansiedlung des Raubtiers wenigstens zum Schein zwei Seiten mit schönen Bildern wiedergibt, die Fans des Wolfes wirken oft unfreiwillig komisch.

150 Jahre nachdem der Wolf in Mitteleuropa ausgerottet wurde, sorgt seine Rückkehr für gerissene Schafe und zerstrittene Menschen. Regisseur Thomas Horat reist aufwändig zur Spurensuche nach Österreich, nach Deutschland in die Lausitz, nach Polen, Bulgarien und nach Minnesota (USA). Zuerst erzählen Schäfer von den Problemen der Anpassung. Sie können die Schafe nicht mehr frei auf der Alm laufen lassen, müssen Hirten einstellen, Zäune aufstellen, Hütehunde besorgen und die dann auch im Winter im Tal irgendwie unterbringen. Eine euphorische Esoterikerin liegt sich wie tot auf die Wiese und lässt sich von einem Wolfs-Rudel beschnüffeln. Der Dialog zwischen Gegnern und Befürwortern lässt Letzteren bei allen Sympathien des Films nur ein klares Argument: Weil Wölfe vermehrt das Rehwild töten, knabbern die nicht mehr so viele Bäume an, was die erodierenden Gebirge sicherer für die Menschen im Tal macht. Und da würden die Entschädigungen für das Futter der Wölfe doch günstiger kommen.

Der Film wirkt wie ein als Großmutter verkleideter, harmlos im Bett liegender Wolf: Er macht unter dem Mäntelchen der Diskussion hauptsächlich Propaganda für eine Rückkehr der Wölfe in den Lebensraum der Menschen. Ein paar interessante Gedanken zur gemeinsamen Evolution von Wolf und Mensch werden angerissen, die Gründe für die Angst vor dem Wolf ins Mythische verlagert („gelbe Augen"!). Die Fans des bissigen Vierbeiners dürfen derweil unwidersprochen von guten alten Zeiten erzählen, in denen Menschen und Wölfe nebeneinander und ohne Mangel von der Wildjagd leben konnten. Und mit den Wölfen heulen.

13.9.20

Jean Seberg - Against all Enemies


USA 2019 Regie: Benedict Andrews, mit Kristen Stewart, Jack O'Connell, Anthony Mackie 103 Min. FSK ab 12

Die US-amerikanische Schauspielerin Jean Seberg zog nach ersten Erfolgen in Otto Premingers „Die heilige Johanna" (1957) und „Bonjour Tristesse" (1958) nach Frankreich und wurde mit Godards „Außer Atem" (1960) zu einer Ikone der Nouvelle Vague. Vor ihrem frühen, noch immer geheimnisumwitterten Tod 1979 sorgte sie auch mit ihrem Engagement für die schwarze Bürgerrechtsbewegung für Aufsehen. Der spekulative Spielfilm „Jean Seberg - Against all Enemies" zeigt den aufmüpfigen Star 1968 bis 1971 im Visier des FBI. Kristen Stewart kann im vagen Film nicht überzeugen.

Auch diesmal ist der legendäre Dreh von Johanna von Orleans auf dem Scheiterhaufen ein Menetekel für das unglückliche kurze Leben der Jean Seberg: Dass sie Narben von schlecht kontrollierten Flammen behielt, ist zwar nur eine Anekdote, aber für die Behandlung durch den FBI ist Hexenverbrennung eine gute Metapher: Im Mai 68, während in Paris die Revolution entflammt, verabschiedet sich Jean Seberg (Kristen Stewart) von Ehemann und Kind, um in Hollywood Joshua Logans Western „Westwärts zieht der Wind" zu drehen. Dabei will sie eigentlich etwas Relevantes machen und sorgt schon beim Atlantikflug dafür, dass der schwarze Aktivist Hakim Jamal (Anthony Mackie) trotz rassistischer Einwände der Fluggesellschaft in der First Class sitzen darf. Nach der Landung gibt es noch ein PR-Foto mit Aktivisten und erhobener Faust. Ein paar Tage später beginnt sie dann eine Affäre mit Jamal...

