25.8.20

Tenet


USA, Großbritannien 2020 Regie: Christopher Nolan, mit John David Washington, Robert Pattinson, Elizabeth Debicki, Kenneth Branagh 150 Min. FSK ab 12

„Schnitzeljagd in Raum und Zeit", so könnte man das neue Agenten- und Action-Spektakel von Christopher Nolan („Memento", „Inception") auch nennen. Doch das Palindrom „Tenet" hört sich schon besser an. Und wenn es bei dieser ersten Großproduktion nach dem Corona-Ausbruch nicht nur um die Zukunft der Menschheit, sondern auch des Kinos geht, wollen schließlich alle mitmachen.

„Tenet", dieses langerwartete Auferstehen des lauten Actionkinos vom gefeierten „Memento"-, „Dark Knight"- und „Inception"-Regisseur Christopher Nolan, ist sein „Bond": Von der grandiosen Eröffnung eines geheimnisvollen Anschlags auf ein voll besetztes Opernhaus über die vielen reizvollen Schauplätze (Tallin, Amalfi-Küste, Oslo, Mumbai, Dänemark und Kalifornien) bis zu endlosen Actionszenen. In die Bewerbung für die britische Agenten-Reihe mit John David Washington als namenloser „Protagonist" schleicht sich allerdings schon früh eine Irritation. Für Sekunden bröckelt der Putz im Opernhaus entgegengesetzt zur Gravitation. Aber es dauert fast eine Stunde mit reichlich Erklärungen und kleinen Kunststückchen, bis der besondere Agent erfährt, dass immer mehr Gegenstände aus der Zukunft auftauchen, die sich in der Zeit rückwärts bewegen.

Inversion, Umkehrung, wird das Phänomen genannt, und ist Teil eines Angriffs der Zukunft auf die Gegenwart. Die Kugel, die vom Tisch in die Hand hochfliegt, ist das eine. Die Kugel, die aus der Wand zurück in den Revolver knallt, schon spektakulärer. Dass schließlich Autos und auch Menschen sich entgegengesetzt zur Einbahnstraße des Zeitverlaufs bewegen, Einschusslöcher von einem Überfall erzählen, der gleich erst stattfinden wird, dann immer noch nicht der Höhepunkt für Christopher Nolan. Erst muss sich der Protagonist selbst auf beiden Zeitschienen bewegen, bevor das Gegeneinander von Gegenwart und Zukunft, von Vor und Zurück, in weiteren Action-Szenen hochkomplex ausgefochten werden kann.

Die unmöglichen Grafiken von M. C. Escher, in denen ein Mann gleichzeitig eine Treppe auf und abwärts geht, sollen Vorbild für Nolan gewesen sein, und dazu passt es, dass auch der Kameramann Hoyte van Hoytema ein Niederländer ist. Wer hier schon verständnismäßig die Segel streicht, dem kommt der Film früh entgegen: „Don't try to understand it, feel it"! Versuche nicht, es zu verstehen; fühle es, meint eine Technikerin. Was bei der plotmäßig sehr simplen Schnitzeljagd, die immer zu enorm aufwändigem Überwältigungs-Spektakeln führt, kein Problem ist. Die bei Nolans Filmen üblichen Doktorarbeiten kommen später mit Erklärungen. „Tenet" beeindruckt zumindest so sehr, dass man nach dem Kino eine Weile verstärkt auf rückwärtsfahrende Autos achtet. Aber, so angenehm es im Hirn kitzelt, wenn das große Finale nur zur Lösung kommt, weil die gegeneinander laufenden Zeitebenen raffinierte Überraschungen erzeugen - das ist halt Grundstoff für Zeitreisen-Geschichten. Vielleicht noch nie so teuer inszeniert, aber im Prinzip das gleiche, alte „Wer-hat-an-der-Uhr-gedreht".

Da war Nolan mit seinem ersten sensationellen Erfolg „Memento", bei dem es Szene für Szene zurück in die Zeit und die Erinnerung ging, tatsächlich innovativer. Kompliziert wie die Verschachtelung von gleich drei Traumebenen in „Inception" war sicherlich der teure Dreh. Ein reizvolles Spiel mit Zeit, wie die drei unterschiedlichen Erzählgeschwindigkeiten in „Dunkirk", ganz bestimmt. Zwar bietet „Tenet" nicht nur filmische Geisterfahrerei. Aber das macht diesen Action-Thriller, der „Tenet" immer noch ist, trotz Liebesgeschichte des Protagonisten von John David Washington („BlackKklansman", Sohn von Denzel) zur sehr großen Frau (Elizabeth Debicki) des sehr bösen Schurken (Kenneth Branagh), nicht zu einem enorm packenden Film, bei dem man sich die Fingernägel abkaut.

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Nicht in, aber bei „Tenet" geht auch um die Zukunft des Kinos: Wochenlang starteten keine publikumsträchtigen US-Filme, weil die Kinos weltweit nur teilweise oder gar nicht öffnen können. Nolans Film sollte erst am 17. Juli weltweit starten, wurde aber nochmals verschoben. Jetzt wagt der Filmproduzent- und Verleiher Warner das Experiment in Europa. Für die USA ist der Start am 3. September ungekündigt, dort „wo die Kinos offen sind". Während Disney sich mit „Mulan" (Start 3. September) auf das Heimkino zurückzieht, trifft Warner eine mutige Entscheidung,

24.8.20

Fragen Sie Dr. Ruth


USA 2019 (Ask Dr. Ruth) Regie: Ryan White 100 Min. FSK ab 6

Die Sexualtherapeutin „Dr. Ruth" Westheimer ist durch ihre Fernseh-Shows weltbekannt und selbst mit 92 Jahren noch quicklebendig. Wie die exzellente Biografie „Fragen Sie Dr. Ruth" ein Leben von Judenverfolgung in Frankfurt über Krieg in Palästina bis zu einer unglaublichen Karriere in New York aufzeigt, ist unbeschreiblich und unbedingt sehenswert.

Die ruhelose kleine Dame (1,45 Meter!) mit dem unverwechselbaren Lachen kennt wohl jeder aus den Medien. Gleich mehrere Generationen klärte sie nicht nur in den USA sexuell auf, machte weibliche Masturbation benennbar, befreite zahllose Menschen von der quälenden Angst, „nicht normal zu sein". „Normal" ist ein Wort, dass sie nicht mag! Neben der unverblümten Offenheit bei sexuellen Themen und anderen Lebensfragen, begeistert sie mit einem großen Interesse an Menschen. Dabei reicht die Spannweite von einem älteren Radio-Interviewer, der sich für Westheimers Hilfe bei seinem Coming Out bedankt, bis zum Kameramann, der bei der Feier zu ihrem 90. Geburtstag immer wieder von ihr selbst mit Leckereien vom Buffet gefüttert wird.

