30.5.22

The Outfit (2022)


USA 2022, Regie: Graham Moore, mit Mark Rylance, Zoey Deutch, Johnny Flynn, 106 Min., FSK: ab 16

Kleider machen Leute - eine weit verbreitete Erkenntnis seit der Novelle des Schweizer Dichters Gottfried Keller und ihrer vielen Verfilmungen. Aber was machen Kleider aus Gangstern? Sicher keine ehrlichen Leute. „The Outfit" schaut im Chicago 1956 hinter das feine Zwirn, das einige berühmte Gangster tragen. Schicht für Schicht enthüllt sich ein immer packenderer, sagenhaft gut gespielter und inszenierter Thriller.

Gelernt habe er in der berühmten Savile Row, der Londoner Straße für Herrenschneider, so erzählt es der sanftmütige Maßschneider Leonard Burling (Mark Rylance) immer wieder. Was ihn in die „Windy City" vertrieben habe, seien nicht die Bomben der Nazi gewesen. Es war Schlimmeres, die Jeans! Nun betreibt der stille Mann sein Handwerk erfolgreich in Chicago. Seine eigene Beschreibung des komplexen Vorgangs der Erstellung eines Anzugs, der vier Stoffe und 238 Schritte erfordert, ist nahezu Poesie. Ebenso die Analyse der Kunden mit viel Menschenkenntnis. Allerdings gibt es im Leonards Geschäft auch die Herren, die wortlos eintreten, direkt den Verkaufsraum mit der charmanten Assistentin Mable (Zoey Deutch) durchqueren und hinten im Atelier Briefumschläge in eine Box werfen. Nur mit den Männern, die abends die Kiste ausleeren, wechselt der Schneider einige oberflächlich freundliche Worte. Es sind die Gehilfen des Gangsters Boyle (Simon Russell Beale), einst Burlings erster Kunde. Der erkannte die perfekte Tarnung, welche solch ein unauffälliger Scheider bietet. Aber Burling lässt immer die anderen reden, niemand weiß, was in seinem Kopf vor sich geht.

Nun gibt es diesen Abend eine Irritation für Boyles Sohn Richie (Dylan O'Brien) und die rechte Hand des Bosses Francis (Johnny Flynn): In einem Umschlag steckt ein Tonband, mit dem der Boyle-Clan abgehört wurde. Noch brisanter, der Inhalt des Bandes würde gleich den Verräter mit ans Messer liefern. Die aufgeregte Aufklärung der beiden Kriminellen in den Straßen von Chicago kommt allerdings nicht weit. Wenig später sind sie wieder im Laden, Richie hat eine Kugel in den Bauch bekommen, Burling soll die Wunde schnell vernähen.

Dieses in aller Ruhe mit feinen Dialogen und genauen Charakterzeichnungen eingeführte Drama ist nur die Grundlage für sich stetig steigernde Spannung. Denn bald wird Richie durch weitere Kugeln sterben, kurz danach taucht sein Vater auf und sucht ihn. Leonard weiß, dass die Leiche in einer Kiste seines Ateliers liegt, zeigt aber unerwartete Coolness in lebensgefährlicher Situation. Dann muss Mable ihr kleines Geheimnis preisgeben und die konkurrierende Gangsterfamilie „La Fontaine" macht mächtig Druck. Auch das FBI hat seine Finger im Spiel...

Über allem droht und lockt die einst von Al Capone ins Leben gerufene Kontrollorganisation der Gangster-Familien: The Outfit! Hinter dem Filmtitel „The Outfit" steckt eine Doppel-, „vielleicht sogar eine Dreifachbedeutung", wie Regisseur und Ko-Autor Graham Moore meint. „Die Outfits, die Leonard herstellt, diese Verbrecherorganisation, die wie ein Phantom im Hintergrund des Films lauert, und das metaphorische Outfit, das wir alle anziehen, um durchs Leben zu gehen."

Moore, der für das Drehbuch zu „The Imitation Game – Ein streng geheimes Leben" einen Oscar erhielt, wurde von seinem Großvater für die Figur Burlings inspiriert: „Mein liebenswerter, sanfter Großvater kümmerte sich (als Arzt) um einen der Anführer der brutalen Verbrecherfamilie Genovese. Meine Großmutter flehte ihn an, seinen Gangsterpatienten aufzugeben, aber Charlie weigerte sich: Zu mir war er nie etwas anderes als ein Gentleman." Ein weiterer Baustein des ungeheuer spannenden Kammerspiels war die Tatsache, dass das FBI die erste Abhörwanze in seiner Geschichte 1956 in Chicago platziert hatte - in einem Schneidergeschäft.

Reichlich guter Stoff also für einen herausragenden und gutaussehenden Film, der bis zur letzten Minute atemberaubende Wendungen im Ärmel hat. Für das Finish, das „Kingsman" wie kleine Schneiderlein aussehen lässt, sind die Darsteller zuständig. Neben Oscar-Preisträger Mark Rylance („Bridge of Spies – Der Unterhändler", „The Trial of the Chicago 7") glänzt Zoey Deutch („The Disaster Artist") mit einigen Abgründen. Frische Oscars verdienen aber auch für das ungemein raffinierte Buch Graham Moore mit seinem Ko-Autor Jonathan McClain sowie die wunderbare Kamera von Dick Pope bei dieser packenden Geschichte, die sich in ein grandioses persönliches Drama wandelt.

Der schlimmste Mensch der Welt


Norwegen, Frankreich, Schweden, Dänemark, USA 2021 (Verdens verste Menneske) Regie: Joachim Trier, mit Renate Reinsve, Anders Danielsen Lie, Herbert Nordrum, 128 Min., FSK: ab 12

Schick steht Julie (Renate Reinsve) auf einer Terrasse, zieht gelangweilt an ihrer Zigarette, während im Oslo-Panorama unter ihr ein schweres Motorrad vorbeifährt. Oder ist es das Leben, das an ihr vorbeirauscht? Dieser Prolog für die folgenden zwölf Kapitel plus Epilog zeigt exemplarisch die Schwierigkeit Julies, sich für das richtige Leben und den richtigen Mann zu entscheiden. Rund um ihren dreißigsten Geburtstag will sie noch viel erleben.

„Der schlimmste Mensch der Welt" - der genaugenommen nicht Julie ist - folgt ihrem wechselvollen Leben von brillanter, aber gelangweilter Medizinstudentin zur exzessiven Partygängerin. Bei einer Fete erfolgt der fliegende Wechsel ins Bett und dann in die Beziehung mit dem älteren Comic-Zeichner Aksel (Anders Danielsen Lie). Alles passt beim Paar, doch der Besuch bei seinen Freunden konfrontiert mit deren nervigen Kindern und dann mit der Kinderfrage. Die zeigt sich hier umgekehrt als üblich: Er will Nachwuchs, sie will ungehemmt leben. Eine schleichende Entfremdung zieht sich über mehrere Kapitel hin.

Bis zur Schlüsselszene des Prologs. Aksel wird wegen eines neuen Comics gefeiert, Julie haut gelangweilt ab und schnorrt sich unten in der Stadt bei einer Hochzeitsfeier ein. Nachdem sie eine ältere Mutter mit neusten (erfundenen) Erziehungsthesen schockiert hat (Kuscheln erzeugt Drogensucht), verbringt sie die Nacht mit Eivind (Herbert Nordrum). Gemeinsam testen sie findungsreich aus, was alles noch kein Seitensprung ist. Es dauert eine Weile, bis sich die Bibliothekarin Julie, die eigentlich Fotografin werden wollte und nebenbei einen erotischen Essay schreibt, von Aksel trennt. Zum Glück beschert uns das Abwarten einen wunderbar romantischen Momo-Moment, in dem die Zeit mit allen Menschen in der Stadt stehen bleibt, während Julie zu Eivind rennt, um sich zu ihm zu bekennen.