Parallel dazu zeigt der Film ziemlich dämliche und ignorante Geheimdienstler, die Jamal überwachen. Unter ihnen Jack Solomon (Jack O'Connell), ein junger Abhör-Spezialist, der eine Obsession für die berühmte Schauspielerin entwickelt. Die er allerdings nur in der unbegründeten Verfolgung der Frau ausleben kann. Der Neue in der Abteilung bekommt allerdings auch immer mehr von der ideologischen Beschränktheit seines gewalttätigen Vorgesetzten mit. Ganz zu schweigen von den Perversitäten des FBI-Bosses Hoover, der sich in seinem Verfolgungs-Wahn besonders für Aufnahmen aus den Schlafzimmern interessiert.

„Jean Seberg - Against all Enemies" schwankt zwischen tragischer Seberg-Episode und politischer Anklage gegen das geheime und höchst umstrittene „Counterintelligence" Überwachungs-Programm des FBI. Das mit schmutzigen Details vom Geheimdienst an die Öffentlichkeit gebrachte Skandal-Geschichtchen ist schwacher Kern eines mit großem Aufwand uninteressanten Films. Das Sujet hätte packen können, aber das Interesse für die Figur Jean Seberg bleibt überschaubar gering. Kristen Stewart baut ihre Independent-Rolen aus „Personal Shopper" und „Die Wolken von Sils Maria" aus, scheitert aber sowohl darin Tragik zu erzeugen, als auch den Mythos Seberg aufleben zu lassen. Man lernt nur eins: Geheimdienste mit extremen Weltsichten sind ganz schön gefährlich.

Über die Unendlichkeit


Schweden, BRD, Norwegen 2019 (About Endlessness) Regie: Roy Andersson, mit Jane-Eje Ferling, Martin Serner, Bengt Bergius 78 Min.

Der erste Satz im neuen (Roy) Andersson lautet „Es ist schon September". Ja, jetzt ist September, nach Monaten des Wartens läuft der Silberne Löwen der Filmfestspielen von Venedig 2019 im Kino. Sein Kinostart ist wegen Corona verschoben worden.

Der Schwede Roy Andersson setzt in „Über die Unendlichkeit" seinen unvergleichlich blassen Stil aus seiner Trilogie über das Leben („Songs from the Second Floor", „Das jüngste Gewitter" und „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach") fort: Viele Geschichten, reduziert auf kleine Momente mit bleich geschminkten Gestalten und Kulissen:

Ein Mann, dessen Arbeit darin besteht, über Gott zu reden, der als Priester seinen Lebensunterhalt verdient, träumt davon, gekreuzigt zu werden. Ein Mann, der auf eine Mine getreten ist und dessen Beine amputiert sind, spielt in der Untergrundbahn auf einer Balalaika „Oh, sole mio". Ein Liebespaar wie von Chagall schwebt über der völlig zerbombten Stadt Köln. Die Einstellungen in „Über die Unendlichkeit" ergeben eher selten einen einfachen Zusammenhang, durchgehend sehen wir den wankenden Priester: „Oh Vater, warum hast du mich verlassen?" 

Es gibt wieder wenig Dialog, aber einen poetischen Off-Text, immer beginnend mit „Ich sah einen Mann" oder „Ich sah eine Frau". Es folgen Beobachtungen über den Geist der Zeit, über die Menschen unserer Zeit. Die Szenen, wie immer mit bewegungsloser Kamera aufgenommen, sind absurd und traurig, oder einfach nur traurig. Wenn es mal einen netten Moment gibt, wie die liebevoll erwartete Ankunft des Vaters an einem Bahnhof, folgt danach aus dem Zug direkt eine Frau, auf die niemand wartet. Dann der weinende Vater, der seine gerade erstochene Tochter nach einem so genannten Ehrenmord noch in den Armen hält. Symptomatisch ist eine Diskussion im vollen Bus, ob man in der Öffentlichkeit traurig sein darf.

Hitler im Führerbunker, eine Zahnarzt-Behandlung mit Problemen. „Über die Unendlichkeit" ist eine geballte Dosis Traurigkeit, kunstvoll wie beige Senioren-Kleidung in einem vergessenen Kurort präsentiert. Insgesamt ist es sehr verständlich, dass dieser Film verspätet gezeigt wird. Der melancholische Herbst ist seine Zeit.

9.9.20

The Photograph


USA 2020 Regie: Stella Meghie, mit Issa Rae, Lakeith Lee Standgeld, Chanté Adams, Y`lan Noel 106 Min.

