28.12.11

Filmstiftung Jahresbilanz 2011

Rekordjahr und Neuanfang

Köln. Mit einer bislang unerreichten Produktionssumme von 315 Mio. Euro schließt die „Film- und Medienstiftung NRW" das Jahr 2011 ab. An 953 Drehtagen im Bundesland gab es reichlich „Star-Alarm", wie die neue Geschäftsführerin Petra Müller begeistert referierte. Das erste komplette Jahr unter ihrer Leitung charakterisiert sie mit „Phase 1", welche die Grundlage schaffen soll, um „dem Standort NRW eine größere Lebendigkeit zu geben". Die nationale und internationale Präsentation des Standortes NRW, der „in den letzten Jahren nicht die angemessene Wahrnehmung" erhalten habe, liegt Petra Müller am Herzen. So war die Filmstiftung auch auf der MIP, der TV-Messe in Cannes vertreten. Die gewohnten Festivalerfolge im starken Arthouse-Sektor fuhren 2011 Lars von Triers „Melancholia" in Cannes und bei den Europäischen Filmpreisen ein. Der ebenfalls vielfach ausgezeichnete „Pina" von Wim Wenders ist sogar noch im Oscar-Rennen.

133 Filme - vom internationalen Starkino bis zu Abschlussarbeiten der Kölner Filmschulen - wurden 2011 insgesamt mit 30,5 Mio. Euro gefördert. Für jeden Euro Förderung aus NRW werden mindestens 1,50 Euro in Nordrhein-Westfalen ausgegeben. 2011 lag der so erzielte „NRW-Effekt" bei 244 Prozent, jeder Fördereuro wurde also rund zweieinhalbmal im Land ausgegeben. So gelingt es über das NRW-Förderbudget hinaus, weiteres Geld in die NRW-Filmwirtschaft zu leiten. Die Gesamtherstellungskosten der in diesem Jahr geförderten Filme liegen insgesamt bei 315 Mio. Euro – ein Rekord für die Filmstiftung seit ihrer Gründung 1991.

Noch unter dem Eindruck von der Begegnung mit Michael Caine, der gerade in den Hürther MMC-Studios die Dreharbeiten zu „Mr. Morgan's Last Love", dem neuen Film vom Sandra Nettelbeck abgeschlossen hat, kennmerkte Petra Müller die Bilanz des Rekordjahres von drei Entwicklungen: Es gäbe eine verstärkte Rückkehr zu Literaturverfilmungen. Ungewöhnlich erfolgreich war der mit 3,9 Mio. geförderte Dokumentarfilm - nicht nur wegen der Erfolge von „Pina". Auch Künstlerbiografien wie „Gerhard Richter Painting", „Charlotte Rampling – The Look" oder „Brasch – Das Wünschen und das Fürchten" seien sehr gut im Kino angekommen. Zuletzt wäre auch wegen größerer Finanzierungsprobleme ein enormer Zuwachs der Koproduktionen zu verzeichnen gewesen, die von einen Drittel auf die Hälfte der geförderten Filme anstiegen. Ein weiteres wichtiges Förderfeld ist der Kinder- und Jugendfilm mit als Höhepunkt „Tom Sawyer". Andererseits wird es für die Kinos immer schwieriger, Kinderfilm zu zeigen, weil das junge Zielpublikum am Nachmittag kaum noch Zeit hat.

Neue Medien kommen beim Film unter
Die größte Änderung zeigt schon der zur „Film- und Medienstiftung NRW" erweiterte Name der bislang „reinen" Filmstiftung. Die zusätzliche Förderung von Projekten wie „Conserve the Sound", einem Online-Portal für verschwindende Geräusche, mit 30.000 Euro und der Fun-App „Feen flatschen!" (15.000 Euro) lassen den Filmetat unberührt. Zusätzliche 1,5 Millionen Euro für drei Jahre sorgen dafür, dass nicht das Geräusch eines Filmprojektors oder das Öffnen einer Kinotür demnächst mit zu den ausgestorbenen Geräuschen gehören. Petra Müller wollte in diesen frühen Stadium noch keine konkreten Ergebnissen in Sachen Konvergenz von Film und neuen Medien anführen, man sei selbst dabei, die Möglichkeiten der in NRW enorm starken Wachstumsbranchen Games und Digitales Marketing auszuloten. Überraschenderweise zeigten sich eher bei den Dokumentarfilmern Verbindungen zum Thema Crossmedia, der medienübergreifende Behandlung eines Themas, wie in diesem Jahr schon mit der cross­me­dia­len Serie „Alpha 0.7" geschehen. Beim AV-Gründerzentrum, an dem die Filmstiftung mit 25,1 Prozent beteiligt ist, seien die Hälfte der Anmeldungen aus dem digitalen Bereich, fügte Christina Bentlage, Leiterin der Förderung der Filmstiftung, hinzu.

Die Pressekonferenz in Köln war vielleicht die erste der letzten vom Film bestimmten Jahresbilanzen, doch es gibt für die nächsten Jahre noch genug Film zu drehen und zu sehen. 2012 kommen für den Dreh von „Zwei Leben" von Georg Maas Liv Ullmann, Juliane Köhler und Devid Striesow nach Nordrhein-Westfalen und in „Rush" von Ron Howard spielt Daniel Brühl Rennfahrer Niki Lauda.

27.12.11

Und dann kam der Regen - También la lluvia

Spanien, Frankreich, Mexiko 2010 (También la lluvia) Regie: Icíar Bollaín mit Gael García Bernal, Luis Tosar, Karra Elejalde 103 Min.

Wenn der Film mit seinen großen Produktions-Teams kommt, freut sich jedes Städtchen wegen der eitlen 15 Minuten Ruhm und übersieht dabei, dass hier Ausbeutung stattfindet. Ganz in der Tradition des Kolonialismus, der sich die fremden Rohstoffe raubte und mit den eigenen Produktionsmitteln Gewinn machte. Wie pervers, wenn ausgerechnet ein Film über die grausame Goldräuberei von Kolumbus mit billigen Statisten in Bolivien den Etat klein halten will. Nur dumm, dass der aufbrausende Einheimische die Rolle des rebellischen Häuptlings bekommt, der sich gleichzeitig im Kampf gegen einen multinationalen Wasserkonzern engagiert.

Noch wirkt sie komisch, die Ignoranz des Produzenten Costa (Luis Tosar), der billige Andenbewohner als Statisten für die Ankunft von Columbus castet: Der engagierte Regisseur Sebastián (Gael García Bernal) weiß genau, dass diese Bevölkerung hunderte Kilometer von den Küstenbewohnern entfernt lebt, die Kolumbus zuerst erblickte - und sie sehen auch ganz anders aus! Doch das gefährliche Aufstellen eines Kreuzes von Hand spart noch mal zehntausende Dollar und die ersten Sprechproben im Hotelgarten verlaufen eindrucksvoll: Da bezieht der spanische Schauspieler des (italienischen) Kolumbus die staunenden einheimischen Kellner mit ins Spiel ein - in genau der Rolle, welche die Ureinwohner erleiden mussten. Die ist nur der erste Moment, in dem die Realität die Fiktion einholt, in dieser auf mehreren Ebenen äußerst raffinierten Reflektion von Ausbeutung.

Per Hand graben die Menschen hier einen über sieben Kilometer langen Kanal, um Wasser von einer Quelle zu den Häusern zu bringen. Denn die arme Bevölkerung muss jährlich 450 Dollar für Wasser an einen multinationalen Konzern zahlen und darf nicht mal den Regen einfangen, wie der bessere Originaltitel die Knebelverträge zitiert. Die mit Hilfe der Polizei blutig zerschlagenen Demonstrationen schaukeln sich zu Straßenschlachten auf, derweil das Filmteam bei Tafelwasser, Wein und Zigarren im Hotel diniert und der zynische Hauptdarsteller Marie Antoinettes Spruch vom Kuchen als Ersatz für das nicht vorhandene Brot der Armen in Wasser und Champagner umwandelt. Doch ein anderer Schauspieler schlüpft bei den Gesprächen kritisch in die Rolle seines radikalen Befreiungs-Priesters.

So zeigt sich eine Wechselwirkung zwischen den Ebenen von Film-im-Film, den Dreharbeiten und dem Making Off-Video einer Assistentin, das aufnimmt, was tatsächlich in diesem Land passiert: Die grausame Verstümmelung der Indios, wenn sie ihr Soll an Gold nicht abliefern, spiegelt sich in der Rettung von Belen, der mitspielenden Tochter des Rebellen-Führers Daniel, die ihr Bein nach einer Straßenschlacht zu verlieren droht. Hier zeigt der anfangs aufs Geld fixierte Produzent längst mehr Mitgefühl als der von seinem Film besessene Regisseur. Es ist lächerlich, wie sich diese filmischen Invasoren nur um ihr Werk kümmern, während um sie herum der Krieg ums Wasser tobt - selbst bei einem angeblich engagierten Film! Richtig pervers wird deren Handeln, als sie ihren indianischen Hauptdarsteller nur für dessen letzte Szene aus dem Knast holen und dabei der Miliz die Rückgabe versprechen. Mittlerweile liegt soviel Verlogenheit (und Tränengas) in der Luft, dass auch der Produzent anfängt zu trinken. Aber in dieser großen Finalszene holt die Realität die Fiktion noch einmal ein: Daniel wird noch im Kostüm von seinen Indianern gerettet. Nur die Eroberer tragen statt Rüstungen Demokratie vortäuschende Polizei-Uniformen. „Und dann kam der Regen" schlägt immer wieder den Bogen vom Kolonialismus des Kolumbus zum Kapitalismus unserer Zeit.

