25.1.22

Licorice Pizza


USA 2021, Regie: Paul Thomas Anderson, mit Cooper Hoffman, Alana Haim, Sean Penn, Tom Waits, Bradley Cooper, 133 Min.

Was für eine wunderbare und endlos lange Eingangs-Sequenz, in der sich Gary Valentine (Cooper Hoffman) und Alana Kane (Alana Haim) zu Nina Simones „July Tree" kennenlernen! Er steht in der Schlange für das High School-Foto, sie hält ihm im Gehen den Spiegel. Paul Thomas Anderson halt. Auch wenn der Macher von „Magnolia", „Boogie Nights" und „The Master" diesmal wieder alles anders macht, die Handschrift ist unverkennbar.

Das Problem bei Gary und Alana: Er ist 15 und sie 25. Was dem Kinder-Schauspieler mit enormem Selbstbewusstsein nichts ausmacht. Sie staunt amüsiert und kommt abends doch zum Date, das keines ist. „Licorice Pizza" als Liebesgeschichte dieses ungewöhnlichen Paares zu erzählen, würde dem in vielen Facetten schillernden Film-Diamanten von Paul Thomas Anderson nicht gerecht werden. Der milde Rückblick auf eine Jugend im San Fernando Valley von 1973 ist ebenso leicht wie kunstvoll gelungen. Vier Jahre nach seinem Oscar-Film „Der seidene Faden" kehrt Paul Thomas Anderson in die Zeit und den LA-Stadtteil seiner Jugend zurück. Wie Balladen meist das Beste von Hardrockern zeigen, ist dies ohne das emotionale Feuerwerk von „Magnolia" oder die groß ausgestellte Filmkunst von „The Master" eines der leisen Meisterwerke.

Mit großer Lässigkeit eröffnet Gary – wieder mit einer traumhaften Plansequenz – einen bald enorm erfolgreichen Laden für Wasserbetten. Der Jugendliche, dessen Eltern immer mit Geschäften beschäftigt sind, wird durch die Ölkrise ausgebremst. Doch über einen neuen Job als Kameramann bei einem Politiker erfährt er von der baldigen Legalisierung der Flipper-Kästen in Kalifornien und macht den ersten Pinball-Laden der Gegend auf.

Doch all dies läuft nur als Hintergrund aberwitziger oder traumhafter Szenen mit. Wie die Ausstattung mit viel Mode und Gimmicks, die heutzutage heiß begehrt sind. „Licorice Pizza" ist mehr Stimmung als Geschichte im Sinne vom „Plot" logisch aufeinander folgender Ereignisse. Dabei gibt es Szene für Szene mal stimmungsvolle, mal absurde Glanzpunkte. Die großen Stars habe ihre Auftritte in besonders schrägen Episoden: Sean Penn gibt den selbstverliebten Filmstar Jack Holden, der versucht, Alana zu verführen. Tom Waits seinen alten Kumpel Rex Blau, der mitten in der Nacht einen Vietnam-Actionstunt auf einem Golfplatz re-inszeniert. Während diese lächerlichen alten Säcke viel Theater machen, aber ungefährlich bleiben, hat Bradley Cooper („Nightmare Alley") den wirklich wahnsinnigen Part von Barbara Streisands Partner Jon Peters.

Die Teenager vergnügen sich derweil mit kleinen Eifersucht-Szenen, denn es dauert eine Weile, bis Gary und Alana zusammenkommen. Der Darsteller des gewitzten Jung-Schauspielers Gary ist Cooper Hoffman, Sohn der verstorbenen Schauspiellegende Philip Seymour Hoffman. Er hat eindeutig dessen Talent geerbt. Die schlaksige Alana wird von der Grammy-nominierten Musikerin Alana Haim aus der Schwesternband Haim gespielt – ein Naturtalent, das Anderson bereits in mehreren Kurzdokus begleitet hat. Übrigens spielen auch die beiden anderen Schwestern und die Eltern Haim in „Licorice Pizza" mit. Einen weiteren realen Bezug hat der nach eine kalifornischen Plattenladen-Kette genannte Film in der Vorlage für Gary: Es ist andeutungsweise das Porträt des jungen Schauspielers Gary Goetzman, der später als Produzent unter anderem für „My Big Fat Greek Wedding" und „Mamma Mia" bekannt wurde.

Für die poppige Augenschmaus-Ausstattung sorgte der Oscar-Sieger für „Der seidene Faden", Mark Bridges. Die wunderbaren Bilder voller Sehnsucht und Melancholie nahm Anderson wieder selbst als Kameramann (zusammen mit Michael Bauman) auf. Die seligmachende Leichtigkeit dieser 70er Jahre-Stimmung, die „Licorice Pizza" heraufbeschwört, ist dabei das größte Kunststück dieses Ausnahme-Regisseurs.

Charlatan


Tschechien, Irland, Slowakei, Polen 2020, Regie: Agnieszka Holland, mit Ivan Trojan, Josef Trojan, Juraj Loj, 118 Min., FSK: ab 16

Der tschechische Naturheilkundler Jan Mikolášek (1889-1973) diagnostizierte Krankheiten und rettet Leben nur auf Basis von Urinproben und seinen vier Kräutermischungen. Hunderte Patienten stehen Tag für Tag Schlange vor seiner Villa. Mikolášek (Ivan Trojan) verschreibt See-Luft wegen Vitamin D-Mangel und bezahlt einer armen Mutter gleich den Aufenthalt. Nach dem Tod von Staatspräsidenten Zápotocky 1957 wird der Heiler, der unter den Nazis und im Stalinismus mächtige Freunde finden konnte, zum Feind des Kommunismus erklärt. Wegen seines Wohlstandes und des amerikanischen Autos, wie die Parteizeitung das „Orakel des Urins" beschuldigt.

Ehemalige Patienten aus den Ministerien warnen ihn, doch er will nicht ins Ausland. Auch auf seinen Assistenten und Geliebten František (Juraj Loj), der seit Jahren heimlich mit ihm zusammenlebt, hört der eigenwillige Mikolášek nicht.

Die namhafte polnische Regisseurin Agnieszka Holland („Hitlerjunge Salomon" 1989, „Die Spur" 2017) porträtiert den tschechischen Wunderheiler Jan Mikolášek nicht in einer glänzenden Hagiographie. Die Berühmtheit weiß zwar enorm viel und erkennt Erstaunliches, doch er ist mit Anfällen von Wut und Sadismus eine zerrissene Persönlichkeit. Furchtbare Kriegserfahrungen liegen dem zugrunde, auch die Erlebnisse um eine drohende Amputation eines Beines bei seiner Schwester.

Nach einigen Hollywood-Ausflügen und der dramatischen Biografie über den britischen Journalisten Gareth Jones (1905-35) „Red Secrets - Im Fadenkreuz Stalins" (2019) ist nun der Stalinismus nur eine Randerscheinung dieses auch durch seinen großartigen Hauptdarsteller Ivan Trojan faszinierenden Psychogramms. Dass Mikolášek bis zuletzt ein Rätsel bleibt, spricht hier für diesen Film.

Frau im Dunkeln / Netflix


USA, Großbritannien, Griechenland, Israel 2021 (The Lost Daughter) Regie: Maggie Gyllenhaal, mit Olivia Colman, Dakota Johnson, Peter Sarsgaard, 117 Min., FSK: ab 12

Der einsame Strandurlaub Ledas (Olivia Colman) in Griechenland wird bald von Kinderhorden unterbrochen. Die Literaturwissenschaftlerin fühlt sich nicht gestört, sondern ist besonders von einer Familie fasziniert. Schnell sogar fasziniert vom Anblick eines kleinen Mädchens. Schmerzliche Erinnerungen an ihre eigenen beiden Töchter drängen empor und führen dazu, dass Leda die verlorene Puppe des Mädchens bei sich versteckt.