Neben vielen, vielen Momenten, die eine erstaunlich agile und empathische Person skizzieren, zeigt „Fragen Sie Dr. Ruth" auch chronologisch ein sehr bewegtes Leben. Die Kindheit des 1928 als Karola Ruth Siegel geborenen jüdischen Mädchens unter Nazis in Frankfurt am Main führt zur „Verschickung" in ein Schweizer Internat und zur Trennung von den Eltern, die sie nie wiedersehen wird. Dort durfte sie zwar nicht zur weiterführenden Schule gehen, aber ihr erster Freund, den sie in einer der rührenden Szenen des Films noch einmal besucht, erzählte ihr jeden Abend, was er gelernt hatte.

Diese von Westheimer erzählten und als Animation gezeigten Erinnerungen führen nach Palästina, wo sie im jüdischen Kampf um eigenes Land am Gewehr ausgebildet wird und bei einem Bombenangriff in Jerusalem schwer an beiden Beinen verletzt wird. Doch auch das konnte die umtriebige Frau nicht hindern, nach Paris zu ziehen und dann allein mit der gerade geborenen Tochter nach New York. Dieses Vorwärtsstreben, die (fast) völlige Abwesenheit von Trauer und Bedauern macht diesen Menschen und diesen Film so bemerkenswert. Die eigentliche, märchenhafte Karriere von „Dr. Ruth" wird fast unwichtig, auch wenn der Film sie mit vielen alten Aufnahmen nachzeichnet. Dabei erreichte ihre Show „Sexually Speaking" eine Popularität, die man in Deutschland vielleicht vom WDR-Nachttalker Domian kannte. Die Diskussion mit der inquisitorischen Enkelin, darüber dass „Omi" keine Feministin sein will, die ersten Reaktionen auf AIDS, die sie an den Antisemitismus in Deutschland erinnert haben, zeigt einen starken, eigenen Willen auf.

Dass diese filmische Biografie auch wegen der Fülle an Lebensereignissen nicht besonders investigativ hinter die Kulissen blickt, macht Westheimer selber am Ende klar: Auch wenn sie viel rede, sei sie eigentlich eine private Person. Sie würde nicht erzählen, wie viel Geld sie habe und mit wem sie ins Bett gehe! Von der ersten Szene, in der die kleine Person mit dem starken deutschen Akzent Amazons „Alexa" nach sich selbst fragt, ist „Fragen Sie Dr. Ruth" eine großartige, beglückende Dokumentation mit einem wunderbaren Menschen in der Hauptrolle.

18.8.20

Schlingensief - In das Schweigen hineinschreien


BRD 2019 Regie: Bettina Böhler 130 Min. FSK ab 12

Im Oktober 2020 wäre der Ausnahme-Regisseur und Performer Christoph Schlingensief 60 geworden, am 21. August jährt sich sein Todestag zum 10. Male. Doch mehr als ein etwas konstruiertes Jubiläum ist eine einfache Tatsache Anlass und Erkenntnis der tollen und prallen Biografie von Bettina Böhler – Schlingensief fehlt!

Nach der Ablehnung durch die Film- und Fernsehhochschule München startete der Oberhausener Regisseur Christoph Schlingensief (geb. 1960) richtig durch, drehte früh mit Tilda Swinton und Udo Kier, sorgte für Provokationen auf allen Festivals und wechselte irgendwann zum Theater. Die Volksbühne wurde seine Heimat, Aufsehenerregendes inszenierte er überall. Die Containeraktion „Bitte liebt Österreich" (2000) ließ den rechten Mob Flüchtlinge „rauswählen". Sein „Parsifal" auf Wagners Hügel war ein großes Missverständnis, aber ließ sich auf der Volksbühne wieder direkt als „Kunst und Gemüse" mit Seitenhieben auf Katharina Wagner verwursten. „Das deutsche Kettensägenmassaker" machte im Film das Ost-West-Verhältnis zur blutigen Angelegenheit. Bei der „documenta" 1997 wurde er für den Slogan „Tötet Helmut Kohl!" festgenommen. „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir" reflektierte sehr bewegend seine Krebserkrankung. Und am Ende entsteht seit 2009 in der Nähe der burkinischen Hauptstadt Ouagadougou Schlingensiefs Vision eines Operndorfs in Afrika (siehe Sibylle Dahrendorfs Dokumentation „Knistern der Zeit"). „Sein" Deutscher Pavillon in Venedig wurde posthum mit einem Goldenen Löwen ausgezeichnet.

Es fällt schwer zusammenzufassen, wie Christoph Schlingensief über Jahrzehnte unermüdlich den kulturellen und politischen Diskurs in Deutschland angefacht und aufgewühlt hat. Der Filmeditorin Bettina Böhler („Die innere Sicherheit", „Hannah Arendt"), die auch mit Schlingensief gearbeitet hat, gelingt dies jedoch in ihrer reichen Dokumentation „Schlingensief - In das Schweigen hineinschreien" hervorragend. Sie arbeitet nur mit Originalmaterialien, kein nachträglicher Kommentar, keine huldvollen Würdigungen. Aber genau das, die Bilder zahlloser Aktionen, Filme und Inszenierungen, Schlingensiefs eigene Gedanken, Anweisungen, Ideen und Zweifel machen die Kreativität dieses Querdenkers sicht- und spürbar. Kreativität und Aktionismus, der selbst bei Abneigung vieler Formen immer wieder exakt in Wunden deutscher Befindlichkeiten traf. So ist es kein Wunder, dass viele Interviews von Alexander Kluge in dieser eindrucksvollen Dokumentation auftauchen. Die Familienfilme, die der Apotheker-Sohn schon mit acht Jahren aufnahm und später immer wieder verwendete, runden diese unbedingt sehenswerte, faszinierende, belustigende, berührende und nachdenkenswerte Biografie ab.

   
© Filmgalerie 451

17.8.20

Tesla


USA 2020 Regie: Michael Almereyda, mit Ethan Hawke, Kyle MacLachlan, Eve Hewson 96 Min.

Das Duell der beiden großen Erfinder und Entwickler Edison und Tesla setzt sich nun auch im Kino fort: Nach dem eher konventionellen „Edison", der vor ein paar Wochen dem Visionär Tesla nur eine Nebenrolle gab, gibt Ethan Hawke nun den grandios Gescheiterten. Die Geschichte bleibt die gleiche Auseinandersetzung zwischen Gleich- und Wechsel-Strom, mit grausamen Tier-Experimenten und der ersten Hinrichtung auf einem elektrischen Stuhl. Allerdings wird dieser Film des innovativen Regisseurs Michael Almereyda („Hamlet" 2000, „Nadja" 1994) dem Geist des kroatisch-amerikanischen Erfinders Nikola Tesla (1856-1943) wesentlich mehr gerecht.

Der Streit zwischen dem gefeierten Erfinder Thomas Edisons (Kyle MacLachlan) und dem jungen, bei ihm angestellten Ingenieur Nikola Tesla (Ethan Hawke) um 50.000 Dollar endet damit, dass sich beide Eishörnchen ins Gesicht drücken. Oder doch nicht – wirft die Erzählerin ein, die anhand der Treffer bei Google die Popularität der beiden Genies vergleicht. „Tesla" zeigt immer wieder Dinge, die so sicher nicht passiert sind. Darin, im Irrealen, im Fantastischen und im Mutigen, ist dieser Film tatsächlich sehr Tesla. Am Ende, wenn sich Teslas Entwicklungen immer mehr von der Machbarkeit entfernen, tritt auch im Film alles für die reine Idee, die pure Vision, zurück: Der Hintergrund wird zu einer Projektion, zur Staffage.