Nach ihrem erschütternden Plädoyer gegen häusliche Gewalt „Öffne meine Augen" (2003) gelang der spanischen Darstellerin und Regisseurin Icíar Bollaín erneut ein herausragendes Werk. Mit dem Star Gael García Bernal als Aushängeschild, aber vor allem mit einer äußerst klugen und bedenkenswerten Geschichte verändert sie die Sicht auf Film und Filmemachen nachhaltig.

Blutzbrüdaz

BRD 2011 Regie Özgür Yildirim mit Sido, B-Tight, Milton Welsh, Claudia Eisinger 87 Min. FSK ab 12

Yo! Was geht ab, Alter!? Nicht viel, weil deine Mudda is so alt, die hat so 'nen Film schon 100 mal gesehen, mal gut, mal scheiße. Mit dem Elvis seine Karriere, mit den Abbas ihren Hits (gekonnt: Lasse Hallström), mit den Commitments (klasse: Alan Parker), die gab aber gar nicht und mit Eminems „8 Mile" (rund: Curtis Hanson), womit wir beim Genre HipHop wären.

Die Blutzbrüdaz Otis (Sido) und sein Kumpel Eddy (B-Tight) fangen an als zwei Deppen, die sich das Mikro fürs erste Tape klauen müssen, keine Ahnung vom Rappen haben, aber Karriere wollen. Dick und doof für Disser, kurz gereimt. Es gibt in Berlin noch die Mark und den Walkman, ebenso eine Beziehungsgeschichte mit Kassiererin und die klassische Erfolgsmontage, wenn die ersten Tapes weggehen wie warme Sampler. Doch für den Erfolg verrät Eddy seinen „Bruder" an Sony, Otis macht trotzdem seinen Weg gegen das System.

Deutsch-Rapper und Frauenverachter Sido gibt sich als alter ego Otis ganz zahm und weichgespült, singt er doch sowieso nur den Refrain auf Bushidos peinliches „Zeiten ändern Dich". Dabei sieht er aus wie ein Spießer und kann wirklich nicht gut schauspielern. Der Film schießt angeblich gegen böse Medienkonzerne und ihre klischeehaften Manager, wurde aber neben Fatih Akins unabhängiger Corazon-Produktion auch von der richtig fetten Constantin produziert. Falls man so was überhaupt ernsthaft kritisieren will.

Ich reise allein

Norwegen 2011 (Jeg reiser alene) Regie: Stian Kristiansen mit Rolf Kristian Larsen, Amina Eleonora Bergrem, Pål Sverre Valheim Hagen, Ingrid Bolsø Berdal 93 Min.

Wie bereitet man Cock au vin eigentlich auf Norwegisch? Man nehme einen verantwortungslosen, aber nicht unsympathischen Mann, konfrontiere ihn mit der schon etwas älteren Frucht einer lang vergessenen, aber kurzen Affäre, fügt etwas Studentenleben in fortgeschrittenen Semestern hinzu, ein paar schöne Bilder, einen netten Fratz, der herrlich schmollen kann. Das Ganze lässt man mit dem Publikum circa 90 Minuten in sanft süßer Soße schmoren und fertig ist der Wohlfühl-Film. Auch auf Norwegisch.

Unser zu läuternder Held heißt Jarle Klepp (Rolf Kristian Larsen) und passt mit seinen wilden, roten Haaren wunderbar zur Bude, in der sich die Bücherborde biegen und die Aschenbecher überfließen. Hier feiert er mit seinen Kumpels und diesem studentischen Lotterleben entsprang Ende der Achtziger die kleine Lotte (Amina Eleonora Bergrem). Deren Mutter kann Mitte der Neuziger nicht mehr, so dass Jarle plötzlich von seiner Vaterschaft erfährt und direkt am nächsten Tag auf das Kind aufpassen muss, während Mutter endlich mal Urlaub macht.

Nun ist Lotte echt ein nettes (Film-) Kind und macht so gut wie keine Probleme. Die hat Jarle mit seiner lockeren Bett-Freundin Herdis (Ingrid Bolsø Berdal), die doch mehr will und es ihm deutlich macht, indem sie zuerst mit Jarles Freund und dann mit ihrem Professor ins Bett geht. So macht der behauptete Bohemien Jarle, ein Literatur-Student ohne echte Geldsorgen, weiter wie gehabt. Lotte verdrückt mal ein paar Tränchen über die drohende Scheidung ihrer Eltern, aber ist vor allem ein schöner Katalysator für die Umgebung Jarles: Die enttäuschte Nachbarin, lässt ihre verlorenen Hoffnungen mit einer Ohrfeige raus. Der Kumpel schmilzt dahin, als er zum „Onkel" ernannt wird. Jarles Mutter kümmert sich gerne um das unerwartete Oma-Glück.

Ihren leiblichen Papa erdet das Mädchen mit einfachen Fragen: Reparieren die hier irgendwas an der Universität? Weil der vergeistigte Philosoph sich schwer mit dem Mädchen und ihren Kinderliedern verständigen kann, müssen sie eine gemeinsame Sprache finden. Auf diesem Weg klickt Lotte sehr symbolisch den großen Artikel für die renommierte Tageszeitung Morgenposten endlich als Mail weg - der Denker war nicht zu dieser Tat fähig. Mit intellektuellem Gesülz redet er an den Realitäten vorbei und versucht, sich aus ihnen raus zu stehlen. Doch er lernt schnell, organisiert (mit Hilfe der Karnevals-Philosophie von Michail Michailowitsch Bachtin) einen tollen Kindergeburtstag, küsst bei der Feier aber wieder die Falsche. Oder doch nicht?

Im offenen Prozess, den vergeistigten, unreifen Jarle zu erden, bleibt auch der Film angenehm am Boden. Er rührt ohne großen Schmalz, unterhält recht lebensnah. Die eigentlichen Dinge werden klar gesagt: „Ich reise allein" gilt für Lotte, die alleine im Flieger ankommt. Und für Jarle, der alleine im Bus nach Hause fährt, nachdem Lotte und ihre Mutter wieder weg sind. Das ist ein schönes Bild für das gefühlte furchtbar allein im Leben sein - ganz pur und ohne Zitate großer Philosophen.

„Ich reise allein" ist vielleicht nicht so populär wie der auch emotional geschwätzige Schweiger „Kokowääh",ist nicht so verlogen wie in der Science Fiction-Variante „The Kid" mit Bruce Willis. Es ist halt das norwegische Rezept.

21.12.11

In guten Händen

Großbritannien, Frankreich, BRD, Luxemburg 2011 (Hysteria) Regie: Tanya Wexler mit Maggie Gyllenhaal, Hugh Dancy, Jonathan Pryce, Felicity Jones, Rupert Everett 100 Min.

Vibratoren setzt man eher mit Beate Uhse in Verbindung als mit Queen Victoria und ihrem als prüde geltenden Zeitalter. Doch Anfang der Achtziger des vorletzten Jahrhunderts feiert der Londoner Arzt Dr. Robert Dalrymple (Jonathan Pryce) große Erfolge mit einer besonderen Behandlungsmethode. Seine „Manipulation" zu Entspannung angeblich hysterischer Frauen, die komplett bekleidet im Behandlungsstuhl liegen, führt bei wöchentlichen Terminen sicher zum - rein medizinisch notwendigen - Orgasmus. Als der junge Kollege Dr. Mortimer Granville (Hugh Dancy,) in das Arzthaus mit braver, junger Tochter Emily Dalrymple (Felicity Jones) einzieht, füllt sich der Terminkalender, aber auch eine Art Tennisarm macht sich bei Behandler störend bemerkbar. Während sich äußerst zurückhaltend eine Verbindung mit Emily anbahnt, sind die Begegnungen mit der verstoßenen Tochter Charlotte Dalrymple (Maggie Gyllenhaal) vor allem stürmisch. Das liegt an ihrem enormen Temperament, mit dem sie ihr Armenhaus unterstützt, in einer Zeit mit zwei Dritteln der Bevölkerung in elender Armut. Aber erst nachdem Mortimer zusammen mit seinem ebenso lebenslustigen wie einfaltsreichem Erfinderfreund Lord Lord Edmund St. John-Smythe (Rupert Everett) einen elektrischen Apparat zur Unterstützung seiner „Manipulation" entwickelte, kommen Dickkopf Charlotte und der verhaltene Mortimer zusammen

Maggie Gyllenhaal spielt in dieser komischen Rolle die leibhaftige Provokation Charlotte herrlich unweiblich. Die tolle Frau mit dem großen Herzen beeindruckt nicht nur als Gegensatz zur braven Streberin in Form der kleinen Schwester. Hugh Dancy als Dr. Mortimer hingegen steht nur der selbst total verklemmte Schwiegersohn. Der unauffällige Schauspieler verblasst in fast allen Szenen, vor allem, wenn Rupert Everett als lustig lustvoller Lord nicht nur eifrig eines der ersten Telefone nutzt, sondern gleichzeitig auch Telefonsex erfindet oder seiner Mutter einen Vibrator empfiehlt. Wenn auch die furchtbar sexistische und grausam behandelte Hysterie ebenso wie die Erfindung des Vibrators historisch korrekt sind, ebenso wie die historisch sehr interessanten Modelle im Abspann, geht es der Geschichte vor allem um großen Spaß: Die Opernsängerin Castellari (oder Castafiore?) trällert auf dem Höhepunkt der „Behandlung", die Wissenschaftler staunen und vor allem die Frauen im Saal amüsieren sich köstlich. Denn trotz zahlreicher Orgasmen ist fast jeder bei diesem Film, der nicht einmal ein nacktes Frauenknie zeigt, in guten Händen.

