30.4.22

Nawalny


USA 2022, Regie: Daniel Roher, 99 Min., FSK: ab 12

Für die Nachwelt sei dieser Film gemacht, das legt Alexei Nawalny in der ersten Szene fest, für den Fall, dass ihn jemand umbringt. Man darf nicht drüber nachdenken, was es bedeutet, wenn er jetzt angesichts der scheinbar unendlich verlängerbaren Haft des russischen Oppositionellen erscheint. Denn es fällt schwer, den unerschütterlichen Mut und Optimismus von Nawalny zu teilen, wenn er einem nicht schelmisch im Bild anlächelt.

Die packende Dokumentation von Regisseur Daniel Roher („Once Were Brothers: Robbie Robertson And The Band") begleitet den Oppositionsführer Alexei Nawalny in Deutschland, nachdem er im August 2020 vergiftet wurde. Bis er aus schwer nachvollziehbaren Gründen am 17. Januar 2021 wieder nach Russland fliegt und sofort verhaftet wird.

In kurzen Szenen werden die raffinierten Reportagen für YouTube skizziert, mit denen der Enthüllungsjournalist Nawalny russischen Oligarchen und Politikern auf die Füße tritt. Für eine dieser Aktionen war er im August 2000 in Sibirien, „nichts Besonderes" meint er selbst. Doch während des Rückfluges erleidet er furchtbare Schmerzen, wie dramatische Handyaufnahmen vor allem hören lassen. Die Maschine macht eine Notlandung in Omsk, wo Nawalny ins Krankenhaus kommt. Ein Krankenhaus mit mehr Polizisten und Regierungsbeamten als Ärzten, wie einer von Nawalnys Mitarbeitern meint, der zusammen mit seiner Frau Julija herbeieilt. Sie bekommen keinen Zugang, doch nach einem verzweifelten Kampf mit Hilfe der Öffentlichkeit sozialer Medien erlaubt Putin persönlich, dass der Patient nach Berlin ausgeflogen wird. Vorher haben mehrere europäische Politiker dieses Angebot gemacht.

Die Charité bestätigt, dass Nawalny mit Nowitschok vergiftet wurde, dem berüchtigten Nervengift aus der Sowjetzeit. Es führt zu mehrfachem Systemversagen und ist einige Stunden nach Anwendung nicht mehr im Körper nachweisbar. Den geächteten Nervenkampfstoff setzten russische Agenten auch gegen Sergei Skripal und seine Tochter in Salisbury ein.

Nachdem Nawalny sich entscheidet, während der Regeneration in Deutschland zu bleiben, kommt der kanadische Dokumentarist Daniel Roher über Christo Grozev in Kontakt mit Nawalny. Grozev ist Hauptrechercheur des Netzwerkes Bellingcat für Russland und fand mit öffentlichen Flugdaten heraus, dass ein kleiner Kreis von Personen immer die gleichen Reisen wie Nawalny machte. Auch nach Sibirien „begleiteten" sie ihn. Nach ein paar, nicht mehr ganz legalen Recherchen wird klar, dass es sich um russische Agenten handelt. In der irrwitzigsten Szene des Films meint Nawalny „Lass sie uns doch anrufen und befragen ...!" Die abgebrühten Killer sagen selbstverständlich nichts, aber ein Chemiker verrät in einem atemberaubenden Gespräch von mehr als 45 Minuten alles über den Giftanschlag: Wo wurde das Mittel aufgebracht? Auf der Unterhose am Eingriff! Was passierte mit der kontaminierten Kleidung? Die haben unsere Leute im Krankenhaus beseitigt.

Nach diesem Recherche-Coup wird der Chemiker verschwinden und der meisterhafte Medienstratege wird zusammen mit großen westlichen Medien gleichzeitig Skrupellosigkeit und Stümperhaftigkeit von Putins Regime bloßlegen. Für Letzteres nutzt das Superhirn des Widerstands das Codewort Moskau-4. Denn als ein Sicherheits-Chef vom Kreml gehackt wurde, war sein Passwort „Moskau-1". Danach wurde er wieder gehackt – mit „Moskau-2" ... und so weiter.

Rund um diese unglaublichen Ereignisse, die der Film in der verschlafenen Kleinstadt St. Blasien im Schwarzwald einfing, lernen wir auch Nawalnys Frau, die beiden Kinder und die Mitarbeiter kennen. „Er hat diese Energie, die man oft begabten Politikern zuschreibt - Obama zum Beispiel. Nawalny lässt dich so fühlen, als wärst du die wichtigste Person im Raum," meinte der Regisseur zum Porträtierten.

Nawalnys Vater und dessen Familie stammen aus dem Dorf Tschernobyl. Er sagt, als er Putin zum ersten Mal bei öffentlichen Auftritten sah, hatte er das vertraute Gefühl, als würde er jemandem ins Auge schauen und wissen, dass diese Person lügt. Das brachte ihn dazu, aktiv zu werden.

Die direkten Aufnahmen Rohers enden mit Alexeis schwerer Rückkehr. Sofort wurde er festgenommen und kurz zum berühmtesten politischen Gefangenen der Welt. Hunderttausende Demonstranten gingen in Russland in der Januarkälte auf die Straße, um für seine Freilassung zu protestieren.

Man merkt dem Film an, dass es schwer ist, nicht Charme und Brillanz des Widerstandskämpfers zu erliegen. Nawalnys Auftritte bei Rechten Russlands werden aber erwähnt, herrische Momente unterbrechen das perfekte Team-Bild. Das Schlusswort hat Daniel Roher: „Ich denke, wir zeigen Nawalny als Politiker, den wir trotz seiner Fehler unterstützen sollten, denn seine Mission ist von immenser Wichtigkeit. Sein Mut soll die ganze Welt inspirieren."

Die Biene Maja - Das geheime Königreich

Deutschland, Australien, Großbritannien, Spanien, Polen 2020 (Maya The Bee: The Golden Orb) Regie: Alexs Stadermann, Noel Cleary, 88 Min., FSK: ab 0

Die erste Frühlingssonne verschwindet hinter Wolken und die übereifrige Biene Maja muss sich wieder drum kümmern. Kommentar von Willi, der lieber schlafen will, „wir müssen uns doch nicht immer um alles kümmern!" Doch bei der neuen „Biene Maja" gibt es kein Rasten und Ruhen. Schon der Auftakt erzeugt das erste Chaos und die Bienen-Freunde sollen getrennt werden. Eine Bewährung muss her. Wie gut, dass ihnen eine Postboten-Ameise, die von Käfern verfolgt wird, über den Weg läuft. Maja und Willi helfen der humpelnden Ameise und versprechen, eine goldene Kugel in die Ameisensiedlung Grünblatt zu bringen. Die komischen Ameisensoldaten Eddy und Freddy schließen sich den beiden an. Ihnen auf den zwei bis sechs Fersen sind Krachkäfer, die Grünblatt erobern wollen. Deshalb starten die vier die erste Etappe eilig mit einer Pusteblume als Flugzeug.

Nach „Die Biene Maja – Der Kinofilm" (2013) und „Die Biene Maja - Die Honigspiele" (2017) nun der dritte neue Kinofilm mit „Biene Maja". Die Neuauflage der Biene Maja ist schon lange (Karel) Gott-los: Ältere Semester werden den Titelsong („... und diese Biene, die ich meine ...") und den Charme alter 2D-Zeichnungen vermissen. Ein wenig steckt letzterer noch in einigen Figuren, doch die meisten wurden mit 3D runderneuert und neoliberal effektiver. Die kleinen Helden sind klinisch reine Plastikfiguren. Die gegnerischen Knallkäfer wirken roboterhaft. Der Schnee, der anfangs noch auf den Blättern liegt, zeigt wie künstlich diese 3D-Animation ausfällt.

Durch die Beschleunigung gibt es mehr Zeit für Geschichten: Tollpatsch Willy zerbricht selbstverständlich die Goldene Kugel und prägt beim Schlüpfen die Ameisen-Prinzessin. So wird er zu John Wayne, der sich im Film „Spuren im Sand" (Originaltitel: 3 Godfathers, 1948) ebenfalls um ein Baby kümmern musste. Dazu zwei bis drei Liedchen und am Ende bei Musical-Finale die weise Erkenntnis, dass es zusammen mit dem Gegner besser (gegen neuen Gegner) geht.

Sigmund Freud - Freud über Freud


Frankreich, Österreich 2020 (Sigmund Freud, un juif sans dieu) Regie: David Teboul, 97 Min., FSK: k.A.

Eine gewöhnliche Filmbiografie über Sigmund Freud (1856-1939) wäre schon aufgrund knappen Filmmaterials schwierig. Der französische Regisseur David Tebou geht in seinem kunstvollen Werk einen Schritt weiter: Er verwendet zeitgenössische, aber eigentlich beziehungslose Filme, um die gelesenen Briefe von Freud, seiner Tochter Anna und anderen Lebensgefährten zu untermalen. Das ist – mit dem Film als Traum – besonders in der Schilderung von zu analysierenden Träumen eine reizvolle Technik. Ein anders Mal symbolisiert der einsame Bergwanderer Freuds Bemühungen, seine (in Fragmenten erklärte) Methode voranzubringen. Ein Großteil der Brief-Stimmen stammt von Tochter Anna, die Freud bis an sein von Krankheit bestimmtes Lebensende begleitete, ohne jemals Dank von ihm zu empfangen. Ein ästhetisch sehr reizvoller Ansatz, auch wenn ein Film selbstverständlich zu wenig Zeit für eine derart reiche und bewegte Biografie hat.