Mit seltsamen Bildverzierungen, wie man sie auch bei Alexander Sokurow manchmal sieht und mit projizierten Hintergründen erzählt Almereyda die Tragödie eines geschäftsunfähigen Genies, eines Visionärs, der am (finanziellen) Ende meint, Signale vom Mars gehört zu haben. Man muss niemanden von der Stärke seiner Ideen überzeugen, wenn er vor mehr als hundert Jahren schon dauernd über drahtlos redete. An Teslas Geschäftsunfähigkeit liegt es schließlich, dass seine (besseren) Patente ihm kein Geld eingebracht haben. Wo man sich fragen muss, weshalb der Regisseur, der mit „Nadja" und Elina Löwensohn, mit 35mm und eine Kinderkamera einen der schönsten Vampirfilme überhaupt inszeniert hat, so selten Filme machen darf. Die ungewöhnliche Biografie „Tesla" ist jedenfalls im Duell der großen Erfinder-Biopics die interessantere.

The Climb


USA 2019 Regie: Michael Angelo Covino, mit Michael Angelo Covino, Kyle Marvin, Gayle Rankin 98 Min. FSK ab 6

Der Weg ist das Ziel und es ist in „The Climb" ein sehr komischer Weg: Zuerst verkündet Mike (Regisseur Michael Angelo Covino) seinem Freund Kyle (Kyle Marvin) kurz vor dessen Hochzeit, dass er mit dessen Frau geschlafen habe. Mehrmals. Während sie in Frankreich mit dem Rennrad einen recht steilen Berg hochfahren, was den dicken Kyle weit mehr anstrengt als den geständigen Freund! Ja, und das Geständnis wird sich im Film wiederholen. Um eine Abkürzung zu nehmen: Mike will wirklich jede Ehe von Kyle verhindern. Damit die beiden für immer beste Freunde bleiben?

Wobei, das ist das Irritierende, ganz klar scheint, dass keiner von beiden schwul ist. Doch die Kombination aus erster und letzter Szene sowie ziemlich viel mittendrin würden auch gut zu einer schwulen Romantischen Komödie passen. Aber vor allem begeistert „The Climb" mit viel Spaß im Film und am Filmemachen. Die großartige Eröffnungssequenz mit einigen Überraschungen wurde minutenlang an einem Stück aufgenommen. Ein Travelling Shot im wahrsten Sinne des Wortes! Genau wie die nächste Episode – ein umwerfend komisches Begräbnis mit Verspätung, Alkohol und Prügelei. Ebenfalls bis zum Gospel der Bestattungshelfer auf ihrem Bagger durchgehend aufgenommen.

Regisseur und Hauptdarsteller Michael Angelo Covino trumpft bei seinem Langfilm-Erstling (nach einem gleichnamigen Kurzfilm) bei jedem Kapitel mit witzigen Intros und Ideen auf. Sogar Thanksgiving im Kreise der Familie wird da zum besonderen Vergnügen. Wobei mittendrin immer Mike und Kyle stehen, beste „Bromance" wie einst bei „Jay & Silent Bob" von Kevin Smith. Nebenbei wird auch noch „Die Reifeprüfung" in einer sehr unreifen Version zitiert: Mike kann im Gegensatz zu Dustin Hoffman die Hochzeit nicht verhindern ... eigentlich. Am Ende soll Mike dann endlich erwachsen sein – laut Episoden-Überschrift. In der letzten Szene ist wieder das Rad das A und O, Anfang und Ende des Films zumindest. Dass die Kumpels immer noch sehr komisch nun mit einem kleinen Sohn auf Radtour gehen, könnte sexistisch meinen, dass Frauen nur für die Reproduktion gebraucht werden. Hauptsächlich scheint das Leben mit dem besten Freund doch spaßiger. Aber ganz so dumm ist das feine, exzellent inszenierte und sehr kurzweilige Debüt von Michael Angelo Covino zum Glück nicht.

Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden


Spanien, Frankreich 2019 (Ventajas de viajar en tren) Regie: Aritz Moreno, mit Luis Tosar, Pilar Castro, Ernesto Alterio, Quim Gutiérrez 103 Min. FSK ab 16

Wenn Matroschkas erzählen, kommt so etwas reizvoll Verschachteltes, prall Inszeniertes wie die „Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden" heraus. Das eher abstruse als obskure Sammelsurium psychischer Deformationen kann stellenweise amüsieren und schockieren. Die Inszenierung ist allerdings gewöhnungsbedürftig.

Da hat die Verlegerin Helga Pato (Pilar Castro) ihren Ehemann gerade wegen seiner Kot-Fixierung in einer psychiatrischen Einrichtung abgeliefert, als auf der Heimfahrt im Zug der angebliche Psychiater Ángel Sanagustin (Ernesto Alterio) völlig ungehemmt zu erzählen beginnt. Aus den Akten eben dieser Anstalt, die vor ihm liegen! In den verschachtelten Ebenen wechselt der Ton von skurril zu komisch zu erschreckend. Da ist der Mann, der seine Frau zur Hündin dressiert, was extreme Unterdrückung in Beziehungen wiederspiegelt. Ein anderer wehrt sich gegen die heimliche Überwachung der Müllmänner, indem er allen Abfall in seinem Keller sammelt. Und zwei körperlich Behinderte humpeln romantisch durch Paris, bevor er Probleme mit einer Liebe bekommt, die nicht seiner Porno-Erfahrung entspricht.

Dass bei dem skurrilen Spaß mal ein Arm in die Müllpresse gerät, dass es um Kinderpornografie, Bürgerkrieg und in horrender Weise auch um Organhandel geht, ist gewöhnungsbedürftig bei diesen eher vorhersehbaren, in Dialogen und Handlung unnötig ausführlichen Episoden. Immer wieder soll der Wahnsinn in symmetrischen Bildern einer Weitwinkel-Kamera geerdet werden, dann gibt es heftigen Splatter für eine kleine, billige Pointe. Dass die Zuhörerin Helga Pato dann selbst in einer zirkulären Geschichte auftaucht, ist nette Spielerei, ebenso wie die eingestreuten Wahrheitsbefestigungen. Aber letztendlich gilt die Aussage einer der vielen irren Figuren: „Glaubwürdigkeit langweilt mich. Die Welt weiß doch, dass Filme und Bücher nicht real sind."

Exil (2019)

BRD, Belgien, Kosovo 2019 Regie: Visar Morina, mit Mišel Matičević, Sandra Hüller, Rainer Bock 121 Min. FSK ab 12

Ausgerechnet Xhafer (Mišel Maticevic), mit seiner Rattenphobie, findet eine tote Ratte am Gartenzaun seines Einfamilienhäuschens. Ist es wegen seines Jobs als Chemieingenieur bei einem Pharma-Konzern mit reichlich Tierversuchen? Ist es Ausländerfeindlichkeit gegen den im Kosovo geborenen, dessen Nachname in Deutschland niemand aussprechen kann? Oder einfach, weil Xhafer ein Arschloch ist, wie seine Frau Nora (Sandra Hüller) meint? Auf jeden Fall steigert sich der Mann immer mehr in die subtile Bedrohung rein.