Sherlock Holmes - Spiel im Schatten

USA 2011 (Sherlock Holmes: A Game of Shadows) Regie: Guy Ritchie mit Robert Downey jr., Jude Law, Jared Harris, Noomi Rapace, Stephen Fry 128 Min. FSK ab 12

Zweiter Teil und doch sensationell: Die Fortsetzung der in Retro-Futurismus getauchten Sherlock Holmes-Verfilmung ist dank eines hervorragend aufgelegten Guy Ritchie ein großartiger Action-Spaß mit tollen Figuren und einer erschreckend treffenden Anti-Kriegs-Thematik.

Europa wird von Bomben-Attentaten erschüttert und Watson (Jude Law) heiratet. Es bleibt unklar, was von beiden schlimmer ist für Meisterdetektiv Sherlock Holmes (Robert Downey jr.). Doch mit seiner Gabe, Dinge vorauszuberechnen, wird der Junggesellenabschied in einer Spielhölle zum Multitasking-Abenteuer. Holmes befragt eine Hellseherin (Dragon Girl Noomi Rapace aus „Millennium") nach deren Bruder, rettet sie vor einem kosakischen Killer und mischt den ganzen Laden kräftig auf. In rasender Abfolge von Schlägen und Wendungen führt die Spur zum Erzfeind Professor Moriarty (Jared Harris), der bald Holmes geliebte Feindin Irene Adler (Rachel McAdams) ermordet. Sie ist jedoch nur ein Bauernopfer im großen (Schach-) Spiel zwischen Holmes und Moriarty, bei dem es nebenbei darum geht, einen Weltkrieg zu verhindern.

Neu ist die Idee nicht, dass der Oberschurke große Mächte für sich gewinnbringend aufeinander hetzen will, das gab es in zahllosen Filmen, Bonds, dem letzten „Mission Impossible" und sogar im parodistischen „Johnny English". Doch diese innere Triebfeder bleibt im Hintergrund und die vorgeführte Mechanik ist auf allen Ebenen zum Staunen. Erst einmal ist der Action-Clown Holmes in vielen Verkleidungen damit beschäftigt, eifersüchtig zu sein. Das Beziehungsdrama mit Watson geht so weit, dass Holmes die frisch vermählte Ehefrau aus dem Zug wirft und sich selbst in Frauenkleidern mit dick Lippenstift neben den Partner legt. Allerdings fliegen ihnen da auch schon wieder Kugeln um die Ohren und die Mordinstrumente kommen alle aus einer Fabrik. Die düstere Waffenschmiede bei Heilbronn (Mischung zwischen Mauser und Krupp) ist zum Bersten gefüllt mit Todesmaschinen, die grimmige Germanen zu gerne auf Holmes und seine Gefährten richten.

Diese stärkste Szene des Films verbindet für Ritchie typische Zeitlupen und -raffer, brutale Einschläge in Super-Slow-Motion und die Poesie extrem gestylter Stilleben, die zuletzt in „Melancholia" des Lars von Trier zu erleben waren. Der Schrecken gigantischer Kanonen, die erst im Ersten Weltkrieg zum Einsatz kommen werden, ist nicht die einzige, deutliche politische Stellungnahme. Moriarty macht finster lächelnd klar, dass der Geist des Kapitalismus mit der für die Exportbilanz so wichtigen Waffenindustrie ganz von allein Kriege produziert, dass es gar keines Bösewichtes bedarf, um Staaten gegeneinander aufzuhetzen. Wenn Moriarty Holmes zu den Klängen von Schuberts Forelle zur Folter an den Fleischerhaken hängt, ist dies auch ein kleiner Vorgeschmack vom Nazi-Grauen-Klischee des Hochkultur-Barbaren.

Doch dies ist nur ein Aspekt des gelungenen Comebacks von Guy Ritchie. Mit großem Vergnügen stürzte sich der frisch Getrennte in die Möglichkeiten des Steampunk, lässt Holmes 1891 mit dem ersten Auto durch London fahren und zieht die Erfindung des Giftgases ein Viertel Jahrhundert vor. Robert Downey jr. gibt seinem Holmes kräftig Zucker, dessen Depression aus Teil Eins ist verschwunden, vielleicht liegt es an den Cocablättern aus seinem Büro. Jude Law geht zurückhaltend in die Rolle des Watson auf. Nebenbei ist es herrlich, wie die stockschwule Oscar Wilde-Wiedergeburt Stephen Fry Holmes' schwulen Bruder Mycroft gibt. Eigentlich auch nicht verwunderlich, dass das Universalgenie Fry hier mitmacht, denn dieser „Sherlock Holmes" ist tatsächlich eindrucksvolle Action mit Stil und Köpfchen.

20.12.11

Sarahs Schlüssel

Frankreich 2010 (Elle s'appelait Sarah) Regie: Gilles Paquet-Brenner mit Kristin Scott Thomas, Mélusine Mayance, Niels Arestrup, Frédéric Pierrot, Michel Duchaussoy 104 Min.

Die Deportation von Zehntausenden Juden durch die Mithilfe der Pariser Polizei am 16. und 17. Juli 1942, „La Rafle" genannt, war schon Thema des Films „Die Kinder von Paris". Diese Kollaboration ist also nicht ein „Ein Geheimnis" wie im ähnlich gelagerten Film von Claude Miller. Regisseur Gilles Paquet-Brenner schickt in der Bearbeitung des gleichnamigen Romans von Tatiana de Rosnay die bekannte Schauspielerin Kristin Scott Thomas („Der englische Patient") als Journalistin Julia Jarmond auf die Suche nach einer düsteren Vergangenheit. Als ihr Mann die Wohnung seiner Großeltern für das Paar renovieren will, zeigt sich, dass diese Nachmieter einer gerade deportierten jüdischen Familie waren. Die Tochter Sarah versteckte damals ihren kleinen Bruder geistesgegenwärtig im Wandschrank, doch niemand rechnete damit, dass ganze Familien in einem Radstadion und später in Lagern festgehalten wurden, bevor viele von ihnen umgebracht wurden. Sarah kann zwar fliehen und sich unter Bauern verstecken, aber ihren Bruder nicht retten. Die Schuld zerstört auch ihr Leben.

Diese dramatische Geschichte wird scheinbar unvermittelt mit den heutigen Problemen von Julia montiert, die spät schwanger wird und deren überarbeiteter Mann nicht noch ein Kind will. Dabei bleibt Julias Motivation für ihre obsessive Suche schwer verständlich. Zwar wird bei dieser französische Vergangenheitsbewältigung klar, dass viele Leute eine Leiche im Keller oder im Wandschrank haben, dass es viele Arten gibt, von Krieg Vertreibung und Völkermord zu profitieren, sei es mit florierender Waffen-Industrie oder mit einer neuen Wohnung. Dass der vielleicht nicht geeignete Partner nun sogar noch solche Profiteure als Großeltern hat, ist zuviel des Schlechten. Auch wenn Julia sich vom Leid der Opfer selbst in dritter Generation emotional angezogen fühlt, wirkt das befremdlich. So verlieren (sich) die erschütternden Szenen aus Stadion und Lager in einer ansonsten inhaltlich und auch im Verlauf zerfaserten Rahmenhandlung. Da kann auch die ansonsten zu mehr Ausdruck fähige Kristin Scott Thomas nichts mehr retten.

19.12.11

Alvin und die Chipmunks 3: Chipbruch

USA, Kanada 2011 (Alvin and the Chipmunks: Chip-Wrecked) Regie: Mike Mitchell mit Jason Lee, David Cross, Jenny Slate 87 Min.

Das Traumschiff für Kinder: Wo sich ansonsten Harald Schmidt und Christoph Maria „Stromberg" Herbst von jeder geistigen Anstrengung erholen, breitet sich nun einer der nervigsten Kinderfilme aus. Die sechs animierten Beutelratten (oder waren es doch Eichhörnchen?) namens Chipmunks reisen mit ihrem Zoowärter Dave (Jason Lee) per Schiff und nerven nicht nur mit quietschenden, viel zu hohen Stimmen, sondern auch mit typisch kindischem Verhalten. (Kindern das zu zeigen, sollte schon deshalb verboten sein!) Die pädagogische Lerneinheit in einer Nussschale lautet dabei: Die Kleinen sollen mal selbst etwas Verantwortung übernehmen dürfen. Deshalb stranden die sechs Nager und Nerver auch auf einer einsamen Insel und der Hauptquerulant Alvin übernimmt Führung und Verantwortung, während der Besserwisser Simon dank exotischer Drogen zum durchgeknallten Abenteurer wird.

