29.12.14

National Gallery

Frankreich, USA, Großbritannien 2014 Regie: Frederick Wiseman 181 Min. FSK: ab 0

Die schönsten Bilder dieser Kinowoche ... hängen in der Londoner National Gallery. Zum 85. Geburtstag des Regisseurs am morgigen Start-Donnerstag schenkt uns der meisterliche Dokumentarist Frederick Wiseman eine große Kunst-Geschichte mit hunderten wundervollen Bildern und Geschichten.

Tizian, Turner, Rembrandt, Rubens, Leonardo, Caravaggio, Vermeer und ... Wiseman. Der Filmemacher Frederick Wiseman, vor kurzem in Venedig mit dem Goldenen Löwen für sein Lebenswerk geehrt, begibt sich unter die berühmten Kunstwerke in der National Gallery und schafft selbst eines. Der Aufwand hinter dem absolut faszinierenden Film ist enorm: Wiseman verbrachte zwölf Wochen in der National Gallery, nahm 170 Stunden Film auf, die er zum einem in jedem Moment packenden Werk im Direct-Cinema-Stil verdichtete.

Der überall hymnisch gefeierte Film „National Gallery" fesselt dabei mit großartigen, packenden, hoch spannenden Bilderklärungen und zahlreiche Geschichten. Und wie diese großartigen Museumsführer, die Wiseman als stiller Beobachter in den Mauern des Museums gefunden hat, vermitteln, ist vielfach spannender als all der Action- und Thriller-Kram, der nebenan im Kino scheppert. Wiseman schafft es im Schnitt, herrlichen Porträts ebenso faszinierende Gesichter der Betrachter gegenüber zu stellen. Bilder, Betrachter und Beamte. Denn auch die Organisatoren und Kuratoren, die Wiseman bei erstaunlich vielen Gesprächen zugelassen haben, müssen sich mit dem Image des Hauses beschäftigen. Oder ganz banal klären, ob ein Marathon genau vor ihrem Eingang enden soll. Und selbstverständlich das angespannte Budget mit den wachsenden Kürzungen besprechen.

Der Ausnahme-Regisseur zeigt verschiedene Ansätze der Kunstdidaktik, etwa ein Bildanalyse-Seminar für Blinde. Oder den Vorschlag eines Museumsführers, sich doch mal all die Geschichten über Moses auf Bildern in der National Gallery anzusehen. Dann geht es zu den Restauratoren und den Rahmen-Machern oder zu einer Röntgen-Aufnahmen eines Rembrandt als „Making of ..." eines großen Meisterwerkes vergangener Jahrhunderte. So kann der Bildbetrachter im Kino über den Film selbst in hunderte Bilder eintauchen. Alles selbstverständlich ohne gesprochenen Kommentar des Filmemachers, was schon beim stillen Eintritt in die heiligen Hallen erlösend angenehm auffällt.

Es wirkt angesichts des fertigen Meisterwerks „National Gallery" so einfach. Wiseman arbeitet in seinem 42. Film genau wie bei seiner wundervollen Dokumentation „La danse" über das Ballett der Pariser Oper aus dem Jahr 2009. Doch das „Wie" seines Querschnitts durch eine Institution, die Art, das Wesen der Kultur an diesem Ort mit einer gekonnten Balance verschiedener Bestandteile, Außen- und Innenaufnahmen, einzufangen, macht „National Gallery" selbst zu einem Kunstwerk. Wenn man sich einen Moment vom begeisterten Staunen löst, fallen die genialen Feinheiten dieser Ausnahme-Dokumentation auf: Da erzählt jemand von der starken Verbindung zwischen einem (Altar-) Bild und dem in ihm dargestellten Engeln, und es wird klar, dass Wiseman in diesem Moment mit seinem Film diesen Prozess vielschichtig reproduziert. Die Kritik ruft denn auch begeistert: „Fast so wie ein Besuch des tatsächlichen Museums!" Das wohl nicht ganz, aber man kann mit dem Film „National Gallery" die Institution National Gallery derart intensiv erspüren und detailliert verstehen, wie es mit einem Museums-Besuch allein nicht möglich wäre.

28.12.14

Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach

Schweden, Norwegen 2014 (En duva satt på en gren och funderade på tillvaron) Regie: Roy Andersson mit Holger Andersson, Nisse Vestblom, Charlotta Larsson 100 Min. FSK: ab 12

Ein Mann betrachtet ein paar ausgestopfte Tiere im Naturkundemuseum und sieht selbst mumifiziert blass aus. Der Rest an Ausstattung, grün-grauer Kulisse und meist beigem Kostüm übrigens auch. So beginnt des Schweden Roy Andersson letzter Teil einer Trilogie über das Menschsein und so setzt er sich fort. Senffarbene Stühle sind schon ein Farb-Knaller, meist käsig geschminkte Figuren, häufig dick mit spannenden Hemden und Kleidern, bevölkern den Bildrahmen. Andersson bleibt seinem skurril anekdotischen Stil treu und die Tragikomödie sieht weiterhin faszinierend kränklich aus. Wofür es im September in Venedig den Goldenen Löwen gab.

Roy Andersson erhielt 1970 für „Eine schwedische Liebesgeschichte" einen Berlinale-Preis. Nach seinem zweiten Spielfilm „Giliap" ließ er ganze zwanzig Jahre auf einen Nachfolger warten. Zwischendurch sahnte er mit seinen Werbefilmen unter anderem acht Golden Lions in Cannes ab. „Songs from the Second Floor" bestand dann 2000 aus nur 46 Einstellungen ohne Kamerabewegung, deren Sets wochenlang vorbereitet wurden. Trotzdem drehte Andersson schon damals die komplexen, minutenlangen Szenen wieder und wieder, bis sie stimmten. Das Ergebnis ist auch diesmal wieder ein einzigartiges Kunststück und Meisterwerk, bei dem man richtig lachen und ziemlich viel nachdenken kann.

Wie über die schon ergrauten Kinder einer alten Frau, die im Sterben liegt. Sie versuchen, ihr eine Tasche mit allen Wertsachen zu entreißen. Vergeblich - so viel Kraft hat sie noch. Nächste Szene einer kleinen Reihe zu „drei Begegnungen mit dem Tod". Dann eine üppige Flamenco-Lehrerin, die ihre Finger nicht vom jungen, dürren Tänzer lassen kann. Einige Figuren tauchen immer mal wieder auf. Kleine Dramen setzen sich manchmal nur am Bildrand fort. Zwei völlig humorlose und dementsprechend erfolglose Scherzartikel-Verkäufer sind ein eigener, herrlich komischer „Running Gag" des Films. Dann mal beim gleichen Raum ein Perspektivwechsel der Kamera zwischen den Szenen, zurück in eine etwas weniger dröge Zeit, in der Seeleute in der Kneipe von „Hinke-Lotta" wie im Musical singen.

Ganz surreal wird es, wenn Soldaten aus einer ganz anderen Epoche in ein Lokal, das man irgendwo zwischen 60er und 70er verortet, reiten und ein schwuler König Karl XII von Schweden (1682-1718) auf dem Weg zur Schlacht gegen die Russen ein Glas Wasser trinkt. Erschreckend dann der Rückzug der „100.000 Mann", von denen nur ein paar Verwundete übrig bleiben. Und ganz furchtbar, der Affe aufgeschnitten und verdrahtet schreiend im Labor während die Forscherin unbeteiligt daneben telefoniert oder die Kolonisatoren, die Afrikaner in einer absurden Tonne mit Schallhörnern lebendig verbrennen.

Das alles läuft unter „Homo sapiens", diese Szenen skizzieren den Menschen in Tableaus vor unbewegter Kamera. Die künstlichen Außenkulissen sehen so trostlos und fast apokalyptisch aus, wie es sich schon vor 14 Jahren in Andersson „Songs from the second floor" andeutete. Dass Roy Andersson dafür in Venedig den Goldenen Löwen erhielt, kann man vielleicht als Würdigung eines gänzlich einzigartigen Werkes sehen. Es bereichert die Welt nicht unbedingt, aber die Sichtweisen des Kinos komisch und nachdenklich aufs Käsigste.

Herz aus Stahl

Großbritannien, VR China, USA 2014 (Fury) Regie: David Ayer mit Brad Pitt, Shia LaBeouf, Logan Lerman, Michael Peña, Jon Bernthal 134 Min. FSK: ab 16

Mitten im Schlachtfeld, einem echten Schlachtfeld - also nicht sprichwörtlichem - voller zerstörter und brennender Panzer reitet jemand auf einem weißen Pferd zwischen den Rauchschaden. Ein edler Ritter? Etwas Reines mitten in den besonders mörderischen letzten Monaten des 2. Weltkrieges? Mitnichten: Ein amerikanischer Soldat springt den Reiter an, den wir jetzt als Wehrmachtsoffizier erkennen und ersticht ihn, unter anderem direkt durchs Auge. Es ist der von Brad Pitt gespielte Panzerführer Don „Wardaddy" Collier. Diese erste Szene passt wie die Faust auf Auge des drastischen Kriegsfilms „Herz aus Stahl", denn es wird noch vieles von verstörender Eindeutigkeit im Zerstören von Leben und Körpern auf die Augen und in die Magengrube geben.

Ein Kriegsfilm, der mit der Prominenz von Brad Pitt verkauft werden soll; ein mit Matsch, Blut und Körperfetzen gezeichnetes Schlachtgemälde, das seltsam altmodisch daherkommt aber durch seine expliziten Schilderungen nachhaltig irritiert. Im Zentrum rollt und schießt der „Fury" (so der Originaltitel) getaufte Panzer der Amerikaner „irgendwo in Deutschland. Zur überlebenden Besatzung, denen gerade ein „Kamerad" gestorben ist, gehören der ziemlich wahnsinnige Latino-Amerikaner Trini „Gordo" Garcia (Michael Peña), der völlig wahnsinnige Nachlader Travis (Jon Bernthal), der verhinderte Priester Boyd „Bible" Swan (Shia LaBeouf) und jetzt als Ersatz der absolute Frischling Norman Ellison (Logan Lerman), eine Schreibkraft. Zuerst muss er den Sitz seines Vorgängers saubermachen, ein großer Teil von dessen Gesicht klebt noch am Boden. Noch jünger sind die deutschen Kinder, die mit Panzerabwehrwaffen im Hinterhalt liegen, wobei sich eine „Ladehemmung" bei Norman zeigt. Zur Abhärtung zwingt ihn dann sein Befehlshaber Collier, einen Gefangenen erschießen. Und diese „psychologische" Kriegsführung hat Erfolg, von nun an feuert der junge Mann ebenfalls wie ein Wahnsinniger auf all die Nazis da draußen - bis er sich den Spitznamen „The Machine" verdient hat. Und seltsamerweise keine Zeichen von Reue zeigt.

Dafür sind diese wenigen Kriegstage des Films auch zu kurz und zu dicht. Es sind düstere, schmutzige Stunden, bestimmt vom Braun des Matsches, vom Grün der Uniformen. Diese Farben vermischen sich in den Leichenhaufen, die mit dem Schaufelradbagger vergraben werden. „Herz aus Stahl" verbreitet auch durch die Ton-Begleitung von verstörendem Pfeifen und ungewöhnlichen Chöre in den Spannungs-Szenen immenses Grauen. Eine, bei ruhigerer Taktung der Schnitte, ganz andere Wirkung als die Überwältigung beim „Soldat James Ryan".

Pitts Figur ist dabei keineswegs positiv, nur seine Crew schwört auf ihn und seine Fähigkeit zum Überleben, die sie wohl schon in Nordafrika „zusammengeschweißt" haben, um noch eines der verharmlosenden Worte zu einer Kameraderie von Mördern zu verwenden. Denn seltsamerweise kann man den Film bei aller Abschreckung im Bild auch als Glorifizierung des einfachen Befehlsempfängers in Uniform sehen. Große Fragen werden nie gestellt. Es geht gegen Hitler und immer darum, ein paar der eigenen Jungs zu retten. Dann fliegen
zerfetzte Körper durch die Luft, andere werden von den Panzerketten zerquetscht wie weiche Früchte, ein brennender Soldat erschießt sich selbst. Der Kommentar von Wardaddy dazu: „Ideale sind friedlich, die Geschichte ist gewalttätig."

