29.6.20

Suicide Tourist


Norwegen, Dänemark, BRD 2019 (Selvmordsturisten) Regie: Jonas Alexander Arnby, mit Nikolaj Coster-Waldau, Kate Ashfield, Tuva Novotny 90 Min. FSK ab 12

Ein lebensmüder Versicherungsagent geht in einer dunklen Sterbe-Klinik dem Verschwinden eines Kunden nach. Klingt nach Krimi, „Suicide Tourist" ist aber eindeutig in die Kategorie „ganz seltsamer Film" einzuordnen. Mysteriös, sehr düster und letztendlich rätselhaft entwickelt dieses schwache Nordlicht mit „Game of Thrones" Nikolaj Coster-Waldau in der Hauptrolle hinter unattraktivem Schnauzbart einen ganz eigenwilligen Reiz.

„Element of Crime"! So hofft man zu Beginn bei extrem dunklen Bildern, wie bei den Gemälden des Chiaroscuro. „Element of Crime" war der erste große Film des Lars von Trier und führte, wie es sich fürs Genre gehört, den Detektiv am Ende zu sich selbst. Versicherungsagent Max (Nikolaj Coster-Waldau) ist jetzt allerdings eher ein Detektiv der ganz traurigen Gestalt. Ein Hirntumor wird sein Leben erst zerstören, dann beenden. Das will Max auch seiner umwerfend liebenswerten Freundin nicht antun. Dass ausgerechnet derjenige, der sich selbst bereits mehrmals eher komisch umbringen wollte, nun in einer Klinik für selbstbestimmtes Sterben landet, hat als schwarzhumorige Idee durchaus etwas.

Die Ausführung macht da allerdings etwas anderes draus. Wenn im, auch durch Rauschmittel, besonders konfusen Finale so etwas wie Hotel Californias „You can never leave" zu hören ist, lacht man eher über den Film als mit ihm. Ästhetisch und handwerklich ist das, was immer es sein soll, allerdings exzellent gemacht. Die Lichtgestaltung (Kamera Niels Thastum) packt mehr als die Handlung.

Meine Freundin Conni - Geheimnis um Kater Mau


BRD 2020 Regie: Ansgar Niebuhr 76 Min. FSK ab 0

Das Allerbeste an diesem Zeichentrick um die beliebte Kinderbuch-Figur Connie: Es ist niemand der Familie Schweiger weit und breit zu sehen! Nach zwei „verschweigten" Realverfilmungen mit dem Genuschel von Til und Emma Schweiger richtet sich dieser Zeichentrick wieder an das ursprüngliche Kindergarten-Publikum: Conni reist zum ersten Mal ohne ihre Familie in eine Jugendherberge. Dabei schleicht sich ihr geliebter und tollpatschiger Kater Mau selbst heimlich in den Reisebus und sorgt für Unruhe im Ferienhaus bei der Burg. Die Kleinen haben spielerisch mit Angst vor Geistern zu tun, Connie muss die Sorge um ihren Kater mit einem ehrlichen Geständnis und Solidarität zu anderen abwägen. Diese unterhaltsam dargebotenen Lerneinheiten sind modern aufgehübscht mit Tofu-Würstchen. Aber vor allem gefällt, dass hier die Reduktion auch bei Dramatik und „Action" bestens funktioniert und ankommt. 

   

28.6.20

Undine (2020)


BRD, Frankreich 2020 Regie: Christian Petzold, mit Paula Beer, Franz Rogowski, Maryam Zaree, Jacob Matschenz 89 Min. FSK ab 12

Regisseur Christian Petzold macht die faszinierendsten klugen Filme der Bundesrepublik. Unter scheinbar kühl betrachteten Konstruktionen brechen Emotionen und gesellschaftliche Abgründe hervor. Zuletzt verfilmte er mit „Transit" Anna Seghers' Roman über deutsche Flüchtlinge in Marseille. Auch „Phoenix", „Barbara" und „Yella" reflektierten deutsche Geschichte. Petzolds Tatorte mit dem Münchner Hauptkommissar Hanns von Meuffels gehörten zu den besten.

Nun variiert er den Undine-Mythos in Berlin: Die Historikerin Undine (Paula Beer) arbeitet als Stadtführerin in Berlin. „Wenn du mich verlässt, muss ich dich töten", sagt sie ihrem Freund mit hartem Blick ins Gesicht. Der nutzt die Bedenkzeit zwischen zwei Führungen, um abzuhauen. Aber dann steht schon der Industrietaucher Christoph (Franz Rogowski) neben ihr, als ein riesiges Aquarium zerbirst. Es ist der Beginn einer leidenschaftlichen Liebe, die sich immer mehr unter Wasser bewegt. Bis das Schicksal erst kleine Zeichen schickt und dann zuschlägt...

Der Mythos erzählt von der Wasserfrau Undine, die nur durch die Liebe eines Menschen ein irdisches Leben führen und eine Seele erlangen kann. Selbstverständlich variiert Christian Petzold diesen Märchen-Stoff. Seine Meerjungfrau ist nicht klein, selbst verletzt tritt sie noch sehr resolut auf. Paula Beer beeindruckt erneut in dieser Rolle und erweist sich als guter Ersatz der Petzold-Hauptdarstellerin Nina Hoss. Und auch Franz Rogowski übernimmt mit sensibler Körperlichkeit trefflich die Rollen, die Ronald Zehrfeld in „Barbara" und „Phoenix" spielte.

Raffiniert konstruiert zeigen sich überall im Film Wasserzeichen, bis es richtig dramatisch wird, dauert es aber eine gute Stunde. Die keineswegs zu lang ist. Eingestreut werden Petzholds Meinung zum Historizismus des Humboldt-Forums oder Gedanken zum Verhältnis von Form und Funktion. Dass mythische Zeichen an der Wand sich mit rationellen Analysen reiben, macht den besonderen Reiz dieses anderen Petzhold-Films aus.

Die schönsten Jahre eines Lebens


Frankreich 2019 (Les plus belles années d'une vie) Regie: Claude Lelouche mit Anouk Aimée, Jean-Louis Trintignant, Marianne Denicourt 90 Min.

Allein dieses Wiedersehen ist voller herzzerreißender Romantik: Die alte Dame Anne (Anouk Aimée) besucht den ehemaligen Rennfahrer und Frauenheld Jean-Louis (Jean-Louis Trintignant) im Altersheim. Der erkennt sie nicht mehr, obwohl ihre große Liebe zwei Filme füllte. Vor 53 Jahren lernten sie sich in Claude Lelouchs erstem Film „Ein Mann und eine Frau" als alleinerziehende Singles kennen. Einen zweiten Versuch des Zusammenkommens gab es in „Ein Mann und eine Frau - 20 Jahre später". Nun erinnert Jean-Louis nur die Stimme von Anne an eine Frau, die er einst liebte. Nicht dass es von denen zu viele gab, ist sein Problem. Der demente Mann erinnert sich nur noch fragmentarisch und wirr. Was das Wiedersehen nicht nur traurig macht. Denn Anne erfüllt seinen Wunsch, einfach abzuhauen. In ihrem alten 2CV düsen sie in die Normandie, um wieder verbotenerweise über den Strand von Deauville zu fahren. Wie einst mit seinem Mustang - wenn es nicht nur ein Traum ist...