Kein Eisberg rettet weit und breit, selbst der Vulkan der Insel sorgt viel zu spät für Mini-Action. „Alvin und die Chipmunks" zeigt wieder einmal das Verständnis von us-amerikanischen Produzenten, man könne Kindern alles verkaufen, wenn es nur niedlich ist und komische Geräusche macht. Dazu verkaufen wir ihnen noch eine Schiffsreise, eine CD und vielleicht ein paar Puppen der Filmhelden. Die weiblichen Chipmunks hören sich an wie Heidi Klum und betätigen sich dabei zu grausamer Billigmusik als Hupfdohlen mit Klamotten, die ihre beste Zeit als Tischdecke hatten. Denn die Chipmunks singen immer zwischendurch, was alles noch viel schlimmer macht. Dass auch Kinder Gutes hören können, bewies Disneys „Küss den Frosch" mit seinen Jazz-Einlagen. Es ist erstaunlich, welch enormer Aufwand an die Animation von tausenden Härchen und an eine extrem detaillierte Mimik verschwendet wird, während der Rest möglichst anspruchslos aus viel Geschrei und Klamauk zusammengeschustert wird. Jason Lee muss am Tiefpunkt seiner Karriere dauernd mit leerer Luft auf Fußhöhe reden. Mehr als heiße Luft kommt da nicht bei raus, allerdings schmerzhaft für Augen und Ohren.

Ronal der Barbar

Ronal der Barbar

Dänemark 2011 (Ronal Barbaren) Regie: Kresten Vestbjerg Andersen, Philip Einstein Lipski, Thorbjørn Christoffersen 89 Min. FSK ab 12

Wickie und die Eierwärmer. Oder wäre das komisch, wenn man simplen Zeichentrickfiguren unten rum möglichst wenig anzieht? Nein, weder komisch, noch frech, noch originell. Eher entsetzlich im kläglichen Scheitern eines pubertär anzüglichen (sprich: nicht ange- oder erzogen) Mischmaschs aus geklauten Szenen.

Wie viele Grade der Blödheit gibt es und wieso ist „Ronal, der Barbar" immer noch kein „Trash", der dann schon wieder gut ist? Das Entsetzen, das dieser Film auslöst, ist größer als die Lacher, selbst bei einem nicht besonders kritischen Sneak-Publikum. Es ist eine alberne Animation, deren nordische Figürchen vor allem durch ihre ausgestellten Genitalien auffallen. Der Rest kommt so simpel und glatt aus dem Computer, dass die Verbindung von Animiert - Anima - Seele mal gar nicht funktioniert.

In Kopie von „Wickie" erzählt der Jungsfilm wie Ronal als einziger Schwächling unter den Barbaren sein Volk retten muss, nachdem es vom dunklen Herrscher entführt wurde, um mit deren Blutsuppe einen mythischen Dämonen zu beschwören. Zur Rettung muss wenig originell erst mal ein magisches Schwert gefunden werden. Als lächerliche Gefährten versammelt Ronal auf seinem „Abenteuer" eine kampfeslustige Schildmaid (unbesiegte Jungfer wie Brunhild), den bescheuerten und lüsternen Barden Alibert und einen tuntigen Elfen, dem man furchtbar dämliche Schwulenscherze anhängen kann.

Handlung, Szenen und Akteure sind extrem einfallslos zusammengebastelt aus Fantasy wie „Herr der Ringe" und sonstigen Nerd-Blockbustern wie „Star Wars". Man kommt nicht umhin, sich angewidert ein paar notorische Stubenhocker vorzustellen, die all ihre gesammelten Film-Erfahrungen mit der debilen Begeisterung von „Beavis and Butt-Head" in einen zotigen Abklatsch verwandeln, der auch nicht als Parodie funktioniert. Als Höhepunkt darf eine ganze Szene lang der Hodensack von Ronal die Handlung alleine bestreiten - was die Essenz des überzotigen Films zumindest recht gut ins Bild bringt.

18.12.11

Die Iden des März

USA 2011 (The Ides of March) Regie: George Clooney mit George Clooney, Ryan Gosling, Marisa Tomei 96 Min.

„Die Iden des März" präsentieren von und mit George Clooney einen spannenden Politthriller, bei dem am Ende alle verlieren. Die eindrucksvolle Starriege des Films mit Clooney, Ryan Gosling, Paul Giamatti, Philip Seymour Hoffman, Marisa Tomei und Evan Rachel Wood steht im Dienste einer Anklage, wie im Wahlkampf Anstand, Moral und Glaubwürdigkeit verkauft werden. Clooney gibt den hoffnungsvollen Präsidentschaftskandidaten, Ryan Gosling den naiven Mitarbeiter, der sich zum Königsmörder wandelt.

Erzählt wird von den Vorwahlen zur US-Präsidentschaft, bei denen in Ohio eine Entscheidung unter den beiden letzten demokratischen Kandidaten fallen soll. Es ist aber auch das Duell der Wahlkampf-Manager, die durch Paul Giamatti und Philip Seymour Hoffman wie der ganze Film großartig besetzt sind. Stephen Myers (Ryan Gosling), ein Frischling unter diesen alten Hasen, glaubt ein Idealist zu sein und kämpft voller Engagement für seinen Kandidaten, den fortschrittlichen, toleranten, ja fast grünen Gouverneur Mike Morris (Clooney). Bis er ein unmoralisches Angebot vom gegnerischen Wahlkampfleiter Tom Duffy (Paul Giamatti) erhält und zu spät von dieser Unkorrektheit berichtet. Stephens Boss Paul Zara (Philip Seymour Hoffman) reagiert sehr empfindlich auf diese Illoyalität, aber der noch profillose Jung-Demagoge hat nach ein paar Nächten mit der forschen Praktikantin Molly Stearns (Evan Rachel Wood) ein As im Ärmel oder im Bett. Ein schmutziger und gar nicht mehr idealistischer Kampf um Jobs beginnt und beeinflusst sogar die große Politik. Denn Stephen zwingt Morris schließlich gegen dessen Grundsätze, den wichtigen Posten des Innenministers der Vereinigten Staaten für die Stimmen von ein paar Wahlmännern zu verkaufen. Spätestens jetzt ist das Ideal des unkorrumpierbaren Politikers vom hohen Sockel gestürzt.

George Clooneys vierte Regiearbeit ist wieder politisch, so wie vor sechs Jahren "Good Night, and Good Luck" medien-politisch war. Durchaus ernst zu nehmen ist seine Anklage von Politikern und deren Teams, die schon bevor sie ihr Amt erhalten, ihre Seele verkauft haben. „Die Iden des März" basiert auf dem Theaterstück „Farragut North" von Beau Willimon, in dem es um die Präsidentschafts-Vorwahlen des Jahres 2004 geht.

Aus der ruhigen Erzählung mit vielen Interna der politischen „War Rooms" entwickelt sich, als Stephen einerseits das Angebot der Gegenseite erhält und von einer schmierigen Seite seines Idols hört, ein moralisches Trauerspiel. Clooney inszeniert erneut enorm sicher mit einer Dynamik, der man sich kaum entziehen kann, mit sparsamem Musikeinsatz und mit überzeugendem Cast. Als Hauptattraktion hat der unfehlbare Überstar Clooney sich selbst vor der Kamera, unterstützt haben ihn dabei Clooney als Co-Produzent und Clooney als Co-Drehbuchautor. Wem dies zuviel Stargetue ist, darf sich über einen Tyrannenmord im übertragenen Sinne freuen: Der Titel „Die Iden des März" (The Ides of Mars) referiert auf den 15. März im Jahre 44 - vor Christus. An diesem Tag wurde Julius Cäsar bei einer Senatssitzung ermordet. So wird nicht nur Clooneys Figur des Gouverneurs mit Stephen Myers von Ryan Gosling ein junger, aufstrebender Wahlkampfmanager zur Seite gestellt, der sich für keine Intrige zu schade ist. („Auch du mein Sohn, Stephen!?") Auf einer zweiten Ebene (und auf dem Festivalplakat in Venedig) besteht der bislang höchstens an der Kasse geschätzte Gosling seine Bewährungsprobe in einem anspruchsvolleren Film, nachdem er selbst in „Blue Valentine" das gleiche Gesicht über mehrere Jahre zeigte. Clooney gelingt sogar die perfekte Integration dieses Gesichts, so wie er Unterhaltung und Botschaft, Spannung und glaubwürdige Figuren in diesem in jeder Hinsicht gelungenen, klugen wie kurzweiligem Werk vereint.