Sun Children


Iran 2020 (Khorshid) Regie: Majid Majidi, mit Rouhollah Zamani, Mahdi Mousavi, Shamila Shirzad, 99 Min., FSK: ab 12

Der 12-jährige Ali, dessen Vater verschwunden ist und dessen Mutter in einer psychiatrischen Anstalt, kann endlich in die Schule. Aber nicht wegen der Bildung, sondern weil ein lokaler Gangsterboss ihn dort heimlich einen Tunnel graben lässt. Am benachbarten Friedhof soll er ein Schatz aus der Kanalisation fischen, zusammen mit seinen drei Freunden, die ebenfalls auf der Straße und von Kinderarbeit leben. „Sun Children" ist direkt super spannend, wenn die Jungs beim Klauen von Autoteilen erwischt werden und vor ihrem brutalen Verfolger von der Tiefgarage in die luxuriöse Welt eines hellstrahlenden Kaufhauses fliehen. Dann wandelt sich die tolle Geschichte in den Kampf um eine Schule, die ihnen zu essen gibt und Hoffnung auf ein besseres Leben.
Das packenden Sozialdrama mit charismatischem jungem Hauptdarsteller steht in der Tradition exzellenter iranischer Kinderfilme, mit denen schon Abbas Kiarostami seine Karriere begann. Bei Drama um Ali, der als einziger weitergräbt, während seine Freund Besseres finden, erfahren wir viel über das Leben am Rande der Gesellschaft.

28.4.22

Downton Abbey: Eine neue Ära


USA 2022 (Downton Abbey: A new Era) Regie: Simon Curtis, mit Hugh Bonneville, Laura Carmichael, Jim Carter, Brendan Coyle, 126 Min., FSK: ab 0

Downton-Fans sollten unbedingt eine Anwesenheitsliste im Kopf bereithalten: Es geht bei solchen Filmen nach solchen Serien immer um das erfreuliche Wiedersehen. Bei „Downton Abbey: Eine neue Ära" erschreckend überdeutlich, wenn zu Anfang und Ende alle Figuren aufgereiht Spalier stehen. Wer ist noch dabei, wen haben wir vergessen? Am Ende wird eine fehlen, was allerdings niemanden überrascht.

Viel zu lang fällt das Auslaufmodell Adel schon dem Nachfolger Demokratie lästig. (Einige dieser Dinosaurier wollen in Deutschland sogar dafür entschädigt werden, dass sie mit den Nazis aufs falsche Pferd gesetzt haben.) Viel zu lang ist auch die harmonietriefende, handlungsarme Fortsetzung des ersten Kinofilms, der die Serie fortsetzte, die sich von 2010 bis 2015 in 52 Folgen über sechs Staffeln ausbreitete. Zusammengefasst musste die ach so bedauernswerte Adelsfamilie Grantham mit ihrem Personal am Anfang des 20. Jahrhunderts furchtbare und skandalöse Dinge erleben: Vom Untergang der Titanic bis zur Einführung des Frauenwahlrechts. Von Handlung kann man jedoch kaum sprechen - alles ist extrem statisch mit einer Teetasse in der Hand gesprochen. Und wird mindestens dreifach wiederholt!

Zum Glück gibt es wenigstens zwei Handlungsstränge, welche die edle und angeblich detailgetreue Langeweile etwas auflockern: Zuhause macht ein Filmteam die verstaubten Gemäuer des Anwesens Downton Abbey unsicher und Strohwitwe Lady Mary (Michelle Dockery) entdeckt mit enger Unterstützung des verliebten Regisseurs Jack Barber (Hugh Dancy) ihr Talent als Synchronsprecherin. Ein Großteil von Herr- und Dienerschaft reist derweil an die Côte d'Azur, wo die spitzzüngige Patriarchin Violet Crawley (Maggie Smith) ein Anwesen geerbt hat. Mit dabei auf dem Trip, bei dem Bewegung weitgehend ausgeblendet wird, sind Verstrickungen um eine uralte Liebschaft, die Violets Sohn Robert Crawley (Hugh Bonneville) unsicher machen, wer wirklich sein Vater ist.

Dass selbst der obligatorische Todesfall (die Hochzeit gibt es auch) am Ende angeklatscht wirkt, ist für Fans egal. Hauptsache Wiedersehen! Das ist bei „Downton Abbey" nicht anders als bei den „Simpsons". Der Unterschied liegt allein darin, wie viel Realität oder Geigengedudel man erträgt. Ganz unabhängig von solchen Präferenzen ist „Downton 2" ungeheuer lahm und selbst für ein Wohlfühlfilm extrem konfliktfrei. Alles glatt wie endlos poliertes Tafelsilber. Während draußen die Drohne Überstunden macht, um das Gebäude in jeder Lichtstimmung abzufliegen, und auch die Geiger nie Ruhe geben.

Wobei der Film ein Balsam für unsere Zeiten ist. Alle gehen rücksichtsvoll und formvollendet miteinander um. „Höflich" halt. Wer das nicht tut, wie die barbarischen Filmschauspieler, wird höchstens liebevoll zurechtgewiesen und schließlich umerzogen. In Zeiten von Shitstorms und Beleidigtseins überall, ist dies ein großes Glück. Selbst Intrigen werden höflich und ohne Bösartigkeit durchgeführt. Aber sie gibt es ja in diesem Film überhaupt nicht, ebenso wenig Negatives von außen.

Interessant allein das Spiel mit dem Film im Film, die Widerspiegelung vom Reiz abgefilmten Glanzes vergangener Zeit. Das Filmteam will die Pracht des Anwesens für eine simple Handlung um die Romanze zwischen einem Spieler und einer Adeligen ausnutzen. Die Begeisterung über die großen Stars, die im Schloss auflaufen, und die Ernüchterung über ihre menschlichen Seiten werden vom drohenden Ende des Drehs gestört. Der Umbruch von Stumm- auf Ton-Film sorgt exakt für die gleichen Aufregungen wie in „Singin' in the Rain". Dabei wirkt „Downton Abbey" selbst wie Film einer überkommenen Epoche.

26.4.22

Wolke unterm Dach


Deutschland 2021, Regie: Alain Gsponer, mit Frederick Lau, Romy Schroeder, Hannah Herzsprung, 112 Min., FSK: ab 12

Höhenangst trifft auf Flugbegeisterung. Die ersten Jahre der Ehe und der Elternschaft zwischen Fluggast und Stewardess fliegen im glücklichen Schnelldurchgang dahin, bis Julia (Hannah Herzsprung) - direkt nach einem Streit - ganz plötzlich an Hirnödem stirbt. Krankenpfleger Paul (Frederick Lau) ist von der Situation zwischen Trauer und Sorge um die Tochter Lilly (Romy Schroeder) völlig überfordert und wird selbst zum Pflegefall, ohne es sich einzugestehen. Essen brennt an, der Feuermelder spielt verrückt, das Kind schreit herzzerreißend nach einem Albtraum und es stapeln sich die unbezahlten Rechnungen. Es gäbe sicherlich noch andere Klischees für diese aus vielen Büchern und Filmen bekannte Situation des Abschieds. Aber „Wolke unterm Dach" bedient sich schon zum Start kräftig beim Repertoire.

Der überforderte Paul lässt Fantasie und Träume der Tochter als Hilfe bei der Trauerarbeit nicht zu. Denn die unterhält sich auf dem Dachboden des von Versteigerung bedrohten Hauses nicht nur rührend mit einer Wolke aus Mamas Gemälden. Julia erscheint persönlich und gibt Halt. Sowieso ist alles einfacher bei Kindern als bei verkopften Eltern: „Können wir jetzt wieder normal sein oder traurig?" fragt die Freundin. „Lieber normal, ich hasse es, traurig zu sein."

Große Freude kommt erst auf, als Paul sich wieder aufs Leben einlässt und Lillys Wishlist mit bunten Fingernägeln sowie Riesenportion Eis abfeiert. Eine alberne Eifersucht ist dann noch zu klären, in diesem jämmerlich und musikalisch überladenen Film. Bis sich alle finanziellen, emotionalen und psychologischen Probleme auf einmal auflösen und Paul sogar seine Flugangst verliert.

„Wolke unterm Dach" ist ein nicht ganz misslungener Schmonzetten-Versuch mit viel Herzschmerz und herbeigezwungener Dramatik. Der Rührfilm verlässt dabei nie den sicheren Boden des allzu Bekannten. Frederick Lau („Nightlife") macht mit rauer Stimme und traurigem Gesicht eine gute Figur. Romy Schroeder trumpft neben erstaunlicher Ähnlichkeit zur Filmmutter Hannah Herzsprung mit großer Leinwand-Präsenz auf. Nicolette Krebitz und Kida Khodr Ramadan verdienen ihr Honorar in routinierten Nebenrollen.

Everything Everywhere All at Once


USA 2022, Regie: Dan Kwan, Daniel Scheinert, mit Michelle Yeoh, Jamie Lee Curtis, Stephanie Hsu, 132 Min., FSK: ab 16

Das beste unendliche Multiversum dreht sich um Michelle Yeoh: Als Evelyn Wang, Besitzerin eines Waschsalons muss sie gleichzeitig mit einer gefährlichen Jamie Lee Curtis von der Steuerbehörde, dem Neujahrsbesuch des lieblosen Vaters, Scheidungspapieren und dem Coming Out der frustrierten Tochter zurechtkommen. Die Regisseure Dan Kwan und Daniel Scheinert, die „Daniels" genannt, machen daraus die Wiedergeburt von „Matrix". Den genialsten Actionfilm seit Jahren, mit mehr Fantasie als alle Hollywood-Studios zusammen, mit philosophischem und berührendem emotionalem Tiefgang.

Auf dem Finanzamt wandelt sich Evelyns lahmer Ehemann Waymond (Ke Huy Quan) plötzlich zum Actionstar mit tödlichem Fanny Pack und erklärt, er käme aus einem Paralleluniversum. Der erste Einsatz geht gegen eine in diesem Universum sehr unattraktive Steuerbeamtin - Jamie Lee Curtis in einer irrwitzigen Mischung aus Parodie und Würdigung ihrer Kämpferin neben Schwarzenegger in „True Lies". Sie wird zum Mr. Smith für den Rest des Filmes. Und Evelyn lernt als weiblicher Neo – in ziemlich alberner Weise - zwischen den Welten zu wechseln, immer verfolgt von einer allmächtigen und gnadenlosen Personifikation ihrer Tochter.