Der norwegische Festival-Liebling Joachim Trier („Louder Than Bombs") vollendet mit „Der schlimmste Mensch der Welt" seine „Oslo-Trilogie" („Reprise", 2008, „Oslo, 31. August", 2011). Er verfolgt nach den Entwicklungen von Autoren nun einen sprunghaften Reifeprozess in einem ruhigen und langen Beziehungsfilm. Denn der Film kommt schließlich mit Julie zur Ruhe, wenn auch nicht zu einem runden Ende. Vor vielen schönen Blicken auf Oslo ist der neue Trier vor allem toll gespielt. Die in Cannes 2021 mit dem Preis für die beste Hauptdarstellerin ausgezeichnete Renate Reinsve zeichnet die Gefühle fein nach, stürzt sich glaubhaft euphorisch ins Leben.

Dabei geht es im Verlauf um mehr als Gefühlslagen. Die Kluft zwischen Julie und Aksel liegt zum Beispiel nicht nur in den vierzehn Jahren Altersunterschied, sondern auch im Aufkommen digitaler Medien mit ihren Ablenkungen. Die störten Julie im Studium, aber ist es nicht die gleiche Ruhelosigkeit zwischen immer neuen Tweets und Nachrichten, die ihre Unbeständigkeit im Leben bestimmt? So nennt Trier auch sein 10. Kapitel „Kulturelle Unbehaglichkeit". Unbehaglichkeit, die der exzellente Regisseur lebendig vermittelt. Und auf jeden Fall leichtherziger als der arg depressive Tag eines Süchtigen (auch Anders Danielsen Lie) in „Oslo, 31. August".

Glück auf einer Skala von 1 bis 10


Schweiz/Frankreich 2021 (Presque) Regie: Bernard Campan, Alexandre Jollien, mit Bernard Campan, Alexandre Jollien, Tiphaine Daviot, 92 Min., FSK: ab 6

Es ist zwar nur ein Fast-Zusammenstoß, der den eiligen Bestattungsunternehmer Louis (Bernard Campan) mit dem Fahrradkurier für Biogemüse Igor (Alexandre Jollien) zusammenbringt. Und der Begleiter der letzten Ausfahrt verhält sich trotz großen Stresses total korrekt, bringt den jungen Mann ins Krankenhaus und bleibt bei ihm, bis alles in Ordnung ist. Doch Igor, der wegen Sauerstoffmangels bei der Geburt leicht behindert ist, taucht dann bei einer langen Überführungsfahrt neben dem Sarg auf und es entwickelt sich ein Roadmovie mit einigen Überraschungen.

Denn Igor ist zwar relativ selbstständig, aber vor allem anhänglich. Und er sorgt sich um das Wohlergehen des „Nicht-Behinderten". Während sie erst zum Bahnhof wollen, dann doch zusammen im Hotel, auf einer Party und letztendlich sogar mit neuem Anzug auf der Beerdigung landen, hat er für jeden Stolperstein des Lebens eine philosophische Weisheit parat. Eine Tramperin, die sie auch noch mitnehmen, meint, er hätte „ein Buch gefrühstückt" – wohl eher eine ganze Bibliothek. Es ist erfreulich, dass hier nicht alle Beteiligten einen Lehrgang im Umgang mit Behinderten ablegen müssen. Louis bleibt völlig normal, ein paar blöde Bemerkungen von Umstehenden kontert der Junge selbst gekonnt.

Hauptdarsteller des Igor, Ko-Autor und -Regisseur Alexandre Jollien wurde mit zerebraler Kinderlähmung geboren und gilt als populärer französischsprachiger Philosoph. Eine seiner Buchveröffentlichungen las schon 2007 der bekannte Schauspieler Bernard Campan ein. So ist es kein Zufall, dass dieser nach seinem César-Erfolg von „Alles kein Problem" (als Schauspieler, Autor und Regisseur) zusammen mit Jollien diesen netten Film realisierte. In „Glück auf einer Skala von 1 bis 10" muss man an „Rain Man" mit Dustin Hoffman und Tom Cruise denken. Aber der Schweizer Film verläuft undramatisch und nicht hollywood-mäßig perfekt dramatisiert. Das ist teils angenehm, aber auch etwas dünn für einen langen Kinofilm, der erst mit der Überraschung des Finales wieder packt. Hier wird nicht das ganze Leben auf den Kopf gestellt, aber aus einem blinden Passagier wird ein Freund.

Der kleine Nick auf Schatzsuche

 
Frankreich 2019 (Le Trésor du Petit Nicolas) Regie: Julien Rappeneau, mit Jean-Paul Rouve, Audrey Lamy, Ilan Debrabant, 103 Min., FSK: ab 0
 
Der neunjährige Nick (Ilan Debrabant), einst leicht skizzierter Comic-Held der kurzen Strips von Goscinny und Sempé, begleitet in seinem neuen Kinofilm den Vater (Jean-Paul Rouve) zur Arbeit. Im charmanten Kinderblick sieht das Großraumbüro aus wie ein Klassenzimmer und auch die Großen verstehen nicht, was sie da eigentlich tun. Außer Papiere ordentlich zusammenzuheften. Als eine Beförderung mit Umzug nach Südfrankreich droht, geht das flinke Kerlchen mit seinen Kumpels der Clique „Die Unbesiegbaren" auf Schatzsuche: Mit einem Schatz hätte die Familie genügend Geld und bräuchte keinen neuen Job. Nick könnte weiter glücklich mit seinen Freunden leben.
 
Die Eigenarten der alten Kultcomics von Goscinny und Sempé gehen bei noch einer Geschichte von noch einer Jugendbande etwas verloren. Weiterhin ist Nicks Welt bevölkert von netten, sympathischen Charakteren. Herrlich Jean-Pierre Darroussin als Schuldirektor im dauernden Bemühen, ein witziges Wortspiel hinzubekommen. Auch wenn die Kinder-Komödie zeitweise erwachsen und melancholisch daherkommt, erfreut die sehr hochwertige Produktion doch hauptsächlich.

Erwartung - Der Marco-Effekt


Dänemark, Deutschland, Tschechien 2021 (Marco Effekten) Regie: Martin Zandvliet, mit Ulrich Thomsen, Zaki Youssef, Sofie Torp, 125 Min., FSK: ab 12

Die Erwartungen an die fünfte Verfilmung eines Krimis von Jussi Adler-Olsen sind überschaubar: Spezialermittler Carl Mørck will nach „Erbarmen" (2012), „Schändung" (2014), „Erlösung" (2016) und „Verachtung" (2018), im Sonderdezernat Q immer am Rande des Zusammenbruchs, den Fall eines Familienvaters lösen, der vor einigen Jahren spurlos verschwand. Dessen Pass wird beim 14-jährigen Rom Marco gefunden, der allein nach Dänemark einreist. Mørck, nun gespielt von Ulrich Thomsen, der Nikolaj Lie Kaas ablöst, ist übergriffig in der Recherche, übermüdet im Alltag und überspannt bemüht, seinen Arbeitsplatz auf Bewährung zu halten.

Der Nordic-Noir-Thriller um Spendengelder für Afrika, die bei reichen Dänen landen, verläuft interessant, dicht, aber lange Zeit nicht wirklich spannend. Beim üblichen hohen Maß an Gewalt entdecken wir diesmal bei sichtbar geringerem Etat auf TV-Niveau keine wahnsinnig böse oder düstere Verschwörung. Nach viel dänischer Fremdenfeindlichkeit steht am Ende immerhin sozialkritisch fest: Es waren die Einheimischen!

27.5.22

Maixabel

Spanien 2021 (Maixabel) Regie: Icíar Bollaín, mit Luis Tosar, Blanca Portillo, Urko Olazabal, 116 Min., FSK: ab 12

Diese Kinowoche zeigt an drei Filmen exemplarisch den Umgang mit Kriegen und Konflikten: Mal völlig gedankenlos im Spiel mit dem militärischen Mord-Maschinen und beim Abknallen eines irgendwie „Anderen" in „Top Gun". Mal mit großem Respekt vor dem Leben der Kämpfer, wenn auch der Kampf gegen die deutschen Nazis in „Die Täuschung" unvermeidlich scheint. Und in dem besten Film „Maixabel" der Versuch, die Unsinnigkeit des ETA-Kampfes und der Opfer in einem Versöhnungsprozess zu bewältigen. Wie ein politischer Mörder mit der Witwe seines Opfers Jahre nach der Tat Kontakt aufzunehmen versucht, ist nicht nur ungemein bewegend, sondern auch im Prozess der Vergebung richtungsweisend auf gesellschaftlicher und persönlicher Ebene.