13.12.11

Local Heroes Aachen: Verführung von Engeln

BRD 2000 - 2007 Regie: Jan Krüger 70 Min. FSK 16

In den vier Kurzfilmen von „Local Hero" Jan Krüger sind Liebe, Verführung, Beziehungen immer auch ein Spiel um Macht, eine Suche nach Sicherheiten, eine Bewegung zwischen Distanz und Entgrenzung. Ein Mann, der auf der Suche nach Liebe durch die Großstadt streift, erfährt das genauso wie die beiden Schulfreunde, die sich gegenseitig verführen. Oder das in Hassliebe verbundene Paar, das sich trennt und einen letzten Tango tanzt. Oder der schöne Streuner, der immer selbst das Objekt der Begierde war und plötzlich die Erfahrung macht, wie es ist, wenn jemand mit seiner Liebe spielt. Wie verführt man also einen Engel?
Die vier Kurzfilme des jungen deutschen Regisseurs Jan Krüger, die für ein neues, aufregendes deutsches Kino stehen, sind lakonisch, dicht und lebensnah, voller Andeutungen und visueller Freiheiten. In Anwesenheit des Regisseurs Jan Krüger und des Kameramannes Oliver Schwabe werden neben dem titelgebenden „Verführung von Engeln" (2000), auch „Freunde" gezeigt, der 2001 den Silbernen Löwen beim Internationalen Filmfestival Venedigs erhielt. Weiterhin laufen „Tango Apasionado" (2006) und die niederländisch-deutsche Ko-Produktion „Hotel Paradijs" (2007).
(Aachen, Eden-Palast nur Fr., 18 Uhr)

First Squad – Moment der Wahrheit DVD

Japan/Russland 2010 Regie: Yoshiharu Ashino

Anime

Die russisch-japanische Kriegs-Fantasy „First Squad" stammt vom renommierten japanischen Animationshaus „Studio 4c" und gehört bei aller handwerklichen Brillanz zu den Kuriositäten dieses schon in allen Seltsamkeiten schillernden Marktes: Wir sehen, dass der Zweite Weltkrieg eigentlich auf parapsychologischer Ebene entschieden wurde. Die 14-jährige Nadya und weitere russische Jugendliche müssen verhindern, dass Nazi-Parapsychologen den 700 Jahre alten Geist des Deutschorden-Ritters Von Wolff beleben. Reichlich Kriegsaction und Geistererscheinung füllen atmosphärisch tatsächlich faszinierend diese okkulte Anime-Action. Dabei baut die Erzählung ähnlich wie die Traumsequenzen in „Sucker Punch" auf simple Figuren und reichlich kantige Klischees. Das bunte Spektakel gibt es auch in einer „Mockumentary"-Version, in der Veteranen, die wirklich und in echt dabei waren, erzählen, wie alles war. Leider fehlt diese Variante auf der DVD - Platz wäre sich noch gewesen, es gibt keine Bonus-Tracks.

Chelsea Hotel - Premium Edition DVD

USA 2008 (Chelsea On The Rocks) Regie: Abel Ferrara

Dokumentation

Der geniale bis wahnsinnige Regisseur Abel Ferrara („Body Snatchers", „Bad Lieutenant") feiert das legendäre Chelsea Hotel auf unkonventionelle Art. Er führte zahlreiche Interviews mit Bewohnern des Chelsea, verwendete Archivmaterial für seinen Film und stellte einige historische Szenen nach. Damit schuf er nicht bloß eine Dokumentation, sondern erfasste das Wesen und den Charme des Chelsea-Hotels.

Einst galt das Chelsea Hotel als unnahbarer Ort für Schriftsteller, Künstler, Musiker und Rebellen, und erst vor wenigen Jahren wurde es in ein Luxushotel umgebaut, dessen Besitzern, einer Investorengruppe, die beeindruckende Historie des Hotels vollkommen gleichgültig ist. Das denkmalgeschützte Gebäude gilt als amerikanische Kultur-Ikone und ist berüchtigt durch diejenigen, die in dem Hotel gelebt und gewirkt haben. Zu diesen zählen Sir Arthur Clarke, Bob Dylan, Stanley Kubrick, Arthur Miller, Joni Mitchell, Mark Twain, Tennessee Williams, Milos Forman, Janis Joplin, Donald Sutherland, Patti Smith, Dennis Hopper, Andy Warhol, Jane Fonda, Leonard Cohen, Tom Waits, Courtney Love, Charles Bukowski, Jimi Hendrix und viele andere.

Die DVD erscheint als Premium Edition mit Bildband (ca. 100 Seiten) und A1-Plakat. Als Bonus-Material enthält sie einige geschnittene Szenen.

Mein Freund, der Delfin

USA 2011 (Dolphin Tale) Regie: Charles Martin Smith mit Morgan Freeman, Ashley Judd, Kris Kristofferson, Nathan Gamble, Harry Connick jr. 113 Min.

Laut Douglas Adam sind sie die intelligentesten Wesen der Erde. Das US-Militär missbraucht sie als die billigsten und besten Minensucher des Meeres. Delfine sind im Leben etwas Besonderes und im Film fast so effektiv wie Hunde. Deshalb wurden auch so viele Delfine für „Flipper" verschlissen, dass der Tierschutzbund wohl niemanden aufnimmt, der je eine Folge gesehen hat. Nun führt ein Film wieder dressierte Tiere vor, angeblich um ein Bewusstsein zu schaffen, damit die kleinen Kinogänger später dagegen protestieren, dass man Tiere für Zirkus, Zoo und Film (was ja alles irgendwie das Gleiche ist) dressiert.

Der Nintendo-Nerd Sawyer (Nathan Gamble) findet auf dem Weg zur Schule einen schwer verletzten, in Netze verwickelten Delfin am Strand. Fast ebenso wie vom Tier mit den klugen Augen ist er von der herbei eilenden, coolen Eingreiftruppe begeistert. Die hellblauen Helden der Meeresbiologie nehmen das gestrandete, bald Winter getaufte Säugetier mit zu ihrer heruntergekommenen Auffang-Station. Dort lernt Sawyer das gleichaltrige Mädchen Hazel kennen, ihre Familie kümmert sich um Tiere und Station. So viel Engagement ist selbstverständlich finanziell bedroht. Doch Saywer, der mit schulfrei belohnt wird, kümmert sich um Winter, deren Schwanzflosse amputiert wurde. Über den schwierig integrierten Handlungsstrang um Sawyers Cousin - der einstige Starschwimmer kommt als gehbehinderter Soldat aus dem Krieg - entwickelt der Junge die Idee, dem Delfin eine Prothese für die Flosse zu entwickeln...

Nach einer wahren Geschichte filetiert der Kinderfilm den Delfin für Unterhaltung und Rührung bis auf die letzte Gräte. Florida gibt den Hintergrund für dieses Kinderparadies am Meer. Dass Sawyer kaum von seinem Computerspiel aufblickt, bleibt kurz angedeutet und schnell gelöst, wie jedes andere Problem des kurzatmig effektheischenden Films. Die kleine Spannungs- und Erzählbögen könnte man als kindgerecht bezeichnen, doch da passen die zwei Stunden Lauflänge nicht zu. Die Rettung eines Delfins wird aufgelockert von vielen witzigen Einlagen wie dem Pelikan als Wachhund. Das digitale 3D-Getrickse geht (in wenigen Szenen) soweit, dass die Säuge-Tierchen sich selbst Luftringe ins Wasser blasen, durch die sie dann, gegen jedes Strömungsgesetz, schwimmen. Obwohl das Filmchen mit Morgan Freeman, Ashley Judd, Kris Kristofferson und Harry Connick jr. sehr, sehr prominent besetzt ist, scheitert die sympathische Begeisterung für ein paar andere Kreaturen auf dieser Erde an mangelndem Vertrauen auf die Kraft des einfachen Erzählens.

Rubbeldiekatz

BRD 2011 Regie: Detlev Buck mit Matthias Schweighöfer, Alexandra Maria Lara, Detlev Buck 119 Min.

Mannomann, was für ein klasse Film! Oder besser: Mannofrau? Mann oder Frau, egal, die geniale Verwechslungskomödie „Rubbeldiekatz" rüttelt nicht nur die Geschlechter durch, auch das Genre erlebt eine frech, fröhlich, freie Runderneuerung. Buck eben, kann man anlässlich des grundlos zurückhaltenden Regie- und Schauspiel-Könners Detlev Buck sagen. Der kann so ziemlich alles, sogar Hitler privat gegen die Liebes-Wand laufen lassen. Und Tarantino sowieso...

Von „Viktor und Viktoria" (1933) bis „Tootsie" (1982) diente die Jobsuche immer als glaubhafter Einstieg eines unbedarften Schauspielers in zu hohe High Heels einer Frauenrolle. Diesmal erwischt es den Berliner Alex und wie Matthias Schweighöfer dessen Wandel zu Alexandra hinbekommt, ist erste Sahne!