Die Schauspielerin Maggie Gyllenhaal („Donnie Darko") inszeniert ihr Regiedebüt auf Grundlage des gleichnamigen Romans von Elena Ferrante als herzzerreißendes Drama einer überforderten sowie zwischen Berufung und Mutterpflicht zerrissenen Frau. Die gestohlene Puppe ist Erinnerung und Symbol für Selbstvorwürfe bezüglich der eigenen Mutterschaft. Die leider zu alltägliche Situation gerinnt so zu einem tief bewegenden Psychogramm, das wohl vor allem für Mütter in gleicher Lage heftig sein wird, aber milde mit der Hauptfigur verbleibt.

Station Eleven / Starzplay ab 30.1.


USA 2021 Regie: Hiro Murai, Jeremy Podeswa, Helen Shaver, Lucy Tcherniak, mit Mackenzie Davis, Joe Pingue, Himesh Patel, 10 Folgen von 42-60 Min. 

Die Welt nach der Pandemie – ein großes Thema und Hoffen unserer Zeit. In der Verfilmung des gleichnamigen Romans von Emily St. John Mandel aus dem Jahr 2014 sieht die Welt gar nicht so schlecht aus, nachdem ein Großteil der Menschheit innerhalb von wenigen Tagen an einem Sars-Virus gestorben ist. Den großen Filmstar Arthur Leander (Gael García Bernal) erwischt es während einer Hamlet-Aufführung auf der Bühne. Als Statistin dabei ist das Mädchen Kirsten. In den nächsten Tagen (über-) erlebt die schnell Verwaiste das Sterben in Chicago, inklusive eines spektakulären Flugzeugabsturzes vor dem Hochhaus, in dem sie sich vor den Viren verbarrikadiert. Zwanzig Jahre später reist Kirsten (Mackenzie Davis) mit der Shakespeare-Wandertruppe „Travelling Symphony" als Familie durch die Reste von Menschheit und Kultur. Sie spielt jetzt Hamlet und ist Anführerin. Der Retter von damals gibt den Geist von Hamlets Vater.

Kirstens eindrucksvolle Schicksal ist nur ein Strang der in mehreren Zeitebenen erzählten Geschichten von „Station Eleven". Zentral dabei Miranda Carroll (Danielle Deadwyler), die unglückliche Geliebte von Leander und Zeichnerin des prophetischen Comics „Station Eleven", nach dem die grandios packende zehnteilige Serie benannt ist. Miranda organisiert etwas autistisch internationale Speditionen und verpasst wegen der Arbeit die letzten Minuten mit der Liebe ihres Lebens. Ein rettendes Schiff verpasst sie wiederum durch die Nachricht von Alexanders Tod.

Die Verbindungen und die Wege der Wandertruppe bleiben auch nach drei Folgen geheimnisvoll spannend. Die tödliche Pandemie, von der man eigentlich nichts hören will, wird im Vorher/Nachher und unter Auslassung der üblichen Katastrophen-Bilder sanft umspielt. Was alles an Dramatischem passiert ist, zeigt sich erst später in den verschachtelten Rückblenden. Die Zukunft bringt ohne Verbrennungsmotoren und Smartphones eine meist idyllische Ruhe. Kirsten jedoch bleibt erstaunlich wachsam und gefährlich misstrauisch.

„Station Eleven" begeistert als Dystopie und Liebesfilm einer anderen Art. Die Ausstatter leisteten eindrucksvolle Arbeit an der Zukunft, ohne sich nach vorne spielen zu wollen. Mackenzie Davis („Irresistible – Unwiderstehlich", „Terminator: Dark Fate", „Halt and Catch Fire") gibt eine enorm starke und geheimnisvolle Kirsten als Zentrum des mitreißenden Geschehens.

Schattenstunde


Deutschland 2021 Regie: Benjamin Martins, mit Christoph Kaiser, Beate Krist, Sarah Palarczyk, 78 Min., FSK: ab 12

Wie der heute wesentlich bekanntere Schauspieler Heinz Rühmann wurde auch der in Vergessenheit geratene Schriftsteller Jochen Klepper (1903-1942) vor die von Goebbels verordnete Entscheidung Beruf oder Ehe (mit einer jüdischen Frau) gestellt. Der sehr religiöse Christ Klepper verweigerte die Scheidung, Adolf Eichmann verwehrte die Ausreise von Frau und Stieftochter. Darauf brachte sich die Familie im Dezember 1942 um. Auf Basis von Kleppers Tagebuch entstand „Schattenstunde" als abgefilmtes, hölzernes Theater der letzten Lebensstunden mit ein paar Effekten. Die Mauern des Zimmers schieben sich bedrohlich zusammen, immer wieder meint flackerndes Licht „dunkle Zeiten". Mit dem religiösen Aberglauben an ein Leben nach dem Tod, wird das jetzige trotz drohender Vernichtungslager recht leicht aufgegeben. An sich äußerst spannende Situationen und eine atemberaubende Entscheidung wirken hier wie schwer nachvollziehbares Polittheater.

Marvel's Hit-Monkey


USA 2021 (Hit-Monkey) Regie: Neal Holman, 10 Episoden von 22–27 Min.

Marvel-Fans aufgepasst: Die Nettigkeiten überzogener Großproduktionen sind vorbei, die Animation „Hit-Monkey" gibt filmisch und gewaltig seinem keineswegs jugendfreien Äffchen Zucker: Mit der Kaltschnäuzigkeit eines „Deadpool" ermordet der Killer Bryce einen hoffnungsvollen japanischen Politiker, der das korrupte Establishment angreift. Um kurz darauf im Gebirge von seinen Auftraggebern überfallen zu werden. Ein Rudel Schneemakaken rettet ihn, vor allem ein junger Schneeaffe ist von Bryces Waffen begeistert. Nachdem eine Organisation den Killer und auch die Affenfamilie brutal niedermetzelt, macht sich der einzig Überlebende Makake mit Bryces Sonnenbrille und Maschinengewehren auf nach Tokyo. An seiner Seite der Geist des Amerikaners, der nie aufhört zu schwätzen, aber auch den Lehrer des unerfahrenen Rächers gibt.

Ein Makake, „der eindeutig Aggressionsprobleme hat" (Bryce), im Blutrausch. Das klingt nicht nur nach Tarantino, das sieht trotz Animation auch so aus. Mit der Brutalität von Yakuza-Filmen und der ironischen Sprücheklopferei eines – ebenfalls toten – Deadpool begeistert „Marvel's Hit-Monkey" mit der Hemmungslosigkeit, die sich zwar Comics, aber so gut wie nie die Comic-Verfilmungen von Marvel erlauben.

Die Animationen schwanken zwischen eckigen Charakterzeichnungen und teils grandiosen Szenen. „Pollock mit Blut gemalt", nennt der in der ersten Folge verstorbene Held diese. Die Kombination eines Affen, der nicht sprechen kann und eines toten Killers, der sich den Mund fusselig redet, sorgt auch für reichlich Humor.

18.1.22

Nightmare Alley


USA, Mexiko, Kanada 2021, Regie: Guillermo del Toro, mit Bradley Cooper, Cate Blanchett, Toni Collette, Willem Dafoe, 150 Min., FSK: ab 16

Es ist eine faszinierende Welt, in die der flüchtige Stanton Carlisle (Bradley Cooper) Anfang der 30er Jahre eintaucht: Spontan folgt er am Bahnhof einem kleinwüchsigen Mann und sieht auf einem Jahrmarkt Akrobaten, Hellseher und vor allem ein im Käfig gehaltenes Monster. Ein Sturm zieht auf, so ist Stantons Hilfe erwünscht. Später arbeitet sich der charismatische Mann vom Gehilfen zum Teil der Show hoch und lernt die Menschen der reisenden Zirkustruppe kennen. Mit der Hellseherin Zeena (Toni Collette) beginnt er eine Affäre, und von ihrem Mann, dem versoffenen Mentalisten Pete (David Strathairn), lernt er die Tricks des Wahrsagens.