„Exil" beschreibt über zwei lange, auch quälende Stunden recht ausführlich sehr unangenehme Situationen und Stimmungen. Xhafer wird im Betrieb von wichtigen Emails ausgeschlossen. Die verschwitzten Menschen in gelblichen Büros sind passiv, wenig engagiert und reagieren immer abweisend. Da ist Mobbing der Kollegenschaft wohl nur ein Problem. Dabei könnte alles gut sein für Xhafer mit Job, Einfamilienhaus, Frau und drei Kindern. Allerdings befindet er sich auch im Kleinkrieg mit der angeblich ausländerfeindlichen Schwiegermutter. Und dann irgendwie der Todesstoß der eigenen Frau: „Ich meine doch nur, dass es nicht unbedingt damit zusammenhängen muss, dass du Ausländer bist. Kann doch sein, dass sie dich nur als Menschen nicht mögen."

„Exil" landet mitten in einer aufgeheizten Diskussion zwischen Rassismus, Beleidigtsein und Kämpfen um „Cancel Culture". Aber der Film hat mit Plattitüden nichts zu tun. Er macht es sich auf jeden Fall nicht einfach mit den Schubladen und den Urteilen. Das fängt damit an, dass Xhafer selbst kein sympathischer Typ ist. Er hat eine Affäre mit der Putzfrau im Büro, hilft der Landsmännin aber nicht mit dem Übersetzen eines Amtsbriefes. Denn er will mit seinen Landsleuten nicht in Verbindung gebracht werden. Wegen Ausländerfeindlichkeit oder Selbsthass? Nach immer mehr Ratten, schleichender Eskalation und dem Selbstmord eines Kollegen belohnt der handwerklich gut inszenierte „Exil" zumindest mit einer interessanten Auflösung.

Die Rüden


BRD 2018 Regie: Connie Walther, mit Nadin Matthews, Ibrahim Al-Khalil, Konstantin Philippe Benedikt, Ali Khalil, Marcel Andrée 110 Min. FSK ab 12

In einem unterirdischen Mini-Zirkus Maximus treffen vier junge, inhaftierte Gewalttäter auf drei hochaggressive Hunde und eine seltsame Frau mit Fransen-Frisur, Tattoos sowie Schlabber- oder Mad Max-Look. Mit allwissend überlegenem Blick gibt sie Anweisungen, die man aus Therapie-Sitzungen kennen könnte, auch wenn man nicht bissig oder hochgradig aggressiv ist. „Geh was näher ran!", „Was willst du von ihm?", „Wie sieht er dich?" So verläuft der Dialog fast den ganzen Film. Dabei macht es anfangs durchaus neugierig, wie die vier Typen, von deren Vorgeschichte man so gut wie nichts erfährt, mit den Viechern umgehen, vor deren Bissen sie nur durch eine kurze Leine und durch Maulkörbe geschützt sind. Ein Pittbull, ein Schäferhund und eine nett aussehende Straßenmischung, die schon viele Menschen übel zugerichtet hat, die auf das Aussehen reingefallen sind. Zwischendurch gibt es Gespräche der Gefangenen mit zwei Versuchsleitern in irgendwie altmodischen Science Fiction-Klamotten. (Das Ganze ist übrigens in eine computer-generierte Rahmen-Landschaft eingebaut, die den schon auf schwachen Beinen stehenden Inhalt gänzlich zur Peinlichkeit machen.)

Ja, die vermeintlich bösen Männer, vor denen man nicht wirklich Angst hat, sollen die Hunde beschreiben und beschreiben sich selbst. Klar, es geht um den Umgang mit den eigenen Ängsten und Unsicherheiten und um das Vermeiden von aggressiven Reaktionen. Man ahnt es, aber es bleibt im Film fragmentarisch. Dabei stellt die Hundeflüsterin selbst das größte Rätsel dar. Traumszenen um schattige Auseinandersetzungen um einen Engel bringen eher Kopfschütteln als Aufklärung. Was vielleicht auch daran liegt, dass die Hundetrainerin und Hauptdarstellerin Nadin Matthews Idee und Drehbuch für den Film verantwortete. Eigentlich könnte man der erfahrenen Regisseurin Connie Walther („Frau Böhm sagt Nein") auch bei so einem Projekt vertrauen. Aber leider wirken die Beschreibungen der Vorbereitungen, der Workshops in einer JVA oder den Laienprojekten interessanter als das kuriose Ergebnis. Das könnte man jetzt mit Bedeutung überfrachten. Wie wäre es mal zur Abwechslung mit toxischer Männlichkeit? Doch „Die Rüden" bleibt letztlich ein Stückwerk ohne Erkenntniswert. Richtige Drehbuch-AutorInnen hätten ihm vielleicht ausreichend menschliche Aspekte mitgegeben.

11.8.20

Il Traditore


Italien, Frankreich, BRD, Brasilien 2019 Regie: Marco Bellocchio, ,mit Pierfrancesco Favino, Maria Fernanda Candido, Luigi Lo Cascio, Fausto Russo Alesi, Nicola Calì 153 Min. FSK ab 12

Der Zähler am Bildrand tickt unerbittlich weiter, wobei wir nur eine Handvoll der Toten in diesem Bandenkrieg zu sehen bekommen. Anfang der 1980er-Jahre kämpfen die sizilianischen Mafia-Familien Badalamenti und Corleonesi um den Drogenmarkt. Tommaso Buscetta, Macho ohne Machtansprüche in der Cosa Nostra, hat sich da schon mit seiner dritten Ehefrau nach Brasilien abgesetzt, von wo er den Kokain-Schmuggel nach Sizilien kontrolliert. Doch der Corleone Totò Riina lässt die Gewalt eskalieren, bringt Kinder und die Verwandtschaft der Gegner um, darunter auch Buscettas älteste Söhne. Nachdem das brasilianische Militär-Regime Buscetta verhaftet, foltert und schließlich ausliefert, wird der Verbrecher Mitte der 80er zum ersten „Pentito", zum Kronzeugen gegen die Mafia. Im Gespräch mit dem berühmten Richter Falcone belastete hunderte Mitglieder der Mafia. Behauptete aber immer, er hätte das Schweigegelübde nie gebrochen, weil er nur die neuen, unehrenhaften Verbrecher der Cosa Nostra angezeigt hätte. Diese Aussagen führen zu historischen Massen-Prozessen, die Bellocchio in teilweise absurd verlaufenden Szenen zeigt.

