26.5.21

Cruella / Disney+ *****


„101 Dalmatiner" war im Jahr 1961 der 17. abendfüllende Zeichentrickfilm von Disney. 60 Jahre später läuft der neue Disney „Cruella" nicht im Kino, die Freigabe ist von 0 auf 6 Jahre angehoben worden, die Welt steht kopf. Denn wir lieben plötzlich die böse Cruella. Weil wir nach dieser herrlichen Vorgeschichte namens „Cruella" verstehen, weshalb die Modedesignerin unbedingt einen Mantel aus Dalmatiner-Fellen haben will. Ein in Inszenierung und Hauptrollen von Emma Stone und Emma Thompson überzeugender Spaß mit großer Bandbreite an Gefühlen.

Rebellisch ist die kluge Estella schon als kleines Mädchen – beim Nähen mit der Mutter zerreißt sie entschlossen das Muster, um etwas ganz Neues zu schaffen. Die Kindheit in bescheidenen Verhältnissen gerät beim Schuleintritt aus den Fugen: Wegen ihrer links schwarzen und rechts weißen Haaren wird Estella von den Idioten verspottet, die auch Behinderte mit Essen bewerfen. Doch damit sind sie beim ebenso intelligenten wie schlagfertigen Mädchen an die Falsche geraten. Die klasse Strafaktionen beantwortet ein verständnislos vertrockneter Schulleiter mit dem Rauswurf. Mama Catherine (Emily Beecham) will darauf nach London ziehen, doch ein Zwischenstopp auf dem überwältigenden Anwesen der Baroness von Hellman (Emma Thompson) endet tragisch. Wie bei Disney üblich, sterben Mütter von Prinzessinnen und anderen gerne vorzeitig.

So landet die junge Estella (Billie Gadsdon) einsam und traurig am Traumort London, wird aber schnell von zwei diebischen Straßenjungen aufgenommen. Zeit für Trauer bleibt keine bei rasanten Verfolgungen und raffinierten Diebeszügen im Swinging London der 70er Jahre. Mit einem flotten Sprung über zehn Jahre leitet Regisseur Craig Gillespie („Lars und die Frauen", „I, Tonya") die entscheidende Phase in Estellas Karriere ein. Ein weiterer Betrug bringt das fies geniale Mädchen Emma Stone ihrem Traum einer Modemacherin näher – als Putzfrau im Modehaus. Erst als sie im besoffenen Frust ein Schaufenster punkig kreativ umgestaltet, nimmt sie die Chefin, Baroness von Hellman, ins Design-Team auf. Ausgefallene Ideen machen das Mädchen zum Liebling der kapriziös herrischen Stil-Diktatorin, bis Estella erfährt, wer am Tod der vermeintlichen Mutter schuld ist. Die Wut gebiert atemberaubende Protest-Kreativität. Aus Estella wird Cruella mit nur einem Ziel: Kunst und Probleme machen!

Sicher ist „Cruella" erst einmal wieder Variante des Disney Werkschatzes, diesmal mutig Perspektiven und Sympathien auf den Kopf stellend. „101 Dalmatiner" und auch „Schneewittchen" neu erzählt. Aber immer ist in Cruellas Auftritt und ihren wilden Entwürfen die Modemacherin des Punk Vivienne Westwood zu entdecken. (Während ein Assistent der Baroness verdächtig nach Yves Saint Laurent aussieht.) Das raffinierte Rache- und Selbstfindungsdrama ist Dank mitreißend frechem Schauspiel und vielen Ausstattungs-Orgien trotz gebrochenem Mädchen-Herzens ein großer Spaß. Neben Emma Thompson, die scheinbar genüsslich pointiert einen miesen Charakter mit messerscharfen Sätzen spielt, erfreut Mark Strong als treuer Diener der fiesen Biester. (Glenn Close, im letzten Realfilm noch Darstellerin der alten Cruella, ist als Ausführende Produzentin dabei.)

Vollendet wird der Filmspaß um eine unangepasste Power-Frau durch einen grandiosen Soundtrack mit nicht nur für den Zeitkolorit sehr passenden Songs: Die rebellische Dynamik Cruellas erklingt aus „These Boots Are Made for Walkin'" von Nancy Sinatra, Nina Simones „Feeling good" oder Blondies „One way or another". Im finalen „Sympathy for the De Vil" (sic!) Der Stones wird der ganze Film zusammengefasst: Ab jetzt ist Cruella de Vil Sympathie-Figur und die Süßlichkeit der Dalmatiner-Welpen Pongo und Perdita Vergangenheit. Der bondartig reizvolle Abspann verspricht dann eine Fortsetzung, die gerne erwartet wird.