Verliebt ist Stanton allerdings in die junge Molly (Rooney Mara) und peppt mit guten und makabren Ideen ihre Elektrizitäts-Show auf. Nachdem Pete gestorben und sein Schüler in den Besitz des Notizbuchs mit allen Geheimnissen der Branche gelangt ist, flieht dieser mit Molly nach New York. Zehn Jahre später hat der Verführer eine eigene, edle Show mit Molly als Assistentin und einen Clark Gable-Schnurrbart.

Man nennt „Nightmare Alley" treffend die albtraumhafte Umkehrung des amerikanischen Traums. Guillermo del Toro („The Shape of Water: Das Flüstern des Wassers", „Pans Labyrinth") ist als Regisseur des Fantastischen und des Albtraumhaften prädestiniert für die Verfilmung von William Lindsay Greshams gleichnamigen Roman. Obwohl im Gegensatz zur ersten Leinwand-Adaption von 1947 (mit Tyrone Power als Stanton und Coleen Gray als Molly) in Farbe fühlt sich die Neufassung tief düster an. Wobei nicht das zur Schau gestellte Monster, dessen einsame Menschlichkeit bloßgelegt wird - siehe „Der Elefantenmensch" von Lynch - die Attraktion ist, sondern der Show-Mann, der ein einer dramatischen, in jedem Moment packenden Handlung zum Monster wird. 

Del Toros „Nightmare Alley" wartet mit sagenhaft guten Schauspielern in ikonischen Szenen auf, die es sicher alle beim jeweiligen Ableben in die Best of-Montage schaffen. Willem Dafoe („The French Dispatch", „Der Leuchturm") beispielsweise ist der unheimliche Direktor der Zirkus-Truppe mit einer Sammlung von Embryos. Trotz der obskuren Wirkung düsterer Charaktere bleiben sie mit geheimnisvoller Vergangenheit ambivalent. Besonders der charmant-gefährliche Stanton Carlisle von Bradley Cooper („A Star is Born", „American Hustle"): Stan sehen wir am Anfang bei einem vermeintlichen Verbrechen. Ein Körper wird unter die Bodenbretter eines Raums geworfen, dann zündet der Mann das Haus an. Ein Moment, an den fortan jedes Herdfeuer und jede der vielen angezündeten Zigaretten erinnert.

Wenn nicht das elegante Styling von Cate Blanchett als Raucherin Dr. Lilith Ritter jede Aufmerksamkeit und den Verstand raubt. Sie ist die tödliche, blonde Verführerin aus der Schwarzen Serie, diesmal als einflussreiche Psychiaterin der Reichen und Mächtigen New Yorks. Die will Stanton mit ihr zusammen ausnehmen. Ein gefährliches Spiel.

Der auf eindrucksvolle Weise in seine Welt saugende „Nightmare Alley" ist der bislang am wenigsten fantastische Film Guillermo del Toros. Er spielt mit dem Reiz der Mentalisten, der Vorstellung, die Mitmenschen „lesen" zu können, die auch die Serie „The Mentalist" mit Simon Baker antreibt. Der „Menschenleser" und die Psychiaterin bilden ein Team mit reizvollem Gedankenspiel: Sind beide Scharlatane oder basiert auch die Arbeit des Mentalisten auf fundierte Kenntnis der Menschen? Del Toro jedenfalls muss sie (mit seiner Koautorin Kim Morgan) haben. In keinem Moment entkommt man seiner Verführung und seinen ausgefeilten (Film-) Tricks.

Sing - Die Show Deines Lebens


USA, Frankreich, Japan 2021 (Sing 2) Regie: Garth Jennings, mit den Stimmen von Reese Witherspoon, Matthew McConaughey, Scarlett Johansson 110 Min., FSK: ab 0

Mit diesem grandiosen Nachfolger des musikalischen Trickfilm-Spaßes um eine tierische Show-Truppe wird das Gesetz des schwachen Zweiten Teils in einem Tsunami toller Bühnen-Nummern hinweggefegt. „Sing 2" ist noch besser und vor allem im Vegas-Stil gigantischer als der erste Hit.

Nachdem Koala Buster Moon und seine „All Stars" zur erfolgreichen Show-Truppe wurden, reizt sie nun der Verriss einer Agentin zum großen Schritt nach Las Vegas. Der üble Show-Promoter Mr. Crystal gibt ihren dort drei Wochen für eine kosmische Shownummer, die das chaotische Schwein Gunter in Sekunden zusammengestammelt hat. Allerdings kann „Pigs in Space" nur stattfinden, wenn Buster der Rock-Legende Clay Calloway (Bono) aus dem Bühnen-Exil holt.
 
Ein Weltraum-Musical mit Laser-Schwertern, ein Elefanten-Mädchen mit Kaninchen-Combo im musikalischen Wunderland. Dazu ein alter Showbiz-Löwe und der an sich schon abgedrehte Glimmer von Vegas noch einmal durch die überdrehte Gag-Maschine von Regisseur Garth Jennings gedreht (auch die Stimme der einäugigen Chamäleon-Sekretärin Miss Crawly)... „Sing 2" ist ein Feuerwerk bunter und oft umwerfend komischer Ideen. Mit einem grandiosen Komödien-Timing, das beweist: Es muss nicht immer wahnsinnig schnell sein. Hier scheint Jennings („Der Sohn von Rambow", „Per Anhalter durch die Galaxis") ein Geistesverwandter von Buster Moon zu sein, der ja auch nur die gute, alte Broadway-Show am Leben erhalten will. Ebenfalls für die Älteren und die Großeltern sind die bekannten Hits, zu denen die Buster-Truppe ihre Nummern aufführt.

Bei der Ausführung verdient sich das Illumination-Studio von „Ich – Einfach unverbesserlich", „Minions" und „Pets" erneut Bestnoten. So ist schon das unvermeidliche Casting figürlich und optisch völlig irre: Warzenschweine führen ein Ballett auf, Neon-Flamingos tanzen auf Rollschuhen, Stiere singen „Beauty and the beast". Dann in der großen Show tausende steppende Putzmäuse. Da werden einige echte Vegas-Produzenten feuchte Träume bekommen. Auch ästhetisch ist „Sing 2" zum einen aufs Feinste und zum andern ein absoluter Knaller.

Für die Umsetzung der zahllosen super Ideen müssen nicht nur die Stimmen der berühmten Schauspieler im Original, sondern auch unbedingt die hunderten Animations-Künstler gefeiert werden.

Eine Nacht in Helsinki


Finnland 2020 (Yö Armahtaa / Gracious Night) Regie: Mika Kaurismäki, mit Timo Torikka, Kari Heiskanen, Pertti Sveholm, 90 Min., FSK: ohne Angabe

Es ist der 1. Mai in Helsinki, also Feiertag. Aber wegen Corona-Lockdown nichts los, kennt man ja. Trotzdem finden sich in der eigentlich geschlossenen Kneipe des frustrierten Wirts Heikki zwei Männer ein. Der schwer erschütterte Arzt Risto kommt von seiner Schicht und will noch nicht nach Hause. Ein Sozialbeamter ist auf anderer Flucht: Als er sich dem gewalttätigen Ex seiner Freundin in den Weg stellen wollte, bekam er zuerst Prügel, aber ließ den stärkeren Gegner so stürzen, dass der nun tot ist.