Gänzlich kippt der Kriegsfilm durch eine unsinnige und unglaubwürdige Heldentat am Ende. Der in seiner Darsteller vorher schockende Film wird nun zum Computerspiel mit einer ekligen Ladung morbidem Pathos. Denn jetzt geht es an einer völlig unbedeutenden Kreuzung von zwei Feldwegen nicht mehr darum, jemanden zu retten oder zu schützen. Jetzt sollen nur möglichst viele SS-Soldaten umgebracht werden. Allerdings ohne die grimmige Überzeichnung von Tarantinos „Inglorious Basterds". Damit verspielt der Film alles, was vom Schrecken des Krieges zuvor spürbar gemacht wurde. Nur Norman erfährt eine Gnade eines Auswegs aus der blinden Schießwut. Eine Gnade, die er selbst längst nicht mehr gewährt.

Die Sprache des Herzens: Das Leben der Marie Heurtin

Frankreich 2014 (Marie Heurtin) Regie: Jean-Pierre Améris mit Ariana Rivoire und Isabelle Carré 98 Min.

Es ist schwer vorstellbar, wie man blind, taub und stumm die Welt um sich herum erfahren soll. Regisseur Jean-Pierre Améris („Die anonymen Romantiker") versucht in seiner Geschichte der 1885 geborenen Marie Heurtin deshalb auch gar nicht, das Empfinden des Mädchens filmisch zu simulieren. Wir lernen Marie (Ariana Rivoire) kennen, als ihr Vater sie zu einem Schwestern-Kloster bringt, das verstörte Kind panisch durch den Garten rennt und sich irgendwie auf einen Baum flüchtet. Nur Marguerite (Isabelle Carré) hat unter den aufgeregten Ordensschwestern genügend Geduld, sich vorsichtig zu nähern. Die Verbindung ihrer Hände, das Abtasten des Gesichts sind schon pure Leinwand-Poesie. Und dann ist Marguerite dickköpfig und naiv genug, in biblisch unterlegten Disputen von der Mutter Oberin immer wieder zu fordern, Marie doch neben den anderen Waisenkindern aufzunehmen.

Marguerite, eine zarte, zierliche und kränkelnde Person, ist die eigentliche Heldin des Films. Unerschrocken macht sie sich auf einen tagelangen Fußweg, um die im Haus ihrer Familie gefangene Marie abzuholen. Schon die Rückkehr ist immer wieder unterbrochen von bewegenden sinnlichen Erlebnissen des in sich selbst eingeschlossenen Mädchens, vom Fühlen des Wasser oder einer Kuh. Bei der Ankunft ertastet und beschnüffelt sie auf belustigende Weise die alten und jungen Schwestern.

Ihre Erfahrungen im Lehren der Gebärdensprache will Marguerite mit Marie weiterführen, bekommt aber über eine unerträglich lange Zeit keinen Zugang. Das Kind reagiert auf die angebotenen Handzeichen für das von ihr innig geliebte Taschenmesser mit heftigster Ablehnung. Es ist ein hartes Ringen, beim Anzwingen der Klosteruniform sogar ein tatsächliches. Doch nachdem die nur über das Tasten kommunizierende Schülerin das erste Wort angenommen hat, beginnt ein begieriges und neugieriges Aufsaugen der Begriffe und damit der Welt. Die „Explosion der Sprache" macht selbst vor Adjektiven, Verben und abstrakten Worten nicht halt.

Marguerite erzählt in „Die Sprache des Herzens" mit einer Doppelung des Geschehens selbst aus ihren Tagebuchaufzeichnungen über Mühen, Verzweiflung, Hoffnung, Freude und einen tiefen Glauben. Das Wunder der Sprache beim Entstehen aufzeigen - nicht weniger gelingt Jean-Pierre Améris mit diesem ungemein liebevollen und in vieler Hinsicht wunderschönen Film. Wie er mit zarten Pastellfarben und ganz sparsamen Streicherklängen dieses Wunder erleben lässt, ist unbeschreiblich, sehr bewegend und zu Tränen rührend. Dabei nähert er sich der Geschichte selbst so vorsichtig wie Marguerite auf Marie zuging. Obwohl es um einen auf schreckliche Weise in sich gefangenen Menschen geht, betört die unverstellte Offenheit und Ehrlichkeit der Figuren. Gerade in der Reduktion von Stilmitteln und in der Konzentration auf nur eine Geschichte gelang der Film so wunderbar. Ariana Rivoire, bei deren eindrucksvollem Spiel man hinzufügen muss, dass sie in Wirklichkeit nicht blind ist, und die großartige Isabelle Carré verkörpern ihre Rollen perfekt.

„Die Sprache des Herzens: Das Leben der Marie Heurtin", diese Kaspar Hauser-Geschichte ohne Krimi wurde 2014 in Locarno mit dem „Variety Piazza Grande Award" ausgezeichnet. Es ist tatsächlich ein unbeschreibliches filmisches Wunder, das sich nur mit allen Sinnen erleben lässt.

22.12.14

Café Olympique - Ein Geburtstag in Marseille

Frankreich 2014 (Au fil d'Ariane) Regie: Robert Guédiguian mit Ariane Ascaride, Jacques Boudet, Jean-Pierre Darroussin, Anaïs Demoustier 92 Min. FSK: ab 6

Ein wunderschönes Märchen aus Marseille, ein Film, der gleichzeitig ehrerbietige Geschichte und leichte Spielerei ist. Regisseur Robert Guédiguian, neben Ken Loach einer der letzten sozialistischen Filmemacher im besten Sinne des Wortes, gelang einer seiner leichtesten Filme.

Der Glücksfall von Film beginnt mit Opernmusik zu den ausführlichen Geburtstagsvorbereitungen von Ariane, die mit zunehmend entgleisendem Gesicht nur Absagen zu ihrer Geburtstagsfeier erhält. Also bricht sie auf und schon beim Warten auf die Zugbrücke entsteht märchenhaft zu nordafrikanischer Musik eine große Tanzszene auf der Straße. Ein junger Mann nimmt Ariane auf dem Roller mit zum Café Olympique, der so ganz real einfache Menschen aus der Gegend versammelt und der gleichzeitig ein mythischer Ort ist. Mit griesgrämigem Chef, nächtlich weinendem Nachtwächter und einer sprechenden Schildkröte. Mit eingeflochten ist der mythische Faden der Aria(d)ne, auf den der Originaltitel „Au fil d'Ariane" direkt verweist.

Klingt verrückt, fügt sich aber alles zueinander. Das so einfache wie utopische Café mit seinen multikulturellen Bewohnern, die Leiden der Menschen und die Lösungen, die Ariane für sie findet. Vor allem der genre-übergreifende Musikeinsatz komplettiert das Glück, das dieser Film bereitet: „La donna e mobile" wird geschmettert und die tatsächlich ziemlich mobile Ariane wird zur ambulanten Katastrophe für einen Taxifahrer. Zum Glück kann er Schuberts „Forelle" zur Beruhigung der Heulenden auflegen. Wenn die gefallene Schönheit Lola (vom Hafen?) ein Bad im Brunnen nimmt, der so ähnlich wie Trevi aussieht, wieder selige Opernklänge.

„Café Olympique" ist unverkennbar ein Film von Robert Guédiguian („Der Schnee am Kilimandscharo", „Die Farbe des Herzens", „Marius und Jeannette - Eine Liebe in Marseille"). Er spielt wieder in Marseille, wieder bei den „einfachen Leuten", die meist die letzten ehrlichen und lebendigen sind. Wieder sind seine vertrauten Darsteller dabei, allen voran seine Ehefrau Ariane Ascaride und Jean-Pierre Darroussin. Diesmal aber auch Fellini in der Musik, Chansons von Jean Ferrat und der Glauben nicht nur an soziale Gerechtigkeit sondern auch an die Magie, die sich gewöhnlichen Leben versteckt.

Annie (2014)

USA 2014 Regie: Will Gluck mit Quvenzhané Wallis, Cameron Diaz, Jamie Foxx, Rose Byrne 118 Min.

Zu vermelden ist neben einem anständigen Remake des „Annie"-Filmmusicals aus dem Jahre 1982 vor allem ein zweiter sensationeller Auftritt von Quvenzhané Wallis. Das zwölfjährige Mädchen hat schon in der Indie-Urgewalt „Beasts of the Southern Wild" als Hushpuppy begeistert und beeindruckt nun jenseits des Grabens im Hollywood-Hochglanz mit sympathischer Erscheinung und super Gesangsnummern.

Wer die Lieder der 80er-Annie noch im Ohr hat, ist sofort begeistert. Denn wenn auch Handlung und Umgebung eines New Yorks mit städtischem Leihrädern voll modernisiert sind, Nummern wie „It's The Hard-Knock Life" reißen immer noch mit. Etwas ernster in der rührseligen Geschichte des Waisenkindes Annie ist der Wandel nicht nur ihrer Hautfarbe. Auch der nur anfangs menschenfeindliche Millionär Will Stacks (Jamie Foxx), der Annie hier aus Publicity-Gründen aufnimmt, ist Afroamerikaner und will Bürgermeister von New York werden. Er verteilt gratis Mobiltelefone seines Medienkonzerns, gibt sich volksnah, hat aber genauso viel Angst vor Bazillen wie vor seinen Mitmenschen. Da kann nur die Annie helfen mit ihrer immer positiven Lebenseinstellung und ihrem (fast) nie versiegenden Optimismus. Jeden Freitag wartet sie geduldig vor dem italienischen Restaurant, in dem sie als Baby gefunden wurde, doch die Chance, dank Starks aus der Betreuung der biestigen Miss Hannigan (Cameron Diaz) zu entkommen, ergreift das gewitzte Mädchen sofort.

Angetrieben von der bekannten Musik unterhält das Musical-Märchen in Schwarz und Weiß ausgezeichnet. Wenn die Handlung zu vorhersehbar wird, sind immer noch reichlich kleine Details zu entdecken oder im Vergleich zu bemerken: „Hard-Knock Life" läuft nun beispielsweise mit modernen Wischmobs und selbstverständlich mit Mülltrennung ab. Gesellschaftskritischer wirken deutliche Hinweise, dass diese Gratis-Handys nur private Informationen klauen wollen. Wobei die Totalüberwachung sich bei der finalen Verfolgungsjagd als Glücksfall erweist. Im Gegensatz zur Inszenierung, die hier dann doch billig wird.

Es bleiben die netten kleinen Lebensweisheiten Annies: „Ich glaube, wenn Menschen Nein sagen, haben sie nur Angst, Ja zu sagen." Dass man so etwas ohne Schreikrampf akzeptiert, liegt auch an der Überzeugungskraft von Quvenzhané Wallis. Sie wird im Medienrummel - des Films - ein schon zu großer Star, einige der Sanges-Nummern wirken vielleicht zu professionell. Aber vor allem sind sie sehr, sehr gut gemacht. Selbstverständlich gibt es - wie immer bei heutigen Remakes - viele bunte, schnelle Schnitte, viele Effekte und Multimedia, dafür weniger Raum für den Charme der Hauptdarstellerin. Am Rande überzeugen auch Cameron Dias komödiantisch als heruntergekommene und versoffene Ex-Sängerin, Jamie Lee Foxx als Medien-Mogul mit dem Herz am rechten Fleck und als seine herzliche Assistentin sehr bemerkenswert, Rose Byrne, der junge Star aus „Damages". Allerdings wird man sich an all diese Menschen einmal erinnern, als „die in einem Film von Quvenzhané Wallis mitgespielt haben."

21.12.14

Die Entdeckung der Unendlichkeit

Großbritannien 2014 (The theory of everything) Regie: James Marsh mit Eddie Redmayne, Felicity Jones, Maxine Peake, Charlie Cox, Emily Watson 123 Min. FSK: ab 0

Die Theorien des britischen Physikers Stephen Hawking kann kaum jemand verstehen. Doch vielleicht könnten wir ihn als Person verstehen? Über den nur auf den ersten Blick ungewöhnlichen Ansatz der Biografie „Travelling to Infinity: My Life with Stephen" von Jane Hawking, der Ex-Ehefrau Hawkings.