„Il Traditore" (Der Verräter) ist ein faszinierender und erstaunlicher Film, weil er alle Erwartungen unterläuft: Er ist kein Mafia-Film, zeigt kein Gemetzel, keine Machtkämpfe. „Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra" (so der deutsche Krückstock-Titel) ist Tommaso Buscetta (Pierfrancesco Favino) eine problematische Figur. Er kommt fast sympathisch rüber, den einzigen gezeigten Mord des durchaus berüchtigten Mafioso bewahrt sich Bellocchio für die letzte Szene auf. Würde Falcone bei den vielen Gesprächen nicht energisch intervenieren, fast würde man auch noch das Märchen glauben, die alte Cosa Nostra, die vor dem Drogengeschäft, sei ja eine gute Sache gewesen. „Il Traditore" begeistert als fesselndes Porträt mit starkem Fokus aufs Schauspiel, bis in die kleinsten Nebenrollen mit spannenden Typen ausgestattet. Auch wenn am Ende ein skurriler Andreotti auftaucht, der vorher schon mal in Unterhosen durch die Szene lief, hat „Il Traditore" nicht die stilistische Moderne von Paolo Sorrentinos „Il divo" (eben über diesen äußerst zwielichtigen Mafia-Ministerpräsidenten Andreotti). Auch wenn die Inszenierung nicht spektakulär klingt, ist „Il Traditore" in jedem Moment packend. Die zweieinhalb Stunden vergehen im Flug. Vor allem während der Prozesse ist es auf großer Bühne großes Theater, bei dem die Figur Buscetta alles zusammenhält.

Der italienische Regisseur Marco Bellocchio ist eine Institution des europäischen Kinos. Seine gefeierten Filme sind vielseitig, auch wenn es abgehobene Literatur-Bearbeitungen wie „Der Prinz von Homburg" (1997) gibt, umkreisen Werke wie „Bella addormentata" (2012), „Im Namen des Vaters" (1972) oder „Mit der Faust in der Tasche" (1965) immer den Zustand der italienischen Gesellschaft.

10.8.20

Die Wege des Lebens - The Roads Not Taken


Großbritannien 2019 (The Roads Not Taken) Regie: Sally Potter, mit Javier Bardem, Elle Fanning, Branka Katic, Salma Hayek, Laura Linney 86 Min. FSK ab 0

Javier Bardem („Das Meer in mir") liegt regungslos im Bett. Es klingelt ununterbrochen. Am Telefon ist Tochter Molly (Elle Fanning) in Panik, während Leo (Bardem) nicht reagiert. Als sie die Tür zum kleinen New Yorker Apartment öffnet, kann sie langsam zum dementen Mann vordringen. Mit enormer Geduld und bewundernswürdiger Energie zieht sie den geistig Abwesenden an, heute geht es zu zwei Ärzten. Was Leo, der Schriftsteller, der die richtigen Worte nicht mehr findet, sagt, bleibt rätselhaft. Auch für die Zuschauer, die allerdings mehr und mehr Erinnerungsfragmente sehen und zusammensetzen können. Ein leidenschaftliches Drama um Leos Jugendliebe Dolores (Salma Hayek) in Mexiko. Und das etwas peinliche Anbaggern einer jungen Frau durch einen gebrochenen Leo, jetzt erbärmliches Schriftsteller-Klischee auf griechischer Insel. 

Sally Potter, die ausgezeichnete und renommierte Regisseurin von „Orlando" und „The Party", erlebte die Demenz bei einem jüngeren Bruder. Aus dem Rätseln, wo sich der Abwesende mit den nicht entschlüsselbaren Reaktionen wohl befindet, entstand das großartige Drama eines Tages „Die Wege des Lebens". Äußerst fesselnd und berührend ist dieser Versuch, innere Vorgänge auf die Leinwand zu bringen. Und die Emotion der verzweifelten Angehörigen. 

„Die Wege des Lebens" fließen als Erinnerungen an Frauen und Beziehungen durch den Film. Potter versucht, mit wechselnden Lautstärken und Bildausschnitten die Verwirrung nachfühlbar zu machen. In den parallelen Erinnerungen wechseln die Farben, wie die der Tapeten von rosa zu dreckigem Eierschalen-Gelb. Ein erneut absolut exzeptioneller Javier Bardem bleibt sich seltsamerweise über Jahrzehnte sehr ähnlich. Ein künstlerisches Konzept, auf zu viel Maske zu verzichten? Oder jemand, der sich in seiner Erinnerung gleich bleibt? 

Derweil versucht seine Tochter Molly mit enormer Geduld ein paar alltägliche Dinge erledigt zu bekommen. Das Unvermögen der Zahnärztin, einen Demenzkranken zu verstehen, ist schockierend. Aber auch Mollys Weigerung, den Gesundheitszustand zu benennen, irritiert. Nur Leos zweite, viel jüngere Ehefrau Rita (Laura Linney), die erfolgreichere Schriftstellerin, geht klar damit um. 

Sally Potter zeigte sich in ihrer reichen Karriere als intellektuelle, analytisch feministische und emotionale Regisseurin. „Die Wege des Lebens" (im Original „Roads not taken" nach einem Gedicht von Robert Frost) ist nun sehr berührend. Aber auch stilistisch faszinierend. Kamera, Schnitt und die auch von Potter geschriebene Musik des Films fügen sich perfekt ein in diesen in der Erinnerung zerstückelten, aber emotional sehr schlüssigen Lebensweg. Ästhetisch und psychologisch ein Meisterwerk.

Nur ein Augenblick


BRD, Großbritannien 2019 (The Accidental Rebel) Regie: Randa Chahoud, mit Mehdi Meskar, Emily Cox, Jonas Nay, Amira Ghazalla 108 Min. FSK ab 16

Im Abspann erzählt ein syrischer Journalist, dass er während seiner Haft ein Mädchen traf, das noch nie den Mond gesehen hatte. Nie einen Vogel, nie einen Baum, weil sie in diesem Gefängnis Assads geboren wurde. Auf solchen wahren Geschichten basiert die deutsch-syrische Regisseurin Randa Chahoud ihren engagiert entgleisenden Spielfilm „Nur ein Augenblick".

Dass dieses Mädchen aus dem Gefängnis bei der Flucht mit dem Protagonisten des Films direkt sterben muss, nachdem sie draußen kurz den Mond gesehen hat, zeigt, wie es mit der holperigen Handlung öfters schief geht. Der englische Titel „The Accidental Rebel" – der zufällige Rebell – macht klar, wie der junge Syrer Karim (Mehdi Meskar) zum Widerstands-Kämpfer und Mörder wird: 2011 zu Beginn des Arabischen Frühlings in Syrien kostet Karims Freiheitslied den Eltern die Café-Lizenz und bringt ihn zum Studium nach Hamburg. Fünf Jahre später ist Karim angekommen, seine isländische Freundin repariert Fahrräder und seine Eltern können nach Beirut fliehen. Gerade feiert er die Schwangerschaft seiner Freundin, da kommt ein Anruf seines geliebten Bruders mitten aus dem Bürgerkrieg. Bei einem Kurztrip über die Türkei mit Taxi und Mini-Bus nach Syrien stolpert der naive Student mit anderen Hobby-Kämpfern aus dem Norden in den Straßenkampf. Wenn ein zufälliger Luftangriff Karim nicht zurück zum Flughafen, sondern in den Bus mit den Kämpfern nach Syrien bringt, ist auch das sehr holprig erzählt. Die wirklich spannende Frage, wieso jemand in einen Bürgerkrieg zieht, erörtert der Film nicht.