„Die schönsten Jahre meines Lebens", dieses Erinnerungsspiel im Altersheim des 80-jährigen Claude Lelouch in seinem 49. Film, mengt viele bewegende Szenen aus den beiden Vorgänger-Filmen unter die Besuche Annes; alles begleitet von emotionalen Chansons. Unter Langzeit-Filmgeschichten wie Linklaters „Before ..."-Trilogie mit Julie Delpy und Ethan Hawke nimmt Lelouch auch eine Sonderstellung ein, weil „Die schönsten Jahre eines Lebens" die Geschichte der beiden Liebenden kaum weitererzählt. Er ist Erinnerung an eine Liebes-Geschichte und Schwelgen in Film-Geschichte. Letztlich löst sich die Handlung wunderbar im Erinnern und Schwelgen auf - ein Genuss.

Jean Paul Gaultier: Freak & Chic


Frankreich 2018 Regie: Yann L'Hénoret 96 Min. FSK ab 6

Modeschöpfer Jean Paul Gaultier hatte schon immer was mit Film – seine Kostüme prägten „Das fünfte Element" (1997), „Die Stadt der verlorenen Kinder" (1995) oder „Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber" (1989) mit. Nun erzählt eine Dokumentation die Entstehung einer Revue über sein Leben nach – prallvoll mit Gaultiers Ideen und prominenten Kooperationspartnern.

Regisseur Yann L'Hénoret („Macron: Hinter den Kulissen des Sieges") begleitete Gaultier über zwei Jahre lang beim Entstehen der „Fashion Freak Show" in der legendären Pariser Varietébühne Folies Bergère. Selbstverständlich bekommt man Jean Paul Gaultier bei den Vorbereitungen und vor allen Dingen den Arbeiten am Kostüm mit. Aber vor allem bringen die Show und die Doku wunderbar spielerisch autobiografische Elemente mit ein. Etwa die Geschlechtsoperation am Teddybären durch den kleinen Jean Paul, der nicht mit Puppen spielen durfte und so einen ersten „Freak" schuf. Die Filmaufnahmen für Clips, die in der Show auf die Kulissen projiziert werden, zeigen spitze Brüste aus Papier, die mode-historisch in einem Kostüm für Madonna und immer wieder in der Show hervorstechen.

Von der Re-Inszenierung der erste (schwulen) Liebe bis zum ersten Catwalk ist die Revue-Figur Jean Paul Gaultier immer am weiß-blau gestreiften Bretagne-Shirt erkennbar. Der reale, mittlerweile fast 70-jährige Künstler ist bei der Vorbereitung einer opulenten Show als der Mann hinter dem allen fast unauffällig. Freundlich, ohne Zickereien unterstützt er alle, die ihn unterstützen. Nur das Aufgebot an Prominenz reflektiert seine Bedeutung: Nile Rodgers gibt den Titelsong, Madonna schaut für Aufnahmen vorbei, ebenso französische Leinwand-Legenden, Almodovar-Star Rossy de Palma gibt eine strenge Lehrerin. Die französische Film-Regisseurin Toni Marshall inszenierte die Show, den Soundtrack versorgte Stromae, der übrigens seine eigene Modelinie hat.

Yann L'Hénoret gelang es mit „Jean Paul Gaultier: Freak & Chic", statt der Nacherzählung eines Lebens, die große, wilde und kongeniale Show über dies Leben zu zeigen. Dabei ist nur schade, dass man sie nicht komplett im Folies Bergère miterleben konnte.

24.6.20

Blue Story


Großbritannien 2019 Regie: Andrew Onwubolu, Stephen Odubola, Micheal Ward, Khali Best, Karla-Simone Spence 92 Min. FSK ab 16

„Blue Story" ist Baz Luhrmanns „Romeo + Juliet" als Bandenkrieg in London. Nur diesmal geht es nicht um Liebe, sondern um Freundschaft über unüberwindbare Grenzen hinweg. Und im heutigen sinnlosen Kampf zwischen benachbarten Stadtteilen wird die Romantik ersetzt von einer gnadenlosen Gewaltspirale.

Tim und Marco (Stephen Odubola and Micheal Ward) sind beste Schulfreunde, obwohl sie aus Peckham und Lewisham, anderen Londoner Stadtteilen stammen. Nach der Schule werden sie jeweils von Banden-Mitglieder der anderen Seite aggressiv angemacht und nur der jeweils beste Freund kann sie vor weiteren Problemen retten. Doch die scheinbare Sicherheit der besseren Schule hilft nicht mehr, als nach Prügeleien und Flaschenwürfen der Kampf schnell mit Waffen eskaliert. Bald ist jemand erschossen, die Brüder der beiden ziehen Tim und Marco in den Bandenkrieg hinein. Aus dem netten Kumpel wird ein brutaler Killer.

„Blue Story" hat viel Dynamik, erzählt ruhelos und energisch gespielt seine recht übersichtliche Konstruktion. Der wegen lokaler sozialer Unruhen länger ausgestellte Film gewinnt Authentizität durch den Autor und in zwischen den Szenen selbst rappenden Erzähler Andrew Onwubolu, aka Rapman, der hier von eigenen Erfahrungen berichtet. Er selbst hat diese Geschichte schon in der kurzen Webserie „Shiro's Story" erzählt und wurde dadurch populär.

Rapman setzt deutlich nicht die Traditionen von Spike Lee, von John Singletons „Boyz N The Hood" (1991) oder „Menace II Society" (1992) der Hughes-Brüder fort. Seine Art Romeo und Julia unter Freunden liefert nicht viel Erklärungen zu den Aggressionen und Banden-Formungen. Auch Bildungsschranken werden nur am Rande behandelt. Es wirkt etwas ermüdend, die Gewaltspirale erneut zu sehen. Doch diese Ermüdung ist natürlich ein Luxus gegenüber den Erlebnissen und Gefühlen draußen auf der Straße. Diese Wiederholung ohne Aussicht auf Veränderung macht „Blue Story" auch so schockierend.