Ausgerechnet Mika, der „kleinere" Kaurismäki, der gerne Roadmovies in aller Welt dreht („Helsinki Napoli All Night Long"), muss wegen Corona ein Kammerspiel inszenieren. Aus Dubai wurde Helsinki, die Bar gehört den Brüdern Aki und Mika. Sie heißt – man sieht es kurz - tatsächlich „Corona". An sich eine traurige Sache, dieser Film macht es nicht fröhlicher. Nach langem Anlauf ergeben sich Finger- oder besser: Mundübungen für erfahrende Darsteller. Das Lamento des Wirtes, der um seine Bar bangt. Eine philosophische Diskussion über Selbstverteidigung oder Selbstjustiz, Rächer oder Retter. Sowie ein emotionales und klärendes Beziehungsgespräch. Fertig ist der wenig interessante Film.

In Liebe lassen


Frankreich, Belgien 2021 (De sont vivant) Regie: Emmanuelle Bercot, mit Catherine Deneuve, Benoît Magimel, Gabriel Sara, Cécile de France, 124 Min., FSK ab 12

Das letzte Jahr eines krebskranken Schauspiellehrers ist im Drama „In Liebe lassen" eine harte emotionale Prüfung, effektvoll verkörpert in den Rollen des Sterbenden (Benoît Magimel) und denen seiner Nahestehenden (Catherine Deneuve, Cécile de France). Das zeitweise überstrapazierte Mitempfinden wird aufgefangen vom Hospizdoktor und Laiendarsteller Gabriel Sara, der den Film mit dokumentarischen Elementen herausragend macht.

Eine erschütternde Erfahrung für eine Krankenschwester beim Sterben ihres Patienten steht am Anfang: „Schmerz, Schuld, Einsamkeit" sind die Worte, mit denen das Pflegepersonal seine Gefühle beschreibt. Der Onkologe Dr. Eddé (Dr. Gabriel Sara), der diese Therapie-Sitzung für Pflegende leitet, schlägt einen Perspektiv-Wechsel vor, um die Ohnmacht gegenüber dem Tod zu überwinden. Nicht das Sterben sei das Entscheidende, die restliche Zeit mit dem Patienten sei das Wertvolle, das sie geben würden. Daraufhin stimmt er „Lean on me" (Stütze dich auf mich) selbst auf der Gitarre an, die Belegschaft singt erleichtert mit.

Dementsprechend lautet Dr. Eddés Vorschlag an den unheilbar an Bauchspeicheldrüsen-Krebs erkrankten Schauspiellehrer Benjamin (Benoît Magimel): Wir kämpfen nicht einen aussichtslosen Kampf gegen den Krebs, wir wollen Ihnen den Rest des Lebens gut gestalten. Widerstrebend lässt sich Benjamin auf eine Chemotherapie ein. Noch eine Weile bereitet er seine Schauspielerinnen und Schauspieler auf ihre Aufnahmeprüfungen vor. Abschied ist auch hier Thema, das große Gefühle zeitigen soll. Die Avancen einer jungen Studentin muss er ebenso auf Distanz halten, wie die unbeholfenen Hilfsangebote seiner krampfhaft fürsorglichen Mutter Crystal (Catherine Deneuve). Die ruft von schlechtem Gewissen getrieben endlich Benjamins ehemalige Freundin und deren Sohn an. Den Sohn, den er nie kennenlernt, weil Crystal ihm einst davon abriet.

Das letzte Jahr Benjamins wird aufgeteilt in vier Jahreszeiten, jeweils eingeleitet von den therapeutischen Sitzungen Dr. Eddés und seines Personals. „In Liebe lassen" ist der zweite Film der Regisseurin, Schauspielerin und Autorin Emmanuelle Bercot („Standing Tall/La tête haute", 2015) mit Catherine Deneuve und Benoît Magimel. Eigens für diese Stars schrieb sie mit ihrer Ko-Autorin Marcia Romano das Drehbuch. Auch Cécile de France („Der Junge mit dem Fahrrad") hat als verliebte Krankenschwester eine starke kleine Rolle. Typische Klischee-Bausteine wie die Abschiedsgeschichte mit dem unbekannten Sohn, der zu wenig Zeit hat, seinen Vater noch kennen zu lernen, machen „In Liebe lassen" zu einem emotionalen Schwergewicht. Dabei wollen die Geiger und stark bedeutungsvolle Songs („Let my people go") mit Gewalt noch mehr Gefühle rauskitzeln.

Im Gegensatz dazu gibt es die nahe am Dokumentarischen spielenden Einsichten über den Prozess des Abschieds. Letztere sind tatsächlich die Interessanteren. Dazu passt, dass der Laien-Darsteller Dr. Gabriel Sara als Dr. Eddé durch seine enorme Empathie und Freundlichkeit locker mit den großen Stars mithält. Catherine Deneuve spielt Benjamins Mutter, die große Szenen liebt. Der wahre Star ist jedoch der New Yorker Onkologen und Laiendarsteller Dr. Gabriel Sara, der die Deneuve in die Schranken weist. Er äußert bittersüße Wahrheiten über das unvermeidliche Sterben. Oder fünf einfache und sehr kurze Sätze, mit denen sich der Sterbende von den Liebsten verabschieden kann. Es sind esoterische Sprüche, über die man nachdenken kann. Wie „den Schreibtisch des Lebens aufräumen", was die Handlung mit dem Auftauchen des vergessenen Sohnes vorantreibt. Etwas mehr Aufgeräumtheit hätte auch dem des Guten übervollen Film gutgetan.

Niemand ist bei den Kälbern

Deutschland 2021, Regie: Sabrina Sarabi, mit: Saskia Rosendahl, Rick Okon, Godehard Giese, 116 Min., FSK: ab 16

Christin (Saskia Rosendahl) ist eine ziellose jungen Frau in landwirtschaftlicher Einöde eines Hochsommers mecklenburgischer Provinz. Sie lebt auf dem Bauernhof ihres langjährigen Freundes Jan (Rick Okon), verführt aber schnell und emotionslos den Windkraftingenieur Klaus (Godehard Giese) aus Hamburg. Immer ist Kirschschnaps zum Greifen nah und durch den älteren Ingenieur bewegt sich Christin endlich zum Aus- und Aufbruch.
Der Versuch, Ereignislosigkeit als Milieustudie interessant über Spielfilmlänge auszubreiten, misslingt hier fast komplett. Ausführliches Melken und anderes Ödes machen weder Gesellschafts- noch Landschaftsbild. Beim 74. Internationalen Filmfestival Locarnos gewann Saskia Rosendahl 2021 als Beste Schauspielerin verdient einen Silbernen Leoparden in dem ansonsten dürren Drama, bei dem einem wieder „Berliner Schule" als Schimpfwort einfällt.

12.1.22

Pleasure


Schweden, Niederlande, Frankreich 2021, Regie: Ninja Thyberg, mit Sofia Kappel, Evelyn Claire, Dana DeArmond, 109 Min., FSK: ab 18

Dieses „A Porn-Star is Born" ist entgegen dem Titel kein Vergnügen. Wie die 19-jährige Schwedin Linnéa in Los Angeles als „Bella Cherry" Pornostar werden will, zeigt klar den Gegensatz zwischen nette Regisseurin sowie Crew und brutalen Szenen beim Hardcore am Set. Das könnte ein Lehrfilm für Gewerkschaften sein, da „Pleasure" anders als „Starlet", mit der Dichter-Enkelin Dree Hemingway, keinen interessanten Stil zeigt. Auf Psychologisierung verzichtet der Film beim gnadenlosen Aufstieg ebenfalls. Dafür gibt es deutliche körperliche Details wie Vaginal-Dusche und Porno-Produzent Mark Spiegler sowie einige Akteure spielen sich selbst.