Die titelgebende Fotografie verbindet die Liebesgeschichten zweier Generationen, die Zerrissenheit zwischen Berufung und Liebe bei Mutter und Tochter. So ist „The Photograph" nicht nur eine berührende und erstaunlich glaubwürdig inszenierte schöne Liebesgeschichte. Das Drumherum ist hier mal mehr als nur hübsche Deko.

Mae (Issa Rae) findet in einem Schließfach ein Foto und den Brief ihrer kürzlich verstorbenen Mutter, der Fotografin Christina. Mit vielen Entschuldigungen und Überraschungen. Nicht nur verheimlichte Christina ihre schwere Erkrankung, auch die Distanziertheit gegenüber der Tochter hat eine Geschichte, die wir in Rückblenden erleben. Denn die junge Christina (Chanté Adams) floh ihre Heimat New Orleans, um in New York ihrer Leidenschaft für die Fotografie zu folgen. Trotz Christinas großen Liebe zu Isaac (Y'lan Noel).

Diesen, mittlerweile alten Isaac (Rob Morgan) porträtiert der Journalist Michael und entdeckt dabei ein Foto, das Christina zeigt. Diese Spur führt in zu Mae, erfolgreiche Kuratorin eines New Yorker Museums. Die zurückhaltende Mae und der leicht machohaft stille Michael verlieben sich, kommen sich im Kino und während eines Hurrikans auf schöne Weise näher. Doch diesmal ist er es, der für Job und Karriere nach London will...

„The Photograph" ist ein wunderbar ruhiger, exzellent inszenierter und gespielter Liebesfilm. Und noch viel mehr. Denn die raffinierte Parallelhandlung, während Mae den Brief immer wieder liest und Michael Issac Erinnerungen hört, reflektiert das Scheitern einer Beziehung mit der Chance, es in der nächsten Generation besser zu machen. Dabei hört das Denken nicht beim Frauen-Dilemma, zwischen Familie und Job zu entscheiden, auf. Es geht genereller um etwas, was heute „Work Life Balance" heißt. Das geriet der jungen Regisseurin Stella Meghie („Du neben mir") unter Begleitung hervorragender Jazz-Musik mit klugem Hintergrund sehr berührend. Hauptdarstellerin Issa Rae ist übrigens bemerkenswertes nicht nur wegen ihres Spiels, sie ist erfolgreiche Produzentin (auch dieses Films) und selbst Regisseurin („The Misadventures of Awkward Black Girl").

8.9.20

Kiss Me Kosher


BRD 2020 (Kiss Me Before It Blows Up) Regie: Shirel Peleg mit Moran Rosenblatt, Luise Wolfram, Rivka Michaeli, Juliane Köhler, Bernhard Schütz, Irit Kaplan, John Carroll Lynch 106 Min. FSK ab 12

Das deutsch-israelische Verhältnis ist vielfältig kompliziert – das Verhältnis eines deutsch-israelischen Pärchens zwangsläufig auch. Daraus eine Familien-Komödie zu machen, ist schon ein Kunststück. Shirel Peleg macht aus „Kiss Me Kosher" sogar eine spitzzüngige Romantische Komödie.

Die Suche nach einem Kosenamen findet eine überraschende Pointe: „Schatzi reimt sich ja auf Nazi!" Vor dieser nicht einzigen überraschenden Erkenntnis nimmt die leidenschaftliche und chaotische Ankunft der deutschen Maria (Luise Wolfram) bei ihrer Freundin Shira (Moran Rosenblatt) in Jerusalem reichlich Schwung auf: Das Zusammenziehen der beiden verstolpert sich in wenigen Minuten zu einem Heiratsantrag, der dann schon am Abend im Kreise von Shiras Familie ungewollt publik wird. Aufgeregtheit, Ressentiments und heimlich importiertes Schweinefleisch sorgen für liebevolles Durcheinander. Allerdings ist noch zu klären, was die Großeltern von Maria während Nazizeit und Holocaust getan haben. Und außerdem wimmelt es im Viertel, in dem Shira ihre Bar hat, von Ex-Freundinnen.

