30.9.14

Praia do Futuro

Brasilien, BRD 2013 Regie: Karim Aïnouz mit Wagner Moura, Clemens Schick, Jesuíta Barbosa, Savio Ygor Ramos, Sabine Timoteo 107 Min. FSK: ab 12

Seine deutsch-brasilianische Liebesgeschichte gestaltet Regisseur Karim Aïnouz trotz großer Entfernungen und Differenzen nicht als Drama, sondern als Nachklang der üblicherweise entscheidenden Wendepunkte: Mit grandioser Schönheit fliegen zwei Motocrosser durch riesige Dünen, rasen zum Strand und stürzen sich in die Fluten. Einer der deutschen Touristen am gefährlichen Strand namens Praia do Futuro ertrinkt, Konrad wird gerettet. Zwischen dem Rettungsschwimmer Donato und Konrad herrscht in den Tagen des Wartens, bis die Leiche auftaucht, eine große sexuelle Spannung. Donato wird Konrad nach Berlin zu folgen, obwohl ihm der Abschied vom kleinen Bruder Ayrton sehr schwer fällt. Jahre später reist auch Ayrton nach Berlin...

Karim Aïnouz gelingt es, vor allem Stimmungen und Befindlichkeiten ohne viele Worte zu vermitteln. Die Intensität der Darsteller hält die lange und ereignisarme Erzählung zusammen.

Land der Wunder

Italien, Schweiz, BRD 2014 (Le meraviglie) Regie: Alice Rohrwacher mit Maria Alexandra Lungu, Sam Louwyck, Alba Rohrwacher, Sabine Timoteo, Monica Bellucci, André Hennicke 110 Min. FSK ab 0

Eine alternative Familie versucht in Italien ihren Öko-Bauernhof am Leben zu erhalten. Der cholerische deutsche Vater (Sam Louwyck) treibt die vier jungen Töchter auf italienisch zum Arbeiten an, mit seiner Frau (Alba Rohrwacher) redet er französisch und mit dem schmarotzerischen Gast Coco (Sabine Timoteo) deutsch. (Dabei ist der deutsch sprechende Imker und Träumer hörbar Flame.) Vor allem die Pubertät der ältesten Tochter Gelsomina (Maria Alexandra Lungu) bekommt in diesem chaotischen Umfeld mit viel Naturromantik eine besondere Wendung, die den Film sehenswert macht. Denn als die Kinder auf den Dreh für einen kitschigen Werbespot mit dem sich selbst karikierenden Star Monica Bellucci treffen, setzt sich Gelsomina in den Kopf, über einen Wettbewerb und regionale Agrikultur, den Hof zu retten.

Es ist eine gleichsam in der landwirtschaftlichen Arbeit und im sommerlich staubigen Bauernhof sehr geerdete aber auch magisch verträumte Welt, die Alice Rohrwacher in ihrem in Cannes ausgezeichneten Film aufleben lässt. Vor allem die Identifikationsfigur, die begnadete Imkerin Gelsomina, die von Maria Alexandra Lungu unter all den großen Profis auf faszinierende Weise gespielt wird, erlebt diesen Traum mit einem Kamel, einer alten Zauberhöhle, mit falschen Film-Prinzessinnen und einem ambivalenten Vater. Der ist Zauberer und Tyrann in einem. Das Sprach-Wunderland hat einen biografischen Hintergrund: Die Rohrwacher-Schwestern Alice und Alba haben einen deutschen Vater.

„Le Meraviglie" - „Land der Wunder" - ist der zweite Film der Italienerin Alice Rohrwacher. Wohlgemerkt Alice, denn die hier zurückhaltend mitspielenden Alba Rohrwacher ist die berühmte Schwester, die unheimlich eindringliche Schauspielerin aus „Die Einsamkeit der Primzahlen" (2010) oder „I Am Love" (2009), die gerade in Venedig den Preis als Beste Darstellerin im Film „Hungry Hearts" erhielt.