   

11.1.22

Égalité


Deutschland 2021, Regie: Kida Khodr Ramadan, mit Susana Abdulmajid, Dunya Ramadan, Momo Ramadan, 80 Min., FSK: ab 12

Als lässig liebevoller Vater weckt Attila (Burak Yigit) seine Kinder; am Abend ist er ratlos, wütend und unberechenbar, nachdem seine 14-jährige Leila (Dunya Ramadan) bei einer Mandeloperation erblindet. Der bekannte Schauspieler Kida Khodr Ramadan („4 Blocks", „Man from Beirut" und hier als Praxishilfe zu sehen) verfolgt in seiner zweiten Regie (nach „In Berlin wächst kein Orangenbaum") das Zerbrechen eines Vaters an einem Schicksalsschlag und an erlebtem Rassismus. 

Sind die teils unfassbaren Reaktionen solche, von Arzthelferinnen ohne Mitgefühl oder schon Rassismus? Hängen die Abweisungen des Hilfesuchenden bei der Ärzteschaft mit dem nicht kartoffel-deutschen Nachnamen zusammen?

Nach diesem heftigen Ereignis vor allem für Eltern kümmert sich der Vater nicht um die eigentliche Blindheit, sondern will einen Schuldigen finden und wird zum Hunnen. Im Mittelpunkt steht der rasende Mann, nicht das blinde Kind.

Tolle Darsteller, eine gute Handkamera nahe an Gefühl und Milieu packen. Burak Yigit – dies ist sein Film - zeigt ein sympathisches Lachen, das sich zur Bitterkeit wandelt. Die Rolle der Leila übernahm Kida Ramadans Tochter Dunya Ramadan, den kleinen Nuri stellt sein Sohn Momo Ramadan dar. Eine effektvoll inszenierte Geschichte.

Gloria Mundi - Rückkehr nach Marseille


Frankreich, Italien 2019, Regie: Robert Guédiguian, mit Ariane Ascaride, Jean-Pierre Darroussin, Gérard Meylan, Anaïs Demoustier, 107 Min., FSK: ab 12

Robert Guédiguian ist mit Ken Loach einer der letzten Arbeiter-Regisseure. Die wunderbar berührenden Sozialdramen, die er seit fast vierzig Jahren meist in seiner Heimatstadt Marseille und mit seiner Ehefrau Ariane Ascaride, sowie Gérard Meylan und Jean-Pierre Darroussin dreht, sind so nah dran am echten Leben, wie kaum andere Filme. Dazu hat jeder dramatisches Potential, aus dem Hollywood mehrere Blockbuster machen würde.

Diesmal ist es Daniel (Gérard Meylan), der als alter Mann aus dem Gefängnis entlassen wird, um seine gerade geborene Enkelin Gloria zu sehen. Seinen Platz neben Sylvie (Ariane Ascaride) übernahm der Busfahrer Richard (Jean-Pierre Darroussin), der auch Daniels Tochter Mathilda (Anaïs Demoustier) neben der eigenen Aurore großzog. Das „Familienglück" ist eigentlich ein Familienkampf ums wirtschaftliche Überleben: Sylvie putzt nachts auf Schiffen, Mathilda hasst ihren Job als Verkäuferin. Ihr Mann Nicolas kann den Kredit für den Luxuswagen nicht abzahlen, nachdem ihm brutale Diebe den Arm mit einem Baseball-Schläger brachen und er nichts mehr als Uber-Fahrer verdient. Nur Aurore und ihrem Mann Bruno geht es gut, weil sie die Ärmsten auf unverschämte Weise in ihren Pfandhäusern abziehen und mit selbstgedrehten Pornos dazuverdienen. Dazu hat Bruno eine seiner Affären mit der frustrierten Mathilda, die auf einen Posten als Geschäftsführerin in seinem nächsten Pfandshop hofft.

„Gloria Mundi" ist ein großes Drama mit echten Menschen, sogar echt arbeitenden Menschen, über eine Welt, die keineswegs glorios ist. Die Straßenszenen sind quasi-dokumentarische Aufnahmen, der soziale Verfall des geliebten Marseilles wird immer mitgefilmt. Ein auf- und berührendes Meisterwerk von Guédiguian - wieder einmal.

Antlers / Disney+


USA 2021, Regie: Scott Cooper, mit Keri Russell, Jesse Plemons, Jeremy T. Thomas, Graham Greene, 100 Min., FSK: ab 16

Als die kriminellen Weaver-Brüder beim Meth-„Brauen" im Schacht einer ehemaligen Bergbaustadt unheimliche Geräusche hören, ist mal nicht der übliche Indianer-Friedhof Grund für das bald folgende Horrorhaus. Doch die Mythen der „Native Americans" werden zusammen mit deren „Hollywood-Häuptling" Graham Greene aufklären, was den Vater von Lucas Weaver (Jeremy T. Thomas) zum Monster macht. Der schwächliche, in der Schule brutal gehänselte Junge fällt der Lehrerin Julia Meadows (Keri Russel) wegen seiner schreckensreichen Zeichnungen auf. Während sie mit quälenden Familien-Erinnerungen und Alkoholismus kämpft, verfolgt ihr Bruder, der örtliche Sheriff (Jesse Plemons), eine Mord-Serie mit unerklärlich brutal zugerichteten Leichen.

Bei Guillermo del Toro, dem Fantasy Film-Produzent und -Regisseur, ist hochspannender und fein ausgeführter Horror (ohne platte Schreck-Effekte) immer mit politischen und soziologischen Hintergründen verbunden. Seine fantastischen Horror-Regiearbeiten „Pans Labyrinth" (2006) und „The Devil's Backbone" (2001) drehten sich um den wahren Schrecken des Spanischen Bürgerkrieges und der Franco-Diktatur. Nun ist in „Antlers" überdeutlich angedeutet, dass Julia und Paul Meadows, den Missbrauch, den sie als Kinder erlebten, in den Monstrositäten auf dem Dachboden von Lucas' Familie wiedererkennen.

Basierend auf der Kurzgeschichte „The Quiet Boy" von Nick Antosca inszeniert der exzellente Regisseur Scott Cooper („Feinde – Hostiles" 2017, „Black Mass" 2015, „Auge um Auge" 2013, „Crazy Heart" 2009) wieder mit einem Schwerpunkt auf feine Charakterzeichnung und gutem Schauspiel. Vor allem Jesse Plemons fasziniert als stiller Polizist nach seiner Cowboy-Rolle im Golden Globe-Sieger "The Power of the Dog" erneut. Cooper meistert wieder ein anderes Genre.

Was „Antlers", das auf Deutsch Geweih bedeutet und sich im Finale eindrucksvoll erklärt, im alltäglichen Horror-Einerlei so besonders macht, ist gerade das Alltägliche, das Gewöhnliche des Schreckens. Wie schon die frühen Regie-Arbeiten von Del Toro den spanischen Faschismus mit den Mitteln des Fantastischen nachhaltig verständlich und spürbar machten, so ist nun die Vergewaltigung von Kindern („Missbrauch") in der Gestalt des Horrorfilms besonders eindringlich und gleichzeitig überhaupt darstellbar. Die ganze Geschichte hebt sich vom eindimensionalen Fließband-Horror – siehe Indianerfriedhof mit Verfluchtem Haus – durch komplexe Vernetzung ab: Der allgemeine Niedergang einer ehemaligen Bergbaustadt in Oregon, in Folge Drogen-Konsum und Produktion, das Bullying in der Schule, die Ausbrüche von Gewalt – alle das ergänzt sich in einem schlüssigen und packenden Schrecken.