„Kiss Me Kosher" hat viel Spaß mit dieser historisch vorbelasteten lesbischen Beziehung. Selbst beim orthodoxen Hinterwäldler, der sich über einen Kuss unter Frauen aufregt. Dafür ist Shiras Oma richtig fies drauf. Der großartige Charakter, nach dem Shira sogar ihre Bar „The real jewish princess" genannt hat, ist zwar Holocaust-Überlebende, aber vor allen Dingen „meine Oma". Die jedoch meint: „Du wechselst Freundinnen so oft, wie ich meine Zahnprothese verlege!" Und das ist noch einer der netteren Sprüche. Dann gibt es in der äußerst komplexen und teilweise auch gespannten Gemengelage zum Kennenlernen der Schwiegereltern direkt mal eine Tour zu den Holocaust-Gedenkstätten. Und grüne Linien zu besetzten Palästinenser-Gebieten, die deutsche Linke auf keinen Fall überschreiten wollen. Mit einer aus deutscher Sicht überraschenden Unbekümmertheit sorgen hier historische und romantische Differenzen gleichgewichtig für Aufregung. Die Figuren sind wunderbar lebendig und niemals auf den Mund gefallen. Das Happy End geriet dann vielleicht etwas zu einfach, aber dafür sehr schön.

7.9.20

Body of Truth


BRD, Schweiz 2019 Regie: Evelyn Schels, mit Marina Abramović, Shirin Neshat, Sigalit Landau und Katharina Sieverding 96 Min. FSK ab 12

„Body of Truth", der Titel des Films, entstammt einem Zitat von Marina Abramovic und die radikale serbische Performance-Künstlerin ist auch das Zugpferd dieser Dokumentation über vier internationale Künstlerinnen. Neben Abramovic werden Sigalit Landau, Shirin Neshat und Katharina Sieverding kurz vorgestellt. Tatsächlich ist dies ein Problem von „Body of Truth": Mit jeweils nur zwanzig Minuten für ziemlich unterschiedliche Konzepte und Lebenswege kann der Film nicht in die Tiefe gehen. Zu jeder gibt es die Geschichte des Landes und der Region, der Epoche. Marina Abramovic ist wegen ihrem extremen körperlichen Einsatz bis zur Selbstverletzung bekannt. Die israelische Video- und Installationskünstlerin Sigalit Landau greift den Kriegsalltag im Nahost-Konflikt auf und verletzt ihren Körper mit Stacheldraht. Shirin Neshat, Exil-Iranerin und international renommierte Foto- und Video-Künstlerin sowie Regisseurin („Women Without Men" 2009, „Auf der Suche nach Oum Kulthum" 2017), betrachtet den weiblichen Körper als Schlachtfeld politischer Ideologien und die deutsche Foto-Künstlerin Katharina Sieverding beschäftigt sich mit faschistischen Strukturen von der Nazizeit bis heute. In den Ateliers dann Interviews zu den künstlerischen Konzepten und damit das nächste Problem. Die Reduzierung dieser sicherlich interessanten Künstlerinnen auf Körperlichkeit in ihrer Arbeit steckt ideologisch irgendwo im Feminismus der Siebziger Jahre fest. Diese übergestülpte Gemeinsamkeit wird im Film von Evelyn Schels („Georg Baselitz") selbst nur oberflächlich überdacht.

Mulan / Disney+

Emanzipiert sich Disney vom Kino?

USA 2020 Regie: Niki Caro, mit Yifei Liu, Donnie Yen, Jason Scott Lee, Yoson An, Gong Li, Jet Li 115 Min.

Die Realverfilmung von Disneys Animations-Original „Mulan" sollte schon im März einer der zwei, drei ganz großen Filme des Jahres für die Mainstream-Kinos werden. Doch nach Corona sieht die Film-Welt ganz anders aus: Schon im April verschob Universal seinen Animationsfilm „Trolls World Tour" ins Heimkino. Während Warner mit „Tenet" zuletzt auch das Risiko halb voller Säle in nur einigen der großen Kino-Länder einging, zog auch Disney nun seinen größten Kinofilm des Jahres auf die Couch zurück. „Mulan" ist ab Freitag in vielen Ländern für 21,99 Euro nur bei Disney+ zu sehen, ein Abonnement vorausgesetzt. Sicher mit dem Hintergedanken, so auch die eigene, noch recht frische Streaming-Plattform zu vermarkten. Das mögliche Kino-Erlebnis mit einem stellenweise großen Film schaut in die Röhre. Die Kino-Branche ebenso.