Hüter der Erinnerung - The Giver

USA 2014 (The Giver) Regie: Phillip Noyce mit Jeff Bridges, Meryl Streep, Brenton Thwaites, Alexander Skarsgård, Katie Holmes 98 Min. FSK: ab 12

In einheitlichem Schwarz-Weiß zeigt „The Giver" auf einem in den Wolken schwebenden Stück Land eine erschreckend egalitäre Gesellschaft und mittendrin, kurz vor der zeremoniellen Erwachsenwerdung, Jonas (Brenton Thwaites). Wie in „Die Tribute von Panem" oder „Die Bestimmung – Divergent" wieder jemand, der sich anders fühlt - in einer dystopischen Welt, in der alle gleich sein sollen. Die Gleichheit geht so weit, dass es in dieser Welt kein Wetter gibt, auch keine Hügel, die ja nachteilig sein könnten. Morgendliche Injektionen töten Gefühle ab, denn auch die führen ja bekanntlich zu Neid, Eifersucht, Streit, dann schließlich zu Mord und Totschlag.

Doch Jonas wird bei der öffentlichen Aufgaben- und Berufsverteilung übergangen, denn er hat alle vier wichtige Eigenschaften, ist als „Receiver of Memory", als Empfänger der Erinnerung ein Auserwählter. Jonas ist also wie die Älteren, die alles entscheiden, etwas gleicher als gleich. Er darf fortan als einziger lügen, aber auch nichts von seiner folgenden Ausbildung erzählen. Am Rande der Klippe ins Nichts wartet in einer riesigen Bibliothek mit - ihm bislang etwas unbekannten, Büchern - der „Giver" (Jeff Bridges) auf ihn.

Jonas wird nun mit den Erinnerungen der Menschheit geflutet. Ein auch im Kino großartiger Rausch an Farben, Freuden, Klängen, mit allem, was in dieser Welt ausradiert wurde. Jonas sieht schließlich alles wieder in Farbe und sein schon vorher nicht übersehbares Rebellentum bricht endgültig aus, als ihm klar wird, dass die Älteren das Morden nicht beendet haben, sie haben ihm nur einen anderen Namen gegeben.

Eine der ersten Erinnerungen mit denen Jonas konfrontiert wird, ist eine Schlittenfahrt. Der Verweis zu Orson Welles Über-Film „Citizen Kane" ist überdeutlich. Nur wandelt sich die greise Lebenserinnerung eines einzelnen Mannes zur Rückerinnerung auf wahres Leben aus einer grauen Zeit. Man muss bei diesen freudlosen Regeln unweigerlich an die puritanische Zensur des „political correctness" denken. Doch man sollte besser nicht weiter an große Filmkunst denken. „The Giver" hat eine reizvolle Geschichte, auch wenn man sie in dieser Art zuletzt recht oft gesehen hat. Lois Lowrys Romanvorlage für diesen interessanten Jugendfilm stammt aus 1993, ist also Vorläufer von „ Panem"und „ Divergent". Aber so ist es halt mit diesen Konflikten und Brüchen in einer Gesellschaft und im Erwachsenwerden, sie bleiben sich gleich. Und das Ringen mit ihnen ist hier unterhaltsam und mit eindringlichen Bildwelten dargestellt.

Jeff Bridges, der selbst Ko-Produzent des Films ist, wirkt auch nuschelnd hinter einem dichten Bart noch eindringlich. Meryl Streep ist als Chefin des Ältestenrates wie in „1984" als Projektion allgegenwärtig und durch Überwachungskameras allwissend. Ein Besetzungs-Leckerbissen stellt Katie Holmes als erschreckend systemtreue Mutter dar, da man unweigerlich an ihren Scientology-Hintergrund denken muss.