22.6.20

Gipsy Queen


Österreich, BRD 2019 Regie: Hüseyin Tabak, mit Alina Serban, Tobias Moretti, Irina Kurbanova, Catrin Striebeck 113 Min. FSK ab 12

Es ist ein herzzerreißender Auftakt, als die junge Mutter Ali (Alina Serban) mit zwei kleinen Kindern aus dem Roma-Dorf in Rumänien geschmissen wird – vom eigenen Vater! Und Trainer. Denn die Frau heißt nicht zufällig Ali: Wie das große Vorbild sollte sie als Boxerin schweben wie ein Schmetterling und zustechen wie eine Biene. Aber erst einmal ist Ali nun in Hamburg Zimmer-Mädchen eines schicken Hotels und wird von einem Netzwerk eigener Landsleute ausgebeutet und beraubt. Die kleine, energische Frau arbeitet Tag und Nacht für Tochter und Sohn, für ein etwas besseres Leben weg auch von der Kinderprostitution. Ein Aushilfsjob in der Kiez-Kneipe „Die Ritze" bringt sie schließlich wieder zum Boxkampf. Zuerst im Kostüm eines Affen, dann nimmt sich der Kneipenboss und gescheiterte Boxer Tanne (Tobias Moretti) ihrer an.

Es passiert immer was in „Gipsy Queen", es gibt ganz schön viel Drama und alles wird (wie zu oft) in diesem einzigen Kampf entschieden. Aber abgesehen von dieser allgemein verbreiteten Einfallslosigkeit, die hier noch ganz ansprechend aufbereitet wird, bleibt „Gipsy Queen" ein starker und sehenswerter Film: Ohne allzu viel Folklore zeigt schon die deutsche Mitbewohnerin die Diskrepanz zwischen Welten auf: Die Möchtegern-Tänzerin Mary (Irina Kurbanova), die sich erlauben kann, nicht zu arbeiten. Ali schuftet derweil nachts auf asbest-verseuchten Baustellen, versucht 220 Euro für die Klassenfahrt nach Paris ihrer ebenso dickköpfigen Tochter zusammen zu kratzen. Das Jugendamt nimmt einer Roma - nicht Zigeunerin, wie der Film auch noch mal hinweist – besonders schnell die Kinder weg. Der Spaßkampf wird schnell blutig. Sehr gut montierte Erinnerungen zeigen Alis Sehnsucht nach dem Vater und dem Dorf in der Heimat. Aber auch die Gnadenlosigkeit, mit der sie auf eine Karriere zum Ruhme ihrer Gemeinschaft getrimmt wurde.

Alina Serban gibt diese Kämpferin im Ring und im Leben sehr eindringlich. Tobias Moretti ist auch als versoffener Ex-Boxer wieder mal genial. So wird „Gipsy Queen" kein Box- und auch kein Sport-Film, vielmehr ein packender und bewegender Menschenfilm. Nicht „Million Dollar Baby", aber doch sehenswert.

21.6.20

Der Geburtstag (2019)


BRD 2019 Regie: Carlos A. Morelli mit Mark Waschke, Anne Ratte-Polle, Finnlay Jan Berger, Kasimir Brause, Anna Brüggemann 79 Min. FSK ab 6

Eine grandiose Geburtstagsparty für alle Cineasten ist diese tolle deutsche Film-Überraschung: Mark Waschke spielt den gestressten Teilzeit-Vater Matthias, der seinen Sohn Julius (Finnlay Jan Berger) auch am Tag von dessen Geburtstagsfeier wieder zu spät abholt. Zudem fällt auch das vereinbarte nächste Wochenende ins Wasser. Ein Projekt ist dem getrennt lebenden Mann wichtiger. Die Stimmung des Ex-Paares ist mies, dazu sabotiert ein Gewitter die Gartenparty. Dabei fällt nicht so richtig auf, dass eine Mutter unangekündigt einen elften Gast zur Kinderparty bringt. Lukas (Kasimir Brause) muss auch noch wegen Laktose-Intoleranz besonders behandelt werden. Als ausgerechnet Lukas nicht abgeholt wird, will ihn Matthias nach Hause bringen und die beiden geraten auf eine Odyssee.

Die Handlung um ein Trennungskind klingt bekannt, aber was Regisseur und Autor Carlos A. Morelli in „Der Geburtstag" hinlegt ist - bis aufs letzte Kapitel - nicht das übliche, dialogschwere Beziehungsgewürge. Es ist große Filmkunst in Schwarz-Weiß mit exzellenten Bildern von Kameramann Friede Clausz („24 Wochen") und einer ganz klasse interpretierten Hauptrolle von Mark Waschke („8 Tage", Tatort). Die unerwartete Entwicklung mit viel Dynamik unterhält lange, ohne ausgetretene Pfade zu benutzen. Eine tolle Überraschung und ein erster Höhepunkt im langsam wieder anlaufenden Filmprogramm.

18.6.20

The High Note


USA 2019 Regie: Nisha Ganatra, mit Dakota Johnson, Tracee Ellis Ross, Kelvin Harrison Jr., Ice Cube 114 Min.

Maggie (Dakota Johnson) ist die perfekte Persönliche Assistentin, die sich mit einem immer freundlichen Lächeln völlig verausgabt und selbst aufgibt. „Ihr" Star Grace Davis (Tracee Ellis Ross) hingegen besteht nur aus Star-Allüren, ist arrogant und ekelhaft. Dabei verehrt die junge Maggie die alternde Sängerin, der nur noch ein Aufenthalt in Las Vegas zugetraut wird. Völlig naiv meint Maggie, kein Dienstmädchen, sondern eine Freundin zu sein. Sie träumt davon, irgendwann eine Produzentin zu werden und mischt heimlich alte Aufnahmen der Legende Grace zu möglichen neuen Hits, die es schon lange nicht mehr gegeben hat.

Das naive Geschichtchen wäre trotz prominenter Besetzung und hochwertiger Aufmachung nicht mehr als eine Schmonzette in der Art von „A Star is Born", wenn nicht der altmodische musikalische Hintergrund nachhaltig irritieren würde: Maggie bewundert bei dieser Geschichte aus einer familiären Musikszene in Los Angeles Idole, die meist schon nicht mehr leben: Nina Simone, Brian Wilson, Sam Cooke, The Band oder Carole King. Zu den Plattencovern, welche die ganze Zeit in die Kamera gewedelt werden, gehören selbstverständlich die „Pet Sounds" der Beach Boys oder „Rumours" von Fleetwood Mac. Auch wenn Golden-Globe-Gewinnerin Tracee Ellis Ross („Black-ish") die Tochter von Diana Ross ist - die aktuelle, sehr flache Musik des Films selbst kommt nie an die Qualitäten von damals heran.

Vor allem die Ross-Rolle macht „The High Note" recht banal: Grace Davis, die wie ein Kleinkind Dauerbegleitung braucht, interessiert weder tragisch noch komisch besonders. Das Persönliche bei ihr lässt sich nur mit Mühe von einer Satire unterscheiden. Die 30-jährige „Fifty Shades"-Darstellerin Dakota Johnson vermittelt hingegen den jugendlichen Überschwang ihrer Figur sehr nett. Wenn sie auch in den romantischen Szenen immer wieder mit musikalischen Referenzen auftrumpft, macht das sogar Spaß. Rapper und Schauspieler Ice Cube („Straight Outta Compton") gibt am Rande den grimmigen Manager.