Im Cambridge des Jahres 1963 erleben wir Stephen (Eddie Redmayne) als lebenslustigen Kosmologen: Etwas linkisch, aber sehr überzeugend in seiner Nerdigkeit. Schon beim ersten Treffen mit der Literaturwissenschaftlerin Jane (Felicity Jones) wird deutlich, sie sind beide nicht auf den Mund gefallen. Wobei sein Mund mit einem großen Lächeln schon früh ein späteres Markenzeichen andeutet. Zur Liebesgeschichte gibt es schöne Aufnahmen von Erde und Himmel, dem wissenschaftlichen Höhenflug folgt ein böser Sturz und die Diagnose: Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Als ihm der Arzt nur noch zwei Jahre Leben gibt, fragt Stephen, was währenddessen mit seinem Gehirn passiert. Dies bliebe verschont, aber niemand würde seine Gedanken mitbekommen! Jane lässt sich nicht von Stephens Seite verjagen. Er schafft eine außerordentliche Doktorarbeit, bei der Feier mit Freunden es jedoch nicht die Treppe hoch.

Nun, dass Hawking seitdem Bestseller schrieb und bald 73 Jahre alt wird, sei hier vorweg verraten. Wie eine leidenschaftliche Liebesbeziehung und später eine tiefe Freundschaft dem Genie dabei halfen, erzählt „Die Entdeckung der Unendlichkeit" gefühlvoll, mit Witz und vor allem mit einem grandiosen Hauptdarsteller. Eddie Redmayne, der in „Les Misérables" schlecht und in „My Week With Marilyn" bemerkenswert eingesetzt wurde, imitiert die typische Kopfhaltung, die Mimik, die restlichen Bewegungen des an seinen elektrischen Rollstuhl gefesselten Wissenschaftlers. Und in diese gute Wiedergabe einer sehr bekannten Person legt Redmayne immer noch viel eigenes Gefühl und besonderen Ausdruck.

So kann Hawking mit Witz und Wehmut sowie mit einem Bier in der Kirche eine neue Stufe einer ganz besonderen Dreiecksbeziehung besiegeln, die er und Jane mit Jonathan, dem jungen Kantor der Kirche, pflegen. Wie erleben nicht nur große und großherzige Menschen, Inklusion auf besonderen Niveau und den Mensch hinter den Theorien von „A brief history of Time". Es ist auch - aus der Perspektive der Ex - eine große Liebesgeschichte, die im Moment der Trennung besonders bewegend wird.

Man darf dabei nicht erwarten, dass die wirkliche Last dieser Krankheit, das mühsame Anziehen, die Toilettengänge und so vieles mehr auch nur angedeutet ins Bild kommt. Dafür hat der Film keine Zeit, er will anderes erzählen. Genau deshalb werden auch die Dialoge später eingekürzt: Mit wenigen Klicks seiner verkrampften Hände drückt Stephen Hawking über seinen Sprachprozessor nun ganze Sätze aus. Doch für deren Witz und für deren Gedanken nimmt man die Verkürzung gerne in Kauf, das verschmitzte Lächeln Hawkings dabei noch lange im Kopf.

Bibi & Tina: Voll verhext!

BRD 2014 Regie: Detlev Buck mit Lina Larissa Strahl, Lisa-Marie Koroll, Louis Held, Emilio Moutaoukkil, Michael Maertens, Mavie Hörbiger, Olli Schulz 106 Min. FSK: ab 0

Wenn die Hex-Hex-Hexe Bibi in einem Genre-Clash voll auf dem Ponyhof-Trip kommt, ist das in den Fingern von Buck genialer Trash, Pulp und Kinder-Punk in bonbonbunt. Aus der Hörkassetten-Serie wurde auch im zweiten Teil ein Riesen-Spaß!

Schon beim Titelsong springt ein knackiger Knecht mit E-Gitarre aus der Scheune. Die scharfe Kommissarin Greta Müller (Mavie Hörbiger), angezogen wie Uma Thurman im Kill Bill-Stil legt noch am Tatort eines Kunstraubes eine affenscharfe Nummer hin, bei der die Spurensucherinnen flott mit dem Hintern wackeln. Überhaupt hat „Bibi & Tina" fast so viele Lieder wie ein indischer Film und genauso kitschig ist er auch. Und gleichzeitig eine überdrehte Parodie des Lieb-Mädchen-Films wie es „Der Wixxer" oder „Engel des Schreckens" auf dem Gebiet von Edgar Wallace waren.

Wenn ein Strippenzieher einen Gauner anstiftet, ein paar orientierungslose Jungs zum Kunstraub auf Schloss Falkenstein und zur geplanten Pferdeentführung zu drängen, dann paart sich Kleinstadt mit peppigen Popelementen. Was Tim Burton mit seinem klinisch reinen Burbank macht, wiederholt Detlev Buck fast genau so gut mit norddeutschen Straßen-Zügen. Dazu ein paar Western-Perspektiven, die konnte Buck schon bei „Hände weg von Mississippi", noch so eine tolle Pferde-Geschichte! Die Klamotten sind sowie ein Knaller, die Dialoge (Buch: Bettina Börgerding, Detlev Buck) sowieso. Dann die Landschaften (Kamera: Marc Achenbach) - wo sind die eigentlich her und wieso sieht man so was im deutschen Film / Fernsehen nicht öfter?

Während Lina Larissa Strahl als Bibi Blocksberg und Lisa-Marie Koroll als Tina Martin im Sinne der Parodie nur zurückhaltend überstrahlt in die Kamera blicken, darf Olli Schulz als grandioses Ekel groß auftrumpfen. Das kann so weitergehen und könnte sogar Pferdefilm-Allergie heilen!

Exodus: Götter und Könige

USA, Großbritannien, Spanien 2014 (Exodus: Gods and Kings) Regie: Ridley Scott mit Christian Bale, Aaron Paul, Joel Edgerton 142 Min. FSK: ab 12

Batman mit Bart, Gott als verzogenes Gör und eine Menge Geld, das den Bach runtergeht. Es ist schwer, sich diesem „Exodus" von allem Sinnvollen oder gar Weiterweisenden aus der Moses-Geschichte ohne Spott und Häme zu nähern. Ridley Spott, Verzeihung: Scott, bringt die Plagen des modernen Hollywood mit voller Wucht über uns.

Da die in verschiedenen religiösen Publikationen weit verbreitete Handlung vom Gewerkschaftsführer Moses und seinem Wüsten-Wanderverein direkt in die Zeit springt, in der Moses als General und Ziehbruder des künftigen Pharaos Ramses anerkannt ist, braucht man etwas, um Christian Bale in diesem historischen Mummenschanz als Moses-Schauspieler zu akzeptieren. Vor allem weil Joel Edgerton als Ramses mit bronzener Schminke, kahlem Schädel und dicken Lidstrich ziemlich altägyptisch aussieht, während Bale aussieht ... wie Christian Bale, heute und immerda.

Aber bevor er und alle anderen etwas Leben in diesem Overkill aus Schlachten und Effekten anerzählt bekommen, ist sie direkt mal zu Gange, eine dieser effektreichen Schlachten. Auf der Moses dem Thronfolger Ramses das Leben rettet, sich eine Weissagung erfüllt und der erste Zweifel beim Brüderchen aufkommt, das bald ein ganze Reich ohne eigenes Dazutun und ohne Erbschaftssteuer nachgeworfen bekommt.

Auf einer Inspektionsreise zu unzufriedene jüdischen Sklaven - kennt man ja von den Billigklamotten-Nähereien in Bangladesh, von den Bauten zur Fußball-WM oder von den IT-Schmieden in China und Taiwan - wird die wahre, die jüdische Herkunft von Moses offenbart, er in die Wüste verbannt und der Rest folgt wenigstens halbwegs den klassischen Vorlagen. Bis Ridley Scott eine Riesenwelle macht - wie eine Kollegin auf 3Sat so treffend formulierte.

Originell sind dabei nicht die übliche Nummern von bekannten Gesichtern hart an der Grenze zur Lächerlichkeit: John Turturro herrlich als Pharao Sethos, daneben unnötig Sigourney Weaver und Ben Kingsley auf Autopilot als der jüdische Alte, der das Geheimnis von Moses kennt. Wirklich, wenn auch unfreiwillig anders ist Ridley Scott mit ein paar Details, für die ihm wütende Christen gern das Kino unterm Hintern anzünden würden: Moses ist frisch verliebter und verheirateter Hirte irgendwo in Judäa, als Gott ihm erscheint. Nicht nur als brennender Dornbusch, sondern auch als Junge mit breitem britischen Akzent, der gerade einen General braucht. Oder genauer als unverschämtes Rotzgör, bei dem irgendwas in der Erziehung schiefgegangen ist. Dieses Bild macht deutlich, was für ein unbeherrschter, rachsüchtiger Gott da bei den Christen angebetet wird! Und es werden Fragen gestellt: Was das wohl für einer sei, der reihenweise Kinder umbringt? Allerdings nur so nebenbei, dass es den Gewinnaussichten des Films nicht im Wege steht.

Witzigerweise trifft diese Lebensaufgabe, ein paar mies behandelte Leiharbeiter zu erfolgreichen Landbesitznehmern zu machen, ausgerechnet einen rationellen Menschen, der schon 1300 Jahre vor unserer Zeitrechnung, die selbst nicht ohne Religiöses auskommt, eine Art Atheist war. Moses ist hier als der Zweifler zwischen den Fronten, der bis zum Ende seinen Bruder zur Umkehr bewegen und retten will. Und er ist ziemlich bodenständig: Moses/Bale steht tatsächlich wie ein Fels in der Brandung der Effekte.

Ach ja, denn es gibt auch ziemlich viele, ziemlich große Effekte. Aber nur wegen so was geht doch keiner ins Kino, oder? Die Plagen beginnen mit einer Krokodil-Attacke wie aus dem Trash-Film. Die Paläste, die Slums, alles ist vor allem gigantisch. Es mal mit glaubwürdig oder historisch authentisch zu versuchen, wäre echt zu billig gewesen. Jetzt wissen wir vor allem, welcher Gott mehr tierische Effekte drauf hatte. Da werde sich alle religiösen Konflikte ziemlich schnell beruhigen!

17.12.14

Neueröffnung Capitol Aachen

Zurück in die Zukunft

Heute zeigt das Capitol am Seilgraben erstmals wieder einen Film

Aachen. Viel Aufsehens will Leo Stürtz nicht um die Eröffnung des Capitols nach mehreren Monaten Komplett-Sanierung machen. Braucht er auch nicht, denn das im Stil seiner Entstehungszeit renovierte Kino spricht für sich selbst. Ein architektonisches Schmuckstück, eindeutig das schönste Kinos der Region. Mit einer ganz neuen Art, im historischen Gebäude Film zu sehen, für die Leo Stürtz pro Jahr mindestens 30.000 Zuschauer begeistern will.

Am Anfang ist Staunen: Aus dem schummerigen, nur mäßig gepflegten Capitol, das vor einem Jahr schloss, ist ein Augenschmaus geworden. Das Mint der 41 Designer-Sessel im Parkett korrespondiert mit der weit geschwungenen Bar, die so stilsicher vor der Leinwand steht, als sei es nie anders gewesen. Kleine Nierentische mit dimmbaren LED-Leuchten machen den Chic heimelig. Das neue Capitol ist ein Kino wie aus einer Design-Zeitschrift, nur in echt zum Reingehen, Wein bestellen und Genießen. Zum besonderen Genuss gehört im Konzept von Leo Stürtz reichlich Zeit vor und nach dem Film, zum Quatschen und Bewundern an der Bar. Denn es gibt nur eine Vorstellung pro Abend. Zum Auftakt läuft der Komödien-Hit „Monsieur Claude und seine Töchter", ab dem 25. Dezember dann Til Schweigers Alzheimer-Tragikomödie „Honig im Kopf" und „Die Entdeckung der Unendlichkeit", die Biografie über den Physiker Stephen Hawking.

Wenn man dann mit dem Vordenker und Bauherrn Leo Stürtz an dieser Bar erfährt, dass die Neigung der Rückenlehnen extra für diesen Saal und seine spezifische Leinwandhöhe in Italien gefertigt wurde, dass das Holz der filigranen Beine und der Umrandungen auf das Material des Bodens abgestimmt ist, merkt man, wie viel Arbeit und Liebe zum Detail diesem begeisternden ersten Eindruck zugrunde liegen. Dies in enger Abstimmung mit dem Denkmalschutz, der in Kleinarbeit die Originalfarben des Gebäudes aus dem Jahr 1958 frei kratze. Dabei weiß der Kino-Kenner zu berichten, dass auch die 50er-Jahre unterschiedliche Stile zeigten. Das alte Gloria der Familie Stürtz in Alsdorf sei mit Samt und Stuck eher mondän gewesen, während der Aachener Architekt Fritz Eigelshofen mit dem schlicht und elegant entworfenen Capitol seiner Zeit voraus war. Stürtz gesteht, dass er selbst immer wieder die geniale Fassade mit dem leichten Vordach genießt.