Schon die Besetzung mit Michelle Yeoh ist Gold wert, spielte sie doch letztlich in „Star Trek Discovery" mit Bravour eine Doppelrolle in zwei Paralleluniversen. Nun schlägt sie sich durch die Kungfu-Welt ihres Erfolges „Tiger & Dragon", hat mal Wurstfinger, ist eine Kinderzeichnung oder eine Pinata. Es gibt auch tatsächlich einen buddhistischen Dialog von Mutter-und Tochter-Stein in einer menschenleeren Welt. Mit dem Problem des seit Ewigkeiten eingeschlossen Seins. Die ganz großartige Kampfszene endet nicht mit einem Massaker. Hier beglückt die weise Kämpferin Evelyn jeden Besiegten mit dem, wonach er sich sehnt. Was auch mal sexuell explizit ist.

Bevor sich dieses rasant geniale Spiel mit vielen Stilen und Zitaten in Teil 2 „Everywhere" auf die Klärung der Familienprobleme stürzt. Mit gleichem Einfallsreichtum und Witz. Angereichert mit Lebensweisheiten, Philosophie und noch mehr Wahnsinn.

25.4.22

Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush


Deutschland 2022, Regie: Andreas Dresen, mit Meltem Kaptan, Alexander Scheer, Charly Hübner, 118 Min., FSK: ab 6

Nicht nur der ukrainische Botschafter hat was gegen Frank-Walter Steinmeier, auch Murat Kurnaz ist nicht gut auf den Politiker zu sprechen. Soll dieser doch seine Freilassung aus dem Foltergefängnis von Guantanamo verhindert haben. Andreas Dresens Polit-Komödie zeigt den Kampf um Grundsätze des modernen Rechtsstaates aus der Perspektive von Kurnaz' Mutter mit Comedienne Meltem Kaptan in einer ausgezeichneten Hauptrolle.

Die Geschichte von Murat Kurnaz ist vielfach und auch filmisch aufbereitet worden. Doch komisch noch nie. Der religiöse Bremer wurde 2001, kurz nach den Anschlägen vom 11. September, vom US-Militär in Pakistan nach Guantanamo auf Kuba entführt. Angeblich wäre er auf dem Weg gewesen, in Afghanistan gegen die US-amerikanischen Besatzungstruppen zu kämpfen. Ohne Anklage wurde Kurnaz fünf Jahren interniert. Ein perfides System von Nicht-Justiz verhinderte, einfachste Grundrechte einzuklagen. Nach seiner Freilassung 2006 erhob er schwere Vorwürfe gegen die deutsche Bundesregierung, auch gegen Steinmeier als damaligem Kanzleramtschef und Geheimdienstkoordinator der rot-grünen Bundesregierung.

Im Interview mit dem Spiegel sagte Murat Kurnaz 2017, Steinmeier habe sich „kaltherzig und ignorant verhalten. Als ich die Hilfe der Bundesregierung dringend gebraucht hätte und die USA meine Entlassung anboten, hat er im Wissen um Folter und Entrechtung Hilfe verweigert und mich im Stich gelassen. Das ist kein gutes Zeugnis für einen Bundespräsidenten."

Szenenwechsel: „Ich bin Rabiye, Mama von Murat. Wenn Sie Fragen haben, antworte ich. Aber eine nach der anderen. Und gehen Sie runter von meinen Schneeglöckchen, ja? Echt jetzt!" Das ist Rabiye Kurnaz (Meltem Kaptan), das ist ihr Auftritt, nachdem die Gefangennahme bekannt wurde und die Presse ihr Haus belagert. Diese umwerfend dralle naive Offenheit von Mama Kurnaz ist der Schlüssel, mit dem Dresen sich in „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush" das Interesse eines breiten Publikums eröffnet.

Rabiye Kurnaz ist eine einfache Frau, ihr Mann arbeitet in Bremen bei Mercedes und sie fährt im Mitarbeiter-Werkswagen auf den Straßen gefährlicher als ein Taliban. „Guantanamo, was ist das?" fragt sie unbekümmert mit ihrem türkischen Akzent. Zwar weiß Rabiye nichts von Welt- oder sonstiger Politik, aber sie ist hartnäckig. So überzeugt sie den Anwalt Bernhard Docke (Alexander Scheer), was zu tun. Der Menschrechtsanwalt ist Spezialist für die US-Justiz – und wird zum Kenner schwieriger Beziehungen zu der von Energie überbordenden türkischen Mama. „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush" lebt vom humorigen Kultur-Clash zwischen überwältigender Lebendigkeit und dem trockenen Juristen aus dem Norden.

Gleichzeitig steht das neue Drama von Andreas Dresen („Sommer vorm Balkon", „Wolke 9", „Halt auf freier Strecke", „Gundermann") in der Tradition von US-Gerichtsfilmen, zum Glück ohne ausgebreitete Szenen vor dem Kadi. Ein nicht erreichter Vorgänger zeigte Jodie Foster in „Der Mauretanier" als Nancy Hollaender, Anwältin des Guantanamo-Häftlings Mohamedou Ould Slahi. Auch über Murat Kurnaz gab es schon einen Film. Mit dem eher experimentellen „5 Jahre Leben" verarbeitete Stefan Schaller die gleichnamige Autobiografie.

Der Kampf um Gerechtigkeit für ihren Sohn führt Rabiye in die USA. Nachdem sich sowohl deutsche als auch türkische Regierung nicht zuständig sahen für den in Deutschland geborenen und aufgewachsenen türkischen Staatsbürger, steigt sie in eine Sammelklage gegen US-Präsident George W. Bush ein. Ziel ist ein ordentliches Gerichtsverfahren für Guantanamo-Häftlinge. Das Treffen mit einem berühmten Schauspieler, der die Sache fördert, sorgt wieder für viel Situationskomik mit Rabiye. Der Film selbst schleppt sich etwas durch den Mittelteil und packt erst wieder, wenn die rot-grüne Bremer Landesregierung Murat ausweist, weil er seine Aufenthaltsgenehmigung nicht verlängert hat. Was vor Guantanamo aus schwer sein dürfte.

Wenn Anwalt Docke als zweite Hauptfigur manifestiert „Wir müssen uns den Rechtsstaat zentimeterweise erkämpfen", folgt doch zu viel Hölzernes, um die unfassbar verdreht begründete Ungerechtigkeit zu erklären. Im Hollywood-Film, würde sich Rabiye noch emanzipieren, vom Herd wegkommen und Karriere als Menschenrechtsanwältin machen. Aber „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush" bleibt seiner sympathischen Figur treu und verlässt sich auf die deutsch-türkische Moderatorin, Comedienne Meltem Kaptan. So erreicht der Film trotz einiger Hänger sein Ziel spaßiger Unterhaltung mit politischer Agenda. Frank-Walter Steinmeier ist nicht selbst genannt, es wird nur bedeutungsvoll vom kollaborierenden Staatsanwalt Marc Stocker (Charly Hübner) nach oben gezeigt, als sich die Frage stellt, wer der Rückkehr von Murat Kurnaz verhinderte.

24.4.22

Final Account


Großbritannien, USA 2020, Regie: Luke Holland, 94 Min., FSK: ab 12

„Monster existieren, aber es sind zu wenige, um wirklich gefährlich zu sein. Gefährlicher sind die einfachen Männer, die Funktionäre, die bereit sind zu glauben und zu handeln, ohne Fragen zu stellen." Dieses Zitat des Schriftstellers und KZ-Insassen Primo Levi steht am Beginn eines eindringlichen Porträts der letzten noch lebenden einstigen Mitglieder von Hitlerjugend und Bund deutscher Mädel. Das Ergebnis von 250 Interviews und zehn Jahren Aufnahmen arbeitet auf die finale Frage hin, ob sie schuldig seien. „Wir haben gar nichts gewusst" bis zu dem Geständnis dessen, „was man sich unter der Hand" erzählt hat, zeigt sich das Spektrum einer oft schockenden Uneinsichtigkeit. Die beklemmendste Szene ist die längste, eine erschreckende Diskussion eines alten Antifa-Herren mit einem rassistischen und nationalistischen Jugendlichen.
„Final Account", des kurz nach Fertigstellung verstorbenen Filmemachers Luke Holland, ist in seiner breiten Übersicht von Tätern und aufgelisteten Konzentrationslagern notwendig, aber wesentlich weniger intensiv als der Klassiker des Genres, „Shoah" von Claude Lanzmann.

20.4.22

The Northman


USA 2022, Regie: Robert Eggers, mit Alexander Skarsgård, Claes Bang, Nicole Kidman, 137 Min., FSK: ab 16

Wilde Horden überfallen und brandschatzen Dörfer und Städte. Sie morden und vergewaltigen. Nein, das sind nicht die täglichen Nachrichten aus der Ukraine, das ist die Abteilung Unterhaltung: Der neue Film von Robert Eggers, „The Northman".

Als sein Vater, König Aurvandil (Ethan Hawke), brutal ermordet und die Mutter Königin Gudrún (Nicole Kidman) vom Onkel Fjölnir (Claes Bang) verschleppt wird, bleibt dem kleinen Prinzen Amleth nur die Flucht. Jahre später ist Amleth (Alexander Skarsgård) als brutaler Schlächter unter den barbarischen Kriegern, die mit ihren Flachboten Europa unsicher machen. Als er vom Schicksal seines Onkels erfährt, der bald nach dem Putsch selber abgesetzt wurde und nach Island floh, schleicht sich der Königssohn ohne Land dort als vermeintlicher Sklave ein. Langsam startet er mit Hilfe göttlicher Kräfte seine Rache, die selbst blutrünstige Wikinger erschreckt.

Die Sache mit dem verlorenen Königreich, das sich der Prinz nach Mord am Mörder des Vaters zurückerobert, ist nicht sehr originell. Robert Eggers, der gefeierte Regisseur von „The Witch" und „Der Leuchtturm", geht allerdings auf sehr alte Quellen zurück: Die im 12. Jahrhundert schriftlich festgehaltene Sage „Gesta Danorum" („Die Taten der Dänen"), an den sich auch Shakespeare für seinen „Hamlet" bediente.