Die kleine Fabel vom großen Musik-Business und der angeblich wirklich guten Musik, mit Randbemerkung zu Frauen und Rassismus im Musikgeschäft, baut zu viel unglaubliches und unnötig kompliziertes Drama am Ende ein. Doch die gleich haufenweise purzelnden Überraschungen, sind ist dann tatsächlich noch mal sehenswert.

17.6.20

The Wild Pear Tree


Türkei, Bulgarien, BRD, Frankreich 2018 (Ahlat Agaci) Regie: Nuri Bilge Ceylan, mit Dogu Demirkol, Murat Cemcir, Bennu Yildirimlar, Hazar Ergüçlü 188 Min.

Wer noch nie von einem Film - oder auch eine Fotoausstellung - Nuri Bilge Ceylans beglückt wurde, sollte sich mit dieser kleinen Erfolgs-Liste des türkischen Regisseurs ködern lassen: Cannes 2003: Großer Preis der Jury für „Uzak - Weit". Cannes 2008: Beste Regie für „Drei Affen". Cannes 2011: Großer Preis „Once Upon a Time in Anatolia". Cannes 2014: "Goldene Palme" (endlich) für „Winterschlaf". Und dabei fehlt noch einer der schönsten seiner Filme, „Jahreszeiten - Iklimler", der 2006 „nur" den FIPRESCI-Preis in Cannes erhielt. Also einer der anerkannten Götter des Film-Olymp, der nun mit „The Wild Pear Tree" die versandende Rebellion eines Künstlers in der Türkei von heute wort- und bildgewaltig ausbreitet.

Der nicht mehr ganz junge Sinan kommt zu Ende seines Studiums zurück ins Heimatdorf. Der Vater verspielt das kleine Gehalt eines Dorflehrers, versucht gegen alle Warnungen oben auf dem Hügel vergebens einen Brunnen zu graben und lacht trotzdem viel. Die Mutter zündet Kerzen an, wenn der Strom abgestellt wird, und schwärmt von einem anderen Mann, den sie einst liebte. Genauso vergeblich sind Sinans Versuche, das erste eigene Buch zu veröffentlichen. Keiner will ihm das Geld für den Druck geben. Eher anlasslos legt sich der verkannte und ansonsten stille Künstler mit einem Schriftsteller an, kritisiert Imame und entfremdet sich vom Vater.
 
Typisch für Nuri Bilge Ceylan sind Menschen vor enorm weiten, atemberaubenden Landschaften. Grandiose Aufnahmen in Cinemascope, die jeder Foto-Ausstellung zu Ehren gereichen würden, gerne auch mit Schnee. Vor diesen laufen drei lohnenswerte Stunden lang Diskussion ab. Zum Beispiel eine über Glauben und Atheismus, die damit beginnt, dass zwei junge Imame Äpfel klauen. Von einem von ihnen haben wir bereits gehört, dass er auch von den armen Leuten öfters Goldstücke nimmt und sie nicht zurückgibt. So geht es im inhaltlich packenden Zwiegespräch viele Minuten lang hinab vom Hügel zu einem Kaffee, in dem dann bei einem Cay weiter diskutiert wird.

Der Abspann, der endlich das immer wieder Bachs angeklungene „Passacaglia" ausspielt, erwähnt Tschechow, Dostojewski und Nietzsche als Einflüsse. Filmisch kann man Bergman, Angelopoulos und Tarkowski hinzufügen. Was sich in „The Wild Pear Tree" zwar undramatisch, aber enorm kunstvoll entwickelt, ist der Versuch eines Künstlers aufzubegehren, der Verrat eines verlorenen Sohns und die sehr bewegende Aussöhnung, die jede Dialog-Länge wert ist.

Poster The Wild Pear Tree

14.6.20

Für Sama

GB, Syrien 2019 (For Sama) Regie: Waad al-Kateab, Edward Watts, 100 Min.

Der bewegendste Film seit langem und sicher für lange Zeit ist kein Produkt der Traumfabrik Hollywood, sondern eines der Albtraum-Fabrik namens Realität: Die oscar-nominierte Dokumentation „Für Sama" zeigt als poetischer Videobrief einer Filmemacherin an ihre kleine Tochter Sama die erschütternden Zustände im weltweit hingenommenen Syrien-Krieg.

Sterbende und schwer verletzte Kinder, kleine Jungs, die ihren toten Bruder in das letzte funktionierende Krankenhaus Aleppos bringen. Das ist - obwohl nie sensationsheischend aufgenommen - schwer zu ertragen. Doch wie viel schwerer muss es für die junge Mutter hinter der Kamera sein, die immer wieder ihre kleine Tochter Sama in diesen Situationen sieht?

Die Reporterin Waad al-Kateab erzählt in „Für Sama" von den begeisterten Anfängen der Revolution gegen den syrischen Diktator Baschar al-Assad im Studentenviertel von Aleppo. Von den ersten Massenmorden an den Protestlern und dann von jahrelangem, brutalem Krieg gegen die Zivilbevölkerung. Während Waad ihre bald international verbreiteten Berichte aufnimmt, lernt sie den Arzt Hamza kennen. Er errichtet in den Trümmern der Stadt zweimal ein neues Krankenhaus. Doch diese Rettung für Tausende Menschen wird von den syrischen und russischen Raketen bewusst als Ziel gesucht.

So erleben wir diesen furchtbaren, von der internationalen Politik weitgehend hingenommenen Krieg aus der Innenperspektive, aus dem Inneren eines Krankenhauses. Rührend ist nicht nur der Kampf um jedes Leben, auch die unzerstörbare Hoffnung der Helfer lässt staunen. Selbst im Keller, nach wieder einem Bombenalarm, wird noch gelacht.

Das Wunderbare an diesem Film, den man nie vergessen wird, ist bei allen schockierenden Momenten, die kunstvolle, aber eigentlich zutiefst menschliche Form der Ansprache an die eigene Tochter. Das Material, das Waad, Hamza und ihre Freunde bei der - auch noch sehr spannenden - Evakuierung retteten, wurde in England auf eine exzellente Weise montiert, die gleichzeitig gute Seiten des Lebens und seine Schrecken zeigt. Bei Bildern, die auch ohne voyeuristisch zu sein, viel Grausames zeigen müssen, gibt es immer die kleine lachende Sama und die Geschichte einer Liebe in Zeiten des Krieges.

„Für Sama", diese quasi Live-Übertragung eines andauernden Abschlachtens in Syrien, sollte Pflichtprogramm sein für all jene Idioten, die sich über Flüchtlinge beschweren. Es ist ein Aufschrei auch gegen alle deutschen Waffenproduzenten, alle Soldaten, die an solchen Verbrechen beteiligt sind, alle Politiker, die mit diesen Massenmördern Geschäfte machen.

Brot


Österreich, BRD 2020 Regie: Harald Friedl 94 Min.

Wer denkt, dass „Brot" ein trockenes Thema ist, wird direkt mit der ersten Aufnahme belehrt: Ein fast nackter Mann knetet unter Stöhnen an einem Brot herum. Und am Ende will ein Konzern-Heini sogar die erste Bäckerei auf dem Mars eröffnen. In der großartigen Dokumentation „Brot" werden keine kleinen Brötchen gebacken.