Borgman

Niederlande, Belgien, Dänemark 2013 Regie: Alex van Warmerdam mit Jan Bijvoet, Hadewych Minis, Jeroen Perceval, Sara Hjort Ditlevsen, Annet Malherbe, Tom Dewispelaere 113 Min. FSK: ab 16

Bei den legendären Komödien „Abel" und „Noorderlingen" des Niederländers Axel Warmerdam konnte man vor Jahrzehnten nur ein paar versteckte Salzkörner Grausamkeit entdecken. Nun beginnt „Borgman", Wettbewerbsfilm 2014 in Cannes, mit einer wahren Hexenjagd wie ein Exorzismus-Film: Bewaffnete Männer, unter ihnen der Priester, durchkämen mit Hunden ein Waldstück und scheuchen einen bärtigen Mann (Jan Bijvoet) aus seiner unterirdischen Höhle auf. Der kann entkommen, warnt zwei ebenfalls sehr mysteriöse Typen und taucht dann in einer ganz anderen Welt, vor einer Villa im Grünen auf. Das Heim der gut situierten Familie van Schendel erfährt in kleinen Schritten und Schnitten eine Invasion von .... Ja, von was eigentlich? Nicht erst in der Frage, was über Marina (die an der Akademie Maastrichts ausgebildete Hadewych Minis), Richard (Jeroen Perceval), ihre Kinder und das dänische Au-pair (Sara Hjort Ditlevsen) gekommen ist, betritt der Film mutig ein mysteriöses Fremdland. „Und sie kamen hernieder auf Erden, um ihre Reihen anzufüllen" - mit diesem biblisch klingenden Spruch beginnt ein reizvolles Filmspiel mit viel Unerklärlichem.

Zuerst ist es der Gärtner, als der sich Borgman (Jan Bijvoet) im Schuppen der Familie einquartiert und sich wie ein schmutziger, stinkender und ansteckend lüsterner Pan die gelangweilte Hausfrau hörig macht. (Im Original spricht Bijvoet als Flame unter Niederländern merklich anders.) Er wird von zwei afghanischen Windhunden begleitet oder sind das schon Borgmans Gefährten, die später einziehen? Der Regisseur selbst spielt einen von ihnen, der andere kümmert sich um das dänische Au-pair. Es wird als erste mit einem kleinen Kreuz markiert und verwandelt. Die Kinder werden folgen. Zwei eiskalte Frauen begleiten die Pläne als coole Killer. Dass die Opfer mit in Eimern einbetoniertem Kopf im Fluss versenkt werden, ist quasi Markenzeichen und symptomatisch für den skurillen Humor des Films. Irgendwas stimmt hier nicht, etwas steht Kopf, erschreckt, aber fasziniert auch.

Das andere faszinierende Bild des Films ist das von Borgman, jetzt ganz lüsterner Ziegengott Pan, nachts nackt auf der schlafenden Marina hockt, ihr Mann liegt daneben. „Borgman" ist eine witzige Variante von „Funny Games" und zeigt, wie mysteriöse Gestalten mit Hilfe unbestimmter weiblicher Sehnsüchte eine wohlhabende Familie in deren Vorstadthaus unterwandern. Hier zerfrisst etwas Ursprüngliches die kalte Nüchternheit des Betons, die schon Jacques Tati in „Mon oncle" vorführte. Das ist mysteriös und komisch, skurril und bösartig. Ist besonders reizvoll weil keineswegs eindeutig.

29.9.14

Dracula untold

USA 2014 Regie: Gary Shore mit Luke Evans, Sarah Gadon, Diarmaid Murtagh, Dominic Cooper, Charles Dance 92 Min.

Dracula als Superheld? Da muss einem ja das Blut auf den Eckzähnen gefrieren! Dazu noch in einem, nun ja: naturalistischen Filmstil, der ohne die hohe Auflösung der digitalen Technik wie von gestern aussähe. Das B-Filmchen mit gerade mal zwei A-positiv Darstellern und Türken-Scharen, die gerade vom Star-Friseur kommen, versucht mit ein paar Bild-Tricks und der Geschichte vom Anfang des Beißerchens über die Runden zukommen, bleibt aber in vieler Hinsicht blutarm.