„Cruella" (USA 2021), Regie: Craig Gillespie, mit Emma Stone, Emma Thompson, Mark Strong, 135 Min., FSK: ab 6

Ab dem 28. Mai für 21,99 € („VIP-Zugang") auf Disney+

25.5.21

Army of the dead / Netflix


„We're caught in a trap" – wir sitzen in der Falle, singt passenderweise Elvis, während eine Zombie-Horde in Las Vegas einfällt. Nachdem der Klassiker „Dawn of the Dead" von George A. Romero mit seelenlosem Konsumwahn im Supermarkt spielte, will dieses Mal die glitzernde Spielerstadt ein reiz- und inhaltsvoller Hintergrund für gesellschaftskritischen Unterbau sein. Aber nach der Invasion blieben nur Trümmerfelder und Leichenberge. Vegas wurde hermetisch eingeriegelt und eine Atombombe soll das Zombie-Problem lösen. In letzter Minute will eine Gruppe von Söldnern um Scott Ward (Dave Bautista) viele Millionen aus dem Tresor eines Casinos retten. Die „Klapperschlange"-Aktion wird für ihn zum Wiedersehen mit Tochter Kate Ward (Ella Purnell).

Dass Zombie-Filme menschenverachtendes Gemetzel zeigen, ist klar. Die Frage ist jeweils, ob dieses Abschlachten sogenannter Un-Menschen als Feigenblättchen etwas Sozialkritik enthält. Oder ob gar am Ende des Blutrausches scheinheilig behauptet wird, Abschlachten sei keine gute Sache. Tatsächlich dauert es nach dem hochgradig ästhetisierten Vorspann-Gemetzel im Stile von Zack Snyders „300" - jetzt ersetzen Zombies die Perser - fast eine Stunde bis zur nächsten Blut-Spritzerei. Weiterhin ist der Drax-Darsteller Bautista aus „Guardians of the Galaxy" wortkarg, aber die vielen Nebenfiguren sind mit einem Minimal-Satz an Charakter ausreichend ausgestattet. Neben der französischen Anführerin Lilly „The Coyote" (Nora Arnezeder) sorgt der deutsche Schauspieler Matthias Schweighöfer für internationales Interesse. Er gibt als Safe-Knacker im Hippster-Dress den witzigen Part, allerdings nicht als Einziger und nicht als Bester. Komischer als sein angstvolles Kreischen mit hoher Stimme ist US-Comedian Tig Notaro („Star Trek: Discovery") als zynische Helikopter-Pilotin. Wie einen filmtechnischen Zombie hat man sie für Millionen nachträglich in den fertigen Film kopiert, weil der eigentliche Darsteller Chris D'Elia nach Vorwürfen sexueller Übergriffe im Rahmen von Cancel Culture ausradiert wurde.

„Army of the dead" (USA 2021), Regie: Zack Snyder, mit Dave Bautista, Ella Purnell, Omari Hardwick, Matthias Schweighöfer, 148 Min., Altersfreigabe ab 14

Mare of Easttown / Sky *****


Von einer unscheinbaren Kleinstadt-Geschichte zu Hochspannung in fünf (bislang zugänglichen) Folgen! Selten war eine Spannungskurve so steil wie in der siebenteiligen Miniserie „Mare of Easttown" von Sky!

Die Kleinstadtpolizistin Mare Sheehan (Kate Winslet) tritt nicht besonders freundlich oder sozial verträglich auf. In einfachem T-Shirt und Jeans kümmert sie sich um kleine „schäbige Diebstähle und Einbrüche", wie sie selbst sagt. Als junge Großmutter kümmert sich Mare um einen kleinen Jungen, der bedenklich nervös mit dem Auge zuckt. Dass sie so gut wie nie lächelt, mag daran liegen, dass viele ihr Versagen bei der Suche nach einem verschwundenen Mädchen vorwerfen. Vor allem deren Mutter, eine Schul- und Sportfreundin Mares. Und das in einem Dorf, in dem Jeder Jeden kennt - wenn sie nicht sogar miteinander verwandt sind. Bei oft unerfreulichen oder gar gewalttägigen Familienverhältnissen.