Im Grundprinzip ist es nur Salz, Mehl und Wasser. Was am Ende dazu führt, dass ein französischer Biobauer begeistert davon erzählt, wie die Brotkruste „singt" oder der sich elegant gebende Konzern-Chef und „Brot-Baron" Hans-Jochen Holthausen von Harry-Brot jovial am gigantischen Fließband mit tausendfachem Auswurf meint, das sei ein gutes Produkt. Brot in allen Formen vom einzigartigen Pariser Eckladen „Du pain et des idees" (Brot und Ideen) bis zum belgischen Hightec-Unternehmen Puratos, das von sich sagt, dass es Ciabatta weltweit populär gemacht hat.

Die Kunst des Brot-Machens gegen die Ent-Laibung durch Großkonzerne, die lokale Ideen, Rezepte und Enzyme aufkaufen und dann weltweit vermarkten. Das ist das Grundkonzept von „Brot", angereichert mit faszinierenden Figuren und teilweise erschreckenden Einsichten. Eine Bibliothek mit Sauerteigen aus der ganzen Welt beeindruckt auf den ersten Blick mit auf alt gemachten Einweckgläsern. Doch genauso listet Puratos praktische Fertigmischungen für dunklere Krusten, leichteren Biss oder „mehr Volumen" auf.

Christophe Vasseur von „Du pain et des idees" feiert dagegen das langsame Backen, welches aus der Mode geratene dicke Krusten verdaulicher machen soll. Und auch in Paris erzählt die junge Leiterin der Pariser Traditionsbäckerei Poilâne etwas über Philosophie und Geschichte des Backens. Wozu auch die Anekdote gehört, dass ihr Vater Lionel für Salvador Dalí einen Schrank aus Brot buk. Daneben rühmt sich Hans-Jochen Holthausen, für „Preback" verantwortlich zu sein. Also dafür, dass in den Städten kaum noch Bäckereien existieren, dafür aber an jeder Ecke Brötchen im Namen einer unpersönlichen Kette aufgebacken werden.

Die Begeisterung traditioneller Bäcker steht dem Marketing-Sprech der Anzugträger entgegen. Die Urmutter eines Sauerteigs gegen Chemie-Labore. Ein grüner Landwirt macht die Folgen für Umwelt und Steuerzahler klar, wenn Lebensmittelkonzern und Bayer mit Monsanto bestimmen, was angebaut werden soll. Eine Schweizer Chemiker sagt, dass nicht nur Pestizide in industriellem Brot zu finden sind, auch die Weichmacher der Plastiktüten sind nachweisbar. Dieser auch exzellent bebilderte Dokumentarfilm von Harald Friedl macht nicht durchgehend Appetit, aber eine ganze Ecke klüger und sorgfältiger im Umgang mit etwas scheinbar so Banalem wie dem täglichen Brot.

10.6.20

Edison (The Current War)


USA 2017 (The Current War) Regie: Alfonso Gomez-Rejon, mit Benedict Cumberbatch, Michael Shannon, Nicholas Hoult 108 Min.
 
„Irgendwann werden alle Menschen Strom benutzen, ohne eine Ahnung zu haben, wie es dazu kam..." Auch mit dieser Aussage erwies sich Thomas Edison, gespielt von Benedict Cumberbatch, als sehr hellsichtig. Dabei ist der Kampf um den „richtigen" Strom zwischen Edison, Westinghouse und Tesla ab 1881 enorm spannend und aufgeladen mit starken Persönlichkeiten.

Dass Thomas Alva Edison (1847-1931) entscheidend beteiligt war an der Nutzbarmachung von Strom, am Phonographen und vom Film, ist ebenso bekannt, wie die Auseinandersetzungen um Ideen und Patente auf diesen Gebieten. Ein genialer und sehr eigensinniger Charakter, den Benedict Cumberbatch („Sherlock", „The Imitation Game") hervorragend spielen kann. Großartig die Szene, wie Edison seinen Zug nicht für den reichen und mächtigen Entwickler Westinghouse (Michael Shannon) stoppen lässt, weil seine Kinder müde sind. Einer der mächtigsten Männer seiner Zeit bleibt bedröppelt am Bahnsteig stehen. Daraus entwickelt der Film einen Kampf von Gleich- gegen Wechselstrom, geführt mit blindem Ehrgeiz von Edison und milder Bewunderung bei Westinghouse.

Eine Karte der USA im berühmten Edison-Labor von Menlo Park zeigt, worum es geht: Eine weiße Glühbirne für die Staaten, die Gleichstrom von Edison installieren lassen und rote für den Wechselstrom Westinghouses. Dabei sind schon die Glühbirnen umstritten. Eine Entwicklung Edisons, die sie mehr als nur Minuten brennen lässt, „übernimmt" der Konkurrent. Als Gerichte schließlich wenigstens die Schraubfassung dem ursprünglichen Entwickler zusprechen, setzt der Gegner den Glaskopf auf eine Steckfassung. So wird verständlich, weshalb das verbissene Genie Edison sich bestohlen fühlt.

Die Figur des großen Erfinders ist, exzellent gespielt von Cumberbatch, nicht nur stark in den egozentrischen Szenen. Auch die emotionalen Momente einer großen Liebe zu seiner Frau Mary (Tuppence Middleton), die früh stirbt, beeindruckt. Auf der anderen Seite wird auch der großherzige Westinghouse von seiner ehrgeizigen Frau Marguerite (Katherine Waterson) unterstützt. Das Duell erweitert irgendwann der wirklich geniale jungen Einwanderer Nikola Tesla (Nicholas Hoult).

Der größte Visionär, der Strom ohne Kabel übertragen konnte, wird letztendlich groß scheitern. Der Film um den „Current War" (Originaltitel, der „Kampf um die Spannung") stellt immer wieder Gewissensfragen an beide Konkurrenten: Weshalb treiben sie ihre Erfindungen und Entwicklungen weiter? Für die Menschheit? Für den eigenen Ruhm? Für den Sieg in der persönlichen Auseinandersetzung?

Selbstverständlich kann man einen Film über Edison wirklich nicht einfallslos gestalten. Oder noch weniger spannungslos. Die Kamera schwebt oft durch Gesellschafts- und Laborsituationen. Die Musik von Volker Bertelmann („Lion – Der lange Weg nach Hause") und Dustin O'Halloran („Marie Antoinette") erinnert öfters an Philip Glass.

Auch wenn es im Höhepunkt der Auseinandersetzung um die Ausleuchtung der Weltausstellung von Chicago 1893 geht, ist der Film eher dem Geiste Teslas zuzurechnen – er ist anders, avancierter. Und besonders gewitzt in den Momenten des Gemeinsamen: Wenn Westinghouse am Ende seiner Karriere als höchste Auszeichnung ausgerechnet eine Edition-Medaille erhält. Oder wenn Edison in einem seiner Filme die Niagara-Fälle aufnimmt, die in nie vorstellbarem Umfang Strom für Westinghouse und Tesla erzeugen.