Verstörend ist wohl die häufigste Beschreibung der Filme von Dave Eggers. Die blutige Mittelalter-Schlachterei ist für ihn ein überraschendes Genre, das sich mit „Game of Thrones" längst weiterentwickelt hatte. Zusammen mit dem Autor von „Lamb", der Björk-Empfehlung Sjón, entstand mit und trotz vieler Studiomillionen ein Zwitter aus konventionellen Schlachtereien und Kostümspektakel sowie irritierenden wilden Drogenvisionen und Kämpfe mit Toten. Einige Strecken von - besonders zurzeit - schwer erträglichen Kriegsgräueln werden unterbrochen von einer Feier nordischen Sagengutes. Eine Begeisterung, die auch Neil Gaiman mit seinen Büchern „American Gods" und „Nordische Mythen und Sagen" anfeuerte. Allerdings ist vor allem Nicole Kidman als Dänen-Königin völlig irritierend: Gab es damals schon Schönheits-OPs?

Golden-Globe-Preisträger Alexander Skarsgård („Godzilla vs. Kong") kann auch den bedenklich gnadenlosen Nordmann gut geben. Ansonsten sind eher die kleinen Auftritte auffällig: Willem Dafoe („The French Dispatch"), schon in Eggers „Der Leuchtturm" dabei, spielt kurz und prägnant einen Schamanen. Die Musikerin Björk darf sich als prophetische Hexe toll verkleiden.

Alles zusammen ergibt den teuersten und uninteressantesten Dave Eggers, der selbst vom finalen Schnitt des Studios entsetzt war. „The Northman" ist letztendlich eine mit enormem Talent und viel Geld angefertigte bedenkenlose Hymne des Archaischen und archaischer Gewalt.

19.4.22

River (2021)


Australien 2021, Regie: Jennifer Peedom, 75 Min., FSK: ab 0

Der sensationelle Dokumentarfilm folgt Flussläufen vom ersten Regen der Erdgeschichte und den Quellen am Gletscher bis ins Meer. Im Gegensatz zu inflationären Fluss-Dokus im TV ist der bildgewaltige „River" ganz große Kunst und einmaliges Kinoerlebnis. Mit herrlich vielen kulturgeschichtlichen Aspekten und betörenden Aufnahmen werden wunderschöne Landschaften mit harten Fakten zum Raubbau an der Natur verbunden. Zeichnungen aus Land und Wasser wechseln sich mit rhythmischen Sequenzen beim Reisanbau in Asien ab. Animierte Satelliten-Aufnahmen zeigen Wasserverteilung und die Analyse der Ungerechtigkeit dabei. Ebenso stark wie die Erzählstimme von Willem Dafoe, dessen Geschichte mal nicht nervt, ist die Musikbegleitung. Neben Symphonischen unter anderem von Johann Sebastian Bach sind Jonny Greenwood und Radiohead mit Originalkompositionen von Richard Tognetti und der indigene Musiker William Barton zu hören. Ein gewaltiges Werk in der Tradition von zivilisationskritischen Bilder-Essays wie „Koyaanisqatsi".

Die wundersame Welt des Louis Wain


Großbritannien 2021 (The Electrical Life of Louis Wain) Regie: Will Sharpe, mit Benedict Cumberbatch, Claire Foy, Andrea Riseborough, Toby Jones, 111 Min., FSK: ab 12

Der großartige Benedikt Cumberbatch („The Power of the Dog", „Doctor Strange") macht nach den Albernheiten im Marvel-Universum jetzt auf „Katzencontent", um wieder beliebt zu werden. Tatsächlich ist die leider im wahrsten Sinne des Wortes irre Biografie des britischen Zeichners Louis Wain (1860-1939) davon bestimmt, dass der Exzentriker mit seinen extrem beliebten Katzenbildchen das bis dahin übersehene Haustier populär machte.

Der rastlose Kreative Louis Wain erzeugt immer wieder Chaos, wenn er für seinen Auftraggeber Zeichnungen machen soll. Die fertigt er allerdings in Minuten und beidhändig an. Denn er will auch gegen überlegene Boxer kämpfen und eine Oper schreiben. Dank einer Festanstellung bei der Illustrated London News ernährt er seine Schwestern und kann die Gouvernante des Hauses Wain heiraten. Die grandios verklemmt beginnende Romanze wird bald durch eine Krebserkrankung beendet. Ein Kater begleitet das Leid des Paares.

Filmisch zur schrägen Figur passend, gibt es immer mal wieder schiefe Bilder. Kostüme und Kolorit der viktorianischen Zeit erfreuen das Auge, das Spiel von Cumberbatch in dieser auf komische Weise traurig berührenden Biografie ist wieder mal grandios.

In den besten Händen


Frankreich 2021 (La Fracture) Regie: Catherine Corsini, mit Valeria Bruni Tedeschi, Marina Foïs, Pio Marmaï, 99 Min., FSK: ab 12

Die französische Präsidentschafts-Wahl zwischen Amtsinhaber Emmanuel Macron und der Ultrarechten Marine Le Pen auf den Punkt gebracht als Wortgefecht und Schlägerei zwischen einer arrivierten linken Comiczeichnerin und einem rechten LKW-Fahrer in prekären Verhältnissen. Auf diesen Kulminationspunkt steuert „In den besten Händen" hin, diese geniale Mischung aus Beziehungskomödie und Sozialdrama (oder umgekehrt). 

Die arrivierte Comiczeichnerin Raphaela (Valeria Bruni Tedeschi) ist wegen der angekündigten Trennung von ihrer Verlegerin und Partnerin Julie (Marina Foïs) in höchster Panik. Zig immer heftiger beleidigende SMS gehen stündlich raus, dabei liegt Julie schlafend neben ihr. Ihre Dialoge wirken wie Tourette-Syndrom, wie die zukünftige Ex-Partnerin bemerkt. Beim blöden Hinterherlaufen bricht sich die Verlassene den Arm.

Gleichzeitig marschieren die Gelbwesten auf den Champs Élysées gegen Macron auf, zünden Autos an, bilden Barrikaden und werden konfrontiert mit brutalen Polizeitruppen. Der LKW-Fahrer Yann (Pio Marmaï) wird schließlich mit Kriegsverletzungen vom Polizei-Einsatz eingeliefert. Immer noch voller Wut randaliert er im sowieso schon geladenen Wartezimmer. Geladen, wie völlig überfüllt und in angespanntester Stimmung.

Hier schwenkt der Film rasant vom komischen-hysterischen Beziehungsdrama zum erschreckenden Protokoll eines völlig überforderten Gesundheitssystems. Die Krankenhaus-Belegschaft arbeitet aufopferungsvoll am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Neuankömmlinge werden schnell mit Armbändchen nach Dringlichkeit sortiert: Rot für baldige Untersuchung, Orange muss etwas länger warten. Eine bescheidene Frau stellt ihre Schmerzen zurück. Später stellt sich heraus, dass sie dank der Polizei mehrere gebrochene Rippen und Blut in der Lunge hat. Dabei leidet das kleine Baby einer Schwester zuhause unter schwerem Fieber, wie in schnellen SMS verhandelt wird. Und auch Julie verfolgt die Nachrichten von den Straßenschlachten in großer Angst, weil ihr Sohn mitprotestieren wollte und sich nicht bei der überfürsorglichen Mutter meldet.

Operationen von gebrochenen Armen und das operative Entfernen von Splittern im Bein müssen verschoben werden. Womit wir wieder bei Raphaela und Yann wären. Im Wartezimmer brüllen sie sich an. Im Zwischenlager der Diele schlagen sie sich, was mit den jeweiligen Verletzungen ziemlich komisch aussieht. Ganz abgesehen davon, dass „Raf" durch eine dreifache Ladung von Schmerzmitteln sowieso oft hysterisch lachen muss. Später liegen sie in Behandlungszimmern nebeneinander und kommen sich auch ansonsten näher. Denn es gibt viel Zeit für Erklärungen der Lebenssituationen und politischen Haltungen.

Yann lebt noch bei seiner Mutter. Trotz der Gefahr, sein Bein zu verlieren, schleicht er sich später aus dem Krankenhaus. Er hat Angst, eine Fahrt und seinen Job zu verlieren. „Wir leben nicht, wir überleben". Wütend wirft er Raf vor, Macron gewählt zu haben. Sie vermutet in dem einfachen Mann einen Wähler von Marine Le Pen, gegen die sie demonstriert hatte. Dabei sind sie sich ziemlich ähnlich, nicht nur im aufbrausenden Charakter. Auch Raphaela fürchtet um ihren Job, weil sie mit der linken Hand nicht so gut zeichnen kann.

Während in diesem Mikrokosmos der Notaufnahme, mit acht bis zehn Stunden Wartezeit, die gesellschaftliche Spaltung gespiegelt wird, schwappt die Gewalt des Protests mit Tränengas in das Wartezimmer. Obwohl von der Polizei verboten, nehmen die Ärzte Demonstranten auf. Und geben ihre Namen nicht wie angeordnet preis.

Regisseurin Catherine Corsini blickt nach ihren beiden sehr emotionalen Filmen „La belle saison - Eine Sommerliebe" (2015 mit Cécile de France und Noémie Lvovsky) und „Die Affäre" (2009 mit Kristin Scott Thomas) im irren und irrwitzigen Setting von „In besten Händen" auf den aktuellen Zustand der französischen Gesellschaft. Das Duell Macron/Le Pen wiederholt sich an diesem Wochenende, die Risse im Land sind immer noch offene Wunden.

Ausgerechnet die großartige Darstellerin und Regisseurin Valeria Bruni Tedeschi spielt die bourgeoise Künstlerin, die sich einst engagiert hat. Tedeschi, Spross einer Turiner Industriellenfamilie, die vor den Roten Brigaden nach Frankreich fliehen musste, und wegen Schwesterlein Carla Bruni tatsächlich Schwägerin des ehemaligen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy, ist ein genialer Besetzungscoup. Selbstverständlich vom Können des französischen Stars mit viel komödiantischem Talent zum Gelingen des Films geführt. Eines außergewöhnlich unterhaltsamen und engagierten Films.