Buck selbst spielt Alex' Bruder und Manager Jürgen Honk. Zusammen mit dem dritten Bruder Basti (Maximilian Brückner) und dem vierten Freund Jan (Denis Moschitto) hausen sie in einer Fabrikhalle und teilen sich sogar Teile der Geheimzahl ihres konstant blanken Kontos. So war auch die amateurhafte Website Jans schuld am Angebot einer großen amerikanischen Nazifilm-Produktion, die gerade in Babelsberg dreht. Der hysterische und egozentrische Regisseur ist nicht nur wegen des Telefonats mit Uma-Schätzchen als Quentin Tarantino erkennbar. Man sollte mal Diehl & Co. fragen, ob das große Regie-Kind wirklich so beschränkt ist.

Alex alias Alexandra alias Nazi-Lesbe Maria Schneider ist auf jeden Fall bald der Hit des Drehs und versteht sich vortrefflich mit dem großen Star Sarah Voss (Alexandra Maria Lara). Kein Wunder, waren die beiden doch noch in der Nacht vor Drehstart zusammen im Bett, allerdings als Mann und Frau. Die frisch unglücklich getrennte Sarah ahnt nichts. Alex hingegen muss die Avancen des männlichen Stars Thomas unterminieren und sich gleichzeitig als Alexandra der Attacken des sehr mit seiner Rolle und dem Schnurbart verwachsenen Hitler-Darstellers Jörg (Max Giermann aus „Switch Reloaded") erwehren. Nebenbei prügelt sich Jürgen Honk auf Film-Partys, der herrlich tuntige Kostümchef (Milan Peschel) freut sich heimlich, dass Alexandra doch was in der Hose hat, und die große Hollywood-Produktion wird wunderbar durch den Nazi-braunen Kakao gezogen: „Ohne Hitler wären die Amis nicht gekommen..."

Buck bringt's! Auf Basis eines Drehbuchs von Anika Decker („Keinohrhasen", „Zweiohrküken") legt er eine knallige Satire hin, eine wundervoll unkonventionelle Freundestruppe, eine klassische Verwechslungskomödie und - vor allem immer mehr zum Ende hin - eine schöne Liebesgeschichte. Dass die erste Kuschelsex-Nacht von Alex und Sarah mit einer märchenhaften Einlage vom Schwulenstrich im Tiergarten verschnitten wird, ist seine besondere Note. „Strangers in the Night" dazu auf der Tonspur ist bester Stil, genau wie all die anderen Hits. Typisch Buck sind auch die trockenen Knaller-Sprüche. Beispiel: „Das Problem mit der Mode ist, dass oben die Köpfe rausgucken." Das ist schon fast Oscar Wilde-genial, genau wie Alex's Abschiedsspruch für die Hollywood-Heinis, nachdem er seine Silikon-Einlagen losgeworden ist: „Ihr schafft es noch nicht mal, echte Titten von falschen zu unterscheiden!" Während die vielen schrägen Nebenfiguren den großen Spaß steigern, erweist sich Rehauge Alexandra Maria Lara in dieser Rolle halbwegs erträglich. Der Überflieger bleibt allerdings Matthias Schweighöfer („What a Man") als „Alex und Alexandra"! Ein Muss von A bis A!

Mission: Impossible - Phantom Protokoll

USA 2011 (Mission: Impossible Ghost Protocol) Regie: Brad Bird mit Tom Cruise, Jeremy Renner, Simon Pegg, Paula Patton 139 Min.

Man kann ja wirklich nicht mehr mit Büchsen in der Fußgänger-Zone für Scientology sammeln, deshalb war zu erwarten, dass Tom Cruise als Produzent und Hauptdarsteller noch mal das Konzept „Mission Impossible" bemühen würde. Doch schon der Vorspann stimmt irgendwie nicht, spart er sich doch das Erzählen und klebt wie ein Trailer wahllos Szenen hintereinander. Dann wird der Teaser gleich zweimal erzählt und auch sonst sieht Film 4 der neuen Kino-Serie nicht danach aus, als wenn jemand die auf Action-Terrain zeitweilig bemerkenswerten Vorgänger toppen wollte.

Budapest, Moskau, Dubai, Mumbai und Seattle sind die mäßig attraktiven Stationen, der Kreml fliegt in die Luft und mal wieder versucht ein Schurke (Michael Nyqvist als Kurt Hendricks), den Atomkrieg zu provozieren. Zwischen Pakistan und Indien? Israel attackiert den Iran? Nein, wie gehabt müssen die Russen herhalten. Das ist so altmodisch wie im Großen und Kleinen unglaubwürdig.

Auffällig dagegen, wie zweitrangig das Team an der Seite von Tom Cruise wirkt. Statt Actionhelden gibt es den komischen Techniker Benji Dunn (Simon Pegg) und den albernen Analytiker Brandt (Jeremy Renner), der sein tragisches Dilemma erst später nachgereicht bekommt. Dazu Jane (Paula Patton) fürs gute Aussehen. Nachdem sie ihr Frauenduell - selbstverständlich wegen des Mannes, den die Killerin mit dem Püppchen-Gesicht Moreau (Léa Seydoux) ihr nahm - ausgefochten ist, läuft sie auch nur noch mit. Tom Wilkinson, der in wenigen Minuten beeindruckt, ruft ein Kopfschuss früh aus dem Film ab.

Vor allem wenn Cruise in den Kreml eindringt, wähnt man sich im falschen Film: Wieso untergräbt das Agenten-Groupie Pegg die Spannung, weshalb hat man nicht wenigstens versucht, den alten Cruise mit der Coolness von früher auftreten zu lassen? Ethan Hunt überlässt viel Zeit zu vielen Assistenten, dabei geht erstaunlich viel schief.

Große Szenen - neben sich selbst auflösenden Tonbändern, das Markenzeichen von „Mission Impossible"? Da gäbe es einen Gefängnisaufstand samt -Ausbruch zu Dean Martin-Song. Am höchsten Hotel der Welt muss Hunt mit defekten Spiderman-Handschuhen rumklettern. Aber die Geschwindigkeit im Erzählen und in den Einzelszenen wirkt gebremst. Raffiniert sind ein riskanter Parallel-Deal mit doppeltem Hotelboden und die finale Action in einem futuristischen Parkhaus. Hier flammt kurz der Ideenreichtum asiatischer Action auf, hier denkt man wehmütig an John Woos MI2 zurück.

Für Masken ist keine Zeit, viel Raum bekommen oft gesponserte Technik-Spielereien, eine „enhanced" Kontaktlinse, die direkt alle Facebook-Mitglieder im alltäglichen Gewusel identifiziert, der Navi auf der Windschutz-Scheibe. Das meiste soll futuristisch Werbung machen, nur die Apple-Geräte sind in der aktuellen Version anscheinend cool genug. Irgendwie löst sich dieser Film noch während des Sehens im Nichts auf, wie einst die Tonbänder der alten TV-Serie. Da sehnt man sich tatsächlich nach der souveränen Klarheit der Spionagegeschichte „Dame, König, As, Spion" nach John le Carré. Die startet aber erst im Februar.

12.12.11

Let me in

Großbritannien,USA 2010 (Let Me In) Regie: Matt Reeves mit Chloë Moretz, Kodi Smit-McPhee, Richard Jenkins 116 Min. FSK ab 16

„Wenn ihr uns beißt, bluten wir nicht?" Dieser bekannte Satz aus Shakespeares „Der Vampir von Venedig" kommt einem in den Sinn, wenn man nach all dem blutarmen „Twilight"-Gedöns so einen exzellenten, spannenden Kindervampir-Film sieht. Wohlgemerkt: Nicht Kinder-Vampirfilm! Die beiden Protagonisten, blasse Außenseiter aus unterschiedlichen Gründen, sind zwar erst 12 Jahre alt, doch die drastische Darstellung auch von Jugendgewalt eignet sich mit sinnvoller Freigabe frühestens ab 16. Matt Reeves' eigenständiges Remake des schwedischen Films „So finster die Nacht" - basierend auf einem Roman von John Ajvide Lindqvist („Menschenhafen") - erweist sich als Glücksfall in Sachen Film und als selten gelungene Bearbeitung.

Über das Fenster zum Hof beobachtet der zurückgezogene, ängstliche Owen (Kodi Smit-McPhee aus „The Road") seine sexy Nachbarin. Doch wirklich aufregend findet er das Mädchen, das nebenan einzieht: Trotz des Schnees läuft sie barfuß über den Innenhof. Dort werden sich die Gleichaltrigen öfter treffen, obwohl Abby (Chloë Moretz) direkt meint, sie könne nicht seine Freundin werden. Später wird sie dem Jungen, der von Mitschülern brutal misshandelt wird, wichtige Tipps geben. Er leiht ihr seinen Zauberwürfel „Rubik's Cube", von dem sie so fasziniert ist.