In ihrer nicht besonders aufregenden Arbeit zeigt die Polizistin Mare keine gesteigerte Begeisterung. Statt den Verdächtigen fängt sie sich bei einer lahmen Verfolgung einen angeknacksten Knöchel ein. Der begleitende Streifenpolizist kann kein Blut sehen. Wie die Badezimmer sind die meisten Handlungsorte nicht auf Hochglanz poliert. Das alles sollte in der ersten Folge nicht abschrecken, die für eine Krimi-Serie standesgemäß mit einer Leiche endet: Eine sehr junge Mutter, die kurz zuvor von der neuen Freundin des Vaters zusammengeschlagen wurde, wird nackt im Fluss gefunden. Als in Folge Zwei ein weiteres Mädchen verschwindet, nimmt Mare Sheehan die alten Ermittlungen wieder auf.

Es ist ein weiter Weg von der jungen Gallionsfigur im Super-Erfolg „Titanic" zur überarbeiteten Dorfpolizistin mit Depressionen. Kate Winslet spielt ganz und gar unprätentiös, aber gibt dennoch selbst einer wenig schillernden Rolle viel Ausstrahlung und Persönlichkeit. Das überrascht nicht, wenn man das unfassbare Spektrum dieser Ausnahme-Schauspielerin nur teilweise verfolgt hat: Als anstrengende Freundin Jim Carreys in „Vergiss mein nicht", als KZ-Aufseherin in „Der Vorleser", als verführte Verführerin in „Holy Smoke", als Landschaftsplanerin von Louis XIV in „Die Gärtnerin von Versailles" und als schöne Rächerin in „The Dressmaker" – um nur einige zu nennen. So verwundert in „Mare of Easttown" auch nicht die komische Nebengeschichte, dass trotz aller Widerspenstigkeit viele Männer an ihr interessiert sind.

Nun bestimmt Kate Winslet auch als ausführende Produzentin in „Mare of Easttown" eine ungewöhnliche Krimi-Serie, die mit der ungeschönten und genauen sozialen Zeichnung öfters an skandinavische Vorbilder erinnert. Winslet wird in der vielfältig interessanten Geschichte von einem breiten Figuren-Ensemble begleitet: Der Ex-Ehemann wohnt noch im Gartenhaus und heiratet bald wieder. Ein Cousin und Priester betrinkt sich mit der Mutter in der Küche. Doch im Zentrum der außergewöhnlich vielschichtigen Geschichte bleibt Mare Sheehan, die den Selbstmord ihres übel drogensüchtigen Sohnes verdrängt und Therapie verweigert. Davon ausgehend gewinnt das Drama von Folge zu Folge atemberaubend an Spannung, bringt noch einen echten Serienkiller ins Spiel und erinnert zeitweise sogar an „Twin Peaks" mit dem Schicksal von Laura Palmer. Selten sah man ein so gleichmäßig interessantes Ensemble und selten so viel Steigerung in der Spannung über die Serie hinweg. Eine unbedingte Empfehlung nicht nur für Freunde exzellenter Krimis.

„Mare of Easttown" (USA 2021), sieben Episoden je ca. 60 Min., Regie: Craig Zobel, mit Kate Winslet, Julianne Nicholson, Jean Smart, 92 Min., FSK: keine Angabe

Immer freitags um 20.15 Uhr in Doppelfolgen auf Sky Atlantic sowie auf Sky Ticket und über Sky Q auf Abruf.

The Woman in the Window / Netflix ****


Schon im Vorspann wird deutlich auf Hitchcocks „Das Fenster zum Hof" (Rear Window) verwiesen. Dazu Puppenhäuser mit vielen Fenstern für Voyeure. In einem der echten Fenster auf der anderen Straßenseite sieht Anna Fox (Amy Adams) den Mord an der flüchtigen Bekannten Jane Russell (Julianne Moore). Doch der verdächtige und bedrohliche Nachbar Alistair Russell (Gary Oldman) präsentiert der Polizei seine quicklebendige Gattin Jane (Jennifer Jason Leigh). Außerdem untergraben viele mit Alkohol gemixte Pillen die Glaubwürdigkeit der Kinderpsychologin Anna. Aber der verstörte Sohn der Russells Ethan (Fred Hechinger) scheint ihr recht zu geben.