Die Türken stehen als Bedrohung mal nicht vor Wien, irgendwie hat auch der chic geföhnte Sultan Mehmed (Dominic Cooper) die falschen Karten und erpresst den transsilvanischen Fürsten Vlad (Luke Evans). Weil der einem noch schrecklicheren Tyrann, nämlich seiner blonde Luxus-Frau (Sarah Gadon), versprochen hat, auf den Sohn aufzupassen, lässt er sich im finsteren Gebirge vom Monster Caligula (Charles Dance) zum Vampir und damit tausendfach stärker machen. Denn bislang war er ein guter Herrscher, der nur mal ganze Dörfer gepfählt hat, damit er nicht alle Dörfer massakrieren muss. Nun kann er ganz allein die Türken-Scharen abschlachten, hat aber Probleme mit der Sonne und mit Silber. Zudem will er seine Super-Power samt Infrarot-Blick nur drei Tage nutzen und dann wieder ganz normaler Menschenschlächter zu werden. Doch auch ein Vampir kann nicht immer überall sein, und so meucheln die Gegner die keifende Herrscherfrau („ich erkenne dich nicht wieder") und Vlad verpasst aus Wut den Zeitpunkt zum Aussteigen.

„Dracula untold", dieser filmische Unhold, die Verhunzung der Charaktere von Bram Stoker, wirkt billiger als „Games of throne". Dazu banal in der Handlung. Reizvolle Chancen wie die Entdeckung der hyperempfindlichen Sinne werden lächerlich, wenn den Neu-Vampir kommentiert „Das ist nützlich!" Auch ansonsten gibt es viel unnötiges Gerede und unpassende, weil nicht coole Scherze. Was sonst alles unsinnig oder misslungen ist, für die Aufzählung müsste man ewig leben und leiden. Merke, für einen, immer gleichen Fledermaus-Effekt und eine schwache Idee sollte man nicht so viele Filmmillionen verheizen.

Gone Girl

USA 2014 Regie: David Fincher mit Rosamund Pike, Ben Affleck, Missi Pyle, Carrie Coon, Neil Patrick Harris 145 Min.

Was geht im Kopf des Menschen vor, mit dem man zusammenlebt? In David Finchers Verfilmung des Romans „Gone Girl" von Gillian Flynn wird die Antwort radikal gesucht: Ein Mastermind-Spiel schleppt der verkaterte Nick (Ben Affleck) unterm Arm in die Kneipe, die er mit seiner Zwillingsschwester Margo (Carrie Coon) betreibt. Doch das echte Superhirn ist zuhause seine Frau Amy (Rosamund Pike). Beziehungsweise nicht mehr zuhause, denn da findet Nick später nur noch Spuren eines Überfalls. Ausgerechnet am Hochzeitstag, an dem Amy immer trickreich Spuren zu einem Geschenk ausgelegt hatte, gibt es nun keine Spur von ihr.

Die herbeigerufene Kommissarin Rhonda Boney (Kim Dickens) ist erstaunlich engagiert, Nicks Wohnung wird gleich mehrere Tage hausdurchsucht. Vielleicht auch weil Amy als literarische Figur „Amazing Amy" über Jahrzehnte von ihren Eltern sehr populär vermarktet wurde. Aber vor allem wird der unbedarfte und heimlich untreue Gatte immer mehr zum Verdächtigen.

Aus Amys Tagebuch erfahren wir in Rückblenden vom Verlauf der Beziehung, dem euphorischen Kennenlernen, dem gemeinsamen Spaß, der Heirat, dem Bankenkrisen-Abzocke, der auch die beiden trifft, dem Umzug von New York in Nicks provinzielle Heimatstadt und der wachsenden Entfremdung. Wie beim Rätselspiel vom Hochzeitstag bekommen wir immer neue Hinweise, welche die ganze Situation auf den Kopf stellen.