Mulan ist ein kleines, wildes chinesisches Mädchen, das bald verheiratet werden soll, um „die Familie zu ehren". (Geld spielt aber meist auch eine Rolle bei diesen arrangierten Ehen.) Als der chinesische Kaiser (Jet Li) in diesem 5. Jahrhundert allerdings vom Eroberer Bori Khan (Jason Scott Lee) bedroht wird, folgt Mulan als Mann verkleidet heimlich der Einberufung ihres invaliden Vaters. Die übliche lange und langweilige Militärausbildung bringt etwas Komik, wenn die dicken und dummen Jungs im Gegensatz zu Mulan meist versagen, dazu den Sexismus der Soldaten aber vor allem eine Erkenntnis: Es ist wie auch sonst im Berufsleben für eine Frau – sie muss immer viel besser sein als der entsprechende Mann.

Als die teilweise faszinierend inszenierten Schwertkämpfe ist Stil der modernen asiatischen Martial Arts-Choreographien endlich starten, ist es eine der großen Wendungen von „Mulan", dass sie sich entschließt, als Frau zu kämpfen. Sie rettet die Hälfte ihrer Truppe, hat aber nach dem „Coming Out" trotzdem „Schande über das Regiment gebracht". So ist die spannendere Auseinandersetzung die mit Xian Lang (Gong Li), einer anderen starken Frau, die wegen der gläsernen Decke auf der dunklen Seite wechselte. Sie kämpft nun als Zauberin, die sich in einen Greifvogel verwandelt, auf der Seite von Bori Khan. Das sorgt für viele eindrucksvolle Effekte eines nicht mehr kindgerechten Action- und Kampf-Films. Die Freigabe liegt bei 12 Jahren.

Die comic-haft „chinesischen" Nebenrollen und das fast schon klassische Ikon von Mulans Spiegelung in der eigenen Schwertklinge erinnern noch am meisten an das Zeichentrick-Original aus dem Jahr 1998. Das Real-Remake lag in den Händen von Niki Caro, einer Regisseurin für Frauenfilme wie „Whale Rider" (2002) oder „Kaltes Land" (North Country, 2005). Es entstand keine Würdigung des älteren Zeichentricks, sondern ein Martial Arts-Drama, das in den besten Momenten Meisterwerken wie „Tiger & Dragon" ebenbürtig wirkt, und ein starkes Emanzipations-Stück, was nur für die besten der Disney-Prinzessinnen gilt. Dass das „Mädchen, das die Dynastie rettet", dabei ein Einheits-Regime gegen die Angriffe einer farbigen Peripherie verteidigt, macht die Sache mit Gender, Rasse und so weiter etwas weniger einfach heldenhaft.

Ästhetisch oft überstilisiert mit verwaschenem Hintergrund und Zentrum im Fokus. Mittendrin mit einem der wenigen „edlen" Gesichtern des Films die Heldin Mulan in ihrem roten Umhang unter schwarzem Haar - das hätte auch Leni Riefenstahl gefallen. Dazu weite Landschaften und großartige Szenerien, wunderbare Kostüme und faszinierende Tricks für die große Leinwand. Die sieht „Mulan" allerdings nur in Kroatien, der Tschechischen Republik, der Slowakei, Türkei oder Thailand. Ansonsten bei Disney+, was in diesem Fall ein Minus ist.

*****

„Mulan" erscheint am 4. September in Deutschland als „Premium-VoD" oder „VIP-Zugang" beim Streaming-Dienst Disney+. Zusätzlich zum monatlichen Abo-Preis muss 21,99 Euro für den Kauf-Titel bezahlt werden.

6.9.20

Love Sarah


Großbritannien, BRD 2020 Regie: Eliza Schroeder, mit Celia Imrie, Shannon Tarbet, Shelley Conn, Rupert Penry-Jones, Bill Paterson 98 Min. 

Es dauert und trauert eine lange Weile, bis die Personen dieses kläglich zusammensackenden Film-Soufflees aufgestellt sind: Die Mutter, die Tochter, die Freundin und der Ex der verstorbenen Sarah. Verstorben gerade als der Mietvertrag für einen heruntergekommen Landen unterzeichnet wurde, den sich Freundinnen Isabella und Sarah als nett dekorierte Bäckerei in Notting Hill vorgestellt hatten Und dann dauert es wieder, bis Schwierigkeiten überwunden, bis der Laden eingerichtet ist und die vier anfangen, die verschiedenen Beziehungen aufzuarbeiten. Erst als sie das Multi-Kulti Konzept „Rund um die Welt in 80 Backwaren" entwerfen, fängt der Laden an zu laufen. Der Film hingegen nie.