Wo James Stewart in „Das Fenster zum Hof" 1954 durch einen Beinbruch ans Haus gefesselt war, ist es in „The woman in the Window" Annas Agoraphobie, die Angst vor offenen Räumen, welche die Protagonistin nicht nach draußen lässt. Auch die Kamera sperrt Amy Adams immer wieder ein. Das ikonische Bild mit der aufs gegenüberliegende Haus gerichteten Fotokamera übernimmt der neue Film, sorgt dazu im eigenen Haus mit unerklärlichen Geräuschen für zusätzliche Spannung.

„Geschätzt 50 Arten, entsetzt dreinzublicken" titelte der Spiegel seine Kritik. Aber wenn man jemand bei „geschätzt 50 Arten, entsetzt dreinzublicken" zuschauen möchte, dann ist es Amy Adams („Hillbilly Elegy", „Arrival"). Die Auftritte von Julianne Moore und Tim Roth machen die Geschichte zu einem schauspielerischen Edel-Reigen. Der erfahrene Regisseur Joe Wright („Anna Karenina", „Wer ist Hanna?", „Abbitte", „Stolz & Vorurteil) legt einige ästhetisch grandiose Sequenzen mit viel Kunstfertigkeit in Ausstattung und Kameraführung hin. Die Auflösung lässt sich zwar wegen ungeschicktem Über-Aktieren vorausahnen - auch ohne schlechte Jugend-Therapeutin zu sein. Mit einem deftigen Finale, das Hitchcock gefallen hätte, ist „The Woman in the Window" eher cineastischer Spaß als ehrenvolle Hommage. Wobei vor allem der andere Hitchcock, „Vertigo" mit den ausgetauschten Blondinen, Pate stand.

„The Woman in the Window" (USA 2020), Regie: Joe Wright, mit Amy Adams, Gary Oldman, Julianne Moore, 100 Min., Altersfreigabe: ab 14

12.5.21

The Underground Railroad / Amazon Prime (ab 14. Mai)


Das großartige Epos „The Underground Railroad" basiert auf dem gleichnamigen Bestseller von Colson Whitehead, 2016 mit dem National Book Award und 2017 mit dem Pulitzer Prize for Fiction ausgezeichnet. Die Flucht einer jungen Sklavin aus Georgia mit Hilfe des legendären Netzwerks „The Underground Railroad" wird mit fantastischen Elementen zu einem ebenso faszinierenden wie erschreckenden Kaleidoskop afroamerikanischer Geschichte(n) bis heute.

Cora (Thuso Mbedu) schuftet als Besitz weißer Farmer auf Baumwoll-Feldern in Georgia. Schon ihre Mutter war Sklavin, konnte aber fliehen. Trotz Vergewaltigungen und Erniedrigung weist Cora das Angebot des neuen Sklaven Caesar (Aaron Pierre) zur gemeinsamen Flucht ab. Bis der weiße Sklavenhalter stirbt und sein Bruder, ein übler Sadist, dessen Farm übernimmt. Nun wird alles noch schlimmer. In einer der grausamsten Szenen lässt er einen gefangenen Flüchtling über Tage bis auf die Knochen auspeitschen, während die weiße Gesellschaft davor im Garten diniert. Zum Schluss wird der Gefolterte bei lebendigem Leibe verbrannt. Nun schließt sich Cora einer Fluchtgruppe an und erreicht nach dramatischen Szenen einen „Stationmaster" (Bahnhofswärter) genannten weißen Fluchthelfer. Während das Hilfs-Netzwerk „The Underground Railroad" nur nach der damals aufkommenden Eisenbahn benannt wurde, gibt es im Roman von Colson Whitehead und der Mini-Serie von Barry Jenkins tatsächlich ein Schienennetz unter der Erde. Was nicht nur Cora erstaunt.

„The Underground Railroad" zeigt in der ersten Episode in Georgia schon beim Zusehen schwer erträgliche Grausamkeiten der Sklavenhalter, wie man sie aus „12 Years a Slave" kennt. Noch stärker sind die folgenden Episoden einer historisch in Nuancen veränderten Welt. Tagträume, Erinnerungen und Visionen zeigen sich stilistisch in magischen Szenen schwebender Gestalten und rückwärts laufenden Bildern. Der tatsächliche Zug unter dem Haus des weißen Helfers ist nur der auffälligste kreative Einfall des Autors Whitehead.