Haute Couture - Die Schönheit der Geste


Frankreich 2021, Regie: Sylvie Ohayon, mit Nathalie Baye, Lyna Khoudri, Pascale Arbillot, Claude Perron, 101 Min., FSK: ab 12

Sie ist immer als erste im Modeatelier, nie entspannt und furchtbar einsam in ihrem strengen Leben mit seinen kleinen Ritualen. Die Direktrice Esther (Nathalie Baye) fertigt für das Modehaus Dior seit vielen Jahren die Haute Couture-Kollektionen. Nun steht sie vor dem Ruhestand und bereitet ihr letztes Kleid vor. Einen kurzen Moment der Zerstreuung, in der Metro spielt eine junge Frau ein Lied, bereut sie sofort: Ihre Handtasche wird gestohlen, die Musikantin will sie zurückholen und Ester bleibt mit deren Gitarre konsterniert zurück.

Wir hatten vorher schon die Diebin und die vermeintliche Retterin kennengelernt: Die junge, rebellische Jade (Lyna Khoudri) klaute bereits die Gitarre und die andere Diebin ist ihre Freundin Souad (Soumaye Bocoum). Beide sind arabischer Abstammung, wohnen im Banlieu Seine-Saint-Denis und haben keine Jobs. Aber Jade besinnt sich und bringt die Tasche zu Esthers Arbeitsplatz bei Dior. Die überrascht wiederum mit einer Einladung zum Abendessen und dann bald mit dem Angebot eines Praktikums in ihrem Atelier.

Es gibt auf beiden Seiten viel Reibung: Esther hat zwar ihr Herz für den Tochter-Ersatz Jade geöffnet, doch die strengen Sitten und Rituale, ja schon die Pünktlichkeit fordern die oft aufbrausende junge Frau. In Jades Wohnsiedlung sorgt der Sinneswandel für Irritation. Vor allem Freundin Souad lästert über die eingebildeten Reichen. Richtig fies ist allerdings die Rassistin Andrée (Claude Perron) im Studio mit ihren Schikanen und dem Mobbing.

„Haute Couture - Die Schönheit der Geste" lässt zwei soziale Welten aufeinanderprallen und zeigt diese unterschiedlichen Sphären oft parallel. Ins klinisch weiße Atelier mit den feinen und extrem teuren Stoffen platzt Jade mit ihrer billigen Fleece-Jacke. Doch – das rettet den Film vor der Klischeefalle – feine Nuancen und Verschiebung sind überall zu entdecken. So stammt die designierte Nachfolgerin Esthers aus dem selben Problemviertel Seine-Saint-Denis wie Jade. Und als die Atelier-Chefin ihren Zögling wieder einmal aus den Wohnsilos abholt, überrascht, wie viele Bekannte die „Elitefrau" hier draußen hat. Die vor allem zu sich selbst strenge Chefin bekommt einige sehr coole Momente. Wie sie in Jades Siedlung von dem Typen vor dem Aufzug den Joint annimmt und sehr kräftig daran zieht, zeigt Stil und Humor.

Dass sich schließlich die zwei problematischen Mutter-Tochter-Geschichten in Wohlgefallen auflösen, wirkt etwas zu einfach. Wenn auch anrührend, das Atelier als Familie zu sehen, die selbst die Rassistin Andrée zurechtstutzt und integriert. Doch reichlich Themen verhindern, dass „Haute Couture" banal wird. Und die kleinen Momente, etwa wenn Jade Esther beim Tablettenschlucken erwischt und meint: „Diabetes und tablettenabhängig – und ich bin ein Problemfall?"

Nathalie Baye („Rette sich, wer kann (das Leben)", „Eine merkwürdige Karriere") hat als strenge, aber warmherzige Esther eine großartige Rolle, die sie in jeder Faser wunderbar ausfüllt. Lyna Khoudri, die freche Revoluzzerin aus Wes Andersons „The French Dispatch", begeistert mit einer sehr lebendigen Balance zwischen den Welten erneut.

The Lost City - Das Geheimnis der verlorenen Stadt


USA 2022, Regie: Aaron Nee, mit Sandra Bullock, Channing Tatum, Daniel Radcliffe, 112 Min., FSK: ab 12

Lara Kraftlos und Indiana Jokes - so könnten die von Sandra Bullock und Channing Tatum gespielten Witzfiguren auch heißen, die wider Willen auf den ausgetretenen Pfaden des archäologischen Abenteuerfilms eine romantische Komödie finden wollen.

Die erfolgreiche Trivialautorin Loretta Sage (Sandra Bullock) steht vor einer großen Expedition: Für ihren neuen Abenteuerroman muss die zurückgezogen Lebende auf Lesereise. Dabei völlig lächerlich aufgemacht vor eher unterbemittelten Fans mit dem noch blöderen Covermodel Alan (Channing Tatum) auftreten. Die unangenehme Peinlichkeit wird zur Abenteuerfilm-Parodie, als der durchgeknallte Milliardär Fairfax (Daniel Radcliffe) Loretta entführt und sie sich ruckzuck im engen lila Glitzerkleid mitten im Dschungel einer abgelegenen exotischen Vulkaninsel wiederfindet.

Berühmt für ihre archäologischen Reiseromane aber trotzdem unwillig, auch nur vor die Haustür zu gehen! Die gescheiterte Existenz Loretta stolpert fortan dämlich durch eine Indiana Jones-Handlung. Zur Rettung kommt selbstverständlich der einfältige Alan – als Ballast für den echten, von Brad Pitt gespielten Dschungel-Helden Jack Trainer. Da es diesen herrlich gemein nach wenigen Minuten hinrafft, müssen wir den Rest des Filmchens mit Alans Unzulänglichkeit überleben. Und mit der Unfähigkeit der Witze, zu zünden.

Klamottig gibt es eine idiotische Flucht im Kleinstwagen, bei der alles schiefläuft. Dazu dauernde Streitereien, bei denen nur eine Seite – Loretta - geistreich ist. Riesige Blutegel auf Alans nackten Körper machen doch klar, wer Tarzan und wer Jane ist. „The Lost City" ist ein Trauerspiel, wenn man sich an Klassiker des Genres wie Robert Zemeckis' „Auf der Jagd nach dem grünen Diamanten" oder Steven Spielbergs „Jäger des verlorenen Schatzes" erinnert. 

Es ist immer wieder irritierend, wie sich eine hochintelligente Schauspielerin und Produzentin vom Kaliber Sandra Bullocks („Bird Box", „Ocean's 8") für solch dämlichen Rollen hergibt. Ähnlich bizarr wie das Kleid Lorettas wirkt ihr ausdrucks-reduziertes Gesicht. Während sich „Magic Mike" Channing Tatum routiniert auf ironische Rollen versteht, lässt nur „Harry Potter" Daniel Radcliffe mit seinem Fiesling kurz schmunzeln.

13.4.22

Geschichten vom Franz


Deutschland, Österreich 2022, Regie: Johannes Schmid, mit Jossi Jantschitsch, Nora Reidinger, Leo Wacha, 78 Min., FSK: ab 0

Auf Basis von Christine Nöstlingers beliebter Buchreihe „Geschichten vom Franz" muss der neunjährige Franz (Jossi Jantschitsch) damit fertig werden, dass ihn alle wegen seiner Goldlocken und einer Piepsstimme für ein Mädchen halten. Mit dem 10-Schritte-Programm von Influencer Hank Haberer (Philipp Dornauer) will er das ändern. Mit Regeln wie „Ein starker Kerl in einem starken Körper". Durch effektiven Dackelblick helfen ihm der loyale Schulfreund Eberhard (Leo Wacha) und die die kluge Freundin Gabi (Nora Reidinger). So lernen wir über einige witzige Alltags-Abenteuer, dass toxische Männlichkeit schon im Kindesalter durch Muckitypen-Videos verbreitet werden kann.

Statt neumodischer Action und Animation gefällt der nette Kinderfilm mit lebensnahem Wiener Charme und Schmäh. Es gibt viel Prominenz aus Österreich wie Simon Schwarz als kochkünstelnden Papa vom Franz, doch vor allem die Kinderdarsteller überzeugen.

Alles ist gutgegangen


Frankreich 2021 (Tout s'est bien passé) Regie: François Ozon, mit Sophie Marceau, André Dussollier, Géraldine Pailhas, Hanna Schygulla, Charlotte Rampling, 109 Min., FSK: ab 12

Der französische Meisterregisseur François Ozon („Gelobt sei Gott", „Frantz") beschäftigt sich in seinem neuen Drama „Alles ist gutgegangen" mit Sterbehilfe, die staatlich erschwert wird. Sophie Marceau, André Dussollier, Hanna Schygulla und Charlotte Rampling glänzen in der Verfilmung einer autobiografischen Vater-Tochter-Geschichte von Emmanuèle Bernheim.

Der 84-jährige französische Industrielle und Kunstliebhaber André Bernheim (André Dussollier) erleidet einen Schlaganfall, ist gelähmt, ein weiterer droht. Der Schreck und dann die Pflegesituation reißen Emmanuèle Bernheim (Sophie Marceau) aus ihrem gewohnten Leben als Schriftstellerin. Die Schwester Pascale (Géraldine Pailhas) hilft, beide haben ein enges und gutes Verhältnis. Dann der nächste Schock: André, gut versorgt und gepflegt, will mit einer halbseitigen Lähmung und entsprechend entstelltem Gesicht nicht mehr leben. Von den Ärzten wird der Wunsch nach selbstbestimmtem Tod mit Sprüchen in der Art „das wird schon wieder" ignoriert. Mit der Ausführung der in Frankreich verbotenen begleiteten Selbsttötung beauftragt der Patriarch die Lieblingstochter Emmanuèle. Ausgerechnet sie, die in der Jugend am meisten unter dem rücksichtslosen Egomanen leiden musste.

Schwester Pascale erkennt in dem Auftrag, des Vaters Leben zu beenden, eine letzte Gemeinheit seinerseits: Als Kind hätte Emmanuèle ihm doch oft den Tod gewünscht. Dieser Wunsch würde nun erfüllt. Die Antwort der Lieblingstochter: „Er ist ein schlechter Vater, aber ich liebe ihn sehr. Ich wünschte, ich hätte ihn als Freund gehabt." Und der Rat einer Freundin: „Dann hilf ihm jetzt wie ein Freund, sein Leben zu beenden.