Nun kann man gerade im Kino viel über Corona klagen, aber dieser Film hat auch einiges mitgemacht: 2017 war er schon fertig, lief auf dem Festival in Toronto. Was wir zu sehen bekommen, ist eine überarbeitete Fassung: Fünf Szenen wurden neu gedreht, andere zehn Minuten fehlen. Insgesamt ist dieses Porträt des wahnsinnigen Erfinders als Privatmensch, Ehemann und Vater gelungen. Die Widersprüche eines Mannes, der sich immer weigerte, an Waffen zu arbeiten, der aber den elektrischen Stuhl entwickelte. Die Liebe zu seiner Familie und die Gnadenlosigkeit, mit der er Konkurrenten ausschaltete, halten den Film spannend und interessant.

7.6.20

World Taxi


BRD 2020 Regie: Philipp Majer 85 Min. FSK ab 12

1991 ließ Jim Jarmusch in „Night on Earth" unter anderem Winona Ryder, Gena Rowlands, Armin Mueller-Stahl und Roberto Benigni in einer Nacht im Taxi durch fünf Städte und fünf Geschichten fahren. Fast dreißig Jahre später wiederholt Regisseur Philipp Majer in seinem gelungenen „World Taxi" die Idee als Dokumentation: Bangkok, Pristina, Dakar, El Paso und Berlin sind die Städte, in denen er jeweils über 24 Stunden fünf TaxifahrerInnen begleitet. Interessant, informativ, manchmal komisch und immer unterhaltend.

Es bleibt nicht aus bei einer solchen Reise im Taxi: Man lernt Menschen kennen, Länder und Regionen. Im Kosovo überall riesige Plakate mit Bill Clinton, der „die Freiheit gebracht hat". Zu den Freiheiten gehört wohl auch, einen anderen Autofahrer auf Schadensersatz abzuzocken, weil der Seitenspiegel eines Taxis verstellt wurde. Aber ansonsten weitgehend undramatisch erfahren wir im Süden der USA, wie der Anschlag in Las Vegas kurze Zeit vorher die Stimmung beeinflusst. Ebenso wie das katastrophale Gesundheitssystem der USA oder der Blick durch den Grenzzaun nach Mexiko.

Einen Themenblock bilden selbstverständlich die Preise. Eifrig verhandelt im Senegal, kommentarlos gesetzt in den USA. Dazu die völlig unterschiedlichen Arbeits- und Lebens-Bedingungen. Etwa im riesigen Camp für die Fahrer am Bangkoker Flughafen, wo Fitness-Center und Küchen für die tagelangen Wartezeiten zur Verfügung stehen. Der thailändische Taxifahrer nimmt das gelassen hin, fröhlich wie die bonbonfarbenen Toyota-Taxis.

Die raue Berlinerin und vor allem ihre Gäste aus dem Nachtleben könnten wahrscheinlich einen ganzen Film füllen. Da ist der Schotte, der nach 16 Stunden in Berliner Club Berghain im Taxi einschläft. Oder die Lesben, die der Taxifahrerin vor allem ihre Nummer für erotische Erlebnisse aufdrängen wollen.

Ein Gedanken-Austausch zwischen Fahrer und drei Frauen im Fond über die Vielehe im Senegal gehört zu den vielen interessanten Gesprächen in den Taxis. Aber auch Aufnahmen von draußen lassen vor allen Dingen in Zeitlupe viel Zeit für eigene Betrachtungen und Entdeckungen. Überhaupt machen abwesende Kommentare und eine breite Palette von Themen den Film zu einem angenehm offenen und freien Roadtrip, der seinen Fahrpreis wert ist.

Nationalstraße


Tschechien, BRD 2019 (Národní trída) Regie: Stepan Altrichter, mit Hynek Čermák, Kateřina Janečková, Jan Cina, Václav Neužil 91 Min. FSK ab 16

„Vandam" (Hynek Cermák) ist ein Idiot und Schläger, der sich wundert, dass alles in Politik und Gesellschaft gegen ihn läuft. Sein Spitzname, nach dem belgischen Action-Schauspieler Jean-Claude Van Damme, wird selbstverständlich direkt mal falsch geschrieben. Der Prager Möchtegern-Held kann sich vor allem prügeln und viele Liegestütze. Er ist kein Nazi, aber ... In seiner hässlichen Stammkneipe ist er legendär, weil er 1989 angeblich auf der Nationalstraße in Prag mit einem Faustschlag die Samtene Revolution ausgelöst haben soll. Allerdings war er damals schon auf der falschen Seite, schlug als Polizist einen Demonstranten und wurde tatsächlich wegen seiner Drogenabhängigkeit rausgeworfen.

Nun will Vandam bei der jüngeren Kneipenchefin Lucka ran und macht sich deswegen zur Aufgabe, ihre verschuldete Kneipe zu retten. Indem er den Anzug-Typen von der großen Firma zusammenschlägt. Und als letzter kapiert, dass der Ausverkauf nur ein kleiner Teil einer großen Umgestaltung der Gegend ist.

Die Glatzen als letzte Bastion gegen die Gentrifizierung? Die Adaption eines Romans von Štěpán Altrichters wirkt wie die Verfilmung von „Man muss auch mit den Rechten reden". Und der Film lässt Vandam viel reden. Der simpel gestrickte Protagonist meckert und jammert die ganze Zeit hinter seinem Bier am Stammtisch: Gegen all diese Schweine da oben, gegen all diese Schweine da unten. Immer sind die anderen schuld - an dem Scheiß, den er baut, dass er den Führerschein verloren hat und aus dem Polizeidienst geflogen ist.

Das lässt sich in „Nationalstraße" auch schwer ertragen, weil der nur mäßige Versuche anstellt, den erschreckend banalen und brutalen Idioten zu überhöhen. Passend dazu ist das Objekt, um das sich alles dreht, eine ausgesucht hässliche Kneipe. Wohlgemerkt nicht so stilvoll hässlich wie „Der goldene Handschuh" aus Fatih Akins Film in Hamburg. Im Vorort von Prag stehen einfach nur Resopal-Tische. Und nie wird nachvollziehbar, weshalb die nicht einfach weg können.

5.6.20

Auf der Couch in Tunis / Start 30.7.


Frankreich, Tunesien 2019 (Un divan à tunis) Regie: Manele Labidi, mit Golshifteh Farahani, Majd Mastoura, Hichem Yacoubi 88 Min.

Nein, der ältere Herr mit Zigarre und Fez auf dem Bild ist nicht der Vater oder der Opa von Selma. Sie erklärt dem Umzugshelfer „Mein Chef", aber man erkennt Freud auf seinem bekanntesten Porträt. Ja, weshalb die Psychoanalytikerin aus Paris ins Tunis nach der Diktatur von Ben Ali zurückkehrt, versteht niemand. Und auch nicht, weshalb sie eine Praxis für Psychoanalyse aufmachen will: „Das ist hier nicht Europa. Wir haben Gott. Wir brauchen diesen Quatsch nicht."
 