Diese Überraschungen und Wenden sind allerdings für einen hochkarätigen Regisseur wie Fincher, für den Meister der Spannung in „Verblendung", „Zodiac", „Panic Room", „Fight Club", „The Game", „Sieben" und „Alien 3" überraschend ruhig getaktet. Ist es der Einfluss exzellenter TV-Serien, die sich trauen, alte Erzählweisen aufzubrechen? Jedenfalls scheint „Gone Girl" bei einer durchgehenden Handlung aus verschiedenen Filmen zu bestehen: Das ist zuerst der Krimi, bis die vermeintlich Ermordete nach der ersten Auflösung wieder auftaucht. Dann gibt es fast so etwas wie einen Gerichtsfilm, ein anderer Krimi mit neuen Karten. Bis alles in ein bitteres Ehedrama mündet. Wobei in allem auch die Spannung mal Auszeit nimmt. Allerdings geht es im Vergleich zu Finchers „Zodiac" auch nicht um etwas abgrundtief Böses. Der Rosenkrieg von „Gone Girl" ist manchmal fast komisch, wirkt wie eine Soap, eine blutige.

„Gone Girl", dieses in ihren tödlichen Auswirkungen extreme Ehedrama, wird komplett vom Scheinwerferlicht der Medien begleitet, sogar bis in die Wohnungen hinein. Von der Pressekonferenz zum Verschwinden Amys bis zum in Talkshows ausgetragenen Kampf um die Wahrheit. Für Amy ist dies allerdings nichts Neues, da ihre Eltern ja schon ihr ganzes Leben als „Amazing Amy" in die Öffentlichkeit zerrten. Könnte sein, dass frau dabei etwas seltsam wird. Dass Nick eine Möchtegern-Schauspielerin als Geliebte und eine perfekte als Ehefrau hat, gehört zu den bissigen Details dieser Beziehungs-Analyse.

Was geht im Kopf des Menschen vor, mit dem man zusammenlebt? Vor allem diese Frage krallt der Film am Beispiel extremer Verstellung in die Gedanken der Zuschauer. Projektionen, Erwartungen, Rollenspiele geraten hier in ein ganz heftiges, kriminelles und existenzielles Schlaglicht. Das fast langweilig schöne, reine Gesicht, das Rosamund Pike zeigen kann, ist dabei perfekte Oberfläche für die Täuschung ihrer biestigen, manipulativen Figur und des Films.

Der kleine Nick macht Ferien

Frankreich 2014 (Les vacances du petit Nicolas) Regie: Laurent Tirard mit Mathéo Boisselier, Valérie Lemercier, Kad Merad, Dominique Lavanant, Erja Malatier 97 Min. FSK: ab 0

Dass die sehr sympathischen und liebenswerten Kinderbücher vom Asterix-Koautor René Goscinny und dem in seinem einfachen Strich genialen Illustrator Jean-Jacques Sempé verfilmt werden mussten, war keine Frage. Erstaunlich nur, dass es so lange gedauert hat. Nun liegt der zweite Realfilm vor. Es geht ans Meer, aber in kleinen, einfachen Episoden und Scherzchen auch noch etwas weiter weg von der zurückhaltenden Vorlage.

Es sind die 60er-Jahre als man beim Hotel Beau Rivage noch nicht an Badewannen dachte. Endlich verbringt die Familie des Kleinen Nick (Mathéo Boisselier) die Ferien mal am Meer, doch Papa (Kad Merad) muss diesen Erfolg mit einer unerwünschten Begleitung bezahlen und wir mit vielen Schwiegermutter-Scherzen.

Der Charme alter Zeiten, schön eingeleitet durch eine Postkarten-Animation im Vorspann, herrscht an der französischen Küste. Herrlich karikierte Erwachsene, die typischsten Urlauber überhaupt und eine Bande ulkiger Lausbuben, mit denen sich Nick herumtreibt. Diese Clique hat bald nur noch das Ziel, Nicks vermeintlich drohende Zwangsheirat mit Isabelle (Erja Malatier) zu verhindern. Die Tochter von Papas altem Schulfreund Bernitz (Bouli Lanners) erinnert mit ihrem starren Blick beängstigend an Mortizia Addams. Da wird eine Dusche mit der Kloake geflutet, stolze Sandburgen geraten unter kleinen Füße und die Lüge von Papas Arbeitslosigkeit führt zu vielen Missverständnissen. Selbstverständlich darf auch ein Ferien-Flirt nicht fehlen.