Spencer


Großbritannien, Deutschland, Chile, USA 2021, Regie: Pablo Larraín, mit Kristen Stewart, Jack Farthing, Richard Sammel, 117 Min., FSK: ab 12

Nicht zufällig nennt sich dieser „Diana"-Film fast bürgerlich „Spencer" nach dem Familiennamen der Princess of Wales. Wenn sich Pablo Larraín, der eher sozialistisch und demokratisch interessierte chilenische Regisseur der Anti-Pinochet-Abstimmung „No!", der Freiheitsdichter-Bio „Neruda" und des Kennedy-Dramas „Jackie", nun den Royals zuwendet, dann nicht nur, um die zweijährige Pause von „The Crown" zu überbrücken, in der auch gerade Diana im Mittelpunkt steht. „Spencer" ist ein intensives, zeitweilig surreal überzeichnetes Psycho-Drama im Hause Windsor.

Weihnachten 1991 zieht eine ganze Armee von Köchen ins Schloss Sandringham. Mit Containern voller Hummer und anderem Luxus-Essen wird generalstabsmäßig das Weihnachtsfest der Queen vorbereitet. Alles läuft präzise ab, nur eine ist wieder zu spät: Prinzessin Diana (Kristen Stewart) hat sich verfahren und musste eine Vogelscheuche von ihrer alten Jacke befreien. Seltsam verläuft der Rest des Tages. Von dem militärischen Zeremonienmeister Major Gregory (Timothy Spall), der alle bei Ankunft wiegen will, weil es so Tradition ist. Bis zur schwer erträglichen Kälte im Schloss. Nicht das spürbare emotionale Frösteln ist gemeint, sondern die ganz konkrete Folge der sparsamen Royals. Während die Abfolge von Kleidern für jeden Zeitpunkt des Tages ignoriert wird, sprengt Diana auch und vor allem die Speisefolge: Als bekannte Bulimikerin würgt sie zuerst das Menü runter und dann wieder raus. Umso höhnischer wirkt das Wiege-Ritual auf sie.

Die Vorhänge werden zugenäht, nachdem Diana diese einige Male beim Umziehen nicht geschlossen hatte, zur Freude der Paparazzi. Die Antwort des Rebellen in teuren Kleidchen: „Jetzt lassen Sie mich bitte alleine. Ich will masturbieren." Ganz und gar ist Diana allerdings für ihre beiden Söhne da, die sie vor Kälte und Härte des Königshauses zu bewahren sucht. Vor allem die Sorge um William (Jack Nielen), dem Charles (Jack Farthing) das Schießen beibringen will, und um die Fasanen, die er schießen soll, eskaliert.

Das ganze, nicht nur im Boulevard verhandelte Drama um eine tragische Prinzessin (ohne Disney-Beteiligung) komprimiert Pablo Larraín mit Autor Steven Knight in einigen psychotischen Weihnachtstagen auf dem Windsor-Schloss. Die Verzweiflung der im Golden Käfig gefangenen Diana nimmt dabei wahnsinnige Züge an. Nachdem ihr der mit sadistischer Härte agierende und beängstigend skurrile Wachhund Gregory („I watch and make sure that nobody sees") ein Buch über Anne Boleyn aufs Bett gelegt hatte, erscheint ihr sogar deren Geist (Amy Manson).

Kristen Stewart („Breaking Dawn"-Trilogie, „3 Engel für Charlie") pendelt zwischen ihren eigenen Manierismen und denen der Mensch gewordenen „Candle in the Wind", Diana. Major Gregory ist eine grandiose Rolle für Timothy Spall („Mr. Turner", „Harry Potter"), und Sally Hawkins („Happy Go Lucky", „Shape of Water", „Paddington") berührt als einzig vertrauenswürdige Kammerzofe.

Wenn die Prinzessin über das Personal charakterisiert wird und am Ende ganz bürgerlich beim Drive-In Pommes bestellt, wird die royale Sache mit dem eher sozialistisch denkenden Regisseur wieder rund. Diese Prämisse ist zwar gründlich naiv, aber „Spencer" sieht die fiktive Diana Larraíns als Mittelklasse-Mensch, der an der Aristokratie verzweifelt.

Beim Dreh von „Spencer" wollte die BBC nicht mitmachen, deshalb musste er im deutschen „Exil" stattfinden. Die Berliner „Komplizen Film" von unter anderem Maren Ade („Toni Erdmann", „Alle anderen") produzierte, die Filmstiftung NRW förderte. Schloss Nordkirchen in Nordrhein-Westfalen war so eines des Schloss-Doubles für das Original in Norfolk.

10.1.22

Die Königin des Nordens


Dänemark, Schweden, Norwegen, Island, Tschechien, Polen 2021 () Regie: Charlotte Sieling, mit Trine Dyrholm, Søren Malling, Morten Hee Andersen, Jakob Oftebro, 121 Min., FSK: ab 12

Zum 50-jährigen Thronjubiläum der dänischen Königin Margarethe II. (und erster Regentin auf dem Thron seit 610 Jahren) feiert „Die Königin des Nordens" eine bemerkenswerte Herrscherin: Königin Margarethe (1353-1412) vereinte durch Kriege und geschickte Familien-Politik die nordischen Länder Dänemark, Schweden und Norwegen in der Kalmarer Union (1397–1523). Auf dem Höhepunkt ihrer Macht taucht Margarethes seit 15 Jahren totgeglaubter Sohn Olav (Jakob Oftebro) auf und beansprucht den Thron von Margarethes pommerschen Neffen und Reichs-Erben Erik (Morten Hee Andersen). Ausgerechnet als die Vermählung Eriks mit einer englischen Thronfolgerin im Kindesalter eine weitere Allianz gegen die bedrohlichen Preußen schmieden soll.

Die Schauspielerin und Regisseurin Charlotte Sieling („Kommissarin Lund", „Die Brücke", „Borgen", „Homeland") komprimiert recht klassisch die eindrucksvolle Karriere einer europäischen Politikerin auf wenige Tage einer ziemlich komplexen Staatskrise. Die für skandinavische Filme berüchtigten Ungeheuerlichkeiten menschlichen Wesens reduzieren sich hier auf einen Akt der Machterhaltung: Die Königin opfert den von langer Hand entführten und politisch eingesetzten Olav, die Mutter leidet furchtbar am Schicksal des wiedergefundenen Sohnes. Eine ideale Rolle für Trine Dyrholm („Das Fest", „All you need is Love"), der es ein Leichtes ist, Entsetzen über die unfassbaren Intrigen der Machtpolitik im Gesicht zu spiegeln. Kostüme und Kulissen arbeiten dienstbar mit, bei diesem eher historisch als inszenatorisch interessanten Stück europäischer Geschichte.

Moleküle der Erinnerung - Venedig, wie es niemand kennt


Italien 2020 (Molecole) Regie: Andrea Segre, 71 Min., FSK: ab 0

Vor bedeutungsschwangerem Off-Kommentar filmt Regisseur Andrea Segre Venedig und wird im Frühjahr 2020 von der Pandemie überrascht. Die Lagune ruhig wie „seit 1000 Jahren nicht mehr", meint eine Gondoliere, die sportliches Rudern ohne die Wellen der Touristen-Boote genießt. Die Recherche über das unmögliche Leben in der von Besuchern und Hochwasser überschwemmten Stadt wird zu einem doppelten Staunen – über den dauernden Ausnahmezustand, der für ein paar Wochen ausgesetzt ist. Darauf aufgesetzt erinnert sich Segre an seinen zu schweigsamen Vater, der allerdings seit Geburt des Filmemachers selbst nie mehr in der Kanal-Stadt war. Eine in „leeren" Bildern und Begegnungen interessante, aber im Gesamtkonzept unbefriedigende Dokumentation.