Doch zum wirklichen Genießen hatte er bislang keine Zeit, noch ist die Aufgabe nicht vollbracht. Während des Gesprächs entdeckt Leo Stürtz eine kleine Unsauberkeit in der Maserung des Tisches und aus guter Erfahrung mit einigen Neueröffnungen plant er ein feierliches Event erst Ende Januar, wenn sich das Kino mit seinem komplett neuen Team eingespielt hat. Denn auch hier braucht der neue Ansatz neue Leute, die Erfahrung mit der Gastronomie haben. Statt Popcorn und Nachos soll es chic verpackte Süßigkeiten, guten Wein und viel Service geben. Wichtig ist dabei die Personalausstattung des neuen Kinokonzeptes: Bei sechs Mitarbeitern und nur 120 Plätzen kommt also minimal einer auf 20 Gäste, auch das einzigartig.

Die Kosten lagen in der branchen-üblichen Kalkulation mit 11.000 Euro pro Kinosessel sehr hoch. Eine Investition, die der Kinobetreiber übrigens alleine tragen muss. Denn die Filmverleiher wollen weiterhin ihren vertraglich vereinbarten Prozentsatz von jeder Kinokarte haben. Egal wie wunderbar oder wie schäbig das Kino auch sei. Wenn also der Eintritt im Capitol für 14 € beträgt, verdient der Filmverleiher kräftig mit, ohne etwas dafür getan zu haben. Der Einheitspreis gilt sowohl für die 41 echten Sessel im Parkett als auch für die 83 geräumigen Kinostühle mit beweglicher Rückenlehne auf dem Balkon. Leo Stürtz möchte so jedem etwas für seinen Geschmack geben.

Dem Publikum gibt er nun die Zeit, das repräsentative Gebäude, auf das die Stadt stolz sein kann, zu entdecken. Stürtz glaubt daran, dass eine kontinuierliche Steigerung am nachhaltigsten ist. Apropos nachhaltig: Wenn diese Herkules-Aufgabe, die ohne seine beiden Söhne nicht möglich gewesen wäre, bewältigt ist, will sich der Senior-Chef wieder verstärkt seinen Bemühungen um ein abfallfreies Kino zuwenden. Denn bisher hat er mehr Zeit auf der Baustelle als im Büro verbracht. Allerdings auf einer der schönsten Baustellen, die sich ein Cineast vorstellen kann.


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Leo Stürtz übernahm den väterlichen Kinobetrieb in Alsdorf mit den dortigen Traditionshäusern. Nach der mutigen Erweiterung mit dem architektonisch faszinierenden Cinetower übernahm er in Aachen vor zehn Jahren das Multiplex der Ufa und später auch den Eden-Palast. Da das Capitol andere Zuschauer ansprechen soll, erwartet Stürtz keine „Kannibalisierung" der bestehenden Kinos.

Capitol
Den Namen übernahm das Capitol am Seilgraben vom im Krieg zerstörten Capitol am Hochhaus Bahnhofsplatz (1930-1944). Die Fassade des 1958 eröffneten Neubaus wurde als eines der ersten Kinos aus den 50er Jahren unter Denkmalschutz gestellt. In seiner wechselvollen Geschichte gab es auch schon nach dem Abschied der Ufa aus Aachen eine Schließung. Danach betrieben die alteingessenen Programmkino-Macher Coenen und Render das Haus bis Ende 2013.

16.12.14

White Shadow

Tansania, BRD, Italien 2013 Regie: Noaz Deshe 115 Min.

Das dramatische Schicksal eines Albino-Jungen in Tansania zeigt dieser ebenso eindrucksvolle wie schockierende Debütfilm von Noaz Deshe. Nachdem sein Vater vor seinen Augen mit Macheten abgeschlachtet wurde, flieht Alias zu seinem Onkel Kosmos nach Dar-es-Salaam. Wobei man sagen müsste „ausgeschlachtet", denn der Aberglauben, ihre Organe hätten besondere Kräfte, führt zur Jagd auf Albinos und zum illegalen Handel mit ihren Organen.

Mit großartig traumhaften und kraftvollen Bildern folgt die Montage nicht dem klassischen Hollywood-Stil. „White Shadow" erzählt assoziativ, in Ellipsen, übererklärt nicht alles, lässt die Ereignisse fließen. Das macht den eindrucksvollen Film auch stilistisch sehr interessant. Die Arbeit von Alias als Straßenhändler und auf den Müllhalden, seine Freundschaft zur Tochter von Kosmo, dokumentarische Alltags-Aufnahmen und immer wieder die kriminellen Banden, die gnadenlos auf Menschenjagd gehen - „White Shadow" ist ein praller, heftiger Film, der nicht nur wegen der Handkamera nah an den Menschen und der Gesellschaft ist, die er zeigt. Trotz des grausamen Geschehens gibt es Hoffnung durch Polizei und einen neuen Priester, dessen Anhänger allerdings auch nicht zimperlich mit den Organhändlern umgehen. Der befreiende finale Glückmoment für Alias ist dabei auch noch einmal so ein enorm starker Filmmoment.

15.12.14

Die Wolken von Sils Maria

Frankreich, Schweiz, BRD 2014 (Clouds of Sils Maria) Regie: Olivier Assayas mit Juliette Binoche, Kristen Stewart, Chloë Grace Moretz, Lars Eidinger, Angela Winkler, Hanns Zischler 124 Min. FSK: ab 6

Einer international gefeierten Schauspielerin wird ein Bühnen-Remake angeboten, das ihr persönlich zu nahe geht und welches sie, da die Hauptrolle eine jüngere bekommt, mit dem fortschreitenden Alter und dem Wandel der Zeit konfrontiert. Was Olivier Assayas in seinem neuen Film „Die Wolken von Sils Maria" anlegt, klingt zufällig sehr ähnlich wie die Geschichte der alternden Schauspielerin von Julianne Moore in Cronenbergs „Maps to the stars". Doch auch wenn Assayas' Film ebenso mit Stars angefüllt ist, wie die düstere Hollywood-Satire, der französische Arthouse-Star diskutiert ganz andere Themen mit anderen Mitteln.

Mit diesem Stück wurde Maria Enders (Juliette Binoche) vor 20 Jahren berühmt. Sie spielte die Rolle der Sigrid, einer verführerischen junge Frau, die auf ihre Vorgesetzte Helena eine ganz besondere Faszination ausübt und sie schließlich in den Selbstmord treibt. Nun soll Enders auf Wunsch von Regisseur Klaus Diesterweg (Lars Eidinger) jedoch die Helena spielen. Zudem ist als Sigrid Jo-Ann Ellis (Chloë Grace Moretz) vorgesehen, ein junges Starlet aus Hollywood, das vor allem Skandale und ebenso blöde wie erfolgreiche Filme machte. Wer diese Jo-Ann Ellis ist, muss der Enders erst ihre voll vernetzte Assistentin Valentine (Kristen Stewart) erklären.

Der Film von Assayas ist, obgleich weitgehend undramatisch, gleich mehrfach doppelbödig. Denn auch im Stück, das Maria mit Assistentin Valentine in der Berghütte bei Sils Maria und unter freiem Himmel einstudieren, geht es ja um einen Star und die Assistentin. Beim Textlernen weiß man oft nicht, ob sich die beiden in ihrer Rolle befinden oder direkt kommunizieren. „Die Wolken von Sils Maria" ist dabei mit vielen Dialogen ein Kammerspiel, auch wenn Hotels, Theater und die Alpen mit ihrer Naturbühne den Hintergrund bilden.

„In welcher Welt lebst du eigentlich?" fragt Valentine einmal und es findet tatsächlich fortwährend eine Diskussion zwischen Hoch- und Pop-Kultur statt, für die Assayas selbst eine Super-Helden-Parodie als Film-im-Film drehte. Die Diskussion verläuft offen, keineswegs als Spott alter Koryphäen wie Woody Allen über die flache Nachwelt. Da muss schon mal der Begriff Mega-Star aus der Teenie-Szene erklärt werden, aber erstaunlich und interessant schlägt sich Assayas eher auf die jüngere Seite. Mehr noch als die Superheldin-Darstellerin Jo-Ann Ellis, die Maria junges Alter ego spielen soll, steht ja Kristen Stewart (bekommt die etwas arrogante Assistentin sehr gut hin) als „Twilight"-Star für Hollywood und die Franchise-Formeln, die unsere Kinos verstopfen.

Im Schaulaufen von hervorragenden und ernsthaften Schauspielern wird der Rang von Assayas deutlich und sein Thema mit ihrer Herkunft verortet. Hanns Zischler und Angela Winkler stehen für den Neuen Deutschen Film. Dass Lars Eidinger (schrecklich synchronisiert) einen jungen Regisseur spielt, ehrt noch einmal den aktuellen deutschen Film. Dies und viele andere Verweise bis zum Bergfilm von Arnold Fanck und selbstverständlich Nietzsche, an den man bei Sils Maria ja auch an denken muss, sind nur eine Referenzebene des dichten und sicher inszenierten Kopffilmes, der für einen - nicht typisch französischen - Redefilm auch noch gut aussieht und lebendig wirkt.

1001 Gramm

Norwegen, BRD, Frankreich 2014 (1001 Gram) Regie: Bent Hamer mit Ane Dahl Torp, Stein Winge, Laurent Stocker 91 Min. FSK: ab 0

Wie viel wiegt ein Leben? Und was die Liebe? Nun, diese Messung hat ein Film schon öfters, etwa mit Alejandro González Iñárritus „21 Gramm" vorgenommen. Bent Hamer justiert seine Gewichtung deutlich von Tragödie zu nachdenklicher Komödie und bemisst die Wiegerei und das ganze Zahlenspiel als zu leicht.

Die sehr ernste Wissenschaftlerin Marie Ernst (Ane Dahl Torp) fährt schon im ersten Bild mit ihrem sonderbaren Elektro-Kleinwagen gegen den Strom. Selbstverständlich sehr ernst vermisst sie mit anderen Kollegen des norwegischen Eichamtes Lotto-Auslosungs-Bälle oder - in Norwegen unausweichlich - die Länge von Skisprung-Schanzen. Wie schon bei den Ergonomen, die in Hamers „Kitchen Stories" (2003) in der Provinz Küchenwege verfolgten, sind schon die Räume und Wege skurril. Schon das Institut hat endlos lange Gänge und winzig schmale Winkel, in denen heimlich geraucht wird. Futuristisch wie bei Jacques Tati dann die Wohnung der Eichamts-Mitarbeiterin Marie, die selbst in ihren eigenen rechtwinklig kühlen Bauhaus-Kuben nur verhuscht am Kamin raucht. Klinisch weiß ist hier alles und dass Maries Ex-Mann zwischendurch vorbeikommt, um Möbel auszuräumen, macht es auch nicht gemütlicher.

Als Maries Vater Ernst Ernst (sic!) einen Herzinfarkt erleidet, vertritt sie ihn beim Kilo-Seminar in Paris, zu dem alle Delegierten mit ihrem nationalen Referenz-Kilogramm fahren, um zu schauen, ob ihres zugenommen oder das Pariser, „die Mutter aller Kilogramm", vielleicht abgenommen hat. Ehrfürchtig wird das norwegische Kilo verpackt, die letzte internationale Referenz-Größe dieses Eichamtes. Doch erst ein paar Reisen später bekommt Marie das Gefühl, dass alles um sie herum in die Brüche geht, letztlich auch das so gehütete Ur-Kilo. Der ehemalige Professor Pi, der nun vor seinem Ex-Institut gärtnert, führt auch die verklemmte Frau zurück zur Natur. Die Zahlen, die die Welt bestimmen, bekommen wieder ein menschliches Maß - beim erotischen Sprachunterricht in der Badewanne.