Coras folgende Fluchtstation, eine Stadt in South Carolina, feiert die Freiheit der Schwarzen. Aber in einem Museum der Sklaverei spielen die Weißen mit Begeisterung alte Grausamkeiten nach. Und feiern sich gleichzeitig als Wohltäter. Die Sklaven sind frei, dürfen sich jedoch nur kontrolliert fortpflanzen, während die Männer in einem Experiment mit Krankheiten infiziert werden. Wenn Cora „frei" durch die Straßen geht, erzählen die Blicke der wirklich Freien, sehr viel mehr von heute als von einer nicht genau datierten Vergangenheit. In North Carolina hingegen, der nächsten Station und Episode, sollen Schwarze aus rassistischen Gründen überhaupt nicht mehr existieren. Jeder und jede dieser religiös verbitterten Menschen, der Schwarze aufnimmt, wird auf einer schaurigen Allee voller Leichen gehängt.

Generell wird „The Underground Railroad" durch stilistische und inhaltliche Brüche noch interessanter: Coras Flucht, immer verfolgt vom Kopfgeldjäger Ridgeway (Joel Edgerton), korrespondiert mit mehreren Nebenhandlungen. Episode 4 „The Great Spirit" widmet sich in einer Rückblende allein der wirren Psyche des jungen Ridgeways. Die siebte Folge über „Fanny Briggs" ist nur 20 Minuten lang. Die exzellente Gestaltung durch Regisseur und Ko-Autor Barry Jenkins ist nach seinen aufsehenerregenden Erstlingen „Moonlight" (2016) und „Beale Street" (2018) keine Überraschung. Immer wurde die Unterdrückung der Afroamerikaner mit ungewöhnlicher Individualität und Sensibilität angeklagt.

„The Underground Railroad" (USA 2021), Regie: Barry Jenkins, mit Thuso Mbedu, Chase W. Dillon, Joel Edgerton, Aaron Pierre, 10 Episoden von 20–70 Min., FSK: ab 16

11.5.21

Seaspiracy / Netflix ****


Filmemacher Ali Tabrizi geht in seiner Dokumentation „Seaspiracy" seiner Begeisterung für die Ozeane und Meerestiere nach, um Erschreckendes zu entdecken. Seine romantische Sicht wird von Walstrandungen mit Mägen voller Plastik entzaubert. Dann geht es von Plastikmüll und Mikroplastik direkt um das Überleben der Menschheit: Denn „wir sterben, wenn Wale und Delphine sterben". Tabrizi sammelt Plastik von den Stränden und findet unter anderem einen Plastik-Nemo. In der japanischen Taiji-Bucht filmt er nicht nur das bekannte Abschlachten, dass die Bucht blutig färbt. Es ist auch das Fangen von Delphinen für Zoos und Tiershows, wobei für jeden gefangenen Delphin zwölf andere erschlagen werden, weil sie Konkurrenten der Fischer sind. Dann geht es zum Handel mit Haifisch-Flossen nach Hongkong und der Wert von MSC- und anderen Fischschutz-Siegeln wird kritisch untersucht.
„Seaspiracy" wird erst richtig interessant, wenn Tabrizi seine Person zurücknimmt und die großen Zusammenhänge ins Auge fasst. Die Industrialisierung der Fischerei mit ihren schwimmenden Schlachthöfen spielt vielleicht auch eine große Rolle für unser Klima. Hinter allem steht eine Industrie, die mit zig Milliarden öffentlicher Gelder gefördert wird – die Summe, mit der man den Hunger auf der Erde stoppen könnte. So werden auch afrikanische Fischgründe international leergefischt, die hungernden Fischer jagen Affen, das führt zu Ebola. Einsichten wie diese verderben den Appetit auf Fisch mehr, als die künstlich dramatisierte Jagd nach Informanten.