Was nicht so einfach ist. Vor allem staatliche Stellen erschweren selbst den Weg in die Schweiz, wo die Sterbehilfe-Organisation einer ehemaligen Juristin (Hanna Schygulla) einen menschenwürdigen Abschied möglich macht. Diese gesetzlichen Schikanen gegen selbstbestimmtes Sterben sorgen letztlich für etwas Drama am Ende. Bis dahin konzentriert sich François Ozons „Alles ist gutgegangen" auf die von den exzellenten Darstellerinnen und Darstellern gespielten Personen und ihre Befindlichkeiten.

Ehefrau Claude de Soria (Charlotte Rampling) schaut nur kurz vorbei. Die Künstlerin, die alle ihre Plastiken in Grau machte und darin viele Schattierungen sah, leidet selbst unter Parkinson und Depressionen. Sie wusste schon bei ihrer Hochzeit, dass André schwul ist. Zur Trennung kam es erst viel später. Ein renitenter Liebhaber, den die Schwestern nur mit einem Schimpfwort benennen, will einen letzten Abschied und eine irrsinnig teure Armbanduhr. Schwester Pascale verlässt beim Thema Sterbehilfe gerne den Raum und hat wenig eigenen Hintergrund. Hier bekam die autobiografische Autorin Emmanuèle Bernheim vielleicht kein Copyright für das echte Leben. In Frankreich mag dieser nüchterne Ansatz durch die Funktion als Schlüsselroman auf zusätzliches Interesse gestoßen sein. Die Figuren sind von einiger Prominenz: Emmanuèles Lebenspartner Serge Toubiana war beispielsweise Leiter der Cinémathèque Française.

Das Thema Sterbehilfe ist weltweit im Wandel. Kirchen und ihnen gefügige Parteien beharren auf ihrem „Recht" auf das Leben ihrer Schäfchen. Ungeachtet des enormen Leidens, das sie damit verlängern. Ozon konjungiert kurz die Einwände der abrahamitischen Religionen durch: Der französische Staat fungiert als Ausführungsgehilfe der Katholiken. Eine alte Tante, die ein Konzentrationslager überlebte, meint, in einer jüdischen Familie, die so viel erlitten habe, dürfe man sich nicht umbringen. Und in einer ironischen Note mischt sich auch noch ein islamischer Krankenfahrer ein und verweigert den Weitertransport, als er erfährt, wohin es geht.

Mit einer - im Gegensatz zum sonstigen Schaffen - sachlichen, distanzierten Darstellung bleibt Ozon in Sachen Drama und Emotionen weit hinter großen Filmen zum Thema zurück: „Das Meer in mir" mit Javier Bardem. Die damals noch unbekannte Liv Lisa Fries mit Mukoviszidose und eigener, letzter Kraft auf dem Weg in die Schweiz in „Und morgen Mittag bin ich tot". Mit ALS auf Fahrradtour nach Belgien in „Hin und weg". Oder eine dänische Seniorin und ihr letztes Familientreffen wegen ALS in „Silent Heart – Mein Leben gehört mir" von Bille August. Ohne all diese tiefe Erschütterung verläuft „Alles ist gutgegangen" fast routiniert bis zum erlösenden Titelsatz von Hanna Schygulla.

Vielleicht ist der neue Ozon eher eine Gefälligkeit für die Schriftstellerin Emmanuèle Bernheim, die seine Drehbuchautorin bei „5 x 2 - Fünf mal zwei" (2004), „Swimming Pool" (2003) und „Unter dem Sand" (2000) war.

12.4.22

The Contractor


USA 2022, Regie: Tarik Saleh, mit Chris Pine, Kiefer Sutherland, Gillian Jacobs, 104 Min., FSK: ab 16

Special Forces Sergeant James Harper (Chris Pine) war Militär und Anführer, das zeigt seine Körpersprache. Nach vier „Einsätzen" in Irak und Afghanistan ist das Knie im Eimer und die Stimmung in Moll. Mit leerem Blick schindet er sich für die Fitnessprüfung, die Schmerzen hält er nur mit Steroid-Spritzen aus. Was ihn als Nebeneffekt nachts das Dach vom Haus reparieren lässt. Und ihm beim Drogentest der Armee zum Verhängnis wird. Ohne Gnade wird er entlassen, bekommt keine Krankenversicherung, keine Rente mehr.

In zehn Minuten bringt der vermeintliche Actionfilm den Helden mit Frau und Kind in die Schulden. Die Freunde bringen sich reihenweise um, unter den Lebenden herrscht ein rauer Ton, der verdrängen will. Frustriert, dass sie „der Armee alles gegeben haben und dann im Stich gelassen wurden". „The Contractor" ist bis dahin ein anständiges Sozialdrama. Mit Handkamera und Fischaugen-Objektiv wie bei Terrence Malick („The Tree of Life"). Dann nimmt der gar nicht strahlende Ex-Militär eines der angekündigten Angebote von Söldner-Firmen an. Sein bester Freund Mike (Ben Foster) vermittelt ihn zum Veteranen Rusty (Kiefer Sutherland), der eine neue Familie verspricht. Die erste Geheim-Mission führt nach Berlin und entwickelt sich schnell zur Katastrophe, bei der Elitekämpfer James von den eigenen Leuten verraten wird.

Die in Berlin verballerten Produktionsgelder führen bei mäßiger Action nur zu netten Wiedererkennungs-Effekten. Nina Hoss („Phoenix", „Yella") schießt mit schweren Waffen, eine martialische deutsche Streifenpolizei überrascht ebenso mit unerwartet brutalem Einsatz. Dabei fing „The Contractor" eigentlich gut an. Eine einfühlsame Anklage der aus dem System fallenden US-Ballermänner, die sich nun als Söldner gegenseitig umbringen. Chris Pine („Wonder Woman", Captain Kirk der neuen „Star Trek"-Reihe) macht seine Sache als geknickter Kämpfer gut. Alle anderen interessanten Figuren und DarstellerInnen werden viel zu schnell wieder aus dem Film geschossen. Wie zum Beispiel Eddie Marsan („The Gentlemen", „Hobbs & Shaw"). Dem schwedischen Regisseur Tarik Saleh („Die Nile Hilton Affäre", „Metropia"), der den Landsmann Fares Fares („Jalla! Jalla!") als Anschlagsopfer mitbringt, fällt am Ende nicht mehr ein als anderen Rache- und Ballerfilmen.

Red Rocket


USA 2021, Regie: Sean Baker, mit Simon Rex, Suzanna Son, Bree Elrod, 128 Min., FSK: ab 16

Bei seiner Rückkehr in ein texanisches Kaff besitzt der abgehalfterte Pornostar Mikey Saber (Simon Rex) gerade mal das Hemd auf seinem, für einen End-Vierziger immer noch knackigen Körper. Viele blaue Flecken zeigen, dass er Hollywood nicht ohne Ärger verlassen hat. Nun beschwatzt er seine Ex-Pornopartnerin und Noch-Frau Lexi (Suzanne Son), bei ihr und ihrer Mutter einzuziehen. Schnell schleimt sich Mikey mit Dauergrinsen im kunstgebräunten Gesicht ein, verkauft den Arbeitern der Ölraffinerie erfolgreich Marihuana. Und baggert mit ekliger Frechheit die 17-jährige Verkäuferin des Donut-Ladens an.

Regisseur Sean Baker zeigte in „The Florida Project" US-amerikanische Unterklasse neben dem Disney Land, Willem Dafoe wurde für einen Oscar nominiert. Auch „Tangerine", um eine Transgender-Prostituierte, und „Starlet", mit der Hemingway-Enkelin Dree als Porno-Darstellerin, kamen Menschen am Rande der Gesellschaft nahe. „Red Rocket" ist nun Bakers am effektivsten erzählter Film, der nicht nur in der Balance zwischen Anteilnahme und Lächerlichkeit scheitert. Auch wie ein unreifer Idiot eine wesentlich jüngere Frau ins Porno-Geschäft verführen will, hätte mehr Distanz verdient.

6.4.22

Phantastische Tierwesen - Dumbledores Geheimnisse


USA, Großbritannien 2022 (Fantastic Beasts: The secrets of Dumbledore) Regie: David Yates, mit Eddie Redmayne, Jude Law, Ezra Miller, 143 Min., FSK: ab 12

Diktator ist verjagt - check! Weltherrschaft verhindert - check! Menschheit gerettet - check! (Auch wenn die „Muggels" von der Gefahr nie eine Ahnung hatten.) Erschreckend austauschbar und übersichtlich konstruiert, zeigt sich ein überlanger dritter Teil der „Phantastische Tierwesen". Selbst Meister-Mimen wie Jude Law und Mads Mikkelsen können das nur dünn mit Fantastischem übertünchte Zauberstab-Gefuchtel von Potter-Mutter J.K. Rowling bemerkenswert machen.

Es gibt ein neues Team aus Zauberern, Hexen und einem mutigen Muggel-Bäcker um den „Magizoologen" und Potter-Ersatz Newt Scamander (Eddie Redmayne). Sie müssen unter Leitung des jüngeren Professors Albus Dumbledore (Jude Law) den Wahlsieg des unerklärlicherweise begnadigten Schurken und Faschisten Gellert Grindelwald (Mads Mikkelsen) verhindern. Weil der schon immer die „minderwertigen" und angeblich stinkenden Muggels ausrotten wollte. Entscheidend ist das am Anfang von Newt gerettete Qilin-Wesen: eine Art Rehkitz, dass sich völlig undemokratisch, aber magisch vor Kandidaten mit reinem Herzen verbeugt. Da Grindelwald dessen Urteil fürchtet, wollen seine Widersacher es in Newts Zauber-Koffer zur Wahl schmuggeln. Der enthält ja als wunderbarstes Element seit dem ersten Film nicht nur einen Zoo fantastischer Tiere, sondern auch deren natürliches Habitat in Form traumhafter Landschaften. Damit wenigstens ein Clou in der langen Handlung steckt, wird der Koffer gleich sechsmal kopiert, um den hellsehenden Grindelwald zu verwirren. Erschreckend schematisch verteilen sich Dumbledores Gesellen in Einzelabenteuer, bevor im Finale alle zusammen wieder mit den Zauberstöckchen fuchteln.