Knallige Farben und anekdotische Scherze bestimmen diese französische Küste. Das erinnert nur ganz selten an Jacques Tatis „Die Ferien des Monsieur Hulot", denn Nicks kleinen Episoden sind alle laut und über deutlich, selbst Slapstick oder Comichaftes findet sich selten. „Der kleine Nick" steht in dieser Form eher entfernt in der Tradition von Louis de Funes. Wobei der Komiker Kad Merad als Vater Nicks zum Glück nicht in dessen Strand-Fußstapfen tritt und sich angenehm zurückhält - soweit das der Film erlaubt. Denn der devote Angestellte und Ehemann muss auch schon mal in einer Geheimagenten-Einlage den Briefkasten mit einer voreilig versandten Kündigung abfackeln. Auch das sieht vor allem gut aus und lässt vielleicht sogar schmunzeln. All die ganz kleinen Nicks im Kino werden jedoch ihren Spaß haben.

23.9.14

Im Krieg - Der 1. Weltkrieg in 3D

BRD, Großbritannien, Frankreich 2014 Regie: Nikolai Vialkowitsch 103 Min. FSK: ab 12

Der Dokumentarfilm mit dem irgendwie hilflos reißerischen wirkenden Titel „Im Krieg - Der 1. Weltkrieg in 3D" ist eigentlich ein tönendes Bilderbuch auf Basis von Stereoskopie-Bildern, einem Vorläufer des 3D. Allerdings nicht das 3D, das wir mittlerweile kennen. Der Film fährt die 3D-Fotos ab und erzeugt so den Eindruck von Bewegung, ansonsten ist er vor allem ein Tonspur-Film: Verschiedenartige Texte vom Brief bis zum Gedicht werden vorgelesen und von bedeutungsschwerer, sehr dominanter Musik begleitet. Dazu einige aktuell gedrehte Szenen von den noch sichtbaren Narben des furchtbaren Krieges in der Landschaft.

Wichtiger als technische Details bleibt das Anliegen, denn „Im Krieg - Der 1. Weltkrieg in 3D" will unter anderem mit langen Szenen zerstörter Kirchen aber vor allem auch durch bewegende Erfahrungsberichte aus noch einem wahnsinnigen Krieg Anklage sein. Das gelingt ihm mit der Kraft der Musik, wobei offen bleibt, ob die Tiefe der Fotos, also der stellenweise 3D-Effekt, förderlich für die Wirkung ist. Der Schrecken steckt in den vielen Fotos - und den vereinzelten historischen Filmaufnahmen - selbst. So stellt - dann doch wieder medientechnisch - das alte Medium Fotographie das neue Gimmick 3D in den Schatten.

Phoenix (2014)

BRD 2014 Regie: Christian Petzold mit Nina Hoss, Ronald Zehrfeld, Nina Kunzendorf, Michael Maertens 98 Min. FSK: ab 12

Die Hauptfigur ist eine Unbekannte, eine maskierte Leerstelle. In Deutschlands Stunde Null erfährt man bei einer medizinischen Untersuchung indirekt von den vielfältigen Verwundungen der KZ-Überlebenden Nelly (Nina Hoss), sieht den entsetzen Blick eines vorher ruppig kontrollierenden US-Soldaten. Nach der Wiederherstellung ihres Gesichts ist Nelly in den Trümmern Berlins von ihrem eigenen Abbild in einem gebrochenen Spiegel entsetzt. Weil es ein anderes ist. So erkennt auch ihr früherer Mann Johnny (Ronald Zehrfeld), den sie in der Nachtbar Phoenix entdeckt, sie nicht. Einst versteckte er die Jüdin vor den Nazis. Doch zwei Tage nach seiner Verhaftung wurde auch sie entdeckt und überlebte das KZ nur, weil sie nach einem Schuss ins Gesicht für tot gehalten wurde.