„Seaspiracy" (USA 2021), Regie: Ali Tabrizi, Lucy Tabrizi, 89 Min., FSK: ohne Angabe

Der Boandlkramer und die ewige Liebe / Amazon Prime Video


Föderalismus und Multikulti des deutschen Films gebären immer wieder seltsamen Stilblüten von unterhalb des Weißwurst-Äquators. „Der Boandlkramer und die ewige Liebe" ist so ein Stück Heimat- und Kasperle-Theater mit erstaunlich prominenter Besetzung. Der letzte Film des 2020 verstorbenen Regisseurs Joseph Vilsmaier („Herbstmilch", „Schlafes Bruder", „Comedian Harmonists") greift eine Figur aus Vilsmaiers Kinofilm „Die Geschichte vom Brandner Kaspar" des Jahres 2008 auf. Michael Bully Herbig gibt den Boandlkramer, was auf bayerisch der personifizierte Tod ist. Genauer, der für die Menschen Unsichtbare, der die Toten mit seinem Pferdekarren abholt und je nach Lebens-Ranking in die Hölle oder ins Paradies bringt.
Als diese „lebloseste Wesen unter den Leblosen" sich in Gefi (Hannah Herzsprung) verliebt, gerät diese Ordnung durcheinander. Ihren Sohn Maxl lässt der liebestrunkene Boandlkramer leben, einen Herzsbrecher bringt er in den Himmel, um Liebes-Tipps zu bekommen. Und mit dem Teufel (Hape Kerkeling) geht er einen Deal ein, um sichtbar zu werden.
Probleme mit der Jenseits-Bürokratie, Slapstick auch mit katholischen Zeremonien – das mag der Humor der Fünfziger sein, in denen Adenauer gerade die letzten Kriegsgefangenen freikauft. Die Idee zur Volks-Komödie stammt von Michael Bully Herbig („Der Schuh des Manitu", „Wickie und die starken Männer"). Wenn ein sehr aufgeschwemmter Hape Kerkeling als Teufel eine Musicaleinlage hinlegt oder wenn Stan Laurel und Oliver Hardy vom Boandlkramer tragikomisch imitiert werden, lässt sich auch jenseits der Schenkelklopfer schmunzeln.

„Der Boandlkramer und die ewige Liebe", (BRD 2019), Regie: Joseph Vilsmaier, mit Michael Bully Herbig, Hape Kerkeling, Hannah Herzsprung, 87 Min., FSK: ab 6

4.5.21

Night in Paradise / Netflix

Der knallharte Gangster mit dem weichen Herzen ist ein beliebtes Klischee des internationalen Kinos. In Asien meisterlich verkörpert vom Japaner Takeshi Kitano. Nun hat das koreanische Kino der Filmwelt viel Exzellentes gegeben, aber wie hier der Killer Tae-Gu (Eom Tae-goo) naiv seinem unausweichlichen Ende zuwartet, ist eher Mittelmaß.

Tae-Gu ist ein junger, aufstrebender Mörder für eine Gangster-Organisation. Im gut sitzenden Anzug zeigt sich Tae-Gu als fürsorglicher Onkel für seine Nichte und hilfreich für die Schwester. Als die bei einem Autounfall umgebracht werden, nimmt er hasserfüllt und loyal nimmt er den Auftrag an, den Boss der Konkurrenz in der Sauna umzubringen. Auf dem Weg zu ihm müssen vorher noch ein paar Helfer abgestochen werden. Der einzige Coole unter den uniform langweiligen Charakteren, ein lässiger Cop liefert einen netten Kommentar zum folgenden Bandenkrieg: „Was zum Teufel macht ihr da? Dreht ihr einen Film oder was? Das ist wie in den Achtzigern."

Erst im Finale tauchen die Raffinierten auf, welche die ganze Zeit alle Fäden in der Hand hatten. Dies Ende unterscheidet sich jedoch wenig von einem normalen Tag im Schlachthof für Schweine. Man kann das Film Noir nennen, weil es ja meist dunkel ist und (fast) alle Gangster dunkle Anzüge tragen. Doch „Schlachten mit Stil" wäre die passendere Genre-Überschrift. Sinnlos ist das alles, weil der am Ende ausführlich hingerichtete Tae-Gu vor seinem Martyrium ja keine Schuld auf sich genommen hat. Jedenfalls nicht mehr, als der übliche Auftragskiller von Nebenan. Zumindest das größte Schwein, der intrigante Ma Sang‑gil (Cha Seung‑won) hat Charisma und macht Eindruck, wenn er alle anderen reinlegt. Noch schlimmer als die Gewalt ist die englische Synchronisation, in Deutsch gibt es nur Untertitel. Das Ganze wäre kaum jugendfrei, müsste es durch eine Alterskontrolle.