Nach dem wirklichen ernsten, mit den dunklen Seiten des Menschlichen schwarz gezeichneten „Home for Christmas" (2010) und dem wunderbar frei kuriosierenden „O'Horten" (2007) scheint Bent Hamer nun seinem Ko-Skandinavier Roy Andersson (der in zwei Wochen mit seinem Venedig-Sieger „Die Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach" startet) in dem Maß der Pro-Bild-Skurrilität Konkurrenz machen zu wollen.

Aber trotz des witzigsten Autounfalles seit „Traffic", trotz kleiner Scherze über die viel zu ernsthaften Wissenschaftler, verläuft diese Komödie des stillen Menschlichen, dieses kleine, stille Psycho-Gramm Maries arg träge. Dieser neue Bent Hamer ist nicht der erwartete Hammer mit ganz besonders skurrilem Humor. Er ist leider nur eine nette, leicht schräge Komödie.

14.12.14

Der kleine Drache Kokosnuss

BRD 2014 Regie: Nina Wels, Hubert Weiland 83 Min. FSK: ab 0

Am meisten verspricht noch der Titel dieser Animation für kleine Kinogänger: „Der kleine Drache Kokosnuss" klingt nach verrückten Ideen und netten Figuren. Doch Nina Wels und Hubert Weiland machten aus der Buchreihe „Der kleine Drache Kokosnuss" von Ingo Siegner im ersten - und hoffentlich letzten - Kinofilm eine platte und plumpe Angelegenheit. Die flache bunte Animation der seltsam formlosen Fleischkörper von Feuerdrache Kokosnuss und Fleischdrache Oskar sind bei der heutigen digitalen Möglichkeiten schon erschreckend. Die Handlung, in der Kokosnuss verschwundenes Feuergras wieder finden und seinem Freund vor furchtbaren Eltern retten muss, ist vorhersehbar, aber kindgerecht. Klar, dass überfürsorgliche Eltern, die den kleinen Drachen nicht flügge werden lassen, vermitteln sollen, dass Kinder Verantwortung im rechten Maß übernehmen dürfen. Doch wie grell und bunt die Unterhaltung zu dieser Moral im einzelnen daher kommt, ist nicht sympathisch oder empfehlenswert. Da gibt es reichlich in jeder Hinsicht bessere Kinderfilme in den Kinosälen nebenan.

The Homesman

USA 2014 Regie: Tommy Lee Jones mit Tommy Lee Jones, Hilary Swank, Hailee Steinfeld, Meryl Streep, John Lithgow, Miranda Otto, Sonja Richter, James Spader 123 Min. FSK: ab 16

Der „Man in Black" reitet wieder: Nach „Three Burials - Die drei Begräbnisse des Melquiades Estrada" inszenierte Tommy Lee Jones auch seinen zweiten eigenen Film als Western. Und erneut ereignet sich in rauer Umgebung ein erstaunliches Exempel menschlichen Handelns: In der Mitte des 19. Jahrhunderts bricht die alleinstehende Farmerin Mary Bee Cuddy (großartig: Hilary Swank) vom eiskalten Wilden Westens Nebraskas auf, um drei Ehefrauen des Dorfes (Miranda Otto, die Dänin Sonja Richter und die TV-Schauspielerin Grace Gummer), die wegen der Umstände und wegen ihrer Männer wahnsinnig wurden, in eine Pflegeanstalt der Zivilisation zu bringen. Die mutige Mary Bee liest als Begleiter den amoralischen Briggs (Tommy Lee Jones) auf, eine jämmerliche Gestalt, die sie vom Galgen abknüpft. Während Cuddy bei der Fahrt zwischen Indianern und Gaunern Wärterin, Pflegerin und Psychiaterin ist, bleibt Briggs ein sturer Dickschädel, großartig gespielt von Tommy Lee Jones, der wieder einen außergewöhnlichen, unbedingt sehenswerten Film realisierte.

Mary Bee Cuddy (Hilary Swank) ist eine energische Frau, die Haushalt und Farm ebenso generalstabsmäßig organisiert wie die Werbung um einen Ehemann. Nicht einfach in der barren Wildnis Nebraskas zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Die resolute Art der allein lebenden Farmerin fordert zwar Respekt, wirkt aber auch komisch, wenn ihr Antrag von einem groben, ungehobelten Cowboy brüsk abgelehnt wird.

Der Regisseur Tommy Lee Jones macht aus dem Auftritt dieser erstaunlichen Frau und auch aus jeder weiteren Szene etwas Besonderes. Dabei ist die Reise an sich samt den Begegnungen mit Gaunern und Indianer schon außerordentlich genug. Doch jede Szene, jede Figur und dazu noch deren Entwicklungen wirken, als wenn der Western erst gestern erfunden wurde. Oder zumindest von Jones kenntnisreich ausgemistet. Er selbst wandelt sich von einer trostlosen Gestalt zum fast freiwillig pflichtbewussten Retter. Dabei nimmt der Regisseur Jones jedoch die Figur des Schauspielers Jones über eine lange Strecke sehr zurück. Der noch erstaunlichere, heldenhafte und tragische Persönlichkeit der Mary Bee Cuddy bleibt hängen. Aber auch die Schicksale der wahnsinnig gewordenen Frauen, die in Rückblenden eingeflochten sind. Und deren Erholung schon bei dieser Reise durch die Extreme, denn anfangs muss Cuddy extra eine Kutsche mit Eisenketten ausstatten lassen, weil die Geschundenen sich wie Tiere jeder Annäherung widersetzen.

So wie „Three Burials - Die drei Begräbnisse des Melquiades Estrada" ein Plädoyer gegen die wohl weltweit verbreitete schändliche Behandlung von Flüchtlingen und Einwanderern war, ist „Homesman" trotz des Titels ein Frauen-Film, genauer: ein Frauen-Western mit unanständigem Anstands-Cowboy als Begleitung. Nebenbei spiegeln sowohl das feige Trauerspiel der Männer in der Kirchengemeinde in Nebraskas Wildnis als auch die fiesen Immobilienhaie auf der Strecke den Zustand der Gesellschaft wieder. Was einem heute sehr vertraut vorkommt. So kann man verstehen, dass Briggs, nach fünf langen und lebensgefährlichen Wochen in der Zivilisation angekommen, ihr sofort wieder den Rücken kehren will.

Serena (2014)

USA, Frankreich, Tschechien 2014 Regie: Susanne Bier mit Jennifer Lawrence, Bradley Cooper, Rhys Ifans, Toby Jones, David Dencik 110 Min. FSK: ab 12

Soll man dem Ruf dieser blonden Sirene folgen? Trocken Brot und (Ränke-) Spiele in den Wäldern von North Carolina, sind doch was anderes als die „Panem"-Filme, aus denen man Jennifer Lawrence kennt. Aber sie glänzte ja auch in „American Hustle" und in „Silver Linings". Von daher noch ein Grund, sich den neuen Film von Susanne Bier anzusehen. Doch ausgerechnet die exzellente dänische Regisseurin von „Love is all you need" oder „Nach der Hochzeit" verirrt sich zwischen Melodram und historischem Sittenbild.

Smoky Mountains am Ende der Zwanziger Jahre. Wolken liegen auf den bewaldeten Flanken der Hügel von North Carolina, die Natur wirkt weit und unberührt. Doch die Holzfäller von George Pemberton (Bradley Cooper) fressen sich immer tiefer ins Dickicht. George steht seinen Mann, wenn er mit großem Körpereinsatz das Leben eines Arbeiters rettet, aber auch als reicher Land- und Aktienbesitzer auf dem Parkett der besseren Gesellschaft. Dort entdeckt er Serena Pemberton (Jennifer Lawrence), eine eigenständige Frau mit dramatischer Vorgeschichte. Beide finden sich in leidenschaftlicher Liebe und Sehnsucht nach Freiheit in der Natur.

Nach der Hochzeitsreise beeindruckt Serena das kleine Dorf im Wald schlagkräftig mit dem Holzfällerbeil und klug mit ihren Wirtschafts-Kenntnissen. Nur Georges heimlich homosexueller Geschäftspartner Buchanan (David Dencik) bleibt bei seinen Vorbehalten. Als Sheriff McDowell (Toby Jones) den Wald zum Nationalpark umwandeln will und Serena eine Fehlgeburt erleidet, kommt es zu tödlichen Konflikten, bei denen der schweigsame Jäger Galloway (Rhys Ifans) eine mythische Verbindung zu Serena entdeckt.

Eine Waise, die wie ein Geist in den verkohlten Ruinen ihres Familiensitzes gefunden wurde. Mythische Momente wie Georges Jagd auf den letzten Bergleoparden der Gegend. Ein schöner Stoff für ein großes Drama in aufregenden Zeiten. Durch die Bankenkrise vom Schwarzen Freitag wurden die Aktien von George wertlos, selbst die letzte Ausflucht, das Land in Brasilien, ist bedroht. Zu den Herausforderungen der großen Welt gesellt sich ein privater Vertrauensbruch.

Doch seltsamerweise bekommt Susanne Bier, die aus eher alltäglichen Geschichten umwerfende Dramen wie „Nach der Hochzeit" mit Mads Mikkelsen, „Brothers" und „In einer besseren Welt" machte, diesen Stoff nicht gezähmt. Vielleicht weil diesmal das Drehbuch nicht von ihr oder Anders Thomas Jensen („The Salvation", „Adams Äpfel") stammt. Christopher Kyle schreib es nach dem Roman „Serena" von Ron Rash. So verführt „Serena" mit großartigen Bildern, einem Hauch der Last Frontier-Freiheit des Western, eigentlich gutem Spiel von Lawrence als Lady Macbeth im wilden Westen und einigen tollen Momenten. Müsste eigentlich genug für einen hervorragenden Film sein, doch da das Einzelne nicht zu einem überzeugenden Ganzen zusammenfindet, enttäuscht dieser Bier-Film nicht nur wegen zu hoher Erwartungen an eine der besten Regisseurinnen unserer Zeit.

10.12.14

Der Hobbit - Die Schlacht der fünf Heere

Neuseeland, USA 2014 (The Hobbit: The Battle of the five Armies) Regie: Peter Jackson mit: Martin Freeman, Richard Armitage, Ian McKellen, Benedict Cumberbatch, Billy Connolly 144 Min.

Geld schließt Tore. Und macht eine ganze Menge Film. Zu Festungen und zur eigenen Kreativität. Einige Zwerge und Menschen lassen sich vom Glanz des Goldes verführen. Oder wie Gandalf das ganze Hin und Her von zehn Stunden Film zusammenfasst: Gäbe es mehr, die ein Zuhause höher achten als Gold, die Welt wäre ein glücklicherer Ort. Doch zum Glück gibt es im „Hobbit 3" und hinter seinen vielen 3D-Kameras trotz des erschreckend vorhersehbaren Monumentalismus ein paar Verwegene, die sich ihre Fantasie nicht ganz austreiben lassen. Es sei erinnert, dass Peter Jackson in Urzeiten, vor all diesen Geschichten von Hobbits, Zwergen, Menschen, Orks und Ringgeistern, mal ein äußerst kreativer und überraschender Filmemacher war. Zum Glück blitzen diese Talente von ihm und seinem Produzenten-Kumpel Guillermo Del Toro auch bei diesem endgültigen Abschlachten eines kleinen Bändchens vom Tolkien wieder auf...

Das war mal ein echter „Cliffhanger" im letzten Jahr, als die Zwerge von Erebor unter Anführung des Meisterdiebes Bilbo Beutlin den riesigen Schatz in der Drachenhöhle aufgetan haben, aber nun erleben müssen, wie sich der furchterregende Schmauch-Drache Smaug auf die schutzlosen Männer, Frauen und Kinder von Esgaroth stürzt. J.R.R. Tolkiens kleines Buch „Der kleine Hobbit" wird nun verfilmungs-technisch zugeschlagen. Doch bevor die Reise zum Drachenberg und zurück ein Ende findet, das Jahrzehnte später der Anfang zum „Herrn der Ringe" sein wird, schlägt sich jeder mit jedem. Ausführlichst in Panorama und Großaufnahme.