Nicht nur der Cube, auch Walk- und Pacman, sowie bekannte Hits und das stimmige Retrodesign machen klar, dass wir uns im winterlichen Los Alamos der Achtziger befinden. In einer Rückblende erlebten wir, wie sich der erwachsene Begleiter Abbys mit horrenden Verätzungen aus dem Krankenhausfenster stürzte. Das mysteriöse Ereignis klärt sich vollständig erst später auf, da sind wir schon völlig gefangen in der ungewöhnlichen Freundschaft zwischen Owen und Abby. Sie betont immer „Ich bin kein Mädchen". Was sich hinter dem ängstlichen, Hilfe geradezu erflehenden Gesicht verbirgt, haben wir schon kurz gesehen. Als ihr alter Helfer zu müde zum Blutbeschaffen wird, muss das Vampirmädchen selber jagen und beides ist nicht schön. Wer vom Twilight-Kitsch kommt, erlebt dass es nicht nett oder romantisch ist, Menschen leer zu saugen. In der faszinierenden Inszenierung vom Cloverfield-Regisseur Matt Reeves wandelt sich die - mehr oder weniger - Zwölfjährige Abby zum Tier mit eckigen Bewegungen, die an Japan-Horror erinnern. Dies ist mal kein Vampirfilm mit der Süßlichkeit von Lillifee!

Spannung wie bei Hitchcock. Das kalte, blaue Licht aus „Cloverfield". Immer wieder sagenhafte, atemberaubende Szenen. „Let me in" lässt das schwedische Original „So finster die Nacht" mit eigenständigen Varianten glatt vergessen - und auch das war schon ein hervorragender Film. Die Geschichte einer ungleichen Freundschaft gibt nicht nur der Nachtigall-Frage von „Romeo und Julia" eine ganz andere Bedeutung. (Wenn es tagt, droht der Vampir zu entflammen!) Exzellent fotografiert, sehr zurückhaltend in der Musik (Michael Giacchino) und von den jungen Darstellern glaubhaft gespielt, ist das Remake wesentlich drastischer in der Gewalt-Darstellung. Nebenbei hat Richard Jenkins einen großen, tragischen Auftritt als Abbys Helfer mit Blutfleck (sic!) und zerbrochenem Brillenglas im Gesicht. Eine TV-Rede von Reagan, die schwarz-weiß und extrem raffiniert in die Handlung reingespiegelt wird, gibt dem Ganzen auch noch eine politische Dimension. Kann Böses in Gutes gewandelt werden und geschieht dies nur auf religiösem Wege? Auf jeden Fall kann ein guter Film zu einem noch besseren werden...

6.12.11

Michel Petrucciani - Leben gegen die Zeit

Frankreich, Italien, BRD 2011 (Michel Petrucciani) Regie: Michael Radford 103 Min. FSK: o.A.

Auch wer nicht mit der Jazz-Szene vertraut ist, hat in vielleicht mal bei Roger Willemsen in dessen Sendung gesehen: Michel Petrucciani (1962 - 1999) war ein genialer Pianist, der auf Pierre Lachaise neben Chopin begraben liegt. Obwohl er mit der Glasknochenkrankheit geboren wurde und nicht einmal ein Meter groß war, wollte er ein großer Pianist werden. Das Spielzeugpiano, das ihm der Vater, ein Musik- und Jazz-Fan, schenkte, zerschmetterte das Kind wütend. Er brach sich dauernd alle möglichen Knochen, auch später während seiner Konzerte, aber machte und spielte immer weiter.

Petrucciani wollte nie Zeit verlieren, in seiner Karriere, bei den Frauen und auch im ausschweifenden Genuss. Der Franzose lernte schnell Englisch, hatte mit 13 seinen ersten Auftritt, spielte mit dem berühmten Trompeter Clark Terry und zog 1982 nach Kalifornien zu Charles Lloyd. Die Karriere ist unvergleichlich, der Mensch dahinter faszinierend ambivalent. Selbstsicher bis zur Arroganz, jähzornig, eigenwillig, frauenverschleißend und genial. „My foolish Thing" wäre er als Jazz-Standard, meint er selbst. Vor seinem frühen Tod, an dem er selbst kräftig mitarbeitete, äußerte er seinen größten Wunsch: Am Strand spazieren mit einer Frau neben ihm!

Diese faszinierende Dokumentation über einen unglaublichen Menschen stammt von „Postino"-Regisseur Michael Radford. Roger Willemsen, den wir oft bei Interviews und als Freund sehen, hatte hinter den Kulissen auch großen Anteil an diesem sehr sehenswerten Film.

Habemus Papam - Ein Papst büxt aus

Italien, Frankreich 2011 (Habemus Papam) Regie: Nanni Moretti mit Michel Piccoli, Jerzy Stuhr, Ulrich von Dobschütz, Nanni Moretti, Margherita Buy 104 Min. FSK o.A.

Wer Nanni Moretti, den Regisseur von „Der Italiener" (2006), „Das Zimmer meines Sohnes" (2001), „Aprile" (1998) und „Liebes Tagebuch..." (1993) kennt und mag, erwartet beim Thema Papst bitterböse Satire. Doch vielleicht ist Moretti zu sehr Italiener, vielleicht wollte er nicht wieder Erwartungen bedienen. Sein „Habemus Papam" fiel in Sachen aufgeklärter Kritik an der prähistorischen Institution Papst geradezu niedlich aus. Aber es ist trotzdem ein guter Film, nämlich im persönlichen Kampf des von Michel Piccoli gespielten Kandidaten um seinen Platz in der Welt.

Fast wie eine Dokumentation werden der Tod des Papstes und der Einzug der Kardinäle ins Konklave dargeboten. Die Berichterstattung übereifriger Society-Journalisten vom Roten Teppich wie bei den Oscars irritiert zwar etwas, doch dies deutet nur die seltsamen Einblicke an, die uns Moretti in die Welt der Konklave erlaubt. Wir dürfen beispielsweise bei den Wahlgängen in die Köpfe der Kirchenmänner horchen - keiner will es werden und bei allen bis auf einem hilft das Beten tatsächlich. Der französische Kardinal Melville (Michel Piccoli), ein stiller, freundlicher Herr wird es und ist völlig geschockt. Wie in Trance lässt er sich ins Ornat hüllen, doch zur Rede an das jubelnde Volk auf dem Balkon reicht es nicht mehr. Ein verzweifelter Schrei lässt die Stadt und das Erdenrund erstarren. Melville weiß nicht, ob er dieser Aufgabe gewachsen ist. Nun holt der umtriebige Pressesprecher (Jerzy Stuhr) Nanni Moretti als Psychologen ran, der den stellvertretenden Patienten sehr vertraulich unter den Augen aller immer noch im Konklave eingesperrten pinken Priester behandeln soll.

Zwar interpretiert der Atheist ihnen gewitzt die Bibel und Zeichen einer Depression. Doch Seele und Unbewusstes erweisen sich hartnäckig als unvereinbare Konzepte, der Papst nutzt einen Ausflug ausgerechnet zur geschiedenen Gattin und Kollegin des Psychologen zur Flucht und Nanni Moretti organisiert als Gefangener des Vatikans das Freizeitprogramm der Geistlichen. Samt Volleyball-WM für Kardinäle! Während die Scherzchen im Konklave, das Menscheln der von der Flucht ahnungslosen Soutanen-Träger zum niedlich netten Charakter des Films beitragen, spielt sich in den Gassen Roms ein wahres Charakterdrama ab. Tief verzweifelt trifft Melville auf eine wilde Theatertruppe, die Tschechows „Die Möwe" inszeniert, und findet in einer irren Wendung zu seinem Jugendtraum, dem Theaterspiel zurück. Doch während Melville auf der Bühne sein Glück findet, kommt der Klerus auf seine Spur...

Der hochintelligente linke Kritiker und Komödiant Nanni Moretti scheint auf den ersten Blick zahm geworden. Doch die Geschichte eines Menschen, der nicht weiß, welche Rolle er spielen soll, ist ungeheuer universal und darin vielleicht wichtiger als leicht gefundene Religionskritik. Michel Piccoli spielt großartig im Komischen und Verzweifelten, ist glaubhaft verzagt und schwach. Dafür dass Moretti seine Clownereien derweil im Vatikan einsperrt, darf man ihm zusätzlich dankbar sein.

5.12.11

Der Weihnachtsmuffel

Großbritannien, 2009 (Nativity!) Regie: Debbie Isitt mit Martin Freeman, Marc Wootton, Jason Watkins, Ashley Jensen 105 Min. FSK o.A.

Ein frustrierter englischer Grundschullehrer, der eigentlich Schauspieler sein wollte, hat traumatische Erinnerungen an seine ehemalige Weihnachtsspieltruppe, weil ein Kollege an der Elite-Schule immer bessere Kritiken in der Lokalzeitung bekommt. Obwohl Weihnachtshasser, muss er noch mal mit unglaublich unfähigen Kindern ein Weihnachtsspiel inszenieren. Vor seinem Konkurrenten gibt er beim Weihnachtsbaum-Kauf an, Hollywood würde das Laientheater in 3D verfilmen. Die Geschichte verselbständigt sich und die Lüge animiert alle, über sich selbst hinauszuwachsen. Bis zum großen Finale, das tatsächlich 20 Minuten Krippenspiel-Musical über uns ausbreitet und einen Stern am Himmel erscheinen lässt: Den Helikopter aus Hollywood.
„Der Weihnachtsmuffel" ist ein verstaubter britischer Fernsehfilm, der in völlig unerklärlichem Mangel an tannennadel-verseuchten Themen vom Pandastorm-Verleih auf den Markt geworfen wurde. Weltweit ist das BBC-Filmchen nur an deutsche Kinos verkauft worden, DVD-Ausgaben erlebten nur Ungarn und die Niederlande. Sagt das was über die Qualität? Ja! Hier ist ein in Lumpen gehülltes, ärmliches Thema, dass auf den Erlöser auf Hollywood wartet.