Portugiesische Pasteis de Nata, orientalischer Baklava, Zimtschnecken aus dem Norden, was aus Tansania und ein japanischer Matcha Mille Crepe Cake. Anderer Süßkram von Spitzenkoch Yotam Ottolenghi kreiert, mit Hochglanz-Küchen-Fotografie ins Bild gebracht, sogar die Häuser im Viertel sehen bunt wie Zuckerguss aus. Der Film fühlt sich derweil weiter an, als wenn er in der Exposition feststeckt. Clarissa (Shannon Tarbet) bricht ihre Tanzausbildung ab und versöhnt sich mit Oma Mimi (Celia Imrie), die einst Sarah eine kalte Schulter zeigte. Isabella (Shelley Conn) stellt den Schwerenöter Matthew (Rupert Penry-Jones) als Konditor ein und wird reichlich an Selbstbewusstsein gewinnen. Das Ganze läuft, obwohl recht gut gespielt, so aufregend wie eine Bastel-Anleitung von IKEA ab. Nur dass da beim Zusammenbau mehr Überraschungen drin sind. „Love Sarah" wird als Tragikomödie verkauft, ist tragisch aber nur als Gesamtergebnis und komisch viel zu selten.

The New Mutants


USA 2020 Regie: Josh Boone, mit Blu Hunt, Anya Taylor-Joy, Alice Braga, Maisie Williams 94 Min. FSK ab 16

„Du wirst jetzt erwachsen und dein wahres Wesen entdecken!" Das ist mal eine Ansage und macht direkt klar, dass „The New Mutants" eher noch so ein High School- und Teenie-Filmchen als ein wirklicher Verwandter der hochwertigen Action der „X-Men" sein wird. Fünf junge Mutanten finden sich in einem einsamen Horrorhaus gefangen. Die Leiterin Dr. Cecilia Reyes (Alice Braga) will ihnen angeblich helfen, doch so einen richtigen Teenager macht solch ein Spruch erst recht wütend. Der aufmerksame Kinogänger weiß, was dann bei X-Männern und X-Frauen passiert: Entweder schießen Blitze aus den Augen oder es wird eiskalt in der Umgebung. Nur Danielle Moonstar (Blu Hunt) weiß noch nicht so recht, mit welcher mutantischen Fähigkeit sie einen Haufen Sachen kaputt machen kann. So muss sie erst mal das Mobbing der eiskalten Magik (Anya Taylor-Joy) erleiden und eine lesbische Romanze mit Rahne Sinclair (Maisie Williams) erleben. Doch bald wird der indigenen Amerikanerin ein sehr wilder Bär aufgebunden.

Die relativ billige Fox-Produktion von 67 Millionen US-Dollar will Disney in Corona-Zeiten bei nur halbleeren Kinos verheizen: Peinlich schematisch erlebt in „The New Mutants" jeder seinen Albtraum und entwickelt die eigene Superhelden-Fähigkeit. Dazu kommt beim vielfach misslungenen Filmchen der Dreh zum Horror. In den Erinnerungen an mögliche böse Erlebnisse der Kindheit gruselt „ES" mehr schlecht als recht herum. Das Schauspiel ist dabei sehr bescheiden, auch wenn die jungen Darsteller wie Maisie Williams („Game of Thrones") und Charlie Heaton („Stranger Things") schon in einigen bekannten Serien- und Film-Produktionen mitgemacht haben. Die Inszenierung von Regisseur Josh Boome („Das Schicksal ist ein mieser Verräter") langweilt vor allem. Die schlaksigen Horror-Gestalten sind schon fast zum Lachen. Im Vergleich zu den ersten, tiefgängigen „X-Men" oder grandiosen Ablegern wie „Logan" ist „The New Mutants" weniger als Abfall vom Schneidetisch.

1.9.20

Corpus Christi (2019)


Polen 2019 (Boze Cialo) Regie: Jan Komasa, mit Bartosz Bielenia, Aleksandra Konieczna, Eliza Rycembel 115 Min. 