Es mögen wahre Geschichten sein, aber als Film geht es sehr stückhaft weiter: Wenn Karims riesiger Freund zusammenbricht, nachdem er einen Verräter erschossen hat. Ärgerlich auf Effekt werden blutiger Kampf und Geburt zusammengeschnitten. Mit dem traumatisierten Kriegsheimkehrer beschäftigen sich andere, bessere Filme („Brothers – Zwischen Brüdern") komplett. „Nur ein Augenblick" schwenkt stattdessen um auf Action und Fortsetzung auch dieses Bürgerkriegs in Deutschland. Zwischendurch bekommt Lilly noch ein altes Drama angehängt.

Das Grauen, die Verbrechen nur dieses einen Krieges irgendwie künstlerisch zu fassen, ist extrem schwierig. Und auch, darüber aus dem bequemen Kinosessel zu urteilen. Die ausgezeichnete Dokumentation „Für Sama" war ein sehr gelungenes Kunstwerk. Die deutsch-syrische Regisseurin Randa Chahoud schafft aufgrund ihrer Kenntnis der Situation ein paar emotionale, ein paar schwer erschütternde Szenen. Sie hat aber auch große Probleme diese Informationen und Details in eine schlüssige Form zu bringen und verzettelt sich in zu vielen Seitensträngen.

I still believe

USA 2020 Regie: Andrew Erwin, Jon Erwin, mit: K.J. Apa, Britt Robertson, Melissa Roxburgh, Shania Twain 116 Min.

Mein Kino-Gott, warum hast du mich verlassen? Es ist echt ein Kreuz mit diesen religiösen Werbefilmchen, die sowieso nur für die Extremisten der jeweiligen Glaubensrichtung hergestellt wurden. Hauptsache, der Film brabbelt beseelt und vor Rührung sabbernd die üblichen Phrasen nach. Dann kann er ruhig mit dem Holzhammer übelst zusammengeschustert werden.

Der junge Langeweiler Jeremy (K.J. Apa) beruhigt auf dem Weg zum College noch rührend seinen kleinen behinderten Bruder, dann hüpft er mit unglaubwürdiger und unerträglicher Begeisterung auf dem Campus rum. Da er selbst mit zu hoher, dauernd überkippender Männer-Stimme und Klampfe seinen Gott preist, wanzt er sich an den lokalen Sangesfuzzy dieses Gebrauchspops ran. Und verliebt sich in dessen Ex-Freundin Melissa (Britt Robertson). Doch bevor die beiden heiraten und danach (!) Sex haben können, bricht bei ihr eine schwere Krebs-Erkrankung aus. Dann folgt über eine unglaubliche Stunde lang langsames Sterben, ein unverschämter Leidens-Porno, selbstverständlich als Achterbahn gestaltet, mit kurz aufkeimender Hoffnung und niederschmetternden Diagnosen.

Dass die Figuren von „I still believe" so schrecklich uninteressant sind, liegt nicht nur an ihrer religiös vorgeschriebenen Bravheit – sie sind einfach ganz furchtbar leb- und eigenschaftslos geschrieben. Man hat keine Ahnung, was sie wollen, was ihnen Spaß und was Angst macht. Sie wollen nur glückselig ganz schlechte Musik für Gott machen. Wer so was glaubt, glaubt auch an ... ok, da haben wir das Problem. Übrigens soll das ganze ein „wahre Geschichte" sein, wobei sehr bitter auffällt, dass sich Jeremy Camp nach dem Tod seiner großen Liebe direkt eine neue Frau schnappte. Mit dieser wird jetzt Melissas gedacht – „Inshallah", oder wie auch immer Christen diese lahme Schicksalsgläubigkeit nennen.

„I still believe" ist nicht nur langweilig, extrem süßlich, mit dem Holzhammer rührend und völlig unrealistisch. Dieses Machwerk für religiöse weiße US-Amerikaner ist auch noch extrem ärgerlich, wenn man weiß, dass einige dieser anscheinend so lieben Leute gern mit ihrem SUV Andersdenkende mit anderen Hautfarben über den Haufen fahren.

Der göttliche Andere

BRD, Italien 2020 Regie: Jan Schomburg, mit Matilda De Angelis, Callum Turner, Pino Ammendola 91 Min.

Der arrogante TV-Sprecher Gregory (Callum Turner) fliegt nach Rom ein, um als Ungläubiger von der Papst-Wahl zu berichten. Der zynische Schnösel sieht sich als schönen Strand in der Karibik, an dem man vielleicht eine Woche verbringen will, aber kein Einfamilienhaus drauf bauen will. Dann verliebt sich Gregory Knall auf Fall in Maria (Matilda de Angelis), die gerade dabei ist, Nonne zu werden. So steht einer wunderbaren gemeinsamen Nacht nach dem einvernehmlichen Gelöbnis, sich nicht in einander zu verlieben, nichts mehr im Wege. Außer der Typ, dem Maria versprochen ist... Genau, dieser Jesus.

Keine Angst, „Der göttliche Andere" von Jan Schomburg („Vergiss mein Ich", Ko-Autor „Vor der Morgenröte") ist keine bajuwarische Zotte. Wie der eifersüchtige Jesu, der seine versprochene Braut nicht verlieren will, ohne persönlich aufzutreten beim Kennenlernen der beiden heftig dazwischenfunkt, ist mal albern, mal großartig komisch, mal verrückt und meistens nett. Da klaut ein Affe den Schlüssel zum Hotelzimmer. Besser schon, wie dem Angeber Gregory danach auch noch seine beiden Smartphones nacheinander von Vespa-Fahrern gemopst werden. Aber zum Glück hat er vorhin von einem Straßen-Jungen zwei bestimmt originale Kreuzigungs-Nägel mit Jesus-DNA bekommen, mit denen Maria das Zimmer-Schloss knacken kann.

„Der göttliche Andere" ist insgesamt eine wirklich nette Romanze. Immer wieder gibt es echte Höhepunkte Romantischer Komödie, etwa Gregorys Test einer Liebeserklärung am Taxifahrer, der äußerst überzeugend zu einem Kuss mit diesem führt! Auch das Finale, live aus der Sixtinischen Kapelle, ist eine genial konstruierte Pointe.

Fundierte Kirchenkritik sollte nicht erwartet werden. Es ist nicht das fein geschliffene Schwert der Argumentation, wenn Kloster-Leben und Kirche mit Faschismus und Gulag verglichen werden. Aber dass der chancenlose Konkurrent am Ende mit einem exklusiven Interview mit dem neuen (schwarzen und Freud zitierenden) Papst belohnt wird, ist schon wieder so ein einfach netter kleiner Einfall.

Dabei ist Jan Schomburg, der 1976 in Aachen geboren wurde und in Köln studierte, ein durchaus ernst zu nehmender Autor für Film- und Buch, sowie bemerkenswerter Regisseur. Er hat mit Maria Schrader („Unorthodox") das Drehbuch zum großartigen „Vor der Morgenröte" geschrieben. Schrader spielte auch die Hauptrolle in Schomburgs letztem Kino-Film „Vergiss mein Ich".