Es ist eine Crux mit den Fortsetzungen der Autorin, deren Name unnennbarer als „Voldemort" ist, seit diese Frau zu einer Frau Frau gesagt hat. Schon „Phantastische Tierwesen: Grindelwalds Verbrechen" war ein typisches Zwischenstück mit viel zu vielen Anfängen von Handlungsfäden. Nun Teil 3 der sogenannten „Wizarding World" nach J.K. Rowling, die letztendlich bei Harry Potter enden wird. Genau wie Marvel sein Universums-Gedöns propagiert, preist Warner Bros. „Phantastische Tierwesen" als fünfteilige Gelddruckmaschine an. Das wäre einfach nur lächerlich, wenn nicht das Ergebnis gutes Kino verhindern würde. Wie es der letzte Marvel-Schund „Morbius" erschreckend beweist. Die Bemühungen, erst mal EINEN guten Film zu machen, haben darunter gelitten.

Aus der düsteren Endzeitstimmung in „Phantastische Tierwesen: Dumbledores Geheimnisse" treten nur zwei, drei Spektakel-Szenen hervor, die wohl die meisten Millionen verschlungen haben. Ein paar feine Zwischentöne sind interessanter. Alle um Dumbledore angesiedelt, der einst Grindelwald liebte und es vielleicht immer noch tut. Das ist wenig für zweieinhalb Stunden Film, zu wenig.

Nach dem Bond-Schema geht es von London zu einer Episode ins Berlin der früher 30er und zum Finale auf ein Bergkloster Bhutans. Berlin bebildert schockierend überdeutlich den drohenden Faschismus: Der simple Hitler-Vergleich arbeitet mit Oberzauberer Anton Vogel, gespielt von Oliver Masucci ("Er ist wieder da", "Dark"), als klasse autoritären Hindenburg-Ersatz. (Oder militärisch-industriellem Komplex, je nachdem, wie man Geschichte lieber liest.) Dazu Massen mit grimmig verzerrten Gesichtern, eine entscheidende Wahl und das Schicksal der Welt.

Jude Law ist dagegen für die feinen Töne zuständig, auch wenn er im Finale wie alle Zauberstock-Fechten betreiben muss. Dumbledores alte Liebesgeschichte mit Gellert Grindelwald könnte das ganze Theater emotional zusammenhalten, bleibt aber leider Stückwerk. So trinken die beiden anfangs zusammen Tee („das können die Muggels wenigstens"), erinnern sich an ihren Jugendschwur, niemals gegeneinander zu kämpfen, und tun es am Ende doch. Im gnadenlosen Stile Penthesileas nach Kleist: Bis aufs Blut, während ihre Herzen noch für einander schlagen.

Die Liebesgeschichte von Newt wird ausgesetzt, die des Muggel-Bäckers Jacob Kowalski (Dan Fogler) und seiner Hexe Queenie Goldstein (Alison Sudol) läuft mit und sorgt für ein mäßiges Happyend. Mit dem einsamen Dumbledore draußen vor der Tür. 

Mads Mikkelsen (Johnny Depp wurde von der Rolle verbannt) als eiskalter Bösewicht mit dänischem Dialekt bekommt im ganzen Gewusel zu wenig Wirkzeit und -Raum. Eindruck macht noch der fürchterlich wütende Credence Barebone (Ezra Miller) als düsterer dritter Dumbledore. Unikate im aufwendig gefilmten Aktionismus bei innerem Leerlauf sind ausgerechnet „Phantastische Tierwesen" des Titels. Was im ersten Teil mit Humor und vielen verrückten Einfällen erfreute, reduziert sich hier auf das messianische Qilin. Und Monsterkrebse, die Newt nachäffen und so in der Höhle eines Riesen-Skorpions zu Rudeltänzern werden. Ein Hauch von Humor in dieser „Wizarding World"-Maschinerie, die sich selbst viel zu ernst nimmt.

5.4.22

Der Waldmacher


Deutschland 2021, Regie: Volker Schlöndorff, 93 Min., FSK: ohne Altersbeschränkung

In seinem ersten, eher engagierten als ambitionierten Dokumentarfilm porträtiert Volker Schlöndorff den australischen Agrarwissenschaftler Anthony Rinaudo, der seit Jahrzehnten gemeinsam mit afrikanischen Bauern versucht, den Sahel im Niger aufzuforsten. Tony Rinaudo wurde 2018 für sein Engagement mit dem Alternativen Nobelpreis geehrt. Er förderte die Idee der Landwirtschaft unter Bäumen im Gegensatz zum verheerenden Plan der Kolonisatoren, große Teile des Kontinents für ihre Pflanzen zu roden. Eine nette Animation verdeutlicht seine Vision, ein riesiges unterirdisches Wurzelnetzwerk wieder zu einem Wald wachsen zu lassen.

Schlöndorff selbst reist mit Rinaudo zu den Projekten. Im Gegensatz zu Wim Wenders' Porträt „Das Salz der Erde", über den im Film erwähnten Fotografen Sebastião Salgado, erzählt er mit konventionelleren Mitteln und weniger kunstvoll. Das Glücksgefühl bei erfolgreicher Wiederaufforstung ist in beiden Filmen gleich groß. Dabei gibt es auch eine Abrechnung mit dem anscheinend gescheiterten Projekt des „Grünen Gürtels" zur Eindämmung der Sahara. Interessanter als die recht agrar-technischen Äußerungen von Rinaudo sind die teilweise von anderen Dokumentaristen übernommenen Schicksale der Menschen.

Loving Highsmith


Deutschland, Schweiz 2021, Regie: Eva Vitija, 83 Min., FSK: ab 12

Die einfühlsame Dokumentation über die berühmte Schriftstellerin Patricia Highsmith (1921-1995; „Zwei Fremde im Zug", „Der talentierte Mr. Ripley") basiert auf ihren Aufzeichnungen, die erst nach ihrem Tod in einem Wäscheschrank in ihrem Tessiner Haus entdeckt und im Herbst 2021 zum 100. Geburtstag der Autorin zum ersten Mal veröffentlicht wurden. Alles dreht sich in der chronologischen Biografie um „Pats" vielschichtiges Liebesleben. Ausgehend von der Jugend im rückständigen Texas, wo ihr Bruder als Rodeoreiter immer noch berühmter ist. Über New York, Paris, die französische Provinz und England bleibt der gesellschaftliche Zwang zu heimlichen Affären oder wildem Liebesleben in geheimen Clubs bestimmend. Ihren einzigen lesbischen Liebesroman „Salz und sein Preis"/ „Carol" veröffentlichte sie 1952 unter Pseudonym und erst kurz vor ihrem Tod unter eigenem Namen.

Regisseurin Eva Vitija arbeitet mit von Maren Kroymann gelesenen Passagen aus den Büchern, mit Fotos, Interviews und Ausschnitten der Roman-Verfilmungen. Dabei ist vor allem Ripley, interpretiert als Homosexueller, zu sehen. Gespräche mit noch lebenden ehemaligen Partnerinnen und Zeitgenossinnen machen den letztlich einsamen Menschen Highsmith wieder sehr lebendig.

4.4.22

Death of a Ladies' Man


Kanada, Irland 2020, Regie: Matt Bissonnette, Mit Gabriel Byrne, Jessica Paré, Brian Gleeson, Suzanne Clément, Antoine Olivier Pilon, 100 Min., FSK: ab 16

Die Hitliste der besten Songverfilmungen ist lang und umstritten. Sie hatte schon eine Leonard Cohen-Platzierung mit „Take This Waltz" von Sarah Polley. Absolut hitverdächtig nun der Neuzugang und Abgesang eines trinkfesten College-Professors und „Ladies' Man", mit reifer Ironie von Gabriel Byrne gespielt.

(„Hallelujah" mal außer acht gelassen. Das ist eine eigene Cover-Geschichte mit dem Vater, der seinen Sohn nicht „Shrek" sehen lassen wollte, weil der durch die Version von Rufus Wainright schwul werden könnte!)

Sänger und Komponist Leonard Norman Cohen (1934-2016) ist eine kanadische Legende. Dass beim kanadischen Volkssport Eishockey allerdings sein Song „Like a bird on a wire" als Nationalhymne angestimmt wird und dazu die Spieler ein schwules Kufen-Ballett hinlegen, kann nicht mit rechten Dingen zugehen. Der irischstämmige Literatur-Dozent Samuel O'Shea (Gabriel Byrne), dem sein Sohn gerade erzählt hat, dass er schwul und verliebt sei, sieht diese großartige halluzinatorische Szene wegen eines Gehirn-Tumors, von dem er noch nichts weiß. Es hätte auch wegen des Alkohols sein können. Bei der jungen Ärztin, die Samuel anfangs noch anbaggert, meint er lapidar, die vielen Gläser Hochprozentigem, die er seit Jahrzehnten täglich trinkt, seien letztens noch mehr geworden. Weil er nämlich seine ebenfalls jüngere zweite Frau wenige Minuten nach einer unterbrochenen Abreise mit einem Jüngeren im Bett erwischt hat.

„Death of a Ladies' Man" ist genau, was der Titel (eines Cohen-Songs und -Albums) verspricht: Der alte Samuel O'Shea ist noch immer Frauenverschleißer und wird bald sterben. Zu weiteren grandiosen Cohen-Songs und Halluzinationen, die es wünschenswert machen, so abzuleben. Und auf jeden Fall so etwas (im Kino) zu erleben.

Noch eine viel jüngere Frau erwartet Samuel beim Familien-Cottage in Irland, wohin er flieht, ohne seiner Familie etwas vom Tumor und dem baldigen Tod zu sagen. Die dortige Verkäuferin - ausgerechnet aus Quebec - liest selbstverständlich Cohen. Bei gemeinsamen Spaziergängen am Strand begleitet sie der Song „Why Don't You Try" sowie eine Band aus Mariachi, Sensemann, Trapper, Cheerleader und buddhistischem Mönch, der Cohens altem Meister Roshi nicht sehr ähnelt.