Die Nachbarschaft stellt sich beim Einzug ins Dachstübchen der Tante mit netten kleinen Szenen vor. Die westliche Frau mit Tattoos wird aber auch beim Autokauf vom vermeintlichen Freund des exilierten Vaters als „Scheiß-Immigrantin" beschimpft und betrogen. So ist Selma mit einem uralten Peugeot-Transporter in wilder arabischer Dekoration unterwegs, um im Chaos der Stadt Klienten zu finden. Was schnell und einfach klappt. Die aufgedonnerte Friseurin, die meint, Araber reden beim Friseur oder im Haman, danach „seien sie sauber", wird zur besten Kundin. Aber für die fehlende Arbeitsgenehmigung muss Selma durch ein kafkaeskes Gesundheits-Ministerium, in dem die unfähige Mitarbeiterin Reizwäsche verkauft.

Selmas persönliche Geschichte vermengt sich mit witzigen Szenen auf der Couch, aus denen sich kleine Portraits von menschlichen Schwächen und Vermeidungstaktiken ergeben. Der Onkel und Vermieter trinkt im Ramadan Alkohol aus der Cola-Dose. Die eigene Tante beneidet sie um die Freiheiten, der lebensmüde Iman aus dem gleichen Haus kann endlich mal reden. Dazu gibt es einen interessanten Polizisten (Majd Mastoura) mit vielen Fähigkeiten und Gesichtern.

„Auf der Couch in Tunis" trumpft vor allem mit der iranischen Schauspielerin Golshifteh Farahani („Alles über Elly" 2009, „Huhn mit Pflaumen" 2012, „Pirates of the Caribbean: Salazars Rache" 2017) auf, die seit 2009 in Frankreich lebt. Der Debütfilm der in Frankreich aufgewachsenen Manele Labidi (Regie und Buch) ist eine leichte Komödie, aber nicht eine der ganz flachen. Die Reibung zwischen den gegenseitigen Vorurteilen kommt vor, auch eine wilde Cousine mit sehr widersprüchlichem Verhalten wie der Punk-Frisur unter dem Hijab. Alles bleibt vor allem komisch, aber es gibt keine leichte Lösung. Das passt zu Selma, die eigentlich nicht erklären kann, weshalb sie nach Tunis zurück will. Bei den Filmfestspielen von Venedig gewann die Komödie 2019 den Publikumspreis.

3.6.20

Monos


Kolumbien, Argentinien, Niederlande, Dänemark, Schweden, Uruguay, BRD, USA 2019 Regie: Alejandro Landes, mit Julianne Nicholson, Moisés Arias, Sofía Buenaventura, Julián Giraldo 103 Min. FSK ab 16

Acht jugendliche Soldaten, angeführt von einem kleinwüchsigen Comandante, bewachen in einer bizarren Berglandschaft mit Bunker-Resten eine Geisel (Julianne Nicholson) und eine Kuh. Es gibt ein absurdes, blindes Fußballspiel. Wildes Raufen als Spiel oder Machtkampf? Ein Geburtstag wird mit Schlägen gefeiert, eine Hochzeit barbarisch mit Gewehr-Salven. Die Wilden in Uniform namens Rambo, Schlumpf, Bigfoot, Lady, Lobo, Perro, Sueca und Boom Boom sind verspielt und amoralisch lebensgefährlich mit ihren Maschinengewehren. Das ist unheimlich fesselnd, gerade weil die Situation in vieler Hinsicht unklar bleibt.

Es ist Kolumbien, es ist Bürgerkrieg, aber weiterer konkreter politischer Hintergrund lässt sich kaum greifen. Dafür erinnert der ungemein starke Film „Monos" atmosphärisch an den Wahnsinn von „Apocalypse Now" - die Kurzen könnten alle Colonel Kurtz sein. Ein Trip mit halluzinogenen Pilzen geht nahtlos über in einen mit Infrarot-Bildern gezeigten Luftangriff. Auch der „Herr der Fliegen" kommt einem gleich in den Sinn und wird mit Schweinekopf und Kriegsbemalung als Referenz bestätigt. Dazu im Spiel von Profis und Laien eine Körperlichkeit wie in Claire Denis' „Beau Travail". Eine durchdringend avantgardistische Tonspur (Mica Levi) verstärkt das Unbehagen, von dem man sich trotzdem nicht lösen will. Auch die geniale Kamera des Niederländers Jasper Wolf saugt hinein in den Strudel archaischer, wahnsinniger oder einfach militaristischer Kinderspiele. Weniger die Fragmente einer offenen Handlung mit Rebellionen und Fluchten interessieren dabei. Es werden in „Monos" mit seiner außerordentlichen Gestaltung Visionen eröffnet, die mit großer Kraft nachwirken. Ein erschütterndes und einzigartiges Kino-Ereignis (übrigens gefördert von der Film- und Medien-Stiftung NRW) - der einzig geeignete Film, um überzeugend das Ende der Corona-Schließungen zu feiern.

2.6.20

Rettet den Zoo


Südkorea 2020 (Secret Zoo / Hae-chi-ji-ahn-ah) Regie: Jae-gon Son, mit Jae-hong Ahn, So-ra Kang, Yeong-gyu Park, 118 Min. FSK ab 6

Koreanische Filme wie „Parasite" oder „Snowpiercer" gehören zu den besten, die man zurzeit sehen kann. Allerdings nur die besseren koreanischen. Wenn jetzt in der Corona-Flaute mit „Rettet den Zoo" eine nicht mal absurde Komödie auf den deutschen Markt kommt, sollte man vorsichtig sein und lieber den ebenfalls noch laufenden Oskar-Sieger „Parasite" gucken.

Der junge Tae-soo (Ahn Jae-hong) buckelt sich durch eine renommierte und berüchtigte Anwaltskanzlei, um endlich vollwertig aufgenommen zu werden. Zuletzt soll er sehr fachfremd einen Pleite-Zoo sanieren ... dem schon alle großen und attraktiven Tiere gepfändet wurden. Letztlich bleibt den verbleibenden Mitarbeitern nichts anderes übrig, als sich in Tierkostümen selbst in die Gehege zu legen.

Das ist alles eher seltsam als komisch, bevor „der Spaß" erst nach 40 Minuten endlich losgeht, wenn Zoodirektor, Ärztin und andere Mitarbeiter in Tierkostümen posieren. Und Schwung bekommt es erst, wenn „der Gorilla" das gebrochene Herz der Ärztin rächen will - mit einem Überfall im Laden des Idioten. Erzählt mit der Geschwindigkeit eines Faultiers beim Powernapping wird kurz das Thema Raubtier-Kapitalismus gestreift. Ja, auch ein bisschen Tiefgang kommt vor, weil sich ja die Menschen in die Haut der Tiere versetzen und sich fragen, wie man so eingesperrt leben kann, ohne trübsinnig zu werden. Doch so ganz untypisch für alle bekannteren koreanischen Filme, verläuft die Läuterung des gelackten Anwalts und Karrieristen erschreckend konventionell ohne Brüche oder Twists.