5.1.22

The 355


USA, China 2021 Regie: Simon Kinberg, mit Jessica Chastain, Penélope Cruz, Diane Kruger, Lupita Nyong'o, Bingbing Fan, Sebastian Stan, Edgar Ramírez, 122 Min., FSK: ab 16

Eindeutig überqualifiziert für die Oscars ist „The 355" in Sachen Diversität – leider nicht bei der Qualität: Weibliche Stars übernehmen wieder mal das Action-Ressort, mehr Originelles fiel Regisseur Simon Kinberg, dem britischen Produzenten von großen Männerfilmen wie „X-Men", „Deadpool" oder „Der Marsianer", nicht ein.

Der MacGuffin, hinter dem alle her sind, fällt diesmal raffiniert simpel aus: War es bei Hitchcock gerne ein Koffer mit beliebigem Inhalt, ist es nun „irgendwas mit Computer", ein Kästchen mit Leuchtdioden, das alles knacken, Flugzeuge abstürzen, Telefonnetze oder ganze Städte ausschalten kann. Im Gegensatz zum raffinierten „Ocean's 8" fällt die Aufstellung der Frauen-Figuren etwas umständlicher aus. Es dauert 45 Minuten, bis sich fünf als Team gefunden haben. Die einsame CIA-Agentin Mason Browne (Jessica Chastain) kämpft erst verbissen mit der wahnsinnig gewalttätigen Marie (Diane Kruger) vom BND. Die britische Technikspezialistin Khadijah (Lupita Nyong´o) steht für die Nerds im Stil von Q. Die kolumbianische Graciela (Penélope Cruz), gibt die Psychologin ohne Felderfahrung für wenigstens ein wenig Witz. Und die chinesische Computerexpertin Lin mi Sheng (Bingbing Fan) bedient den wichtigsten Weltmarkt der Koproduzenten.

Auf den ausgetretenen Bond-Spuren führen unglaubwürdige Action und Verfolgungsjagden von der Berliner U-Bahn zu Pariser Cafés, marokkanische Souks und Shanghai. Das wird nur wegen weiblich nicht wirklich besser. Doch die Dialoge sind flott, die Figuren gut und interessant gezeichnet. Ein paar Szenen zeigen Schauspielkunst ohne Rennen, Hauen und Schießen. Das Ende ist „The Queens-Women": Eine kleine Gruppe, welche die Welt unabhängig von Regierungen und korrupten Geheimdiensten beschützt.

4.1.22

München - Im Angesicht des Krieges


Großbritannien 2021, Regie: Christian Schwochow, mit George MacKay, Jeremy Irons, Jannis Niewöhner, August Diehl, Sandra Hüller, Liv Lisa Fries, Ulrich Matthes, 123 Min.

Wie es ausging mit dem Münchner Abkommen von 1938 wissen wir ja: Der Versuch der Regierungschefs Neville Chamberlain und Édouard Daladier, die kriegslüsternen Adolf Hitler und Benito Mussolini zu bremsen, führte zur Abgabe des Sudetenlandes durch die Tschechoslowakei und den Weltkrieg ein Jahr später. Christian Schwochow macht trotz des bekannten Endes aus der Historie – basierend auf das Buch von Robert Harris – eine sehr spannende Geschichte:

Drei Freunde studierten einst zusammen in England: Die Deutschen Paul von Hartmann (Jannis Niewöhner) und Lenya (Liv Lisa Fries) sowie der Einheimische Hugh Legat (George MacKay). Als Jahre später durch Hitler Krieg droht, finden sich Paul und Hugh in den jeweiligen Delegationen, die in München einen Frieden aushandeln sollen. Die Jüdin Lenya liegt mittlerweile, von den Nazis ins Wachkoma geschlagen, in einem Krankenhaus. Was zeigt, wie weit es mit Deutschland gekommen ist. Zusätzliche Brisanz erhält die Situation dadurch, dass der einst überzeugte Nationalist Paul nun als Widerstandskämpfer in Wartstellung ein geheimes Dokument über Hitlers wahre Kriegsabsichten an Englands Premier Neville Chamberlain (Jeremy Irons) weiterreichen soll. Gefährlich wird ihm dabei sein alter Kumpel Franz Sauer (August Diehl), ein besonders scharfer und brutaler Hund bei der SS. Oder sollte Paul den Diktator direkt umbringen, wenn er Hitler (Ulrich Matthes) täglich die Auslandspresse vorlegt?

Man weiß, wie es ausging, doch diese historische Deutschland-Stunde ist mit toller Besetzung trotzdem spannend wegen der in diesem Gedankenspiel offenen Frage, ob man Hitler früher militärisch hätte stoppen sollen. Gerade Chamberlains Versuch, unbedingt einen Krieg zu verhindern und Menschenleben zu retten, führte zum größten Kriegsverbrechen der Menschheit. Aber auch zu einem Jahr Aufschub für die Alliierten, das letztendlich kriegsentscheidend gewesen sein soll, wie der Abspann erläutert.

Christian Schwochow entwickelt sich mit einer breiten Palette von Themen und Stilen zu einem der interessanteren Regisseure nicht nur Deutschlands. Vor „München" gab es den engagiert misslungen Politfilm „Je suis Karl" über rechte Umtriebe in Europa. Während die zwei Folgen der Fernsehserie „The Crown" (2019) ein spezielles Publikum erfreuten, war die bankenkritische Fernsehserie „Bad Banks" (2018) ein breiter Erfolg. Mit „Deutschstunde" nach Lenz filmte Schwochow 2019 Literatur-, mit „Paula" (Modersohn-Becker) 2016 Kunstgeschichte.

In ausgewählten Kinos ab dem 6. Januar und ab 21. Januar 2022 weltweit auf Netflix.

The King's Man: The Beginning


(The King's Man) Regie: Matthew Vaughn, mit Ralph Fiennes, Gemma Arterton, Rhys Ifans, Matthew Goode, Tom Hollander, Harris Dickinson, Daniel Brühl, Djimon Hounsou, Charles Dance, 131 Min.

Nach zwei sehr gelungenen „Kingsman"-Filmen ist „The Beginning" nicht so sehr die Rückkehr zu den Anfängen des spektakulären NGO-Geheimdienstes, sondern eine historische Verdrehung mit Action-Einlagen, pazifistisches Pamphlet mit geringer Haltbarkeit, Familien-Erinnerung mit begrenzter Rührung und ... und ... und. „Kingsman"-Regisseur Matthew Vaughn verzettelt sich nachhaltig mit internationalen Stars wie Ralph Fiennes, Gemma Arterton oder Rhys Ifans. Daniel Brühl („Good Bye, Lenin!") als Hanussen und August Diehl („München") als Lenin machen munter mit beim albernen Mummenschanz.

Das Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 in Sarajevo steht nach Meinung vieler Historiker am Anfang des Ersten Weltkriegs. „The King's Man: The Beginning" klärt uns drüber auf, dass der Mörder Gavrilo Princip dazu vom nicht wirklich mysteriösen Kaschmir-Züchter „The Shepard" (Matthew Goode) auf einem atemberaubend unzugänglichen Bergplateau beauftragt wurde. Hier entstehen nicht nur teure Schals, auch europäische Geschichte wird von einem Schotten gemacht, der die Schmach seiner Nation durch die Engländer rächen will. Kurzfassung des schurkigen Plans: Die blutsverwandten Herrscher von England, Preußen und Russland (alle mit Witz gespielt von Tom Hollander) aufeinanderhetzen, dann in Russland eine Revolution auslösen und in den USA Präsident Wilson durch Erpressung mit einem schmutzigen Filmchen vom Kriegseintritt abhalten. Hilfreich dabei Schergen wie Princip, Grigori Rasputin (Rhys Ifans), Mata Hari (Valerie Pachner) und Erik Jan Hanussen (Daniel Brühl).