Am Anfang ein politischer Mord, eine Hinrichtung, wie es zu viele gibt. (Auch im Film.) Das Opfer, der sozialistische baskische Lokalpolitiker Juan Marí Jáuregui sitzt im Jahr 2000 im Café, der Täter kommt von hinten, schießt ihm eine Kugel in den Kopf. Drei Männer fliehen im Auto. Ist es spannend, wie cool der Fahrer bleibt? Sogar einen Polizeiwagen überholt Ibon Etxezarreta (Luis Tosar), weil die eine falsche Beschreibung des Fluchtwagens haben. Dann mit etwas Distanz der Zusammenbruch von Maixabel Lasa (Blanca Portillo), der Frau des Ermordeten, und der von dessen Tochter, die eben noch ausgelassen den Sommer am Strand genoss. Während der Gerichtsverhandlung ist es widerlich, wie die inzwischen gefassten ETA-Kämpfer im Glaskäfig gegen den angeblich faschistischen spanischen Staat anschreien und geifern. Und den entsetzten Angehörigen keines Blickes würdigen.

Jahre später ist bei den Verurteilten in der Haft ein Wandel eingetreten. Zwei haben sich von der harten ETA-Linie losgesagt, die selbst im Gefängnis erforderte, dass keine Erleichterungen angenommen werden, dass keine Programme mitgemacht werden. So gab es keinen Freigang, keine Arbeit im Gefängnis. Ibon sucht Kontakt zu Maixabel. Sie ist mittlerweile Vorsitzende eines Opferverbandes und braucht Personenschutz, weil selbst die Opfer der entgegengesetzten Seiten untereinander bis aufs Blut verfeindet sind. Trotz des wieder stärker aufgewühlten Schmerzes stimmt sie zu.

Die von einer Mediatorin begleiteten Gespräche zwischen Maixabel und Ibon sind nicht nur schauspielerisch das Herzstück dieses überwältigenden Films. Eine unglaubliche Detailgenauigkeit im Gefühlsmix aus Schuld, Erklärungen, ohne die Taten herunterzuspielen, Entwicklungsgeschichten und vielem mehr ist hochspannend. Weswegen schließt sich ein junger Mann der ETA an? Wieso fragt niemand, wer das „Zielobjekt" ist? Die Begegnungen gipfeln in einem verdrehten Moment der Empathie, wenn Maixabel sagt, dass sie lieber die Witwe des Opfers sei, als die Mutter des Mörders, und Ibon, dass er lieber das Opfer wäre, als der Mörder.

„Maixabel - Eine Geschichte von Liebe, Zorn und Hoffnung" ist ein unfassbarer wichtiger Film: In Zeiten wachsender Konflikte das Gegenteil von Militarismus und Konfrontation. Versöhnung, Empathie und Vergebung nach dem blutigen ETA-Bürgerkrieg, in dem während 51 Jahren des Terrors 829 Tote zu beklagen waren. Versöhnung trotz großer Widerstände auf beiden Seiten. Diese sehr bewegende Lehrstunde für das Leben ist eindeutig der Film der Woche und vielleicht sogar der Film dieser „Zeitenwende".

25.5.22

Top Gun Maverick


USA 2020, Regie: Joseph Kosinski, mit Tom Cruise, Miles Teller, Jennifer Connelly, 131 Min., FSK: 12

Tom Cruise kreuzt als Überflieger Maverick wieder am Himmel auf! 36 Jahre nach dem großen Erfolg vom Kriegsfilm „Top Gun" ist alles wieder beim Alten und sieht ziemlich alt aus. Vor allem Tom Cruise und sein Düsenjäger F18. Mit vielen Oldtimern wird wie bewährt geflogen, geflirtet und gefeuert – auf gesichtslose Gegner. „Top Gun Maverick" ist hemmungslos toxisches Männer-Kino von vorgestern, im Finale aufgepeppt mit dem Adrenalin purer Bewegungs-Action.

Gleich zum Auftakt macht der nie erwachsen gewordene Navy-Pilot Captain Pete „Maverick" Mitchell (Tom Cruise) wieder ein Spielzeug kaputt. Als Testflieger widersetzt er sich Befehlen und dem Gang der Zeit. Mit einem Tarnkappenbomber und seinem Dickkopf durchbricht er mehrere Schallwände, ist der schnellste Mann der Welt und zerstört den milliardenschweren Flieger. Ein General macht klar: Drohnen sind die Zukunft. Piloten wie Maverick machen nur Sachen kaputt. Also die eigenen Sachen, nicht die der „Gegner".

Durch gute Beziehungen zu seinem alten Lieblings-Konkurrenten Iceman (Val Kilmer), der mittlerweile Admiral ist, bekommt Maverick einen letzten Job. Auf seiner alten Flieger-Eliteschule „Top Gun", die ihn zwischendurch schon mal als Lehrer feuerte, soll er die besten Abgänger für ein Himmelfahrtskommando trainieren. Gemeint ist mit dem nie benannten Ziel eine vermeintliche Urananreicherungsanlage im Iran, die auf Widerstand Israels trifft, was die USA eingreifen lässt. Man könnte das Ganze auch mit Drohnen oder vernünftigen Atomwaffensperrverträgen regeln, aber „Top Gun Maverick" ist nicht nur politisch mehr als dämlich. Deshalb trainiert das Auslaufmodell Maverick die jungen Spezialisten für Slalomparcours unter dem Radar, für Steigflüge mit extremen Beschleunigungswerten für den Körper und für dreckigen Luftkampf („Dog fight"). Vor allem Letzteres ist Maverick wichtig. Nachdem der Bunker in die Luft gejagt wurde, will er die jungen Piloten retten. Der immer streng dreinblickende Vize-Admiral „Cyclone" (Jon Hamm) will nur den Auftrag erledigt bekommen, auch wenn keiner der Piloten – und Quoten-Pilotin – es zurückschafft. Die wissen selbstverständlich nichts davon, dass sie geopfert werden. 

Es wird wieder einer der typischen Regelbrüche von Maverick sein, der die Mission etwas unmöglicher macht, aber Chancen aufs Überleben lässt. Bis dahin gibt es bei Übungsflügen mit simulierten Abschüssen viel Flugspaß wie im Computerspiel. Die jungen Darsteller sind – wie im restlichen Film – nur Staffage, wenn Maverick sie nacheinander mit Luft-Saltos, Loopings oder Houdini-Tricks wegballert. Spannend wird es erst, wenn eine fliegende Aussprache mit Bradley Bradshaw (Miles Teller) fast mit einem Doppel-Crash endet. Denn Bradshaw, mit Spitznamen „Rooster", ist Sohn von Mavericks verstorbenem Co-Piloten und Freund Nick „Goose" Bradshaw aus dem Original „Top Gun". Maverick saß beim tödlichen Absturz am Steuerknüppel und aus Schuldgefühl versuchte er, Ziehvater für Rooster zu sein. Auch das ging gründlich schief.

Womit wir bei der langen Liste der Wiederholung sind. Rooster steckt mit Lieutenant „Hangman" Seresin (Glen Powell) im gleichen Leithammel-Duell wie einst Maverick/Iceman. Jennifer Connelly übernimmt als Barfrau Penny den romantischen Part von Kelly McGillis. Und „Top Gun Maverick" erbt selbstverständlich auch die Väter-Problematik aus dem Vorgänger: Damals war es der angeblich verschollene Vater von Maverick, der sich nachträglich als Kriegsheld herausstellte und für den sich der Cruise-Charakter die ganze Zeit bewähren wollte. Diesmal spielt Cruise selbst die Vaterfigur. Rooster muss nun in die Arme des sorgenden Ziehvaters finden, erst dessen Autorität und dann dessen Liebe anerkennen. Wenn der junge Pilot am Klavier „Great balls of fire" spielt, wie einst der Vater, mit dem Kleinen auf dem Klavier und Mama Meg Ryan lustig dazu tanzend, gibt es mal einen mehr als nur mechanisch funktionierenden Moment im Film.