Doch vor allem gab es mal diese großartige Zoo-Komödie „Wilde Kreaturen" (1997, Originaltitel: Fierce Creatures) mit John Cleese, Jamie Lee Curtis und Kevin Kline. Ein echter Knaller, umwerfend komisch dieser Nachfolger von „Ein Fisch namens Wanda". Dagegen hat man jetzt das Gefühl, hier versteckt sich irgendein Ladenhüter im Plastikfell eines richtigen Kinofilms.

1.6.20

Suzi Q


Australien 2019 Regie: Liam Firmager 98 Min.

Als klassische Musiker-Biografie erzählt „Suzi Q" die Karriere eines Mädchens aus Detroit City nach, das als Bass-Spielerin und Rockerin im Lederoverall mit ihrem internationalen Durchbruch im Jahr 1973 die Rolle der Frau im Rock'n Roll neu auskleidete. Schon früh startete Suzi Quatro mit Schwestern und Freundinnen die erfolgreiche Mädchenband „Pleasure Seekers", brach die Schule ab und tourte in den USA. Entschlossen, im Musikgeschäft Erfolg zu haben, zog Suzi Quatro nach London, wo sie mit dem Musikproduzenten Mickie Most an einer internationalen Karriere arbeitete. Mit „Can the Can" gelang der erste Nummer-1-Hit. Leicht angeraute Songs wie „48 Crash" oder Schmonzetten wie „Stumblin' In" mit „Smokey" Chris Norman wurden zwar keine Meilenstein der Musikgeschichte, fürs Bravo-Poster reichte es. Später kam eine TV-Rolle in der „Sitcom Happy Days" hinzu, Andrew Lloyd Webber gab ihr 1985 die Titelrolle im Musical „Annie Get Your Gun".

Gerade der Moment des Durchbruchs zeigt die Schwäche dieser Dokumentation: Ganz schlecht montiert kommt nie Begeisterung auf. „Suzi Q" lässt viel zu oft die Talking Heads anstelle der Musik sprechen. Diese - unter anderem Alice Cooper, ihr wesentlich schlechter gealtertes Groupie Joan Jett oder „Blondie" Debbie Harry - erzählen dann vor allen Dingen von der Rolle als „erster weiblicher Rockstar". Ansonsten sieht man eine anscheinend in sich ruhende Musikerin, Schauspielerin, Mutter und Großmutter gelassen zurückblicken. Nur der Neid der in Detroit ohne Erfolg zurückgebliebenen Schwestern verletzt immer noch. Aber bis auf ein paar Erklärungen zum Leben mit einer öffentlichen und einer privaten Identität ist diese Bio im Gegensatz zum alten Image kantenfrei und einfach langweilig.

La Palma


BRD 2019 Regie: Erec Brehmer mit Marleen Lohse, Daniel Sträßer 88 Min. FSK ab 0

Deutsche Pärchen-Befindlichkeiten breiten sich im aktuell jungen deutschen Film gerne im Süden aus. Siehe Maren Ades „Alle anderen" (2009) viele Filme mehr am Meer. Dort landen auch die dänische Workaholic-Zicker Sanne (Marleen Lohse) und ihr unreif verspielter Freund Markus (Daniel Sträßer). Allerdings auf der falschen Insel: La Palma statt Las Palmas auf Gran Canaria. Markus versucht, aus seiner falschen Flugbuchung das Beste zu machen. Er bricht in ein leerstehendes Ferienhaus ein und beginnt ein Rollenspiel, in dem er der spanische Plantagen-Besitzer Pablo und sie die Zufallsbekanntschaft Alba ist. Doch, wie die erste Szene mit klasse Schauspiel zeigt, brechen die Spannung zwischen der Rationellen und dem Witzbold immer wieder auf. Er hat angeblich „keine Eier" und sie kein Herz. Das Spiel gerät unter dem Druck eines Beziehungsweise-Scheiterns verzweifelt.

Mit einer verrückten Idee, die an „Toni Erdmann" (2016, wieder Maren Ade) erinnert, ziemlich übliche Beziehungsprobleme angehen. Das ist in „La Palma" manchmal originell, aber auch oft so quälend wie eine scheiternde Liebe. Sanne und Markus können beide Spaß machen und einem auf die Nerven gehen, wenn sie mit passend kläglichen Nachmach-Dialekten immer wieder aus ihren und in ihre Rollen als vermeintliche Spanier Alba und Pablo fallen. Mit dem kleinen Film ergeht es einem ähnlich.

Eine Geschichte von drei Schwestern


Türkei, BRD, Niederlande, Griechenland 2019 (Kiz Kardeşler) Regie: Emin Alper, mit Cemre Ebuzziya, Ece Yüksel, Helín Kandemír, Kayhan Açikgöz 108 Min.

Zurück zum Absender: Wie eine unerwünschte Warensendung landen die drei Schwestern Reyhan (20), Nurhan (16) und Havva (13) nacheinander wieder bei ihrem Vater in einem abgelegenen Dorf in Zentralanatolien. Sie sollten als Dienstmägde in größeren Orten arbeiten, aber Havva verprügelte regelmäßig die anderen Kinder, auf die sie aufpassen soll, Reyhan wurde schwanger und bei Nurhan starb der Betreuungsfall. 

Nach einer langen Fahrt durch karge Landschaft, die an Nuri Bilge Ceylans meisterliche Filme erinnert, geht es also zurück in das kleine dunkle Loch der Wohnung aus Steinblöcken. Dort schläft die ruhige Reyhan im „Wohnzimmer" mit ihrem rasch angeheirateten Veysel und träumt vom Leben in der Stadt. Der einfältige Ehemann versagt selbst als Schafhirte und der Vater erzählt mit anderen Männern Geschichten am Feuer. Zu tun gibt es nichts mehr, seit die Mine einstürzte.

„Eine Geschichte von drei Schwestern" referiert lose an Anton Tschechows Theaterstück „Drei Schwestern". Unter guten, ruhigen Bildern erzählt Emin Alper („Abluka - Jeder misstraut jedem") in diesem Festivalerfolg ein schweres und träges Drama mit viel Dialog, konsequent wenig Entwicklung und einer erhofften Flucht, die nie gelingt. Denn wie die Schwestern verlässt auch die Handlung nie das winzige Dorf, eingesperrt von eindrucksvoller Berglandschaft. Es gibt nur einen Moment der Freiheit, wenn die verrückte alte Hatice mit Purzelbäumen die Wiese herunterrollt. Auch nur ein Kreis, der sich dauernd wiederholt, aber wenigstens kurzzeitig Spaß macht.