The Help

USA, Indien, Vereinigte Arabische Emirate 2011 (The Help) Regie: Tate Taylor mit Emma Stone, Viola Davis, Bryce Dallas Howard, Jessica Chastain, Sissy Spacek 146 Minuten FSK o.A.

„The Help" erzählt die Erfolgsgeschichte eines Buches und ist gleichzeitig bewegender Lebensbericht. Der Ort: Jackson, Mississippi, die Stadt vom Cash-Song tief im Süden der USA. Die Zeit, 60er-Jahre, als man noch Zigaretten Kette rauchte und zu glauben wusste, dass "Schwarze andere Krankheiten übertragen". Die junge, rebellische Eugenia „Skeeter" Phelan (Emma Stone) will Autorin werden und findet in den Haushaltshilfen der reichen Weißen das ideale Sujet - nach Meinung der New Yorker Redakteurin. Vorerst bestreitet Skeeter in der lokalen Zeitung die Kolumne mit den Haushaltstipps, was auch eine gute Tarnung ist. Denn die Rassengesetze sind harsch und werden auf beiden Seiten ängstlich befolgt.

So gibt Aibileen (Viola Davis) anscheinend Tipps, traut sich aber immer mehr von ihrem Schicksal zu erzählen. Aber erst als die aufmüpfige, alte Minny Jackson die Erniedrigungen nicht mehr aushält, kommen genügend Geschichten zusammen. Die Emanzipation der rothaarig-wilden Skeeter als Tochter und Autorin ist Triebfeder in der Verfilmung des Romans „The Help" („Gute Geister") von Kathryn Stockett. Das satt gezeichnete Sittengemälde ist gleichzeitig ein entlarvendes Porträt der dekadenten weißen Gesellschaft. Da ist die Mutter ohne Interesse am eigenen Kind, denn gesellschaftliche Ereignisse wie die Bridge-Runden mit ihren Freundinnen sind wichtiger. Aber auch Hilly Holbrook (Bryce Dallas Howard), die rassistische, angepasste Altersgenossin Skeeters, die sich ausgerechnet als Wohltäterin aufspielen will. Sie ist der Teufel dieser Geschichten, in ihr sammelt sich der Rassismus, gegen sie wendet sich der Widerstand der unterdrückten Haushaltshilfen. Mal mit einer ekeligen Attacke, mal mit folgenreichen Druckfehlern bei einem Wohltätigkeits-Aufruft und vor allem mit der Anklage durch Skeeters Buch.

Im Herzen dieses - bei allem Unrecht - Wohlfühlfilms liegen die Schicksale der schwarzen Frauen, etwa das von Aibileen, die ihren Sohn verloren hat. Und da ist auch noch Skeeters eigenes, altes Kindermädchen Constantine, die nach 29 Jahren Dienst plötzlich verschwand. Sie hatte Eugenia großgezogen und ihr viele wichtige Dinge über das Leben beigebracht. Dann wurde die sehr weise Frau von Mutter Charlotte kaltherzig abgeschoben, weil sie einen snobistischen Hausfrauenverein („Töchter Amerikas"!) echauffiert hat. Sie gönnt Constantine nicht mal die Gnade, bis zum Lebensende weiter zu arbeiten. (Was selbst uns bald wieder per Gesetz garantiert wird.) Doch auch darüber lügt oder schweigt man, wie über vieles andere.

Was „The Help" vom Rassismus zeigt, ist traurig: Die Angestellten dürfen nicht auf die Toilette der Herrschaft im Haus, selbst wenn draußen vor ihrer Garten-Toilette ein Tornado wütet. Auch eine brutale Verhaftung mit den Schlägen der Polizei erschreckt. Alle Schwarzen erzählen von ihrer Angst vor dem Kuklux-Clan, der an ihre Häuser Feuer legt. Aber was wirklich und ungeschönt in dieser Zeit passierte, zeigt eher ab nächste Woche die Doku-Kompilation „The Black Power Mixtape 1965 - 1973" im Kino. „The Help" ist eine schön, eine hervorragend erzählte Geschichte, in der alles gut ausgeht. So wurde sie auch heftig als Schönfärberei angegriffen. Wer sich drauf einlässt, kann sich über exzellente Bilder, eine (im Original) reizvolle Sprache und tolle Schauspieler freuen. Sissy Spacek als Skeeters Großmutter ist eine böse, bissige Lachnummer. Jessica Chastain fällt schon wieder ganz anders positiv auf: Als Celia Foote ist sie die vom Zirkel frustrierter Hausfrauen Ausgestoßene, nicht besonders intelligente, die allerdings als einzige Hausherrin ein natürlich menschliches Verhältnis zum Personal zeigt.

Der gestiefelte Kater (2011)

USA, 2011 (Puss in Boots) Regie: Chris Miller 90 Min. FSK o.A.

Kater entlaufen! Braunes Fell, Stiefel, Schwert und Hut. Bitte abzugeben bei Familie Shrek im Wald. Er ist klein und wird verlacht. Der gestiefelte Kater gilt als Ein- und Herzensbrecher, wird auch Katernova genannt. Rasant rasiert er seine Gegner mit dem Degen, seine Milch schlürft er noch schneller. Mitten im Westernland Mexiko reitet dieser einsame Räuber immer auf der Suche nach Gold. Als er die Zauberbohnen der schrecklichen Menschen Herr und Frau Jack und Jill klauen will, trifft er auf einen mysteriösen Gegner. Grandios das Duell mit dieser „Catwomen", die zuerst in mexikanischer Wrestling-Verkleidung auftritt. Die rasante die Verfolgungsrutscherei auf den Dächern des Dorfes endet in einem heißen Flamenco-Battle, das sehr an „West Side Story" erinnert.

Doch wie in großen Filmen erweist sich auch in diesem Zeichentrick für Kinder alles als abgekatertes Spiel: Hinter den legendären Zauberbohnen, die zur Gans mit den goldenen Eiern führt, steckt Katers Jugendfreund Humpty Alexander Dumpty! (Schon 1922 verkörpert von Stan Laurel, im Original gesprochen von Billy Bob Thornton, deutsch von einem nachnamenlosen Elton.)

Seiner verführerischen Konkurrentin erzählt der Gestiefelte die alte Geschichte von der gemeinsamen Kindheit im Waisenhaus. Damals schon war Kater ein furchtloser Kämpfer und Held. Humpty dagegen kam auf die schiefe Bahn, was schlecht ist, wenn man eine dünne Schale und darunter viel wabbeligen Eidotter hat. Beider Wege trennten sich, doch jetzt vereint sie die Suche. Wie der heilige Gral sollen die Goldenen Eier wieder alle(s) gut machen, zudem liefern sie noch einen Haufen deftiger Wortwitze für Erwachsene. Humptys geniale Erfindungen müssen es dabei mit einer futuristischen, von Wildschweinen gezogenen und mit Kanonen aufgerüsteten Kutsche aufnehmen.

Der Sidekick, die lustige Nebenfigur, bekommt einen eigenen Film - das kennt man, das passiert bestimmt auch noch mit Scat aus „Ice Age". Für den Kater aus „Shrek" ist dies ein „Prequel", wir erfahren, was vor seinem sensationellen Auftritt bei den grünen Riesen geschah. Die Rückblenden zu einer Kindheit im Waisenhaus von San Ricardo sind nicht wirklich so langweilig, dass man wie Kitty Softpaws einschläft.

Sie suchten Ärger und haben ihn oft gefunden - solch lässige Sprüche charakterisieren vor allem den Helden dieses gut gezeichneten Western, in dem die Tiere viel Charakter haben und Menschen die Klischees abbekommen. Einem Mieze-Zorro angemessen, erschüttern Mariachi-Melodien die Weite der Prärie. Im Stile Tarantinos zerschneiden Splitscreens das Bild wie Katers Degen die Unterhosen seiner Gegner. Während der komische spanis-lisspelnde Dialekt des Katers nicht an seine Originalstimme Antonio Banderas herankommt, wirkt Humpty über Elton sehr ver- und gleichzeitig angeschlagen.

Der erste Osterfilm der Saison bietet neben vielen Eier-Scherzen eine unterhaltsame, witzige Spielerei. Der anarchische Humor von Shrek ist völlig weg, der nicht nur mit seiner unwiderstehlichen Augennummer einschmeichelnde Kater legt alles Rebellische schnell ab. Das 3D läuft ohne beeindruckende Effekte ab. Die negative Folge ist, dass vor allem die Innenszenen sehr dunkel bleiben - die unbequemen Brillen fordern ihren Preis nicht nur an der Kasse. Auf der Basis der Märchen von Charles Perrault und der Brüder Grimm zeigt sich „Der gestiefelte Kater" fantastisch wenn auch nicht wirklich märchenhaft. Trotzdem ist es mit originellen Charakteren, mit viel Trick und Akrobatik ein großer Film für einen kleinen Kater.