Ansonsten ist Maverick eine Antiquität wie seine Lederjacke oder sein Motorrad, damit kokettiert der Film. Aber Tom Cruise sieht in der Rolle des Fliegers vom alten Eisen auch echt alt aus. Die Wangen hängen runter, das Haar ist wie bei Berlusconi zu schwarz gefärbt. „Mission Impossible" hat da eindeutige die bessere Maske. Um die derart schockierende Cruise-Show gibt es viel schwülstiges Heldengetue auf Tonspur und in Gegenlicht. Bei Bromance, Macho-Gesten wie Schulterklopfen, sich an die Brust springen und anderem, was man auch vom Menschenaffen kennt, bleiben Frauen Randfiguren. Davon erlöst nur altmodisches Schwarzweiß- Feinddenken mit zwanzig Minuten Hochspannung im Finale.

24.5.22

Die Täuschung (2021)


USA, Großbritannien 2021 (Operation Mincemeat) Regie: John Madden, mit Colin Firth, Matthew Macfadyen, Kelly Macdonald, 128 Min., FSK: ab 12

Als Spam noch Notnahrung aus der Dose war, fand das Leben in London aus Angst vor deutschen Angriffen weitgehend im Dunkeln und im Untergrund statt. 1943 wird fast ganz Europa von Nazi-Horden terrorisiert, doch die Invasion der Alliierten ist in Planung. Um den Angriff im Süden Siziliens mit möglichst wenig Verlusten verlaufen zu lassen, soll eine nicht existente britische 12. Armee mit ihrem nicht existenten 12. Bataillon Griechenland attackieren. Diese Täuschung will das „Twenty Committee" unter dem Namen „Operation Mincemeat" („Trojanisches Pferd" wurde als zu auffällig verworfen) jedenfalls der deutschen Führung irgendwie unterjubeln.

Zwei Geheimdienstler, Ewen Montagu (Colin Firth) und Charles Cholmondeley (Matthew Macfadyen), beginnen aus dem „Corpus delicti" des Walliser Obdachlosen Glyndwr Michael, der sich mit Rattengift umgebracht hat, die Legende um einen angeblichen Major Martin zu stricken. Ihr glauben letztendlich mehrere Spionage-Organisationen bis zu Hitlers Schreibtisch und sie rettet Zehntausende Menschenleben. Denn am Handgelenk Martins festgekettet sind „geheimste Informationen" über die bevorstehende Invasion der Alliierten in Griechenland! Mit großer Leidenschaft arbeiten alle Beteiligten tags und auch abends in Clubs an der fiktiven Biografie Martins, samt Fotos und Liebesbriefen. Fiktion und Realität überlagern sich dabei, denn sowohl Montagu als auch Cholmondeley verlieben sich in die junge, wichtige Mitarbeiterin und Kriegswitwe Jean Leslie (Kelly MacDonald). So sehr, dass die ganze Mission bedroht ist.

„Die Lüge ist der Leibwächter der Wahrheit", heißt es am Anfang des Films, und wie reizvoll das raffinierte Spiel mit der Fiktion ist, zeigt nicht nur die Anwesenheit von Bond-Autor Ian Fleming in dieser wahren Geschichte um „Operation Mincemeat". Irgendwie scheint hier jeder der Offiziere gerade seinen eigenen Spionage-Roman zu schreiben. Altmeister und Theatermann John Madden („Shakespeare in Love", „Best Exotic Marigold Hotel"), gelingt mit „Die Täuschung" ein spannender Kriegsfilm, in dem menschliches Leben und Leiden nie aus den Augen verloren wird.

23.5.22

Immenhof 2 - Das große Versprechen


Deutschland 2021, Regie: Sharon von Wietersheim, mit Leia Holtwick, Caro Cult, Moritz Bäckerling, Max Befort, 102 Min., FSK: ab 0

„Ich frag mich in letzter Zeit, ob Pferde überhaupt dazu gemacht sind, Menschen auf ihrem Rücken durch die Gegend zu tragen." Solch ein Satz inmitten schönster Pferde-Ästhetik und simpelster Reiterhof-Romantik ist schon sensationell, wenn nicht gar verstörend. Die zweite Neuverfilmung des Immenhof-Stoffes aus den 50er Jahren präsentiert sich mit der mäßig spannenden Handlung um ein vergiftetes Rennpferd eher niedlich für kleine Mädchen. Teenager werden Pickel von dieser heilen und klinischen Gute Laune-Welt bekommen. Da sind Nachmittags-Soaps in Dialog und Drama vergleichsweise wahre Höllenschlunde. Während Reiterhof-Mädchen versuchen, geschundene Rennpferde vor der Tierquälerei durch Gestütsbesitzer zu retten, zeigen die Darsteller eher Schön- als Schauspiel-Qualitäten. Hölzerne Texte sind immer überdeutlich. Immer wieder gibt es den Schnitt auf die Gesichter der Pferde die dank Kuleschow-Effekt anscheinend kommentierend lachen oder traurig dreinschauen. Ganz kurios wird es, wenn der Film auf dem Höhepunkt suizidale Rennpferde an Kreidefelsen nach Caspar David Friedrich zeigt. Aber die Pferde sind wirklich schön fotografiert.

Alles in bester Ordnung


Deutschland 2021, Regie: Natja Brunckhorst, mit Corinna Harfouch, Daniel Sträßer, Joachim Król, 100 Min., FSK: ab 6

Die automatische Sortieranlage befördert im Lager jede Flasche ordentlich in ihren Kasten - eigentlich. Da die Software dafür spinnt, kommt der pedantische IT-Spezialist Fynn (Daniel Sträßer) hinzu, dessen Wohnung eher ausgeraubt als aufgeräumt aussieht. Da er aber weder in der Fabrik noch in den vier Wänden ein geschicktes Händchen hat, sorgt er für einen Wasserschaden am Heizungsrohr und damit für eine Konfrontation mit dem gänzlich anderen Lebenskonzept in der Wohnung unter ihm. Marlen (Corinna Harfouch) ist eine liebenswerte und aufgeräumte Person, doch nach dem Öffnen ihrer Tür erschließt sich Erschreckendes. Niemand darf in ihre mit Erinnerungen und schönen Fundstücken vollgemüllte Wohnung. Dass wegen der Wasserschäden jetzt demnächst Handwerker rein müssen, sorgt für Panik beim Messi. Zudem nistet sich der Verursacher vom Chaos ziemlich dreist bei ihr ein. Natja Brunckhorst, Hauptdarstellerin in „Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" (1981) und später Drehbuchautorin, inszenierte als ihre erste Regie eine sympathisch stille Komödie. Corinna Harfouch und Daniel Sträßer glänzen als entgegengesetzt schräge Figuren. Aber man glaubt dem Film, man kann beide verstehen.

18.5.22

Leander Haußmanns Stasikomödie


Deutschland 2021, Regie: Leander Haußmann, mit David Kross, Jörg Schüttauf, Antonia Bill, Deleila Piasko, Henry Hübchen, 116 Min., FSK: ab 16

Lässt sich über Stasi lachen? Kurz nach dem erfolgreichen Stasi-Drama „Das Leben der Anderen" wäre die Frage vehement verneint worden. Doch das war 2006. Jetzt lässt Leander Haußmann die Anklage weg und amüsiert sich versöhnlich wie vortrefflich in „Leander Haußmanns Stasikomödie". Ein berühmter Autor erinnert sich an seine Stasi-Vergangenheit, frei nach dem realen Alexander „Sascha" Anderson. Nach „Sonnenallee" und „NVA" unterhält auch der dritte Teil der DDR-Trilogie mit exzellenten Schauspielern und feinem Humor.