Kleider machen Leute auf katholisch: Ausgerechnet ein von der Gesellschaft Verurteilter lehrt diese Gerechtigkeit und christliches Handeln, nachdem er ein geklautes Priestergewand angelegt hat! Das lässt sich bei den katholische Polen vielleicht als Parabel auf Scheinheiligkeit einer von Missbrauchsskandalen erschütterten Kirche lesen, auf jeden Fall gab es dort für den großartigen „Corpus Christi" zehn von 15 Filmpreise!

Daniel (Bartosz Bielenia) ist mit seinen sehr großen, sehr blauen Augen in einem mal gemeinen, mal weiblich weichem Gesicht eine interessante Erscheinung. Im Jugendgefängnis hält er Wache, während ein anderer Jugendlicher brutal gefoltert wird. Dann singt er im Knast-Gottesdienst mit hoher Stimme einen Psalm. Auf dem Weg zum Sägewerk, in dem die jugendlichen Delinquenten im offenen Vollzug arbeiten sollen, feiert Daniel erst einmal heftig und provoziert gerne dabei. Am Ziel angekommen, will er in einer Kirche ein Mädchen mit seiner Soutane beeindrucken und vielleicht auch aus der Rolle des typischen Straffälligen schlüpfen, den alle in ihm zu erkennen meinen. Doch als er die Soutane anhat, kommt Daniel nicht mehr aus der Sache raus, schnell muss er den alten Priester nach dessen Zusammenbruch vertreten.

Bei diesem interessanten Seitenwechsel überrascht der schon immer am religiösen Ritus interessierte Daniel: Eine Beichte bei ihm ist psychologische und pädagogische Beratung. Er kritisiert Gott für die Grausamkeit eines Verkehrsunfalls, der im Ort sieben Todesopfer forderte. Eine Schrei-Therapie soll den Angehörigen helfen, die am Mahnmal für sechs der Opfer täglich beten und singen. Bei der Eröffnung eines neuen Flügels des Sägewerks für straffällige Jugendliche (wo er eigentlich hätte arbeiten müssen), lässt er den reichen und machtbewussten Besitzer im Schlamm knien und um die Gabe der Niedrigkeit beten. Doch seine unkonventionelle Vorgehensweise kommt gut an. Der neue, junge Priester ist sehr populär. Bis er zusammen mit der jungen Lidia (Aleksandra Konieczna) die Ausgrenzung der Witwe des siebten Unfallopfers anklagt...

„Corpus Christi" ist eine ungewöhnliche und fesselnde Geschichte: Der Rollenwechsel des keineswegs sympathischen Daniel – charismatisch gespielt von Bartosz Bielenia – irritiert und begeistert gleichzeitig. Auch wenn er die Gebets-Formal googeln muss, findet er immer die richtigen Worte. Das sagt viel über den Zustand der Kirche, über Verlogenheit unterm christlichen Mäntelchen, aber auch allgemein über Menschen wie diese traumatisierten Dörfler. Ganz unabhängig davon, wie Daniels kirchliche Köpenickiade ausgeht, lässt sie nachhaltig nachdenken.

Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess


Niederlande, BRD 2019 (Mijn bijzonder rare week met Tess) Regie: Steven Wouterlood, mit Josephine Arendsen, Sonny Coops van Utteren, 84 Min. FSK ab 0

Sam ist ein meist strahlender Junge, der sich allerdings ziemlich stark mit seinem Ableben oder dem von anderen beschäftigt. Damit er das Alleinsein aushält, wenn er als letzter Mensch übrigbleiben würde, übt er jetzt schon mal alleine zu sein. Doch das ist wie der Beinbruch des Bruders eigentlich nur eine Fußnote im sonnigen Familienurlaub auf Terschelling. Fast kollidiert allerdings sein „Alleinheitstraining" mit den Einladungen von Tess, der quirligen Tochter der lokalen Arzthelferin. Die will zuerst mit ihm Tanzen lernen und dann zum Picknick. Das sind allerding nur Vorwände, um den älteren deutschen Gast Hugo kennenzulernen, hinter dem sie ihren unbekannten Vater vermutet. Die Mutter von Tess weiß nichts davon, dass ihr Ex gratis im Strandhäuschen einquartiert wurde...