Mit Nina Hoss und Ronald Zehrfeld kann Regisseur Christian Petzold wieder auf die exzellenten Protagonisten aus „Barbara" bauen. In einer sogar witzigen Verschiebung ihrer Talente spielen sie in der kargen Kellerwohnung von Johnny absurdes Theater. Denn er, der sich nun Johannes nennt, will die Ähnlichkeit der Unerkannten nutzen, um das Erbe der Totgeglaubten zu beanspruchen. Dabei traut er der Zufallsbegegnung nicht zu, die darzustellen, die sie eigentlich ist. Wie er die Heimkehr einer KZ-Überlebenden mit luftigem roten Kleid und Pariser Schuhen inszenieren will, ist ein Hohn. Dass er ihre Erschütterung dabei nicht wahrnimmt, wirklich unglaublich und damit umso bedeutsamer. Denn auch dieser Petzold erzählt von mehr als nur einer Geschichte. In dem Kellerspiel spiegelt sich der Umgang der deutschen Nachkriegsgesellschaft mit dem Grauen der Konzentrationslager in geradezu absurder Weise. Man sieht nicht, was man nicht sehen will. Und keiner will die Geschichten aus dem Lager hören. Dabei ist die Situation der Liebe Suchenden schon wieder eine der Gefangenschaft. Nellys Blick aus dem Fenster gleicht dem aus einer Zelle. Sie aber macht die zynische Maskerade mit: Nelly will von Johnny gesehen und geliebt werden.

Wie in Hitchcocks „Vertigo" James Stewart versucht, Kim Novak zum Ebenbild einer vermeintlich Toten zu machen, kommt hier die Nelly der Nina Hoss aus dem „Reich der Toten". Wortwörtlich, denn Nelly sagt, „als er mich nicht erkannt hat, war ich wieder tot. Jetzt hat er mich wieder zum Leben erweckt." „Phoenix" ist ein Melodram, dem die Strenge der Petzoldschen Filmkunst gut steht. Mit einer Tönung der Bilder, die auch optisch an die klassischen US-Melodramen der 50er - unter vom deutschen Flüchtling Douglas Sirk - erinnert. „Phoenix" wirkt klar und prägnant wie die Töne der Instrumental-Version von „Speak low", mit welcher der Film beginnt. Der Song von Kurt Weill ist das Leitmotiv des Filmes. Später kommt - mit Johnny am Klavier - eine gesungene Fassung der ehemals bekannten Sängerin Nelly und damit auch Gefühl hinzu.

Christian Petzold gelingt nach exzellenten Filmen wie das RAF-Drama „Die innere Sicherheit" (2000), dem Dreiecks-Melodram „Jerichow" (2008), der Wiedervereinigungs-Albtraum „Yella" (2007) und dem DDR-Abschied „Barbara" (2011) mit „Phoenix" nach einem eigenen Drehbuch (unter Mitarbeit des kürzlich verstorbenen Harun Farocki) auf der Basis der Romanvorlage „Le retour des cendres" von Hubert Monteilhet erneut ein Meisterwerk aus exakt sowie analytisch beobachtenden Bildern und verhalten leidenschaftlichen Figuren. Es ist wieder ein Stück deutscher Geschichtsschreibung, aber dann vor allem im atemberaubenden Finale, das ein unfassbarer Moment des Erkennens krönt, auch ein Glanzpunkt deutscher Filmgeschichte.