Dabei wiederholt sich nicht nur immer wieder diese Kamerabewegung, die im Flug kleine Figuren in riesiger Weite - gesponsert vom Touristikverband Neuseelands - einfängt. Auch das Schlachtenfinale hätte man gut mit Resten aus dem Ende vom „Herrn der Ringe" gestalten können. Die Gier und Machtgelüste als allzu menschliche Konstanten in Tolkiens Weltkriegs-Erfahrungen und auch heute verbauen Chance auf eine neue Weltordnung und so schlagen sich Zwerge, Elfen, Menschen, Orks und in der Nachspielzeit auch noch die Zauberer die Köpfe ein. Dabei wird das Führerprinzip wieder und wieder eingeprügelt, bis zur pathetischen Trauer um einen Herrscher, während tausend andere unbeweint für den Effekt hingemetzelt werden. Nur Thorins Kampf mit sich selbst und seiner Gier ist da mittendrin wirklich interessant.

Zwischendurch gibt es zwei bis drei mal Humor, dagegen niemals wirkliches Antikriegs-Grauen. Und seltsamerweise auch Boten mit Nachricht vom Kriegsverlauf wie auf alten Theaterbühnen als die Effekte noch auf Leinwand gemalt waren. Hatte Jackson immer noch nicht genug Geld, um alles in diesem Buch aufzublasen? Das teure 3D spart er sich für ganz besondere Pfeile und Schwerte auf. Das HFR erzeugt wieder diesen Hyperrealismus, der vor allem in den Gassen von Esgaroth und in den Gängen der Zwergen-Festung arg künstlich nach Studio riecht. Die deutsche Synchronisation klingt sowieso abschreckend billig.

Doch geschickt bewahrt sich Jackson das Allerbeste bis zum Schluss des Schlachtens: Die finalen Zweikämpfe von Legolas auf einer einstürzenden Brücke, die mal Turm war, und von Thorin Eichenschild auf den Schollen eines gefrorenen Stausees haben endlich mal Raffinesse im Kampf und in der Inszenierung. Wenn dann der Ork-General unter dickem Eis dahingleitet, ist das noch einmal eines dieser Bilder von Jackson und del Torro die so unnachahmlich unter die Haut gehen. Ebenso eindrucksvoll Cate Blanchett, wenn sie sich von Elfen-Queen Galadriel zur düsteren Dämonin wandelt. Hier wurde die Mutter aller Fantasy, dieses Ringelreihen von Tolkien wenigstens fantasievoll umgesetzt.

Eindrucksvoller jedenfalls als der unausweichliche und auch zu lange Abschied von allen und allem. Der Film nimmt sich kein Vorbild an Bilbo, der sich ja am liebsten leise davonschleicht. Wir kürzen hier ab und wünschen uns und Jackson wieder weniger aufwändige und dafür fantasievollere Projekte. Allerdings hebt zwischendurch unter all den monströsen Kriegsgeschöpfen ganz kurz ein riesiger „Wehrwurm" den Kopf aus der Erde. Sollte „Dune" nicht noch mal anständig verfilmt werden?

9.12.14

(K)ein besonderes Bedürfnis

BRD, Italien 2013 (The special need) 81 Min. FSK: ab 12

Enea ist 29 Jahre, Autist und anders, als man erwartet, sehr kontaktfreudig. Da er auch Italiener ist, will er an Frauen ran, doch die wollen nicht, denn Enea sagt immer, was er denkt und kann überhaupt nicht flirten. Also machen sich zwei Freunde mit ihm auf den Weg: Erst vergebens in ein Bordell, dann in ein deutsches Haus, in dem Behinderte körperliche Liebe erleben können.
Die recht sympathische Dokumentation zeigt und vermitteln zum Thema von Behinderten, die auch Sex wollen, nicht mehr als einige gute Spielfilme, die es bereits gibt. Zudem nutzt die „deutsche" Version von „(K)ein besonderes Bedürfnis" die ungewöhnliche, gewöhnungsbedürftige Form des Voice Over, die man nur aus kleinen und armen Film- und Fernsehländern kennt. Ein netter, kleiner Film, den man sich ansehen kann, aber nicht muss.

Timbuktu

Frankreich, Mauretanien 2014 Regie: Abderrahmane Sissako mit Pino, Toulou Kiki, Abel Jafri 96 Min. FSK: ab 12

In der fiktiven Oasenstadt Timbuktu übernimmt eine Gruppe islamistischer Rebellen die Kontrolle. Fast albern und auf jeden Fall lebensfremd wirken sie, wenn sie der Fischverkäuferin das Tragen von Handschuhen gebieten wollen. Sowohl der gesunde Menschenverstand als auch der klügere Menschenfänger, der Priester, entgegnen ihnen abweisend und deutlich ihre andere Meinung. Doch sie sind nun ganz normal im Stadtbild, all diese bewaffneten Männer unter schwarzweißer Fahne, die „Jihad machen" und alles Mögliche unter Hinweis auf irgendein altes Buch befehlen. Ein ganz normales, fast idyllisches Familienleben des Hirten Kidane in seinem Zelt wird zerstört, als die geliebte Kuh namens GPS ein Fischernetz zerreißt und darauf vom Fischer umgebracht wird. Im Streit erschießt Kidane den Fischer und wird nun den neuen Scharia-Richtern übergeben.

Regisseur Abderrahmane Sissako („Bamako", 2006), der für „Timbuktu" 2014 in Cannes den Preis der ökumenischen Jury erhielt, zeigt die Invasion der Religiösen und die gewaltsame Zerstörung hergebrachter Kultur nicht als Schwarzweiß-Bild von Gut und Böse. Ungewöhnlich ist der Kontrast eines grausamen, unmenschlichen Urteils mit einem poetischen Fußballspiel ohne Ball. Die brutale Steinigung eines Paares parallel geschnitten mit dem seltsamen Tanz des scheinheiligen Anführers, der gegen seine eigenen Regeln raucht und auch die Frau des Hirten begehrt, erschreckt in dieser Kombination nachhaltiger als die eigentlich Untat. Detailliert und nuanciert gibt Sissako ein eindringliches Bild dieses Terrors und einige Beispiele aufrichtigen, anständigen Handelns gegenüber der Gewalt.

#Zeitgeist

USA 2014 (Men, Women & Children) Regie: Jason Reitman mit Adam Sandler, Jennifer Garner, Rosemarie DeWitt, Judy Greer, Dean Norris 120 Min. FSK: ab 12

„Von digitaler Nähe & analoger Entfremdung" untertitelt der deutsche Verleiher nicht besonders prickelnd den Film „#Zeitgeist", der im Original und im Roman von Chad Kultgen einfach „Men, Women & Children" (Männer, Frauen und Kinder) heißt. Vielleicht sollte man hinzufügen, dass es eine Komödie mit einem ernsten Adam Sandler ist, der einen Pornosüchtigen spielt. Und dass gezeigt wird, was von Porno aufgeklärte Jugendliche so für ein Sexleben haben. Also: „Was Sie schon immer über die Chats ihrer Kinder wissen wollten und nie zu fragen wagten!" Wobei einfache Antworten überall ausbleiben. Außer beim Charakter von Adam Sandler, der auf seine Ehekrise eine verblüffend einfache Antwort hat...

Nach seiner wunderbar leichten und aufrichtigen Jugendgeschichte „Juno" greift und reist Jason Reitman („Up in the Air") wieder nach den Sternen: Aus der maximal distanzierten Perspektive der Raumkapsel Voyager beobachtet er Männer, Frauen und Jugendliche bei ihren Schwierigkeiten miteinander und vor allem mit diesem Neuland namens Internet: In den sieben Familien in einer Vorstadt von Austin, Texas findet sich die kontrollsüchtige Mutter Patricia Beltmeyer (Jennifer Garner), die schlimmer als BKA und NSA jede digitale Spur ihrer wirklich netten Tochter Brandy (Kaitlyn Dever) verfolgt. Sogar Nachrichten vom ebenso völlig harmlosen Ex-Footballstar Tim (Ansel Elgort aus „Das Schicksal ist ein mieser Verräter") werden zensiert, also meist nicht durchgelassen. Hannah Clint (Olivia Crocicchia) dagegen ist ein blondes Biest, das - koste, was es wolle - reich, berühmt und ein Hollywoodstar werden will. Nur ab und zu macht sich ihre Mutter Donna (Judy Greer) Gedanken, ob es ok ist, die sehr anzüglichen Bilder des Teenagers ins Internet zu stellen und sogar zu verkaufen.

Die Tragikomödie „#Zeitgeist" zeigt Menschen von heute hinter den Bildschirmen, die sie dauernd in der Hand oder vor der Stirn haben. Einige haben als oberste Maxime des Menschseins ihre Klickzahlen, andere wie Tim bleiben trotz tagelangen Computerspielen erstaunlich unberührt davon und klar. Dass Jason Reitman, der Sohn des berühmten Regisseurs („Ghostbusters") und Produzenten Ivan Reitman, Menschen echt und glaubwürdig zeichnen konnte, wussten wir seit „Juno". Wie er in netten Einblendungen und Spielereien die Allgegenwart von Chats und Games (komplett grafisch eingedeutscht!) ins Bild bringt, erzeugt auf andere Art zusätzlichen Spaß. Mit einer unglaublichen Leichtigkeit wird so der Zeit exakt aufs Social Media-Profil geschaut. Da gibt es die klassischen Probleme, dass im Bett der Eltern nur noch Scrabble läuft, aber auch den jugendlichen Porno-Nutzer, der mit einer echten Freundin, die sich ihm an den Hals wirft, auf absurd tragische und komische Weise nichts mehr anzufangen weiß. Zu solchen und anderen Problemen läuft wie immer bei Reitman ein genialer Soundtrack. Und mit der Bestseller-Perspektive Carl Sagans auf „diesen kleinen blauen Punkt" sind all diese Irrungen und Wirrungen mit einer abgeklärten aber sehr liebevollen Betrachtung gesegnet. Reitman muss gar nicht mehr nach den Sternen greifen, sie spielen schon (hervorragend) für ihn und man kann ihn schon sicher für Oscars, Palmen und großartige Retrospektiven fest am Film-Firmament notieren.

Winterschlaf

Türkei, Frankreich, BRD 2014 (Kis Uykusu) Regie: Nuri Bilge Ceylan mit Haluk Bilginer, Melisa Sözen, Demet Akbag, Ayberg Pekcan 196 Min.

Mit „Winterschlaf" präsentiert der türkische Regisseur Nuri Bilge Ceylan seine anatolischen „Szenen einer Ehe" und erneut ein großes, ein Meister-Werk, das in Cannes die Goldene Palme und den Fipresci-Preis erhielt: Alles dreht sich um Aydin (Haluk Bilginer), einen reichen, ehemaligen Schauspieler, der in einem malerischen und touristischen Dorf Kappadokiens ein kleines Hotel betreibt und ein paar der in den charakteristischen Kalkstein gehauenen Wohnungen besitzt. Mit ihm leben seine jüngere Frau Nihal (Melisa Sözen) und - nach einer Trennung - die ältere Schwester Necla (Demet Akbag). Während der Winter einbricht, entdeckt man immer mehr negative Facetten des charmanten Seniors. Wie er sich im Hintergrund hält, während der Streit seines Angestellten Hidayet mit einem aggressiven Mieter und Schuldner eskaliert, ist symptomatisch. Aydin schreibt zwar moralisch belehrende Kolumnen für eine Regionalzeitung, doch immer öfter lässt sein eigenes Handeln moralische Richtlinien vermissen. Ausgerechnet an einem örtlichen Wohltätigkeitsprojekt entzündet sich ein Streit der distanziert nebeneinander lebenden Eheleute. Nun erweist sich der alte Herr mit gemeinen Psychospielchen als Tyrann. Derweil schneien die bizarren Hügel der eindrucksvollen Landschaft immer mehr ein...

Ganz beiläufig wird in dem über drei Stunden fesselnden Film Nächstenliebe, Mitgefühl und gesellschaftliche Verantwortung durchdekliniert. Man muss schon ganz uninformiert sein, um nicht im sich erhaben gebenden Patriarchen, der innerlich eher klein und erbärmlich ist, an aktuelle Politiker des Landes zu denken. Dass mit Haluk Bilginer ein sehr bekannter türkischer Soap-Star den hier renommierten Schauspieler Aydin gibt, der auch noch eine Geschichte des türkischen Theaters schreibt, ist ein netter Insider-Witz. Der noch einmal die Figur aushöhlt.

Nuri Bilge Ceylan ist einer der großartigsten Regisseure unserer Zeit, der gleichzeitig äußerst sensibel und scharf Menschen nachspürt, aber auch mit seinen Bildern ganz nahe an der Malerei ein einzigartiger Leinwand-Künstler ist. Schon 2002 gewann er in Cannes den Großen Preis der Jury für „Uzak", ebenso 2011 für „Once Upon a Time in Anatolia", die Beste Regie dann 2008 mit „Drei Affen". Die Goldene Palme für „Winterschlaf" ist mehr als verdient.