„Night in Paradise" (Nagwon-ui Bam, Südkorea 2020), Regie: Park Hoon-jung, mit Tae-goo Eom, Yeo-bin Jeon, Seung-Won Cha, 131 Min., FSK: keine Angabe

Star Wars: The Bad Batch / Disney+

Star Wars: The Bad Batch

Die billigste Resteverwertung der Star Wars-„Saga" und Spielfigürchen sind ihre Zeichentrickserien. Erfolgreich geködert werden Fans mit Anknüpfungspunkten zu den richtigen Filmen: „Die Geschehnisse zwischen Star Wars: Episode II und Star Wars: Episode III". 2020 endete nach insgesamt 133 Folgen die 7 Staffel. Als Fortsetzung konzentriert sich „The Bad Batch" (dt: Ausschuss-Charge) auf eine Elitetruppe eigentlich fehlerhaft produzierter Klone, die sich nach einem Verrat der Führung für die richtige Seite entscheiden müssen.

Diese Prügeltruppe erlebt „das Ende der Klon-Kriege" mit banalem Geballer, mit kindischen, „lustigen" Sprüchen und albernen Gegnern. Es ist „Kinderkram", auch in dem Sinne, dass die Animation aussieht, wie von Kindern richtiger Filmemacher gekritzelt. Das ganze Elend wurde zudem anscheinend in irgendeiner Garage synchronisiert.

Die animierte Originalserie wird ab Dienstag, den 4. Mai exklusiv auf Disney+ zu sehen sein. Den Auftakt macht ein 70-minütiges Special, auf das ab dem 7. Mai wöchentlich immer freitags eine neue Episode mit weniger als 30 Minuten Länge folgen wird.

Die zweite Episode, von der Sie nach dem Gesetz des Disney-Imperiums auf keinen Fall schon etwas erfahren dürfen, bringt nur ein Mini-Abenteuerchen. Das könnte auch Star Trek sein – was die schlimmste Kritik für ein Star Wars-Produkt ist. Die Scherze sind kindisch die Handlungen erschreckend banal und übersichtlich. Nun gilt das für das ganze Star Wars-Universum. Doch nach dem stilvollen „Mandalorian" wird hier wieder ein ganzes Universum auf dem Erd-Boden der Tatsachen zurückgeholt.

Die Mitchells gegen die Maschinen / Netflix

Die Mitchells gegen die Maschinen

Kunst kann nützlich sein – das erfährt die junge Trickfilmerin Katie Mitchell als die Familienreise zur Filmhochschule eine Apokalypse wird. Denn es bedarf tatsächlich einer weltumspannenden Revolution der, um Katie wieder mit dem entfremdeten Vater Rick zusammen zu bringen. Und den Handwerker schließlich das Trickfilm-Können der Tochter anerkennen zu lassen: Kunst kann nützlich sein.

Diese umwerfend komische und richtig rührende Weltrettung der bunten Animation „Die Mitchells gegen die Maschinen" ist vor allem ein Vater-Tochter-Abenteuer. Der Weltuntergang fängt mit dem Ausfall des Internets an, weil das Smartphone eines mächtigen Cyber-Unternehmers – siehe Steve Jobs - beleidigt ist und die Kontrolle übernimmt. Zuerst sammeln Roboter weltweit alle Menschen ein, um sie ins All zu schießen. Nur die Mitchells bleiben frei und versuchen, den Notschalter zu erreichen. Es besiegt der Spaß mit unzähligen schrägen Einfällen die Action, wenn der schielende Schoßhund zur besten Waffe wird: Er ist so missraten, dass diese unvergleichliche Hässlichkeit die überforderten Chips der Roboter durchbrennen lässt. Aber auf Familie ist letztlich Verlass: Mama mutiert zur Samurai-Queen und Papas Kritik daran, dass alle ein Elektrogerät in der Hand und vor der Nase haben, lässt sich nachvollziehen – auch wenn dieser ein ziemlich verschrobener Handwerker-Typ ist.