Der leichte Jugendfilm und Familienfilm „Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess" richtet sich mit seiner undramatischen, kleinen Sommergeschichte eher an die jüngere Jugend. Es gibt nur etwas Drama und ein klein wenig Spannung am Ende. Regisseur Steven Wouterlood („Anything Goes") ist in seinem Kinodebüt keine großartige Entdeckung, doch viel falsch macht er bei der Verfilmung des Kinderbuches von Anna Woltz auch nicht. Die größten Probleme dieser Lebensphase werden mit niederländischer Ungezwungenheit angegangen. Die Lebensweisheit des alten Seebären, der wirklich einsam ist, kann sich allerdings jeder hinter die Ohren schreiben: Viel eher als Geld und Besitztümer sollte man Erinnerungen sammeln!

Drei Tage und ein Leben


Frankreich, Belgien 2019 (Trois jours et une vie) Regie: Nicolas Boukhrief, mit Sandrine Bonnaire, Charles Berling, Pablo Pauly,
Jérémy Senez 120 Min. FSK ab 12

Olly, ein kleines Dorf in den Ardennen, beherbergt eine unglaublich abgründige Geschichte. Geschrieben hat Vorlage und Drehbuch zum spannend und psychologisch fein inszenierten Film der französische Autor Pierre Lemaitre („Wir sehen uns dort oben").

Der zwölfjährige Antoine erlebt eine eher ungewöhnliche Kindheit: Zwar ist das Schwärmen für die nette Nachbarstochter Emilie Desmedt alterstypisch, doch als die mit dem typischen älteren Idioten auf dem Mofa knutscht, ereignet sich drei Tage vor Weihnachten eine menschliche Katastrophe: Erst verjagt Antoine den lieben Hund der Desmedts genau vor die Räder eines im Dorf rasenden Autos, worauf der grimmige Sonderling Michel Desmedt (Charles Berling) den leidenden Vierbeiner mit dem Gewehr erlöst. Später trifft der eigentlich nette und freundliche Junge den anhänglichen kleinen Freund, Remi Desmedt, im Wald unglücklich mit einem Ast am Kopf. Die hastig verbuddelte Leiche bleibt verborgen, weil ausgerechnet in der folgenden Nacht ein Jahrhundertsturm die ganze Gegend verwüstet. Fünfzehn Jahre später kehrt Antoine nach seinem Medizinstudium an den Weihnachtstagen wieder zu seiner einsamen Mutter nach Olly zurück.

Die ereignisreichen „drei Tage" des Titels mit dem Verschwinden des kleinen Remi (nur wenige Jahre nach den Verbrechen des wallonischen Sexualstraftäters Marc Dutroux), mit Suchaktionen und nächtlichem Versteckspiel dauern nur die erste Hälfte des Films an. Die zweite, das Leben danach mit Trauer und Schuld, erzählt grandios mit der fiesen Tragik russischer Romane, mit einem raffinierten und heimtückischen Plot sowie spannenden Figuren. Papa Desmedt ist vom Unruhestifter zum Alkoholiker geworden. Die schöne Tochter Emilie hat immer noch was übrig für Antoine und auch der Hauptverdächtige von damals, ein polnischer Metzger, trägt ein Geheimnis mit sich rum. 

Witzigerweise sehen in Olly alle ein wenig wie Serientäter aus, doch tatsächlich sind die interessanten Figuren alle sehr tief und meist tragisch gezeichnet. Schauspielerisch hätte man bei Pablo Pauly, dem erwachsenen Darsteller des Antoine, noch etwas mehr herausholen können. Er wirkt etwas zu lieb und brav, unberührt von einem schweren Geheimnis. Sandrine Bonnaire gelingt auch die Routine der Mutter gut. Mehr als ein Ardennen-Krimi ist „Drei Tage und ein Leben" eine sehr bewegte und bewegende Studie menschlichen Verhaltens. Was macht ein tragisches Ereignis aus einer kleinen Dorfgemeinschaft und aus einem Menschen. Mit der stoischen Haltung des alten, wissenden Dorfarztes: „Ich verurteile dich nicht, verurteile du mich auch nicht. In dieser Geschichte handelt jeder so wie er kann."

Regisseur Nicolas Boukhrief hat die exzellente Vorlage Pierre Lemaitres eindrucksvoll sicher und gekonnt umgesetzt. Ohne große Effekte, wenn man den apokalyptischen Hollywood-Sturm weglässt, aber ansonsten in jeder Szene stimmig. Egal ob intensives Kammerspieles oder große Menschengruppen. Das Ergebnis ist eine ziemlich gemeine Tragik, in der ein Lebenstraum zu einer billigen Teller-Bemalung wird.