Es ist ein großer Tag: Der erfolgreiche Autor Ludger Fuchs (Jörg Schüttauf) hat seine Stasi-Akte erhalten und wird sie zuhause lesen. Das private Ereignis wuchs zu seiner Überraschung zu einer kleinen Party: Neben Ehefrau Corinna (Margarita Broich) sind Kinder und Enkel sowie Herr Dietrich vom Literatur-Institut (Tom Schilling) aufdringlich und gegen seinen Willen dabei. Das Blättern im Akten-Ordner ist erst etwas peinlich bei unscharfen Fotos der ersten Liebesnacht und dann dramatisch bei einem zerrissenen Liebesbrief, der nicht von Corinna ist. Aber chronologisch nach dem Zusammenkommen von Ludger und Corinna liegt – die Stasi ist ordentlich! Wütend stürmt Ludger aus dem Haus, trifft einen alten Kumpel und beschwert sich, dass die alten Kollegen die falsche Stasi-Akte falsch gefälscht haben. In einer Rückblende erfahren wir, was der gefeierte Romanautor und Widerstandsheld wirklich als junger Mann in der DDR gemacht hat.

Nachdem sich Ludger (David Kross) an einer vom Stasi-Offizier (genial: Henry Hübchen) ferngesteuerten Fußgängerampel als extrem systemtreu erwies, wird er angeworben, um die Bohème des Prenzlauer Bergs auszukundschaften. Beim ersten slapstickhaften Einsatz landet er direkt im Bett des Zielobjekts, was nicht nur seinem Offizier (Hübchen), sondern auch Minister Erich Mielke gefällt. So okkupiert der Neu-Spion direkt eine Wohnung, dessen Mieter noch nicht ganz verstorben ist und lebt sich in die Szene ein. So sehr, dass er schon bald seinen Auftrag vergisst. Dabei macht der angebliche Dichter Ludger selbst auf den Beat-Poeten Allen Ginsburg Eindruck. Bei dessen Besuch auf einer privaten Party im Prenzlauer Berg ereignet sich aus lauter Verlegenheit von Ludger etwas, was zur Perle Haußmannschen Humors wird. Um wirklich in den Kreis der Kreativen um seine Liebste aufgenommen zu werden, soll der Neue selbst etwas präsentieren. Mangels Material zerreißt Ludger die Perlenkette der Drag Queen (Alexander Scheer), die ihn zum Auftritt drängt und meint „Perlen vor die Säue". Dieser Spruch macht nun sowohl in Stasi-Kreisen als auch bei den Subversiven die Runde und erfährt vielfältige surreale Interpretationen. Bis hin zu Protestaktionen, bei denen der Stechschritt der Soldaten an der Neuen Wache durch „Perlen" auf dem Boden ins Stolpern gerät. Es ist dieses feine Spiel mit eigentlichen Nichtigkeiten in Haußmanns eigenem Drehbuch, welches Absurdität von Systemen und Gegenbewegungen gleichermaßen aufzeigt.

Ein bisschen deftiger kann er selbstverständlich auch: Die Szene, in der sich der dicke Minister für Staatssicherheit der DDR zu seinem Geburtstag als Sonnenkönig inszeniert und mühsam vom Pferd gehoben werden muss, erinnert an schrille italienische Polit-Farcen wie „Il Divo". Und die drei anderen studierten Kollegen von der Stasi sehen nicht nur aus wie Idioten.

Haußmanns Komödie hat eine Besetzung, mit der man einen kompletten Preisverleihungsabend gestalten könnte. Ludger Fuchs ist sowohl in der Ausführung alt mit Jörg Schüttauf und jung mit David Kross überaus gewinnend besetzt und gespielt. So rettet der junge Ludger in der skurrilen Eingangsszene gleich ein kleines Kätzchen vor einer großen Straßenreinigungsmaschine. So ein Mensch kann nicht schlecht sein, selbst wenn er später bei der Stasi ist. Haußmann selbst meint dazu: „Meine Figuren sind aber im Grunde auch in ihrer Blödheit sympathisch, vor allem die Hauptfigur, die von David Kross gespielt wird. Der ist eher so einer wie Jean-Pierre Léaud bei Truffaut. Der geht staunend durch die Welt und reagiert auf jede einzelne Situation."

Autor und Regisseur Leander Haußmann äußert sich selbst versöhnlich gegenüber dem eigenen Nachbarn, der ihn ausspioniert hat. So ist dieses sehr spaßige und ganz andere „Leben der Anderen" zu verstehen. Denn beim großen, auch internationalen Erfolgsfilm von Florian Henckel von Donnersmarck über das Treiben der Stasi im Künstler-Milieu waren die Fronten klar. Standhaft war gut, Verrat böse. Schmerzlich böse. Der Trick von „Leander Haußmanns Stasikomödie" liegt darin, dass Fuchs niemanden „ans Messer liefert". Seine Berichte sorgen geradezu für dadaistische Verwirrung im Ministerium für Staatssicherheit. Bis in die Spitze. Denn Erich Mielke nahm den Jungen früh unter spezielle Beobachtung. Die wahre Geschichte vom Autor Alexander „Sascha" Anderson diente als Vorlage, Haußmann müht sich aber nicht mit einer Abrechnung ab. So verläuft nicht mal die Liebe unter den Bedingungen der Stasi wirklich schmerzlich. Im letzten Augenzwinkern von Corinna liegt ein heiteres Unentschieden der Betrogenen. Das Leben geht derweil mit der nächsten Generation weiter. Draußen schauen sich Fuchs und Buck als ewiger Streifenpolizist bei einer besonderen Form von Dialektik in die Augen. Auf die gegenseitige Frage, was haben wir alles falsch gemacht, gibt es eine lange Pause und dann keine Antwort.

17.5.22

Dog


USA 2022, Regie: Reid Carolin, Channing Tatum, mit Channing Tatum, Jane Adams, Kevin Nash, 102 Min., FSK: ab 12

Hund und sexy Mann - das müsste doch auch für die Kinokasse eine unschlagbare Paarung sein. Dachten sich jedenfalls Channing Tatum und sein langjähriger Freund und Produktionspartner Reid Carolin (Drehbuchautor und Produzent von „Magic Mike" und „Magic Mike XXL"), beide Hunde-Daddys. So schickten sie Tatum und seinen Filmhund als kriegsgeschädigte Psychopathen auf Roadtrip. Was sich jetzt nicht mehr so attraktiv anhört. Raus kam mit „Dog" eine ziemlich wilde Promenadenmischung von Film, die sich nur schwer kategorisieren oder wertschätzen lässt.

US-Army Ranger Jackson Briggs (Channing Tatum) kann es nicht erwarten, wieder in den Krieg nach Afghanistan geflogen zu werden. Vom letzten seiner vielen Einsätze hat er zwar einen Hirnschaden, „aber haben wir nicht alle Hirnschäden" meint er zu seinem Offizier, der ihn nicht einsetzen will. Als sich dann der nächste der Veteranen umbringt, bekommt Briggs seine Chance: Der verzweifelte Selbstmörder war Hundeführer und sein Armee-Schäferhund Lulu soll nach Arizona gefahren werden. Das Tier ist wie viele Ehemalige so traumatisiert, dass es nicht fliegen darf. Wenn Briggs diesen Job erledigt, kann er wieder in fremde Länder und auf unbekannte Menschen schießen.

Eigentlich ist klar, dass sich in dieser doppelten Veteranen-Geschichte Soldat und Hund gegenseitig heilen werden. Denn beide haben schwere Sachen mitgemacht. Dafür muss Briggs erstmal das Vertrauen der bissigen Bestie gewinnen, die nur mit Beruhigungsmitteln erträglich ist. Sein Vorhaben ist ein nettes, denn Lulu soll nach der Beerdigung eingeschläfert werden und vorher noch eine schöne Reise haben. Was autobiografischen Ursprungs sei, wie Tatum erzählt. Als seine Hündin namens Lulu an Krebs erkrankte, brach er auch mit ihr zu einem Roadtrip auf. Wobei sich die Frage stellt, ob (kranke) Hunde die Leidenschaft der US-Amerikaner für extrem lange Reisen in Autos teilen.

Der in seiner Stimmung sehr wechselhafte Weg von „Dog" bringt dem Kino ein wenig Action, krampfhaften Humor, das wachsende Verantwortungsgefühl des Soldaten für Hund und eigentlich vergessenes Kind. Dabei braucht es tatsächlich den vollen Charme des Channing Tatum, um diesen Primitivling Briggs Sympathie gegenüber aufzubringen. Denn der will anfangs nur Krieg spielen und zwischendurch Saufen oder Frauen abschleppen. Doch auch diesmal erweist sich Lassie wieder als der bessere Mensch. Oder zumindest als Spiegelbild dafür, wie kaputt Mensch und Tier vom „Einsatz" aus Afghanistan zurückkommen.