Wie Ceylan in „Winterschlaf" anhaltend packt, ist in vieler Hinsicht bemerkenswert: Da sind draußen die Aufnahmen der Landschaft, die ganz stark Ceylan, den Fotografen zeigen. Wer im Internet nuribilgeceylan.com wird immer noch mit dieser verschneiten Straße in Istanbul begrüßt und in der Abteilung Fotografie sind viele seiner faszinierenden, archaischen Landschaften, denen er nun die Kegel und Höhlen von Kappadokiens hinzufügt. Innen drin dann die Gespräche. Lange Gespräche. Mit der verbitterten Schwester, mit der eingeschüchterten Frau. Und doch sind sie keine Minute zu lang, diese kleinen Dramen, diese spannungsgeladenen intellektuellen Zerfleischungen und Selbstentblößungen. Dazu weitere Szenen großartigen Schauspiels auf Basis eines sehr klug das Menschliche erspürenden Drehbuchs. Etwa wenn der stolze Schuldner die Spende, den Ablass der zu aufdringlich gutherzigen Nihal einfach ins karge Kaminfeuer wirft. Und dann das großartige Schlussbild, in dem Aydin, den immer eine Sehnsucht nach Freiheit in Form von wilden Pferden und Motorrad-Touristen streifte, endlich in freier Natur ganz ohne Worte in Selbsterkenntnis zerfließt.

8.12.14

The Loft (2014)

USA, Belgien 2014 Regie: Erik Van Looy mit Karl Urban, James Marsden, Wentworth Miller, Matthias Schoenaerts, Eric Stonestreet, Rhona Mitra 103 Min. FSK: ab 16

Was in Billy Wilders „Das Appartement" 1960 noch die Ausbeutung kleiner Angestellter (Jack Lemmon, Shirley MacLaine) durch die Bosse war, ist nun eine Spielwiese für gut situierte Männer geworden: Ein extravagantes und exklusives Appartement in einem New Yorker Hochhaus, das für die Seitensprünge von fünf Freunden reserviert ist. Bis die Leiche einer Frau darin gefunden wird.

Nur die fünf Freunde haben einen Schlüssel zum Loft, also muss der Mörder unter ihnen sein. Nun folgt das Eintreffen aller Verdächtiger zur Krisensitzung mit Leiche im Bett und geschickt in die Erzählung eingebauten Rückblenden. Parallel sieht man die Verhöre der Freunde bei der Polizei. Es ergibt sich der Ablauf von der verrückten Idee des Architekten, der mit etwas Überredungskraft fünf Schlüssel für den verschworenen Kreis ausgibt. Fährten werden reichlich ausgelegt, etwa die Schwester einer Selbstmörderin, die deren Psychiater verführt. Oder eine stadtumfassende Bau-Korruption eines Schwiegervaters. Und haben die Ehefrauen wirklich nie etwas erfahren. Dabei hat ausgerechnet der Freund, der das Loft nie benutzen wollte, ein besonders fieses Geheimnis...

In einer raffinierten Verschachtelung folgen die Enthüllungen und Entdeckungen einander rasch. Das ist mit guter hollywood-belgischer Besetzung (James Marsden, Karl Urban, Matthias Schoenaerts) so umgesetzt, dass man sechs Jahre nach dem Original „Loft – Tödliche Affären", ebenfalls von Regisseur Erik Van Looy, dem spannenden Rätselraten im chicken Design noch einmal gut folgen kann. Zwar in Auflösung und Ausführung nicht wahnsinnig überraschend, aber in jeder Hinsicht solide inszeniert.

Die Belgier machen sich damit erneut in Hollywood bemerkbar: Nachdem „Broken Circle Breakdown" nur knapp am Oscar scheiterte und letzte Woche der Regisseur Michaël R. Roskam („Rundskop" / „Bullhead") mit „The Drop" und Matthias Schoenaerts seinen ersten US-Film realisierte, gibt es nun Erik Van Looys eigenes Remake von „The Loft" und wieder Schoenaerts in einer bemerkenswert üblen Rolle, diesmal als brutaler Sadist.

Blue Ruin

USA, Frankreich 2014 Regie: Jeremy Saulnier mit Macon Blair, Devin Ratray, Amy Hargreaves, Kevin Kolack 94 Min. FSK: ab 16

Rache ist süß. Oder: Revenge is a dish best served cold. So lauten die bekanntesten, „coolen" Sprüche, die sich um Rache ranken. Gerne von harten Kerlen in gnadenlos zahlreichen Rachefilmen hervorgeknurrt. Doch was Rache wirklich bedeutet, lässt der äußerst ungewöhnliche Anti-Rachefilm „Blue Ruin" erschütternd und spannend miterleben.

Dwight (Macon Blair) ist erst einmal ein Obdachloser, der im heruntergekommen Auto am Strand lebt. Der sehr rücksichtsvolle Umgang einer Polizistin mit ihm charakterisiert ihn mehr als das eigene Handeln. Ein sensibler Mensch, der besondere Beachtung verdient. Sie teilt dem bärtigen Herumtreiber in sicherer Umgebung mit, dass der Mann, der seine Eltern umgebracht hat, bald aus dem Gefängnis entlassen wird. Nun gesellt sich zu Dwights sehr weichem Gesicht wirr entschlossenes Handeln: Mit seinen bescheidenen Mitteln verfolgt er Carl Cleland nach der Entlassung und sticht ihn auf einer Toilette blutig nieder.

Dwights Angst mit dem Messer in der zitternden Hand, seine Dummheit, den Autoschlüssel am Tatort zu vergessen und dem einzig anderen Auto vorher selbst mit dem Mord-Messer die Luft rausgelassen zu haben - all das passt überhaupt nicht zu Rachefilmen. Hier agiert kein Held, hier macht ein Mann, der vom Tod seiner Eltern auch nach Jahren noch deutlich verstört ist, etwas, dessen Folgen er überhaupt nicht einschätzen kann. Denn erst bei seiner Schwester wird Dwight klar, dass die brutale Proleten-Familie der Clelands, die ein ganzes Waffenarsenal im Haus hat, selbstverständlich nun auf Rache sinnt, dass niemand mehr sicher ist.

Irgendwann steht sehr zu deutlich und lange das Schild „Einbahnstraße" im Bild und Dwight fährt genau in diese Richtung. Wie er das mit „Er hat meinen Eltern wehgetan" begründet, ist nicht die übliche abgebrühte Sprücheklopferei. Hier redet tatsächlich noch ein kleines, sehr verletztes Kind. Das im weiteren Verlauf, geschockt von einem zerfetzten Gesicht, von einem Freund gesagt bekommt „Das ist, was Kugeln machen..."

So ungeschickt und in vieler Hinsicht bemitleidenswert sich dieser eigentlich völlig harmlose aber sehr verzweifelte Mensch auch anstellt, spannend ist „Blue Ruin" auch, sogar sehr spannend. Sogar mal komisch, wenn man Dwights Handeln mit „richtigen" Actionfilmen vergleicht. Aber es bleibt so ganz ohne Zynismus berührend und erschreckend, einen echten Menschen in diesem Rache-Wahnsinn zu erleben. Denn umso gnadenloser, erbarmungsloser treibt er alle Beteiligten die Einbahnstraße hinunter. Zwar funktioniert und erzählt „Blue Ruin" im heutigen Amerika der nicht so reichen und freien ganz anders, aber es kann - wenn auch sicherlich nicht so beabsichtigt - als Hommage an Eastwoods Endwestern „Unforgiven" („Erbarmungslos") gesehen werden. Auch damals war Rache selbst für das Kino-Publikum kein Vergnügen mehr. Was beide hervorragenden Filme noch zu sehr wichtigen macht.

3.12.14

The Unforgiven

Japan 2013 (Yurusarezaru Mono) Regie: Sang-il Lee mit Ken Watanabe, Akira Emoto, Yûya Yagira 135 Min. FSK: ab 16

Clint Eastwoods „Erbarmungslos" („Unforgiven") ist sein bester Film, vor allem weil er seinen Wandel vom eiskalten Rächer Dirty Harry zum großen Humanisten darstellt. Mit erbarmungsloser Härte. Das japanische Remake folgt der Handlung ohne Änderung, nur die Waffen und das Setting sind anders: Regisseur Sang-il Lee verlegt das blutige Plädoyer für Pazifismus auf die oft verschneite Insel Hokkaido in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Während in Nordamerika nach dem Bürgerkrieg die Cowboys ausrangiert werden, sitzen hier die Samurai auf dem Altenteil, hat die staatliche Macht mit Gewehren die Herrschaft des Schwertes übernommen. So braucht es einige Überlegung, bis „Jubei, der Killer" (Ken Watanabe) sich vom Matsch seiner schäbigen kleinen Farm löst und das verrostete Schwert ausgräbt, um für viel Geld eine misshandelte Prostituierte zu rächen. Denn der Witwer gelobte einst seiner Frau, nicht mehr zu töten.

Das Remake „The Unforgiven" erweist sich als ganz, ganz großes und gewaltiges Epos. Der Schwanengesang eines klug gewordenen Kriegers in einer nicht enden wollenden Folge grandioser Landschaften und Szenen. Die vergleichende Erinnerung an die entsprechenden Momente bei Eastwood gibt dem sensationellen Film zusätzlichen Reiz. Aber vor allem das filmhistorische Wechselspiel mit dem sich die Geschichten über die Relikte Cowboys und Samurai immer wieder gegenseitig befruchten, macht „The Unforgiven" jetzt schon zu einem Klassiker: Wurde doch Eastwood mit „Für eine Handvoll Dollar", also dem Remake von Kurosawas „Yojimbo – der Leibwächter", berühmt. „The Unforgiven", diese neuerliche Volte im Genre-Pingpong, ist gleichzeitig ehrerbietend und selbstbewusst eigenständig.

Dritte Person

Belgien, USA 2013 (Third Person) Regie: Paul Haggis mit Liam Neeson, Maria Bello, Mila Kunis, Kim Basinger, Adrien Brody, Olivia Wilde, James Franco 137 Min. FSK: ab 12

Der mit einem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Schriftsteller Michael (Liam Neeson) hat seine besten Romane hinter sich. Nach der Trennung von seiner Frau Elaine (Kim Basinger) will er in einem Pariser Hotel ein neues Buch fertig stellen, unterbrochen von leidenschaftlichen Episoden mit der jüngeren Journalistin Anna (Olivia Wilde), die selbst auch Romane schreiben möchte. Und unterbrochen von anderen Geschichten: Die des zwielichtigen amerikanischen Geschäftsmannes Scott (Adrien Brody) in Italien, der seiner Zufallsbekanntschaft Monika (Moran Atias) helfen will, die entführte Tochter zu retten. Sowie der Kampf der ehemaligen Soap-Darstellerin Julia (Mila Kunis) gegen ihren Ex-Ehemann Rick (James Franco) und um das gemeinsame Kind.

Für Drehbuchautor und Regisseur Paul Haggis („72 Stunden", „Im Tal von Elah", „L.A. Crash", „Million Dollar Baby") geht es beim Film und beim Begriff „Dritte Person" nicht nur um den auktorialen Erzähler, sondern auch um die dritte Person, die in jeder Beziehung anwesend sei. Das gilt zumindest für diesen Film, der auch vom Motiv des ins Wasser Gehens und Fallens durchflossen wird.

Anders als viele dieser episodischen Filme wirkt „Dritte Person" zwangsläufig wie aus einem Guss. Ästhetisch, formal und thematisch. Denn es wird ja eigentlich nur eine Geschichte in Varianten erzählt. Vor allem die römische Geschichte mit Adrian Brody spannend in den Fragen von Zweifel und Vertrauen. Mit eindrucksvollen Vertrauensvorschüssen, mal in Form von viel Geld, mal als Bereitschaft, Verletzungen zu ertragen.