Mittendrin in den internationalen Verwicklungen steckt der edle Adlige Orlando Oxford (Ralph Fiennes), der im Burenkrieg seine Frau verliert. Alexandra Maria Lara tritt in einer grandios peinlichen Kurzszene auf und versprüht den Rest des Films als überlebensgroßes Ölgemälde ebenso viel Lebendigkeit. Auch geschockt von den brutalen Gefangenenlagern, die der berüchtigte General Kitchener (Charles Dance) - eine von vielen historischen Figuren - in Südafrika eingerichtet hat, wird Oxford zum Pazifisten. Eine zu Anfang des letzten Jahrhunderts schwierige Haltung. Vor allem, wenn der Sohn Conrad (Harris Dickinson) unbedingt fürs Vaterland kämpfen will.

Weit vom comichaften Heldentum der ersten beiden Teile entfernt, kritisiert der nicht nur im Schriftbild andere „King's Man" ganz ernsthaft die Arbeiter-Verheizungs-Doktrin „Dulce et decorum est" („Süß und ehrenvoll ist es, fürs Vaterland zu sterben."). Allerdings ist der Oxford-Nachwuchs so schnell von der Notwendigkeit des Tötens überzeugt, wie er vom Horror des Krieges entsetzt ist. Holterdiepolter gibt es einen aus Flammen geborenen Helden und den lächerlichen Kampf mit dem einhörnigen Kaschmir-Bock. Kapitalismus-Kritik, die den Industriellen DuPont zum wahren Herrscher der Vereinigten Staaten macht, wechselt sich ab mit Pappkameraden-Zoten um die europäischen Adelshäuser. Emotionen beim Tod von Frau und Sohn Oxford sollen berühren, doch schnell geht es weiter zu großer Weltgeschichte mit kleinen Bausteinen des Detektiv-Genres.

Ein paar aufwendigere Action-Momente lassen die überdrehte Frische der ersten „Kingsman"-Filme vermissen. Der einstige „English Patient" Ralph Fiennes ist mittlerweile als Bond-Boss und als King's Man im Dauereinsatz für die Geheimdienste und dabei fast so unsympathisch wie als SS-Offizier in „Schindlers Liste". Es ist vor allem das durchgehend Uneinheitliche, das einen auch ansonsten nicht sonderlich gelungenen Erfolgs-Abklatsch so schwer erträglich macht.


Wanda, mein Wunder


Schweiz 2020, Regie: Bettina Oberli, mit Agnieszka Grochowska, André Jung, Birgit Minichmayr, Jacob Matschenz, 112 Min., FSK: ab 0

Die polnische Pflegerin Wanda (Agnieszka Grochowska) kümmert sich nicht nur um den reichen Schweizer Senior Josef (André Jung) in dessen Villa am See. Auf freundlich dringliche Weisung der Hausherrin Elsa (Marthe Keller) soll sie auch noch für viel zu wenig Geld die verschwundene portugiesische Putzfrau ersetzen. Dass Wanda ebenfalls für Josef die Prostituierte gibt, weiß niemand. Bis Martha zum nächsten Pflegeeinsatz mit dem Bus aus Polen schwanger ankommt. Der zweite Akt der Gesellschafts-Satire in Form harmloser Fernsehunterhaltung verläuft dementsprechend aufgeregt. Im familiären Chaos spielen ebenso der als Firmenerbe unreife Sohn Gregi (Jacob Matschenz) sowie seine kinderlose Schwester Sophie (Birgit Minichmayr klasse zickig) ihre Rolle, die mit dem eiskalten Anwalt Manfred (Anatole Taubman) liiert ist.

Die Arrangements um ein gekauftes Kind sind eigentlich zynischer, als die erfahrene Filmemacherin Bettina Oberli („Die Herbstzeitlosen", „Tannöd") sie präsentiert. Die emotionale Hammerhärte der koreanischen „Leihmutter" von Im Kwon-taek erreicht diese oberflächliche Thematisierung nie.

3.1.22

Lamb (2021)


Island, Schweden, Polen 2021, Regie: Valdimar Jóhannsson, mit Noomi Rapace, Hilmir Snaer Gudnason, 106 Min., FSK: ab 16

Ein ganz besonderes Weihnachtswunder ereignet sich im hohen und einsamen Norden Islands: Auf einem entlegenen Bauernhof wird dem kinderlosen Züchter-Paar Maria (Noomi Rapace) und Ingvar (Hilmir Snær Guðnason) ein Lamm geboren, das sie schwer erstaunt anblicken, in eine Jacke wickeln und fortan bei sich im Haus großziehen. Das Wundersame hält der geheimnisvolle Film „Lamb" lange zurück und ausnahmsweise soll hier auch nicht „gespoilert" werden.

Faszinierend im Langfilm-Debüt des Isländers Valdimar Jóhannsson sind ja auch gewaltige Natur und vor allem viele Szenen, in denen die Tiere der Farm etwas wahrnehmen, das für uns unsichtbar bleibt. Zwischen Naturmystik und leichtem Schauern lässt sich „Lamb" schwer verordnen. Wenn Maria auf der Wiese dem Lamm einen Blumenkranz auf den Kopf setzt, erinnert dies trotz des Befremdens sehr deutlich an den Horror „Midsommar" von Ari Aster. Nicht zufällig steht die für Genre-Variationen bekannte Produktionsfirma A24 hinter beiden Filmen. Kurz vorher hatte Maria übrigens noch draußen das Mutterschaf erschossen, weil es immer blökend vor dem Fenster des Lamms stand.

Beim – im positiven Sinne – ruhig mitschleifenden Tempo ließe sich zum Ko-Produzenten, dem für sehr lange Langfilme berüchtigten Ungarn Béla Tarr („Das Turiner Pferd", „Satanstango") verweisen. Weitere Ausführende Produzentin war übrigens Hauptdarstellerin Noomi Rapace („Verblendung").

Das mystische Märchen „Lamb" ist im Ergebnis eine in jeder Hinsicht andere Erzählung in eindrucksvollem Naturrahmen. Ohne die obwohl fantastische, doch etwas banale Auflösung wäre der Film vielleicht noch interessanter geblieben. Dass „Lamb" sein Mysterium 40 Minuten bedeckt hält, macht gerade seinen Reiz aus. Der zu leichtfertig im Finale ausgespielt wird.

Plötzlich aufs Land - Eine Tierärztin im Burgund

Plötzlich aufs Land - Eine Tierärztin im Burgund

Frankreich 2019 (Les Vétos) Regie: Julie Manoukian, mit mit Clovis Cornillac, Noémie Schmidt, 92 Min., FSK: ab 12

„Der Doktor und das liebe Vieh" hieß im letzten Jahrtausend eine veterinärische TV-Serie über das große Menscheln und auch „Plötzlich aufs Land - Eine Tierärztin im Burgund" überfordert nicht mit neumodischem Kram: Die wenig gesellige Alex (Noémie Schmidt) hat gerade ihre Approbation erfolgreich erhalten und will als Forscherin im Labor Pandemien verhindern, doch dann lockt sie ihr Onkel Michel (Michel Jonasz) nach Morvan, in die französische Provinz. Sie soll seine Nachfolgerin in der Tierarztpraxis werden, die Michel zusammen mit Nico (Clovis Cornillac) betreibt. In einer verschlafenen Region, die Alex selbst längst vergessen hatte. Kastrieren von Katzen, Kaiserschnitt bei Hunden und komplizierte Kalbs-Geburten überfordern die junge Frau ebenso wie ruppige Landleute. Dass Alex in dieser aussterbenden Rückständigkeit ihre Erfüllung finden wird, ist ebenso selbstverständlich und un-originell wie jede einzelne Szene, jedes Fettnäpfchen und andere Peinlichkeiten. Ein höchstens nettes Filmchen, bei dem man nicht länger nachdenken darf.