3.8.20

The Song of Names


Kanada, Ungarn 2019 Regie: François Girard, mit Tim Roth, Clive Owen, Catherine McCormack 113 Min. 

„Guten Abend! Ich hoffe, es hat Ihnen nichts ausgemacht, 35 Jahre zu warten." Dovidl Rapoport (Clive Owen), der exzellente Violinist, der sein Publikum so begrüßt, ist keiner, der sich entschuldigt. Das weiß vor allem sein Freund und Ziehbruder Martin Simmonds (Tim Roth), der ihn 35 Jahre lang gesucht hat, nachdem Rapoport 1951 sein erstes großes Konzert ausfallen ließ und verschwand. Nachdem Martins Vater den jüdischen Jungen aus Polen noch vor dem Ausbruch des 2. Weltkriegs in London unter seine Fittiche und in seine Familie aufnahm. Das arrogante Wunderkind nannte da seinen zukünftigen Ziehbruder erst einmal jiddisch verkleinernd Martele. Aber bald wurden sie Freunde. Bis zu Rapoports großem Verschwinden...

Die obsessive Suche nach dem alten Freund und Zieh-Bruder Dovidl wird zufällig von einem Manierismus mit dem Geigenbogen ausgelöst, den ein Schüler eines Schülers von Rapoport übernommen hatte. Sie führt Martin nach Warschau und New York auf der Spur eines Rätsels, dessen Lösung 35 Jahre auf sich warten lässt - und die Hälfte eines langen Films. Doch die erschütternde letzte halbe Stunde belohnt dafür mit dem titelgebenden „The Song of Names" als Erklärung. Dem Lied aller Namen der in Treblinka ermordeten Juden, das fünf Rabbis zum Angedenken fünf Tage lang singen. Dies ist - im Gegensatz zum realen Requiem von Django Reinhardt - zwar nur eine Idee aus dem gleichnamigen Roman von Norman Lebrecht, aber ein starkes Bild und ein glaubwürdiger Antrieb für den ungewöhnlichen Lebensweg von Dovidl Rapoport.

Regisseur François Girard, der hier nach „Die rote Violine" und „Der Chor - Stimmen des Herzens" wieder einen Musikfilm routiniert mit historischen Parallel-Geschichten inszeniert, wiederholt sich stilistisch etwas mit dem gleichen warmem bis goldenem Licht. (Sein avancierter „32 Variationen über Glenn Gould" entstand vor 27 Jahren.) Doch vor allem Tim Roth füllt die Routine mit zurückhaltend und doch intensivem Spiel. Die lange Suche lohnt sich schließlich auch für seinen Martele.

Poster The Song Of Names

Wir beide


Frankreich, Luxemburg, Belgien 2019 (Deux) Regie: Filippo Meneghetti, mit Barbara Sukowa, Martine Chevallier, Léa Drucker 96 Min. FSK ab 6

Sie sind seit 20 Jahren ein Liebespaar – teilweise parallel zur schlechten Ehe von Madeleine. Nun leben Nina (Barbara Sukowa) und „Mado" (Martine Chevallier), nur durch den Hausflur getrennt, fast zusammen. Und die beiden Damen in den Siebzigern träumen davon, nach Rom zu ziehen, wo ihre Liebe begann. Doch Mado traut sich nicht, den erwachsenen Kindern von ihrer lesbischen Beziehung zu erzählen. So verpasst sie die letzte Gelegenheit etwas Wichtiges auszusprechen. Denn nach einem Schlaganfall kann Mado nicht mehr sprechen.

Nina sitzt plötzlich wieder in ihrer schon fast leergeräumten Wohnung (was wie Film-Expressionismus aussieht) und kann nicht bei der geliebten Person auf der anderen Seite des Flurs sein. Sie hat zwar den Schlüssel zu der Wohnung, in der sie gemeinsam gelebt haben, aber eine Pflegerin (Muriel Bénazéraf) betreut nun die alte Frau. Heimlich schleicht die energische Deutsche sich nachts in die Nachbarwohnung, sabotiert die Arbeit der einfältigen Hilfskraft. Doch als Tochter Anne (Léa Drucker) in alten Fotos die Nachbarin entdeckt, eskaliert die Situation. Mado wird in ein unbekanntes Pflegeheim abtransportiert.

In seinem Spielfilmdebüt erzählt der italienische Regisseur Filippo Meneghetti eine bewegende Geschichte um scheinbar immer noch unmögliche gleichgeschlechtliche Liebe. Dass eine lesbische Beziehung zum Beispiel von der Pflegerin derart dumm abweisend betrachtet wird, ist im kulturellen Elfenbeinturm heutzutage etwas schwer zu glauben, aber dass alte Homos und Lesben noch von Pflegeeinrichtungen angenommen werden müssen, ist durchaus ein Problem. Barbara Sukowa und Muriel Bénazéraf jedenfalls spielen das schöne Paar in sehr schwieriger Lage hervorragend. Besonders die Sukowa als deutsche „Madame Dorn" ist stark in ihrer verzweifelten Wut, mit einem deutschen Dialekt, der direkt etwas Insistierendes hat. Regisseur Meneghetti verlässt sich allerdings nicht auf diese starken Gefühle. Der Film konstruiert äußere Spannungsmomente hinzu, die vielleicht nicht nötig gewesen wären. Einige Nacht-Szenen sind sehr expressiv inszeniert. Eine (alp-) traumhafte Ebene um eine Baumallee am Wasser, Raben und eine Rettung wirkt etwas abgehoben und übertrieben.

Giraffe


Dänemark, BRD 2019 Regie: Anna Sofie Hartmann, mit Lisa Loven Kongsli, Maren Eggert, Jakub Gierszal 87 Min.

Die umstrittene Tunnelverbindung von Dänemark nach Deutschland vertreibt mit ihren neuen Autobahnen Menschen aus angestammter Heimat. Deshalb protokoliert die Ethnologin Dara (Lisa Loven Kongsli) auf der Insel Lolland, was bald verloren sein wird: Sie führt Interviews mit Menschen, die für den Tunnel weichen müssen, fotografiert alte Bauernhöfe und forscht den Menschen nach, die hier einst lebten. Während Dara das Tagebuch einer halbwegs bekannten Forscherin liest, beginnt sie eine Affäre mit einem jüngeren polnischen Bauarbeiter, der die Autobahn vorbereitet.