Zuhause erwartete ihn bereits der Geist seines jünger verstorbenen Vaters für versöhnliche Gespräche über Schmerzen der Kindheit und dessen Trennung von der Mutter. Selbstverständlich kann sich der Literat dabei den Hinweis auf den Geist von Hamlets Vater nicht verkneifen. Generell kassiert der unheilige Trinker in allen Begegnungen eher ein, als dass er austeilt. Was zu einer durchaus berührenden Lebensbeichte eines alten egoistischen Genießers führt. Immer wieder schnell unterbrochen von aberwitzigen Musikeinlagen. Das Playback zu „Did I ever love you" beim Versuch der Ernüchterung mit einer AA-Gruppe wird zum Ringelreihen um den einsamen, aber altersmilden Mann.

Der charismatische Ire Gabriel Byrne setzt noch einmal einen Glanzpunkt seiner jahrzehntelangen Karriere auf höchstem Niveau. In John Boormans „Excalibur" fiel er 1981 als König Uther auf. In „Gothic" (1986) spielte er den Dichter Byron mit seinem Hinkebein, beim frühen Coen „Miller's Crossing" (1990) war er dabei. Neben Schwarzenegger spielte er in „End of Days - Nacht ohne Morgen" (1999) den Satan.

„Death of a Ladies' Man" erinnert nur entfernt an „I'm Not There", die Filmbiografie über Bob Dylan von Todd Haynes. Der Film des Québécois Matt Bissonnette ist freier, wenn er Motive von Cohen-Songs und eine schlüssige Geschichte eines ebenso stillvollen College-Professors sich ergänzen lässt. Das sensationelle Ergebnis ist eine irre Tragikomödie, eine große Freude und ein Muss für Cohen- und Kino-Fans, für rauschsüchtige Cineasten, für Literaturtrunkene und alle, die selbstvergiftende Männlichkeit mit einem kräftigen Schuss Ironie genießen können. Am Ende sind wir genau wie die Hauptfigur überrascht, dass es schon vorbei ist. Es hätte noch eine Weile so schön weitergehen können.

Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?


Deutschland, Georgien 2021 (Ras vkhedavt, rodesac cas vukurebt?) Regie: Alexandre Koberidze, mit Giorgi Bochorishvili, Ani Karseladze, Oliko Barbakadze, Giorgi Ambroladze, 151 Min., FSK: ab 0

Boy meets girl. Doch dann erkennt das Mädchen ihre Liebe nicht mehr. Und umgekehrt. Das wunderbare georgische, im magischen Realismus aufgenommene Märchen verflucht die Liebenden und verzaubert die Zuschauer.

Die Liebe auf den ersten Blick von Lisa und Giorgi in der georgischen Stadt Kutaissi fällt einem Fluch zum Opfer, sodass sich beide selbst nicht mehr im Spiegel wiedererkennen. Sie sitzen zwar im verabredeten Café, aber sehen sich nicht. Auch der Alltag ist nicht einfach, wenn man nicht mehr das gleiche Gesicht hat. Nicht nur wachen sie in anderen Körpern auf, auch ihre besten Eigenschaften gehen verloren: Giorgi verliert sein Fußballtalent, Lisa ihr Medizinwissen. Sie wird deshalb Kellnerin beim vereinbarten Treffpunkt, dem Café an der weißen Brücke. Und zufällig wählt der Chef dort auch Georgi für einen Job aus. So sind sie täglich in Sichtweite, ohne sich zu erkennen. Wie im großen romantischen Meisterwerk „Made in Heaven" haben die Liebenden eine gewisse Zeit, sich wieder zu finden.

Beim ersten Aufeinandertreffen von Lisa und Giorgi sehen wir nur ihre Füße, die zweite Verabredung zeigt sie im nächtlichen Panorama der Stadt winzig klein. Es gibt um die leichte Liebesgeschichte viel Sommerstimmung in der alten Stadt Kutaisi, speziell im Sommer mit Fußball-WM. (Welche auch die Hunde verfolgen.) „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?" ist ganz, ganz großer Filmgenuss in Tradition von Nouvelle Vague und des „großen Georgiers" - nicht Stalin, sondern Otar Iosseliani! Spürbar ist sein Einfluss im gewitzten Umgang mit scheinbar nüchterner Umgebung.

Das Filmglück ist keine große Studioproduktion, viel wurde dokumentarisch „vor Ort" aufgenommen und mit der Magie des Alltags bereichert. Erhebend wird das Leben eingefangen: Auf dem Schulhof oder dem Bolzplatz im Spiel verlorene Mädchen und Jungen, in Zeitlupe zu „Un'estate italiana" von Gianna Nannini und Edoardo Bennato. Dann wunderbare Stillleben in einem Kino, das sich auf beste Weise Zeit lässt. Oder eine idyllische Landpartie, ebenso mit ungeheurer Leichtigkeit inszeniert. Bis zum Finale, das sehr romantisch beweist, dass Film doch die Wahrheit zeigt.

2.4.22

Wo in Paris die Sonne aufgeht


Frankreich 2021 (Les Olympiades) Regie: Jacques Audiard, mit Lucie Zhang, Makita Samba, Noémie Merlant, Jehnny Beth, 105 Min., FSK: ab 16

Regisseur Jacques Audiard hat mit „Dheepan", „Der Geschmack von Rost und Knochen" und „Ein Prophet" gleich einige gewaltig eindrucksvolle Werke realisiert. Die Comicverfilmung „Wo in Paris die Sonne aufgeht" lässt es mit ihrem Pariser Liebesreigen emotional gemächlicher angehen und nähert sich auf hohem Niveau der Grenze von Belanglosigkeit.

Für „Dämonen und Wunder - Dheepan", der Geschichte eines tamilisches Widerstandskämpfers und eines verwaisten Mädchens, gab es 2015 die Goldene Palme in Cannes. Ebenfalls in dort für „Ein Prophet" 2009 den Preis der Jury. „Der Geschmack von Rost und Knochen" war 2012 ein atemberaubend intensives Drama mit Marion Cotillard und Matthias Schoenaerts.

Nun leichte Liebe in Paris: Émilie sucht eine Mitbewohnerin. Dass Camille auftaucht, ist also ein Missverständnis aufgrund des „binären" Namens. Doch der Charme des Bewerbers bringt ihm erst ein WG-Casting und dann ins Bett von Camille. Wo beide viel Spaß haben, er allerdings auf Beziehungslosigkeit besteht. So wohnen sie neben- und miteinander, bis ihr Wunsch nach Nähe ein paar Mal schmerzlich zurückgewiesen wird. Zudem bringt er seine neue Eroberung mit. Die Kollegin, die ihn an der Schule ersetzt, weil er eigentlich seine Doktorarbeit schreiben will. Um unabhängig zu bleiben, zieht er aus, bevor Camille ihn rausschmeißt. Während sich Émilie nun auf Tinder austobt, jobbt er als Immobilienmakler und verfällt seiner Kollegin Nora. Die Spätblüherin aus Bordeaux hat ihr Jura-Studium aufgegeben, nachdem sie aufgrund einer Verwechslung mit dem Porno-Star Amber Sweet massiv gemobbt wurde. Ausgerechnet mit ihrem Double entwickelt sich eine Chat-Beziehung, die Nora bei der Emanzipation von Camille hilft.

Audiard versucht altmodisch, mit begrenztem Notensatz ein neues Lied der Leidenschaften zu komponieren. Man muss aufpassen, dass man in die einfachen, in Schwarzweiß gefilmten Beziehungs-Geschichtchen von „Wo in Paris die Sonne aufgeht" nicht zu viel hineinlegt. Denn was jeweilige Anziehungen auslöst oder beendet, ist freundlich gesagt sehr übersichtlich. Der deutsche Titel will fälschlich Paris-Romantik verkaufen, während der originale „Les Olympiades" die Liebeleien im nüchternen 13. Arrondissement in einer Reihe von Hochhäusern verortet. Trotzdem lassen sie sich - gut gespielt und leichthändig inszeniert - nett ansehen. Zu belanglos nett vielleicht in Zeiten, die von gewichtigen Veränderungen geplagt sind.

Das Buch schrieb Jacques Audiard zusammen Céline Sciamma („Porträt einer jungen Frau in Flammen") und Léa Mysius, das Ergebnis umschreibt das Sprichwort „Viele KöchInnen verderben den Brei".

Mein Freund, der Pirat (2020)


Niederlande 2020 (De piraten van hiernaast) Regie: Pim van Hoeve, mit Egbert Jan Weeber, Tygo Gernandt, Samuel Beau Reurekas, 95 Min., FSK: k.A.

In den Niederlanden, dem Paradies für Kinderfilme, ist ein weiterer Schatz zu heben: Nach den sehr erfolgreichen, nicht ins Deutsche übersetzten Kinderbüchern von Reggie Naus macht der tolle „Mein Freund, der Pirat" aus Flüchtlingen sympathisch unangepasste Freibeuter. Auf ihrer ewigen Flucht vor einem streitsüchtigen Kollegen strandet die Familie Donderbus (Kanonenrohr) in einer Wohnsiedlung, die wie aus dem Ei gepellt, brave Bürger beherbergt. „Stranden" ist hier wörtlich zu nehmen, denn das wilde Piratenschiff der Donderbus steht morgens plötzlich zwischen den uniformen Musterhäusern der Spießbürger. Ein Riesenspaß für Michiel (Matti Stooker), der nach einem Umzug seinem besten Freund hinterhertrauert. Zusammen mit dem gleichaltrigen Piraten-Jungen Billy Donderbus (Samuel Beau Reurekas) wird jetzt täglich Schwertkampf, Messerwerfen, Schatzsuchen und Weitspucken geübt. Dass das Mädchen aus der Nachbarschaft alles mindestens gleich gut kann, müssen die kleinen Machos noch lernen. Aber erst mal gibt es reichlich Spaß mit Piraten im Supermarkt, weil Opa seinen Rum zum Frühstück braucht. Der verrückte Piraten-Vater mit Johnny Depp-Anleihen und die resolute Mutter laden die ängstlichen Bürgerlein zum Abendessen mit Wackelpudding-Torte als Hauptgericht ein. Fremdenfeindliche Aktionen werden mit Frechheit und durch unvoreingenommene Kinder weggespült.

Mein Freund der Pirat (De piraten van...- 2022