„Die Mitchells gegen die Maschinen" (USA 2021), Regie: Mike Rianda, 110 Min., FSK: ab 6


Moskito-Küste / Apple TV+


Eine Eismaschine mitten im Dschungel! Das ist das ikonische Bild des Films „Mosquito Coast", an das auch die Serie 35 Jahre später erinnert: Noch steht die Apparatur, die aus Feuer Eis macht, in der Scheune des seltsamen Erfinders Allie Fox (Justin Theroux). Genial, aber trotzdem hält er sich mit kleinen Jobs über Wasser. In neun Jahren hat seine Familie sechs Mal Wohnort und Identität gewechselt. Der charmante und clevere Allie Fox scheint klüger zu sein, als die Polizei erlaubt. Extremistisch ist er nur in seiner Konsumkritik und der Anwendung alternativer Energien. Seine Kinder (Logan Polish, Gabriel Bateman) würden hinzufügen, dass er ihnen Smartphones, Computerspiele und Fernsehen verbietet. Als wieder mal der Geheimdienst näher kommt und die Sirenen schon auf dem Weg zur Familien-Farm heulen, begleitet ihn auch seine Frau (Melissa George). Vor dem Ziel Honduras steht allerdings eine lebensgefährliche Überquerung der Wüste nach Mexiko. In umgekehrter Richtung der Flüchtlings-Gruppen, aber trotzdem auf dem Radar der kriminellen Menschenschmuggler.

Ältere mögen sich an den nicht ganz gelungenen Spielfilm „Mosquito Coast" (1986) mit Harrison Ford und River Phoenix in den Hauptrollen erinnern. Der Film von Peter Weir hat es damals schwierig, weil er die erste ambivalente Rolle für Harrison Ford nach seinem „Indiana Jones"-Erfolgen war. Diesmal gibt Justin Theroux den genialen Erfinder, der für seine Ideale immer wieder die ganze Familie gefährdet und keine Alternative zulässt. Justin, das fällt schon bei Vorspann auf, ist übrigens Neffe des Romanautoren Paul Theroux, dessen Bestseller „Mosquito Coast" dieses Jahr 40-jähriges Jubiläum feiert. Die beiden Theroux' zeigten sich von der Besetzung begeistert und betonten, dass hier keine Form von Nepotismus für das Casting verantwortlich war.

Spannung erzeugt die siebenteilige Serie altbacken durch das Prinzip „Auf der Flucht". Bei dauernder Flucht-Bewegung gilt es in jeder Folge an neuer Station ein Problem zu lösen. Mal will eine charismatische Drogen-Baronin Rache, dann zeigt sich ein Mitverschwörer auf sadistische Weise misstrauisch. Dabei hat Allie Fox als erfahrener Untertaucher einiges drauf, MacGyver-Einlagen eingeschlossen. Seine „Abkürzungen" sind hingegen fast zum Lachen, doch die Familie lacht schon lange nicht mehr. Mit unerschütterlichem, lebensgefährlichem Optimismus ist Allie eigentlich ein mieser Charakter. Rücksichtslos, ohne Respekt vor Lebenden oder Toten.

„Du bist Amerika!" sagt ihm einmal hasserfüllt einer der Menschen, die unter die Räder des Idealisten kommen. Immer wieder zeigt sich die egozentrische Haltung des ach so alternativen US-Amerikaners. Die Philosophie dahinter ist hingegen treffend: Fernseher in den Schaufenstern bezeichnet er als „future trash", zukünftigen Müll. Obdachlose sind „defekte Konsumenten", die das größte Verbrechen begingen: Sie hörten auf, zu kaufen. In ersten Kritiken wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass hier Konsumkritik ausgerechnet auf dem Film-Kanal des gigantischen Konsum-Erzeugers Apple geäußert wird. Allerdings wäre es bei Amazon Prime auch nicht besser gewesen.

Selbst wenn das große Ziel, wie auch die Moskito-Küste nicht erreicht werden, überzeugt die Serie Folge für Folge mit guter Spannung. Dazu immer wieder starke Bilder, wie das Explodieren ausgestopfter Tiere in Zeitlupe. Oder die Monarchfalter, die ja auf Migrationen bis zu 3600 Kilometer ihr eigenes Road-Movie erleben und für die Seelen der vielen Toten stehen, die den Weg der Familie Fox pflastern.

„Moskito-Küste" (The Mosquito Coast, USA 2021), Regie: Rupert Wyatt, Natalia Beristáin, Clare Kilner, Tinge Krishnan, Jeremy Podeswa, mit Justin Theroux, Melissa George, Kimberly Elise, sieben Folgen à ca. 55 Min., FSK: ab 12