„Giraffe" macht in einer ungewöhnlichen und reizvollen Form genau das, was Aufgabe seiner Hauptfigur Dara ist: Aus losen Bruchstücken entsteht eine Archäologie des Lebens. Es gibt dokumentarische Interviews mit echten polnischen Arbeitern. Es bieten sich Verbindungen an, ohne dass sie in filmischen Großbuchstaben aufgezwungen werden. Sind da nicht Parallelen zwischen Daras Leben und dem der Tagebuch-Figur aus der Vergangenheit? Was ist das für eine Beziehung zwischen der 38-Jährigen, die erhalten will, und dem 24-jährigen Bauarbeiter, der Trassen für eine umstrittene Zukunft legt? Was ist Dara überhaupt für ein Mensch? „Giraffe" legt kein Psychogramm an, zeigt einfach. Das ist wie „Berliner Schule" aus Dänemark. Anna Sofie Hartmann studierte auch an der Berliner DFFB, produziert wurde „Giraffe" von „Komplizen Film", die mit „Western" (Valeska Grisebach), „Toni Erdmann" (Maren Ade) oder „Schlafkrankheit" (Ulrich Köhler) Zustände ähnlich unbestimmt beschrieben. Dabei halten eine sehr gute Kamera (Jenny Lou Ziegel) und die schön lebendige Mimik von Hauptdarstellerin Lisa Loven Kongsli („Höhere Gewalt", „Wonder Woman") das Interesse auch bei scheinbarer Ereignislosigkeit hoch. Eine bemerkenswerte, dann doch sentimentale Kontemplation über Orte und Erinnerungen.

Irresistible - Unwiderstehlich


USA 2020 (Irresistible) Regie: Jon Stewart, mit Steve Carell, Chris Cooper, Rose Byrne, Mackenzie Davis, Natasha Lyonne, Topher Grace 101 Min.

Nach der verheerenden Niederlage der US-Demokraten auf dem Land soll nun der einfache Wähler zurückgewonnen werden. Der zuletzt sehr erfolglose Wahlkampf-Manager Gary Zimmer (Steve Carell) entdeckt in der Kleinstadt Deerlaken den pensionierten Veteran Colonel Hastings (Chris Cooper). Ein gradliniger, unverdorbener Farmer, eigentlich typischer Republikaner, der nun für die Demokraten das Bürgermeisteramt erkämpfen soll. Da auch Garys skrupellose Konkurrentin Faith Brewster (Rose Byrne) der Sache auf die Spur kommt, wird das Kaff Deerlaken von einer millionenschweren Wahlkampf-Maschinerie eingenommen. Mit überraschenden Folgen.

Ja, dieser sehr politische Night Show-Moderator Jon Stewart („The Daily Show"), der allerdings auch schon mal einen Film inszeniert hat und bei vielen mitspielte, ist Regisseur der Politsatire „Irresistible". Mit Steve Carell als Berufs-Wahlkämpfer aus Washington D.C. wird die abgehobene Elite der Hauptstadt bloßgestellt. Die kläglichen Versuche von „D.C. Gary", sich volkstümlich zu geben, machen Spaß. Die „einfache Bevölkerung" ist dabei zu niedlich, um wahr zu sein. Da versucht der Polit-Profi verzweifelt, die Kühe auf Jacks Bauernhof für die Kameras attraktiv zu gruppieren. Aber er beeindruckt die scheinbaren Hinterwäldler auch mit aufwändigen Plakaten und Websites, mit der teuren Routine des Wahlkampfs. In einem zentralen Moment des Films sagt „der einfache Mann" Jack den spendablen Demokraten von New York, dass genau dieses Verfahren das Problem des Landes ist. Jack sollte eigentlich in seinem kleinen Kaff sein und sich um dessen Wohlergehen kümmern. Stattdessen umwirbt er politische Sponsoren.

„Irresistible" nimmt die Mechanismen und die Figuren des US-Wahlkampfs mäßig treffend auf die Schippe. Die Namen der Sponsoren-Gruppen klingen ebenso absurd wie die Abkürzungen für Wählergruppen. Selbst ein grandioser Komiker wie Steve Carell kann aber nur zaghaftes Lächeln erzeugen. Alles wirkt wie ein Entwurf für einen richtigen Film. Auch die Hassliebe zwischen Gary und seiner Gegnerin Faith ist nur ein Abklatsch der romantischen Politkomödie „Sprachlos" (1999) mit Michael Keaton und Geena Davis.

Bis zur sehr sympathischen Pointe ist die Satire sehr übersichtlich und oberflächlich. Wenn dann die vermeintlichen „Mike"-Deppen aus der Kneipe plötzlich Neil Postmans Medientheorien diskutieren, macht Jon Stewart klar: Die „Election economy" der USA, diese Geldbeschaffungs-Maschine im Namen von Wahlkampf ist eine gefährliche, undemokratische Farce. In einem kurzen Spot der „Daily Show" hätte man das ebenso gut sagen können.

2.8.20

The Secret (2020)


USA 2020 (The Secret: Dare to dream) Regie: Andy Tennant, mit Katie Holmes, Josh Lucas, Celia Weston, Jerry O'Connell 103 Min. FSK ab 12

Man verrät kein Geheimnis, wenn man beklagt, dass zu viel Botschaft einem Film meist versenkt. Nun basiert dieser „Film" namens „The Secret" auf extreme Gesinnungs-Schreibe, nämlich dem gleichnamigen biographischen Buch von Rhonda Byrne. Ihre Mitteilung lautet, man müsse nur positiv denken, dann wird alles gut. Der Kritiker hat es während des Films probiert, aber mehr als das lang absehbare Happy End kam nicht raus. Und gut ist das auf keinen Fall.

Ein Hurrikan bedroht den Süden der USA, aber das ist alles nichts gegen den täglichen Sturm, dem Miranda Wells (Katie Holmes) trotzt. Die alleinerziehende Mutter von drei Kindern hat Schulden, den verstorbenen Ehemann nicht mehr, dafür eine meckernde Schwiegermutter und dabei immer gute Laune. Aber schon naht der hilfsbereite Bray Johnson (Josh Lucas). Der Technik-Professor will eigentlich nur einen Brief bei Miranda einwerfen, trifft sie nicht an, wird dafür aber später von ihr angefahren. Dann repariert er ihr Auto, nach der Sturmnacht noch das Hausdach. Mirandas nicht besonders überzeugender Freund (Jerry O'Connell) ist anderweitig beschäftigt. Zwischendurch bringt Bray jedem penetrant bei, doch an sich selbst und an ein gutes Ende zu glauben. Zum Beweis wird ein Pizza-Wunsch wundersam erfüllt.

Kraft des positiven Denkens gemäß Rhonda Byrne wurde schon mal als Dokumentation angeboten. „The Secret" imitiert mit Schauspielern der Restrampe eine Nicholas Sparks-Schmonzette mit hirnrissiger esoterischer Botschaft. Während in diesem weichgespülten Genre schöne Gegend, schöne Gegenstände und schönen Menschen angesagt sind, 
Die Ex von Tom Cruise und Jamie Foxx trägt die Mühen einer alleinerziehenden Mutter von drei Kindern im Gesicht. Josh Lucas nur das immergleiche nette Lächeln zwischen den Falten. Die Hälfte der Szenen ist mühsam damit beschäftigt, die lahme Handlung anzuschieben. Die Musik kommt aus der Schmelzkäse-Packung. Die in allem sehr, sehr übersichtliche Schmonzette wäre selbst nicht gut, wenn nicht dauernd jemand einen ans Gute glauben lassen wollte.