28.11.22

Mehr denn je


Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Norwegen 2022, Regie: Emily Atef, mit Vicky Krieps, Gaspard Ulliel, Bjørn Floberg, 123 Min., FSK: ab 12

Die Luxemburgerin Vicky Krieps („Der seidene Faden") dominiert diese eigenwillige Krankheitsgeschichte vor norwegischer Landschaft. Der plötzliche Tod ihres Filmpartners Gaspard Ulliel nach den Dreharbeiten macht „Mehr denn je" der deutschen Regisseurin Emily Atef („3 Tage in Quiberon") gleich auf mehreren Ebenen zu einer Reflexion über Leben und Sterben.

Hélène (Vicky Krieps) wird von einer seltenen Lungenkrankheit aus dem Leben gerissen, schon kleine Anstrengungen rauben ihr den Atem. Trotzdem will sie mit ihrem Partner Mathieu (Gaspard Ulliel) in Bordeaux nichts verpassen. Sie kiffen, lieben sich, gehen mit Sauerstoff-Flasche zu einem Konzert. Vom Mitleid der Freunde will Hélène nicht hören. Ebenso wenig vom Plan, dass ihr eine Lungen-Transplantation ein neues Leben geben könnte. Was immer wieder zum Streit mit ihrem ungeduldigen Partner führt. Dann entwickelt sie die verrückte Idee, mühsam allein nach Norwegen zu reisen. Dort erwartet sie eine karge Hütte und dauernde Helligkeit der Mittsommer-Nacht, die sie nicht schlafen lässt. Der mysteriöse Chat-Partner aus dem Internet sieht auch ganz anders aus, als sie sich das vorgestellt hatte. Sie war von seinem Blog fasziniert, in dem er nicht wehleidig über seine Krebs-Krankheit berichtet. Bald genießt sie die Abgeschiedenheit des einsamen Fjords, die eiskalten Bäder und auch die Kommunikationsprobleme auf der abgelegenen Insel. Für Mobilfunkempfang klettern die Einheimischen erst auf den „SMS-Hügel". Dorthin führt Hélène atemlos ihr vermeintlich letzter Spaziergang zwischen schmerzendem Abschied und sturer Entschlossenheit. Als Mathieu ihr hinterher reist, muss sie wieder um ihre Vorstellung vom Ende des Lebens kämpfen.

Der intensive und berührende „Mehr denn je" ist über lange Strecken eine Solonummer der exzellenten luxemburgischen Schauspielerin Vicky Krieps („Corsage"). Lebenshunger, Angst, vor dem, was kommt, Liebe und Einsamkeit spiegeln sich in einfühlsamer Mimik und in dem körperlichen Ausdruck einer schwer fassbaren Entscheidung. Zusätzlichen emotionalen Gehalt erhält das Drama durch den nachträglichen Tod des Darstellers Gaspard Ulliel bei einem Ski-Unfall im Januar dieses Jahres.

27.11.22

Call Jane


USA 2021 Regie: Phyllis Nagy mit Elizabeth Banks, Sigourney Weaver, Chris Messina, 121 Min., FSK: ab 12

Wie die schwangere Joy von einem Kreis heftig rauchender Ärzte erfährt, dass ihr eigenes Leben im Vergleich zum Ungeborenen nichts wert sei, wäre gute Satire - wenn es nicht so furchtbar wahr ist: 1968 in Chicago, die Schwangerschaft schwächt das Herz der wohlsituierten Anwaltsgattin lebensbedrohlich, doch Abtreibung wird selbst in solchen Fällen nicht erlaubt. Alleine dem Horror illegaler Schwangerschaftsabbrüche ausgesetzt, bringt ein Aushang die Rettung: „Pregnant? Need help? Call Jane!" („Schwanger? Hilfe? Ruf Jane an!"). Während die mitfühlende Gwen zum Eingriff begleitet, versucht Joy herauszufinden, wer denn Jane sei. Tatsächlich verbarg sich hinter dem Namen nach historischen Fakten ein Kollektiv engagierter Frauen. Die Führung beim „Jane Collective" hat im Film, der einen schweren Kampf auch mit Humor und etwas Rührung nachzeichnet, eine endlich mal wieder groß aufspielende Sigourney Weaver als Virginia. Die Hauptrolle der sich mutig emanzipierenden Joy zeigt in vielen Nuancen zwischen Angst und Euphorie die auf die Weise selten zu sehende „lustige Blondine" Elizabeth Banks. Erinnert man sie doch aus „Die Tribute von Panem" oder „Pitch Perfect" eher oberflächlicher.