„Dritte Person" verwöhnt mit großen Gefühlen, positiv wie negativ, einer sensationellen Besetzung und emotional aufgeladenen Charakteren. Das hört sich zwar nach dem Üblichen an, doch sowohl die feine Personen-Zeichnung vom Autor Haggis als auch die Ausführung des Regisseurs Haggis sind besonders gelungen. Die flotte und elegante Montage der verschiedenen Erzählstränge ist ein Kunstwerk. Sowohl die Städte - Rom, Paris - als auch die Menschen sind edel fotografiert. An einzelnen Knotenpunkten der Geschichte finden sich die Menschen in gleichen Zuständen und sehr eleganten Überleitungen. Aber es gibt ein paar Fußangeln, ein paar Verbindungen zuviel, als dass es einfach nur ein drei Geschichten nebeneinander liefen. Was in einem einzigartigen Finale klar wird, welches die Stränge in dritter Person Plural mit wunderbar gemeiner Weise um den Hals des Autoren zuzieht. Was Liam Neeson wiederum als großartigen Schauspieler ausweist und „Dritte Person" zu einem ganz großen Film macht.

2.12.14

Im Keller

Österreich, BRD 2014 Regie: Ulrich Seidl 85 Min.

Schon der Titel ist eine Provokation, bezieht er sich doch auf Natascha Kampuschs Verlies im Keller ihres Peinigers. Mit seiner neuen Dokumentation schaut Ulrich Seidl, der Österreicher und Regisseur von „Models" (1998) und „Tierische Liebe" (1995) sowie der „Paradies"-Trilogie, genauer nach, was sonst noch alles bei seinen Landsleuten im Keller steckt. Er legt viel von dem bloß, was man (bei ihm) erwartet, die Vorfreude auf Abartiges wird schnell belohnt: Hinter hohen Hecken und geschlossenen Fassaden gibt es den Opern singenden Schießmeister in der unterirdischen Schießanlage. Eine Frau im Bademantel, die in den Keller des Mehrfamilienhauses geht, um eine lebensecht wirkende Babypuppe zu liebkosen und sich ausgiebig mit ihr zu unterhalten. Selbstverständlich auch ausgefallene Sexualpraktiken und ein Posaunist mit seinen Nazi-Devotionalien im „gemütlichen Raum", der mit dem Feudel in schwarz-rot-gelb die Hitler-Bilder und Bajonette abstaubt. Dazu eine riesige gelbe Schlange, die ein Hamsterchen mit gnadenloser Langsamkeit in einem Terrarium jagt, ein fülliger Wachmann, der nackt unter dem Regime einer Domina Hausputz macht, und eine schlüssige Erklärung, „weshalb der Türke nicht logisch denken kann". Die extreme Masochistin, die bei den Folter-Spielen ihre „Seele baumeln lassen kann". Das Entsetzen über den Nazi-Stammtisch kollidiert mit der Tristesse eines Jugendkellers.

Wie immer muss man bei Seidls Dokus mit viel Inszenierung rechnen und bei seinen „Spielfilmen" mit starken dokumentarischen Elementen. In Unkenntnis dessen wollten einige Publikationen einen „Skandal" hochkochen, als sie Aufnahmen eines Schützenvereins als inszeniert „entlarvten". Doch auch wenn sich Seidl treu bleibt und sein Personal wieder dem gleichen Horror-Kabinett entsprungen zu sein scheint, er gibt wohl wirkliche Haltungen und nicht zu vernachlässigende gesellschaftliche Strömungen wieder. Ästhetisch sitzen die Protagonisten immer wieder erstarrt wie eingeklebte Püppchen in den Installationen ihrer Sonderlichkeiten. Dazu diese streng symmetrischen Kompositionen, die ebenso wie die raschen Folgen unfassbarer Bilder und Menschen fesseln. Ein sehr mutiges, umstrittenes und ambivalentes Vergnügen.

The Drop

USA 2014 Regie: Michaël R. Roskam mit Tom Hardy, Noomi Rapace, James Gandolfini, Matthias Schoenaerts, John Ortiz 107 Min. FSK: ab 12

Er steht hinter der Bar und wartet. Nicht auf Kunden, die gibt es reichlich. Nicht auf den Überfall, der kommt in diesem Genre unausweichlich. Bob Saginowski (Tom Hardy) scheint auf das Leben zu warten. Derweil sieht er zu, wie die Kneipe in Brooklyn zum „money drop", zur Sammelstelle für schmutziges Geld verkommen ist. Sie gehört offiziell Bobs Cousin Marv (James Gandolfini in seiner letzten Rolle), doch längst hat ein tschetschenischer Mob hier das Sagen. Wie groß ihre Macht ist, wird so gut wie nicht gezeigt. Es ist indirekt mehr als klar: Bob und Marv, zwei stattliche Männer, stehen wie ängstliche kleine Jungs den Gangstern gegenüber.

Es ist irritierend, da wir die Darsteller Tom Hardy und James Gandolfini meist in anderen Rollen wesentlich souveräner sehen. Wie überhaupt, noch bevor ein kleiner Raub in der Kneipe stattfindet, Marv der Mafia dafür Schadensersatz zahlen muss und ein ganz dickes Ding sich anbahnt, der Film mit vielen kleinen Verschiebungen der üblichen Genre-Bausteine einen ganz eigenen Reiz bekommt. Er basiert auf der Kurzgeschichte „Animal Rescue" von Dennis Lehane, der bereits die Vorlagen zu Eastwoods „Mystic River" (2003), Scorseses „Shutter Island" (2010) und Afflecks „Gone Baby Gone – Kein Kinderspiel" (2007) schrieb. Wenn solche Regisseure die eigenen Worte ins Bild setzen, muss schon was können und zu sagen haben!

„The Drop - Bargeld" ist nun gleichzeitig spannender Krimi und Mobster-Film, sehr zaghafte, weil psychotisch bedrohte Liebesgeschichte, Psychogramm einer lange verhalten Figur und auch noch Tierfilm. Wegen Letzterem wird man ihn in ein paar Jahren wahrscheinlich als den „Film mit Tom Hardy und dem Welpen" erinnern. Doch das Hündchen, das Bob zu der extrem vorsichtigen Nadia (Noomi Rapace, die Lisbeth Salander aus den „Millennium"-Filmen) führt, die wiederum ihren psychopathischen Ex Eric Deeds (Matthias Schoenaerts) ins Spiel bringt, ist nicht nur der Grund für vieles im Film. Er legt auch wunderbar die Persönlichkeit des verschlossenen Bob offen.

Tom Hardy, eine doppelte Ladung Selbstsicherheit in „Locke", gibt hier einen sehr unscheinbaren Typen, der fast autistisch wirkt, wenn er mit Polizisten oder anderen Unbekannten redet. Selbst wenn er mit der Begründung „Er hätte unserem Hund etwas getan" endlich handelt, ist er dabei ein entfernter Verwandter von Forrest Gump. Perfekt ist dieses Tempo für die angeschlagene Nadia. Sie nähern sich vorsichtig einander an. Wie bei ihrer kleinen Porzellan-Figur ist vorher viel kaputt gegangen und vielleicht kann Bob es reparieren.

Genau so eindrucksvoll übrigens wie der belgische Regisseur Michaël R. Roskam „Rundskop" („Bullhead" 2011) führt sich sein Landsmann Matthias Schoenaerts als wahnsinnig gefährlicher Eric mit subtiler Bedrohung ein. Man kennt Schoenaerts von „Rundskop", dieser extrem heftigen belgischen Geschichte, oder von „Der Geschmack von Rost und Knochen" (2012) als Pfleger für Marion Cotillard. Man wird ihn bald in „The Loft" sehen, dem US-Remake seiner sehr gewalttätigen Rolle im flämischen „Loft - Tödliche Affären" (2008). In „The Drop" „klaut" er sogar Tom Hardy ein paar Szenen. Aber Hardy bleibt ein Meister der Verstellung. Man nimmt ihm den Langsamdenker Bob derart ab, dass man im Interview besonders laut und deutlich reden würde. Doch Bob ist wie der Film, in dem man die Figuren besonders detailliert kennenlernt: Überraschend, genau dann, wenn man es nicht erwartet.

Magic in the Moonlight

USA 2014 Regie: Woody Allen mit Colin Firth, Emma Stone, Eileen Atkins, Marcia Gay Harden, Hamish Linklater 98 Min. FSK: ab 0

Wie eine laue Sommerbrise weht der 44. Kinofilm von Woody Allen in die vorweihnachtlichen Kinos. Außer der - fast sicheren - Erkenntnis, dass Gott tot ist, beschert der Meister spitzzüngiger Dialoge und verblüffend einfacher Lebensansichten bei „Magic in the Moonlight" selbstverständlich wieder schauspielerischen Hochgenuss: Colin Firth gibt den nicht ganz heilbaren Menschenfeind und Emma Stone verzaubert diesen mit ganz billigen Tricks. Wenn auch fast schlüssig bewiesen wird, dass Nietzsche mit dem Ableben Gottes recht hatte, der Komödien-Gott Allen ist immer noch quicklebendig!

An der Cote d'Azur, der Küste der Betrüger in und mit so vielen Filmen, will Ende der Zwanziger Jahre der berühmte Magier Stanley (Colin Firth) inkognito die wahrscheinlich falsche Wahrsagerin Sophie Baker (Emma Stone) mit ihren Verbindungen ins Jenseits auffliegen lassen. Wie erwartet, gelingt es dem Skeptiker, Lebens- und Menschenfeind, in wenigen Minuten die ganze feine Gesellschaft vor den Kopf zu stoßen. Mit wunderbar treffenden, scharfen und gemeinen Kommentaren zur Leichtgläubigkeit und zum schlechten Zustand der ungebildeten Menschheit überhaupt. Doch Sophie sieht in dem Briten überraschenderweise etwas Chinesisches und auch seinen letzten Auftrittsort Berlin. Denn Stanley tourt mit der Maske des Magiers Wei Ling-soo durch die Welt und war gerade im Vorprogramm von Marlene Dietrich (Ute Lemper im Frack des Blauen Engels) auf der Bühne. Nun staunt der große Sarkast, der nur glaubt, dass alles bis hin zum Vatikan Betrug ist. Aber vor allem verguckt er sich in die junge Amerikanerin aus einfachen Verhältnissen, die unschuldig mit der Hellseherei Gesegnete mit ihren unglaublich großen Augen: „Ich habe irrationale positive Gefühle für Sophie Baker..."

Wie es ausgehen wird, mit dem großen, eitlen Ungläubigen und der schönen, kleinen Betrügerin, ist so klar wie der Himmel der Cote d'Azur beim Mistral. Stürmisch verläuft hier allerdings nichts, denn der große Meister und noch größere Depp Stanley rafft ewig nicht, dass er verliebt ist. Seine plötzlich aufflammende, naive Begeisterung für das Leben und dessen spirituelle Randerscheinungen, die kindliche Freude alles zu entdecken, was er früher abgelehnt hat, ist dabei auch so herrlich komisch, dass man ihm den zu nüchternen Verstand nie zurück wünscht.

In einem netten Rollenwechsel ist die verliebte Närrin der alten Hollywood-Komödien diesmal der Mann. Der Colin Firth, der zuletzt düster in „Ich. Darf. Nicht. Schlafen." zu sehen war, oder unsicher in „The King's Speech" und depressiv in „A Single Man" gibt nun die lebens-blinde Figur, mit der schon Shakespeare trefflich spielte, mit wunderbarer Exaktheit. Man muss einfach total verdattert aussehen, wenn man ein Glück findet, dass es theoretisch gar nicht geben sollte. Aber weiterhin bekommt Stanley nur sehr, sehr ungeschickte Liebeserklärungen hin.

Wie Woody Allen in diese sommerlich leichte Liebekomödie eine ziemlich scharfe Diskussion über (Aber-) Glauben, Rationalismus und Spiritualität sowie Nietzsche und Gott einflicht, ist ebenso bewundernswert wie die großartigen Dialoge überhaupt. Zum vollendeten Genuss gesellen sich die Ausstattung mit der Mode der Zwanziger, die Szenerien mit vielen Küsten-Postkarten (Kamera: Darius Khondji) und selbstverständlich die Musik der Zeit von Strawinsky über Jazz. Die Filmzeit verfliegt bei diesem süßen, scheinbar schwerelosen Vergnügen. „Magic in the Moonlight" ist ein Glücksfall von Film, weil er selbst in der ganz eigenen Kategorie der Woody Allen-Filme ein besonders freundlicher, glücklich machender ist. Wenn schon leichte Unterhaltung, dann bitte mit Geist und Geistern.