Interessanter als Channing Tatums Ko-Regie und die Frage, wer von den beiden Regisseuren, Autoren und Produzenten welche Teile zu verantworten hat, sind die Nuancen von Tatums Schauspiel: Selbstironie rettete ihn bei den peinlichsten Besetzungen, nur manchmal wie bei „The Lost City" an der Seite von Sandra Bullock war es trotzdem zum Weglaufen. Feines Spiel um sensibles Innenleben durfte er bei „Magic Mike" von Steven Soderbergh als Striptänzer zeigen. Das ist hier bei einem flachen Charakter nicht nötig. Unangenehmer fällt allerdings der uneinheitliche Mischmasch zwischen Armee-Kritik, Anbiederei mit Hunde-Schwärmerei, billigen Scherzen und teurer Ästhetik auf.

Sechs Tage unter Strom - Unterwegs in Barcelona


Spanien 2021 (Sis Dies Corrents) Regie: Neus Ballús, mit Mohamed Mellali (Moha) · Valero Escolar (Valero) · Pep Sarrà, 85 Min., FSK: o.A.

Die Probewoche von Moha (Mohamed Mellali) bei einem Installationsbetrieb in Barcelona beginnt schon schwierig: Der dicke Geselle Valero (Valero Escolar) meint schroff, Moha sei nicht an der richtigen Adresse. Die Schikane wird weitergehen bis zu fremdenfeindlichen Bemerkungen über den „nicht Spanisch Sprechenden". Dabei glaubt der nicht besonders helle Valero clever zu sein, wenn er seinen Rassismus bei den anderen Katalanen unterschiebt. Während sich ein alter Kunde sehr nett mit dem Marokkaner unterhält und seine Rezepte für ein langes Leben weitergibt. In den folgenden Tagen bildet die Kundschaft ein Panoptikum der katalanischen Gesellschaft. Ein Fotostudio mit Bodybuilder und Tattoo-Frau, bei der Moha zum Fotomodel wird. Eine Familie, bei der die Zwillings-Mädchen Valero erst fast einen Schlag versetzen und dann auf dem Balkon aussperren. Maho, dessen Außenseiter-Perspektive wir oft hören, beobachtet immer wieder Menschen verschiedener sozialer Schichten auf den Balkonen. Und dann der Freitag beim Psychiater, dessen Hauselektronik bald wie bei Jacques Tati verrückt spielt, während er die Paarbeziehung von Moha und Valero analysiert.

Neben den netten kleinen Porträts der Kundschaft lernen wir auch Maho und selbst Valero ohne Vorverurteilung kennen. Der Marokkaner besucht abends noch Sprachkurse, danach lernt er alleine im Zimmer und sitzt nicht mit den spottenden Landsleuten seiner Wohngemeinschaft zusammen. Dass Valero auch wegen einer Diät mies gelaunt ist, erfahren wir erst spät. Doch von Anfang an spielte er nur herum, während Senior Pep (Pep Sarrà) sich um die dreckige Arbeit kümmerte.

Regisseurin Neus Ballús – deren Vater selbst Installateur ist – erzählt ihre Geschichte mit leisem, hintergründigem Humor. „Sechs Tage unter Strom - Unterwegs in Barcelona" ist keine Komödie in üblichem Sinne. Eher der trockene Humor von Tati oder Aki Kaurismäki in einem ruhigen Lied mit sechs Strophen und Alltags-Porträts.

Bettina


Deutschland 2022, Regie: Lutz Pehnert, 107 Min., FSK: ab 0

„Ich singe immer lauter als ich spreche." Fast entschuldigend spricht die Liedermacherin Bettina Wegner bei einem Konzert. Dabei sollte jedes Wort der erstaunlichen Künstlerin und Person der Zeitgeschichte geschätzt werden. Geboren 1947 in Westberlin, mussten die kommunistischen Eltern umziehen, weil sie die Miete nicht mit Ostmark zahlen konnten. Als Kind hatte Bettina Stalin glühend verehrt. Später steht sie vor Gericht, weil sie gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten 1968 in die Tschechoslowakei protestierte. Das Tonprotokoll mit den überaus intelligenten Antworten der Angeklagten ist Teil des packenden Films. Mit 36 Jahren wurde sie aus der DDR ausgebürgert, seither fühlt sie sich „entwurzelt". Diese aktiv erlebte Zeitgeschichte ist derart faszinierend, dass die berührende und aufrührende Musik aus der Tradition des Folk fast zu kurz kommt. Die wenigen Zeilen von „Kinder (Sind so kleine Hände)" haben nach Jahrzehnten noch das Zeug, Leben auf den Kopf zu stellen. Beziehungen zu dem sehr jungen Thomas Brasch oder eine Affäre mit Oskar Lafontaine, weil der in Georgisch singen konnte, sind Randnotizen in der anhaltenden Suche nach Aufrichtigkeit in ihren Liedern.

I Am Zlatan


Schweden, Dänemark, Niederlande 2021 (Jag Är Zlatan) Regie: Jens Sjögren, mit Granit Rushiti, Dominic Andersson Bajraktati, Cedomir Glisovic, 102 Min., FSK: ab 12

Die sehr konventionelle Sportler-Biografie versucht, die Popularität des umstrittenen und exzentrischen schwedischen Fußballspielers Zlatan Ibrahimovic nachträglich von ziemlich üblen Auswüchsen reinzuwaschen. Von jugoslawischer Abstammung und in einem Problemviertel Malmös aufgewachsen, war er schon als Kind herrisch, unkontrolliert, egozentrisch. Er und seine Schwester helfen der Mutter bei der Arbeit als Putzfrau, später wachsen sie beim untätigen Vater auf. Es wirkt, als suche der Spielfilm Entschuldigungen für einen miesen Charakter. Mit enormem Talent gesegnet, steht er sich immer selbst im Weg. Das gilt auch für die Zeit bei Ajax Amsterdam, von wo der Film seine Rückblenden in die Jugend startet. Nur mit Mühen wird aus diesem unsympathischen Charakter mit seinen Gewaltausbrüchen eine tragende Hauptfigur. Der Darsteller Granit Rushiti zeigt eine gewisse Ähnlichkeit in der arroganten Mimik. Da sind tatsächlich die Tore des echten Zlatan im Abspann interessanter als der ganze Film.


10.5.22

Das Licht, aus dem die Träume sind


Indien, Frankreich, USA 2021 (Last Film Show) Regie: Pan Nalin mit Bhavin Rabari, Bhavesh Shrimali, Richa Meena, 112 Min., FSK: ab 12

Der neunjährige Samay (Bhavin Rabari) ist Sohn eines Tee-Verkäufers an einem kleinen indischen Bahnhof. Sein Vater zählt als Brahmane zwar zu einer höheren Kaste, doch da ihm die Brüder einst die Herde stahlen, lebt er in Armut. Ein Höhepunkt ist der Familienbesuch im Kino des nächsten Ortes. Samay stellt danach begeistert fest: „Ich möchte Filmemacher werden!" Worauf der Vater entsetzt ist, denn „die Filmwelt ist schmutzig und widerspricht unseren Tugenden".

Fortan experimentiert der aufgeweckte Junge an der Bahnstrecke mit durch farbiges Glas gefiltertem Licht und erzählt Geschichten mit den Bildern von Streichholzschachteln. Selbstverständlich wird auch die Schule geschwänzt, um sich heimlich und ohne Eintrittskarte ins Kino zu schleichen. Bald wird er erwischt und im hohen Bogen rausgeschmissen. Aber Filmvorführer Fazal (Bhavesh Shrimali) hat Mitleid und lässt den kleinen Kinofan in der Kabine mitschauen. Der Deal lautet: Samay bringt das köstliche Essen seiner Mutter mit und darf dafür in der Vorführkabine umsonst Filme sehen. Dabei bleibt es nicht. Er lernt auch das Vorführen und erkundigt sich, wieso es eigentlich Filme gibt. Die spezielle Filmgeschichte dieses Vorführers ist allerdings eine der vielen Lügengeschichten des Kinos.