Dass der anhaltende Kampf um selbstbestimmtes Leben für Frauen nach Mike Leighs „Vera Drake" und Cristian Mungius „4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage" wieder in einem starken historischen Film behandelt wird, ist nicht nur wegen der neuerlichen Entscheidung des Obersten Gerichts der USA leider brennend zeitgemäß. „Call Jane" begeistert dabei vor allem zu Beginn mit vielen, genau beobachteten Details, welche Zeitumstände und Leben einer hochintelligenten Frau in der Nixon-Ära nachempfinden lassen. Eine breit angelegte Sicht auf das Thema bringt sogar das Problem der Intersektionalität in die schwierige Entscheidung der Gruppe, welche der in vielfältiger Weise unterdrückten und misshandelten Frauen für den Eingriff ausgewählt werden. Die Bühnenautorin und Regisseurin Phyllis Nagy inszenierte bislang zwar nur „Mrs. Harris" fürs TV, wurde aber mit ihrem Drehbuch zu Todd Haynes' „Carol" für einen Oscar nominiert. Das „Jane Collective" führte, bis es 1972 aufflog, circa 11.000 Abtreibungen durch, ohne dass eine Frau dabei starb. Diese Arbeit wurde 1973 unnötig, als sich der Supreme Court im Fall „Roe v. Wade" für das Recht auf Abtreibung aussprach. Das gleiche Gericht, das nun die Uhren wieder zurückdrehte.

Die stillen Trabanten


Deutschland 2022, Regie: Thomas Stuber, mit Martina Gedeck, Nastassja Kinski, Charly Hübner, 120 Min., FSK: ab 12

Aus den gleichnamigen Kurzgeschichten von Clemens Meyer („Als wir träumten") machen „Die stillen Trabanten" mit sehr prominenter Besetzung reizvolle Porträts von Menschen an sozialen Bruchstellen: Die ihrem Parka versteckte Christa (Martina Gedeck) reinigt Züge für die Bahn und muss mit Beschwerde der gnadenlosen Leitung fertig werden. Sie hatte in einem Abteil zwei Kirschkerne übersehen! Beim allabendlichen Schöntrinken des tristen Lebens („Noch eine Maria?") trifft sie im verlassenen Leipziger Bahnhof auf Friseurin Birgitt (Nastassja Kinski), die ebenfalls von Vorgesetzten schikaniert wird und den Frust mit Sektchen runterspült. Die Frauen fühlen sich direkt voneinander angezogen, von Männern haben beide sowieso genug.

Bistrobesitzer Jens (Albrecht Schuch) entschuldigt in seinem Imbiss dafür, dass sein Gehilfe den orientalisch aussehenden Gast Hamed (Adel Bencherif) wegen der Anschläge von 9/11 dumm anmacht. Nicht nett ist allerdings, dass Jens sich ohne Bedenken an dessen Frau Aischa (Lilith Stangenberg) ranmacht, die vor der Konvertierung zum Islam anders hieß. Bei der nächtlichen Zigarette im Treppenhaus flirtet er hemmungslos mit der Frau im Kopftuch und erzählt von den „Stillen Trabanten", den Lichtern umliegender Hochhäuser. In einem von ihnen, einem Ausländerwohnheim, dreht Wachmann Erik (Charly Hübner) seinen Runden und sucht die Nähe der jungen russischen Emigrantin Marika (Irina Starshenbaum).
 
Regisseur Thomas Stuber entwickelte wie schon bei den exzellenten „In den Gängen" und „Herbert" in Zusammenarbeit mit Clemens Meyer die Porträts suchender Menschen, die wie Trabanten kurzzeitig zueinanderkommen. Dabei wird den interessanten Figuren eine ruhige Konzentration und ein mitfühlend milder Blick entgegengebracht. Selbst beim in seinen Verführungsversuchen gnadenlosen Jens, der vom Verstehen wollen und vom Interesse an seinen Mitmenschen geleitet ist. Wie schon bei der Lagerarbeiter-Romanze „In den Gängen" mit Franz Rogowski und Sandra Hüller tragen bekannte Darstellerinnen und Darsteller die feinen Studien angeblich „einfacher" Menschen. Martina Gedeck („Wunderschön", „Ich bin dann mal weg") verschwindet völlig in ihrer abgearbeiteten Figur ohne Hoffnung. Nastassja Kinski („Paris, Texas") berührt als einsame Friseurin in einen ihrer sehr seltenen Auftritte.

21.11.22

Zeiten des Umbruchs


USA, Brasilien 2022 (Armageddon Time) Regie: James Gray, mit Anne Hathaway, Anthony Hopkins, Jeremy Strong, 115 Min., FSK: ab 12

James Gray, angesehener Regisseur spannender Thriller in osteuropäischen Einwanderer-Milieus („Little Odessa", „The Immigrant"), erzählt in „Zeiten des Umbruchs" von seiner eigenen Jugend in New York. In dem semi-autobiografischen Gesellschaftsbild der USA der 80er erlebt er als wenig aufgeweckter Junge Rassismus und Ungerechtigkeit. Bemerkenswert ist, dass die sich nicht gegen die eigene jüdische Familie richtet, sondern vor allem gegen den chancenlosen schwarzen Schulfreund.

Im Spätsommer 1980 fängt für Paul Graff (Banks Repeta) ein neues Schuljahr an und die Strafecke der Klasse bringt ihn mit dem sitzengebliebenen Schwarzen Jonathan (Jaylin Webb) zusammen. Gleich am nächsten Tag nutzen die Freunde, um bei einem Ausflug zum Guggenheim-Museum auszubüxen und auf eigene Faust die Stadt zu entdecken. Es wird nicht der letzte Streich der beiden sein, doch seltsamerweise bangt man nicht allzu sehr um den wohlbehüteten Paul, der Zeichner werden will. Die reizvoll nachgeahmte Zeit mit der aufkommenden Rap-Musik lässt sich ohne großes Nagelkauen genießen.

Auffällig werden diese „Zeiten des Umbruchs" nicht vom Schmerz des 11-Jährigen darüber bestimmt, dass er von den Eltern als zu langsam oder gar dumm bezeichnet wird. Auch nicht vom Tod des geliebten Großvaters (Anthony Hopkins), sondern von den Ungerechtigkeiten gegenüber Jonathan und der Unfähigkeit Pauls, ihm zu helfen. Denn das hat ihm der jüdische Opa, ein Einwanderer aus der Ukraine, mitgegeben: Es solle ein „Mensch" sein – auch im englischen Original jiddisch ausgesprochen. Er solle sich also für Gerechtigkeit einsetzen. Hopkins „stiehlt" in wenigen großartigen Momenten diesen Film, Anne Hathaway hat einige ansprechende Szenen.

„Zeiten des Umbruchs" sind auch Zeiten des politischen Wandels, denn der Originaltitel „Armageddon Time" entlehnt sich eines frühen Ausspruchs Ronald Reagans, dass die Zeit Armageddons bevorstehe, und spannt sich über zwei Monate, vom ersten Schultag Pauls bis zur Wahl Ronald Reagans am 4. November. Die Privatschule, auf der Paul nach zu viel Ärger landet, ist die elitäre Kew-Forest School, auf der ein Mäzen namens Fred Trump das Sagen hat und seine Tochter, die spätere Staatsanwältin Maryanne Trump (Jessica Chastain) neoliberale Reden hält. Die Verbindung von Reagan zu Trump ist unübersehbar.

20.11.22

Shattered - Gefährliche Affäre


USA, Deutschland, Schweiz 2021 (Shattered) Regie: Luis Prieto, mit Lilly Krug, Cameron Monaghan, John Malkovich 92 Min., FSK: ab 16

Wenig subtil nähert sich die durchnässte, knapp bekleidete junge Sky (Lilly Krug) im Supermarkt dem einsamen Millionär Chris (Cameron Monaghan). Zu einfach folgt sie seiner Einladung in eine abgelegene, luxuriöse Hightech-Villa. Die plumpe Verführung lässt keinen Zweifel daran, dass der ältere Tech-Millionär ausgenommen wird. Das „Wie" folgt schnell und brutal: Nach einem Überfall auf der Straße ist Chris im Rollstuhl und hilflos in Skys folternden Händen. Mit bald verratenen Passwörtern werden alle Konten geplündert, die Wohnung ist schon länger ausgeräumt. Der ehemalige Vermieter der Räuberin - John Malkovich in verschenkter Rolle - kommt ihr auf die Spur und ziemlich schnell durch ein Samurai-Schwert um. Dies Blutbad gibt einen Vorgeschmack auf ein Finale härterer Gangart.