„Das Licht, aus dem die Träume sind" ist als „Cinephilgood-Drama" sehr verwandt mit „Cinema Paradiso", auch wenn hier der Filmvorführer deutlich jünger und verrückter als Philippe Noirets Alfredo ist. Und indischer Film mit seinen überbordenden Tanzsequenzen und der betörenden Farbenpracht eine völlig andere Welt. Doch der große Saal voller Menschen, die tanzenden Staubkörner im Lichtstrahl, das Rattern des Filmprojektors, das sind alles universelle Erfahrungen des Kinos. Und wenn diese Initiation von großen Cineasten schon oft gefeiert wurde, in Zeiten von Netflix und politischer Streaming-Förderung kann es nicht passender sein, sich noch einmal darüber zu begeistern.

Samays Ansage „Wir müssen das Licht einfangen" folgen wunderbare poetische Momente und immer wieder Schmunzeln über Ideen für Lichtspiele, Imitationen von Filmszenen mit Kindermitteln, Kartons und Müllresten. Anfangs klaut der kleine Filmfan einzelne Filmbilder, die er über eine Linse auf ein weißes Tuch der Mutter projiziert. Dann werden es ganze Filmrollen und irgendwann haben die Freunde ein richtiges Filmlager, das Samay schließlich ins Gefängnis bringt. Traumhaft ist eine komplett von den Kindern nachvertonte Filmszene mit den Geräuschen des Windes, dem Klappern der Pferde, dem Gesang des vergötterten Filmstars.

Auch die harten Realitäten einer Kindheit in Indien werden in dieser bittersüßen Erinnerung nicht ausgeblendet. Der Lehrer macht klar: Wenn du es in diesem Land zu etwas bringen willst, musst du zwei Dinge tun. Erstens musst du Englisch lernen und zweitens musst du von hier fort gehen. Systemwechsel sowohl bei der Bahn als auch im Kino machen Vater und Filmvorführer arbeitslos. Immer ist es die fehlende Kenntnis des Englischen, die verhindert, dass sie im neuen System einen Job haben können.

Ein wahres Martyrium dann, wenn Samay dem Ausweiden „seines" Kinos Galaxy folgt: Auf einem Friedhof der Filmprojektoren werden diese zerschmettert und eingeschmolzen, um banal als Löffel zu enden. Die alten Filme erleben nach dem Einschmelzen ein neues Leben als farbige Armreifen und Regisseur Pan Nalin macht daraus im Finale eine rührende Hommage an die Regisseure, die ihn geprägt haben. Wie überhaupt einige Zitate aus klassischen Filmen zu entdecken sind. Angefangen mit den mehr als Truffauts 400 Schlägen („Sie küßten und sie schlugen ihn" / „Les Quatre Cents Coups"), die der Junge vom Vater bekommt. Der ihn schließlich doch in einer herzzerreißenden Szene seinen Weg gehen lässt.

Pan Nalins Komödie „7 Göttinnen" (2015) genoss kommerziellen Erfolg und Kritikerlob. Ins globale Rampenlicht trat Pan Nalin bereits mit „Samsara" (2001), der über 30 internationale Auszeichnungen gewann. Nalins romantisches Epos „Valley of Flowers" (2006) gilt als großer Underground-Hit. Die japanisch-französisch-deutsche Koproduktion wird nach wie vor auf mehreren Plattformen veröffentlicht und hat weltweit Kultcharakter. Der teils autobiographische Film „Das Licht, aus dem die Träume sind" ist sein erster Film in Gujarati-Sprache. Kürzlich beendete Nalin seine erste neuseeländisch- indische Koproduktion, „The Disappearance of Eva Hansen", ein spiritueller Thriller im Himalaya mit David Wenham und Emmanuelle Beart.

Blutsauger


Deutschland 2021, Regie: Julian Radlmaier, mit Aleksandre Koberidze, Lilith Stangenberg, Alexander Herbst, Corinna Harfouch, 128 Min., FSK: ab 12

Die junge Fabrikbesitzerin Octavia Flambow-Jansen (Lilith Stangenberg) liest am Ostsee-Strand den vermeintlichen Baron Ljowuschka (Aleksandre Koberidze) auf, der sich als verstoßener Trotzki-Darsteller des Films „Oktober" vom Regisseur Sergei Eisenstein herausstellt. Die Handlung beginnt „an einem Dienstag im August 1928", dabei fliegt ein Kite-Surfer im Meer vorbei. Andere Anachronismen wie eine Coca Cola-Dose beim Dinner laufen ganz selbstverständlich mit, machen Spaß und die Zeitlosigkeit der Handlung klar. In dem gar nicht so abseitigen Subtext wird das Kapital im marxschen Sinne als Vampir behandelt. Wie ein Prolog der Darsteller bei der Marx-Lektüre am Strand klarmacht. Einen Vampir, den der Film ganz ernst nimmt. Der naive Jakob meint zwar, es handle sich bei den beiden Blutmalen um Flohstiche, aber wir haben längst gesehen, wie sich die junge Blutsaugerin Octavia an ihm labt.

Während der Text sich an Verspottung und Abschaffung des Adels abmüht, droht draußen das Volk, Jagd auf die Blutsauger zu machen. Der zum „persönlichen Assistenten" modernisierte Diener Jakob (Alexander Herbst) ist naiv in seine Herrin Octavia verliebt. Die hat allerdings mehr Spaß am exilierten Russen, der nach Hollywood will. „Sie hält sich einen Proleten", meint ein arroganter Adeliger. All das erfahren wir aus wechselnden Perspektiven des Films. Die abgefilmten Gedanken bekommen noch mehr Raum für verspielte Szenen als die Truppe um Octavia ausgerechnet einen Vampir-Film dreht. Damit Ljowuschka etwas in Hollywood vorweisen kann. Doch auch Jakob hofft, sich beim Dreh beweisen und Octavias Gunst gewinnen zu können.

Der junge Regisseur Julian Radlmaier wurde mit der selbstreflexiven Betrachtung des deutschen Filmbetriebs „Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes" (2017) bekannt. „Blutsauger" ist nun ein immer wieder mal komischer und schräg inszenierter, aber hinter dem Gedankenkonstrukt doch etwas blutleerer Film.

Nico (2021)


Deutschland 2021, Regie: Eline Gehring, mit Sara Fazilat, Sara Klimoska, Javeh Asefdjah, 79 Min., FSK: ab 12

Die junge Nico (Sara Fazilat) ist eine fröhliche und lebensbejahende Altenpflegerin in Berlin. Mit ihrer besten Freundin Rosa (Javeh Asefdjah) regt sich die Iranisch-Stämmige lachend über verhüllte Mädchen auf, die auch noch über Halal-Kondome reden. Auch wenn der Job oft schwer ist, hat Nico Spaß im Leben. Die Autofahrerin, die sie mit ihrem Rad von der Straße hupen will, bekommt den klebrigen Donat des nächsten Kunden auf die Windschutzscheibe.

Bis ein paar fremdenfeindliche Kartoffel-Deutsche Nico aus heiterem Himmel anmachen und brutal zusammenschlagen. Niemand hilft, erst im Krankenhaus wacht sie wieder aus der Ohnmacht auf. Als anderer Mensch. Zwar scherzt sie noch mit Rosa, doch selbst als die Verwundungen im Gesicht langsam verschwinden, hat sie draußen Angst und versteckt sich in der Stadt unter ihrem Hoddie.

Der Moment des Angriffs ist ein doppelt schockender für Nico und die Zuschauer: Vorher gab es keinen Gedanken, dass sie nicht „dazu gehört". Selbstbewusst ging sie ihren Weg. Den hat sie nun verloren. Hilfe sucht sie beim gradlinigen Karate-Weltmeister Andy (Andreas Marquardt). Doch trotz der Techniken zur Selbstverteidigung wird Nico immer angespannter und aggressiver. Selbst mit ihrer besten Freundin Rosa will sie nichts mehr zu tun haben. Und bei der Pflege macht sich die hilflose alte Dame Brigitte (Brigitte Kramer) Sorgen: „Det Leben ist zu kurz für son langes Jesicht!" Ja, der schwere Weg Nicos zurück zu sich selbst, findet auch immer etwas Humor.