„Shattered" als Erotikthriller zu bezeichnen, wäre zu viel der Ehre – alles ist hier zu offensichtlich. In der Hauptrolle spielt Lilly Krug, Tochter von Veronica Ferres, die eiskalte und zynische Killerin, ohne großen Eindruck zu machen. Mama hat den Film mitproduziert.

Emily


Großbritannien, USA 2022, Regie: Frances O'Connor, mit Emma Mackey, Oliver Jackson-Cohen, Adrian Dunbar, 130 Min., FSK: ab 12 

So bekannt und populär Emily Brontës Roman „Stürmische Höhen" aus dem Jahr 1847 immer noch ist, Details aus dem Leben der Autorin sind selbst bei der keineswegs schreibfaulen Brontë-Familie Privatsache geblieben. Deshalb entwirft „Emily" eine in Gefühlen und Bildern schwelgende biografische Vermutung über Emily Brontë (1818-1848).

Emily (Emma Mackey) wächst als Tochter eines Pfarrers im ländlichen Yorkshire auf und gilt im Ort als sonderbar. Gemeinsam mit ihren drei Geschwistern denkt sie sich Geschichten und Fantasie-Welten aus. Aber vor allem die ältere Schwester Charlotte (Alexandra Dowling), die auswärtig als Gouvernante arbeitet, verlangt nun mehr Ernst im Leben. So bleiben unter dem strengen Regime des Vaters Patrick (Adrian Dunbar) nur Eskapaden mit dem rebellischen und Opium-süchtigen Bruder Branwell (Fionn Whitehead). Und die heimliche Begeisterung für den neuen Hauslehrer William Weightman (Oliver Jackson-Cohen), dessen poetische Predigt über göttlichen Regen sie enorm begeisterte. Nachdem sie sich beim Französisch-Unterricht anfangs streiten, entflammt unter sehr sittenstrengen Bedingungen ihre Liebe.

Während man eine überraschend selbständige Emily Brontë lange nicht schreibend sieht, macht sie im Sturm der Gefühle schließlich das, was sie ihrem Bruder und dessen Romanversuch vorwarf: Viel stürmische Höhen, endlose Beschreibungen und exaltierte Stimmungen. Emma Mackeys („Sex Education", „Eiffel in Love") expressive Mimik beherrscht den Film und sorgt wie die moderne symphonische Musik für euphorische Gefühle. Der australischen Schauspielerin Frances Ann O'Connor gelingen in ihrem eindrucksvollen Regiedebüt reihenweise tolle Szenen: Die Umarmung mit dem verbannten Bruder durch im Wind wehende weiße Wäsche, ein schauerliches Spiel mit einer Maske, unter der Emily zu ihrer verstorbenen Mutter wird und eine euphorische Opium-Episode mit dem Bruder. Dazu selbstverständlich die dramatische Liebe zu Weightman mit ebenso dramatischer Zeitlupe und viel Regen, die bewusst Parallelen zu „Stürmische Höhen" aufweist. Das trefflich ausgestattete und kostümierte Historienstück wirkt vor allem durch seine unabhängige Hauptfigur alles andere als verstaubt und gestrig.

14.11.22

Die goldenen Jahre

Schweiz, Deutschland 2022, Regie: Barbara Kulcsar, mit Esther Gemsch, Stefan Kurt, Ueli Jäggi, 91 Min., FSK: ab 12

Nach seiner Pensionierung bekommt nicht Peter (Stefan Kurt) die erwartete Krise, sondern seine Ehefrau Alice (Esther Gemsch). Sie hat große Pläne und ihm geht es auch ohne sehr gut. Eine Kreuzfahrt durchs Mittelmeer – angeblich ein Geschenk der Kinder – soll helfen, aber Peter lädt seinen kürzlich verwitweten Freund Heinz (Ueli Jäggi) ein, mitzukommen. Die Fahrt mit dem fünften Rad am Kreuzfahrtschiff eskaliert so sehr, dass Alice in Marseille aussteigt. Aus dem Boot und aus der Ehe – sie brauche Zeit für sich selbst. Die getrennten Wege führen zu einigen Überraschungen.

Die Senioren-Komödie, der erfolgreichste Schweizer Spielfilm seit Beginn der Corona-Pandemie, legt gut gespielt, aber beschaulich und höchstens nett los, um im Verlauf der Ausbrüche eben mit diesen Überraschungen zu punkten. Die ganze Familie wird lernen, dass getrennte Wege nichts Schlechtes ist. Und als Happy End gibt es eine Wohngemeinschaft, die auch die nächste Generation noch erstaunt.