Als Nico auf einer Kirmes die Mazedonierin Ronny (Sara Klimoska) trifft, entwickelt sich eine Verbindung zwischen den beiden Frauen, welche die Abwärtsspirale stoppt. Die Motive Ronnys bleiben rätselhaft, doch die Veränderung tut Nico gut.

„Nico" ist stilistisch kein besonders „dreckiger" Großstadtfilm. Überhaupt steht der Stil zurück hinter dem Spiel von Sara Fazilat als Nico, Javeh Asefdjah als ihre Freundin Rosa und Andreas Marquardt als authentischer Trainer Andy. Im glaubhaften, lebensnahen Auftreten liegt die Stärke des Ensembles und des Films.

Das mutmachende Drama ist der Film von Hauptdarstellerin Sara Fazilat: Sie hat zusammen mit Regisseurin Eline Gehring und Kamerafrau Francy Fabritz das Drehbuch geschrieben. Zudem ist sie Produzentin des Films. Produktion ist das Fach, das sie an der DFFB in Berlin und der Columbia University in New York studierte. Trotzdem werden wir Sara Fazilat 2022 oft vor der Kamera sehen: Sie wird in Michael Bully Herbigs „1000 Zeilen" eine tragende Rolle übernehmen, ebenso in „Holy Spider", dem neuen Film von Ali Abbasi, der seine Premiere 2022 im Wettbewerb von Cannes feiern wird. Als Produzentin und Autorin schreibt sie an ihrem Langfilm „Arier".

Regisseurin Eline Gehring begann ihre Karriere als Kamerafrau und Editorin für deutsche Berichterstattung in Paris, Prag, Kiew und Berlin. Stationen führen sie auch nach Südafrika, wo sie 2011 ein Jahr lang Kurzfilme, Dokumentationen und Social Spots für NGOs dreht. 2013 nimmt sie das Regiestudium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) auf und inszeniert Kurzfilme, die auf internationalen Filmfestivals ihre Premiere feiern. 2016 beginnt Gehring die Arbeit an ihrem Langfilm-Debüt „Nico", der 2021 bei seiner Weltpremiere im Wettbewerb des 42. Filmfestival Max Ophüls Preis den „Nachwuchs-Schauspielpreis" für Sara Fazilat in der Hauptrolle gewinnt. Im Jahr 2022 steht „Nico" in der Vorauswahl für den Deutschen Filmpreis.

9.5.22

Meine schrecklich verwöhnte Familie


Frankreich 2020 (Pourris Gâtés) Regie: Nicolas Cuche, mit Gérard Jugnot, Camille Lou, Artus, 95 Min., FSK: ab 6

Die schrecklich französische Filmklamotte „Meine schrecklich verwöhnte Familie" blödelt wieder, bis es weh tut: Die drei erwachsenen Kinder des Millionärs Francis Bartek (Gérard Jugnot) sind Karikaturen extrem verwöhnter Gören: Das dämliche Töchterchen Stella (Camille Lou) shoppt und feiert Party. Philippe (Artus) macht nur auf Casanova, mit Mutter und Töchtern gleichzeitig. Alexandre (Louka Méliava) haut das Geld mit extrem bescheuerten Geschäftsideen raus. Verzweifelt täuscht Papa mit groß inszeniertem Polizei-Einsatz vor, sein Vermögen verloren zu haben. Es bleibt scheinbar nur die Flucht in eine verfallene Hütte bei Marseille. Billige Scherzchen der überkandidelten „Rich Kids" angesichts von Spinnenweben und staubiger Matratzen sind nur der Anfang einer extrem unrealistischen und überzogenen Suche nach Arbeit und Geld. Im unnötigen Drama am Ende macht sich der peinliche Film auf völlig geschmacklose Weise über einen gebärdensprechenden Menschen lustig.

3.5.22

Doctor Strange in the Multiverse of Madness

USA 2022, Regie: Sam Raimi, mit Benedict Cumberbatch, Chiwetel Ejiofor, Elizabeth Olsen, 126 Min., FSK: ab 12

Oh, hehre Superhelden voller Kraft, füllet die Kinokasse mit Geld und Saft... Nein, es gibt keine Verse mit wechselndem Versfuß im Multiverse. Wäre Kassengift, wenn auch nicht viel weniger kompliziert als das unverständliche MCU-Konstrukt von Marvel. Halten wir es also übersichtlich: Benedict Cumberbatch kämpft als Doctor Strange gegen die wahnsinnig böse Wanda, beide verdoppelt und verdreifachen sich. Das wirklich Sensationelle ist, dass Grusel-Meister Sam Raimi aus der Marvel-Routine eine grandiose Geschichte voller Überraschungen macht.

Das wird nun zum Standard fürs Multiversum (früher sagte man Paralleluniversum), egal ob bei Marvel oder letzte Kinowoche in „Everything Everywhere All at Once" mit Michelle Yeoh: Irgendwann rasen die Figuren durch zahllose Parallelwelten und es ist aberwitzig komisch, wie sie darin für Sekundenbruchteile aussehen. Mal als Knetfiguren, mal als Penata, dick, dünn, alles ist drin. Doch noch viel komischer ist, wenn Regisseur („Evil Dead", „Tanz der Teufel") Benedict Cumberbatch im Finale als Zombie-Version von Doctor Strange auftauchen lässt.

Doch zurück zum Anfang: Frisch aus einem fiesen Albtraum aufgewacht, erlebt Dr. Stephen Strange (Benedict Cumberbatch) bei der Hochzeit seiner geliebten Christine Palmer (Rachel McAdams) mit einem anderen, dass auch der andere Albtraum wahr wird. Ein tolles einäugiges-achtarmiges Polypenmonster verfolgt America Chavez (Xochitl Gomez) durch die Straßenschluchten. Denn das junge Mädchen hat die Fähigkeit, von einem ins andere Paralleluniversum wechseln zu können. Und jemand möchte ihr diese Macht rauben. Strange findet schnell heraus, dass „jemand" Wanda Maximoff (Elizabeth Olsen) ist, die sich so verzweifelt Kinder wünscht, dass sie dafür zur dunklen Hexe Scarlet Witch wurde. Der kebbelnde Zauberkumpel Wong (Benedict Wong) versammelt alle Magier um sich, doch auch zusammen können sie America nicht schützen. Im letzten Moment fliehen Strange und das Mädchen in ein anderes Universum.

So weit, so Marvel mit einer deftigen Zauber-Schlacht und bekannten Gesichtern. Aber die Figuren tragen nach unzähligen Filmen alle auch einen ganz dicken Rucksack Tragik und Verluste mit sich rum. Was besonders Wanda nicht gut bekommen ist und die Figur bis ins mutterherzzerreißende Finale interessant macht. Strange versucht derweil in mehreren Universen seine Liebe zu Christine in gute Bahnen zu lenken. Diese ganzen Details für Marvel-Junkies werden übertrumpft vom Raimi-Stil. Das Superhelden-Getue bleibt dosiert, der Fantastische Film wird immer düsterer. Fast wähnt man sich bei Guillermo del Toro, doch Regisseur Raimi setzt mit Geisterhaus und Zombie eindeutige Duftmarken. Dazu ein tolles Spiegelkabinett-Kabinettstückchen, in denen das Böse aus Spiegelflächen nach einem greift. Jean Cocteau grüßt mit seinem „Orpheus". Oder ein Zauberduell zwischen Strange und Strange mit Musiknoten als Waffen. Genial auch, wie Professor Charles Xavier den wahnsinnigen Verstand von Wanda besucht. Richtig, Patrick Stewart mischt sich auch ein!

Also packende, einfallsreiche und ungewöhnliche Unterhaltung, die auch nur ganz knapp die Zweistunden-Grenze reißt. (Wenn auch die Figurenentwicklung so interessant ist, dass man gleich noch mal die schräge Serie „Wanda Vision" sehen muss!) „Doctor Strange in the Multiverse of Madness" beweist, dass kreative Geister wichtiger sind, als absurde Konzern-Konstrukte.