Ein Sommer in der Provence

Like Father, Like Son

Japan 2013 (Soshite Chichi Ni Naru) Regie: Hirokazu Kore-Eda mit Masaharu Fukuyama, Machiko Ono, Lily Franky, Yoko Maki 120 Min. FSK ab 0

Wer sich um unmenschlichen Stress schon für Kinder sorgt, braucht nicht auf einen lauen Tatort zum Thema zu warten. Ein Blick ins gesellschaftlich gleichzeitig futuristische und traditionelle Japan reicht. Kore-Eda Hirokazu, der 2004 mit „Nobody Knows" eine unheimlich bewegende Geschichte um Kinder realisierte, die im modernen Japan auf sich allein gestellt verwahrlosen, erweist sich wieder als meisterlicher Seismograph für das Verschwinden des Menschen ist der Gesellschaft. „Like Father, Like Son" (Wie der Vater, so der Sohn) feierte seine Premiere im Wettbewerb von Cannes 2013 und erhielt sehr verdient den Jury-Preis.

In „Like Father, Like Son" geht es wieder um Kinder, um das schier unfassbare Verschieben und Verschachern zweier Söhne, die vor sechs Jahren im Krankenhaus vertauscht wurden und die nun in einer extremen Leistungsgesellschaft von einem getriebenen Vater als Besitz betrachtet werden. Als der sehr wohlhabende Ryota und seine Frau Midori erfahren, dass ihr sechsjähriger Sohn Keita nicht ihr eigenes Kind ist, bietet - nach dem typisch japanischen Ritual von Grimm und demütigen Entschuldigungen - das Krankenhaus nicht nur Wiedergutmachung, sondern auch eine Wiederherstellung der natürlichen Ausgangslage an. Will das Paar den vermeintlichen Sohn gegen den wirklichen eintauschen? Nach sechs Jahren Kindheit? Und was will das andere betroffene Elternpaar, das auch so wunderbar anders ist Neben den strengen, ordentlichen, durchdesignten Erfolgs-Eltern, die ihr Kind schon jetzt zu lebensentscheidenden Aufnahme-Prüfungen drängen, ist die einfache, arme, chaotische aber einnehmend herzliche Familie sehr erfrischend.

Wurde in kleinen Momenten die Ähnlichkeit von Vater und Sohn beim Klavierspiel überdeutlich, ist die Enttäuschung nachher umso größer. Dass Entsetzen, als sich der in seinen Grundfesten erschütterte Erfolgsmann Ryota einfach beide Kinder kaufen will, geht einher mit einer tiefen Verstörung angesichts einer tatsächlich schier unlösbaren Situation. Mit der alten Frage, ob Gene oder Sozialisation prägend sind, fangen das Nachdenken und das moralisches Abwägen erst an. Ein mit viel Sensibilität und großer Kunst gemachter, großartiger und wichtiger Film. Ein Meisterwerk.

Who Am I - Kein System ist sicher

BRD 2014 Regie: Baran bo Odar mit Tom Schilling, Elyas M'Barek, Hannah Herzsprung, Wotan Wilke Möhring, Antoine Monot jr, Trine Dyrholm 106 Min. FSK: ab 12

Hat da jemand einen Hollywood-Server geknackt und sich ein hochkarätiges Thriller-Drehbuch geschnappt? Nein, wer 2010 „Das letzte Schweigen" gesehen hat, den letzten Kinofilm von Baran bo Odar, diesen optisch sensationellen Psycho-Thriller, weiß vom Talent des 1978 in der Schweiz geborenen Regisseurs. Nun schrieb er zusammen mit Jantje Friese einen hochspannenden Hacker-Thriller und realisierte es mit klasse Besetzung selbst als Kino-Knaller.

Benjamin (Tom Schilling) ist Hacker. Kein verspielter Nerd mit Ego-Shooter-Manie, sondern ein schüchternes, fast unsichtbares, braves Jüngelchen. Er pflegt seine Oma, die ihn nach dem Verschwinden des Vaters und dem Selbstmord der Mutter aufzog. Aber der bis zur Unsichtbarkeit unauffällige Pizzabote kann Maschinensprache, was scheinbar der Sesam-Öffne-Dich für alle Computer-Systeme ist. Der Versuch, der heimlich angehimmelten Marie (Hannah Herzsprung) eine Jura-Klausur vom Uni-Server zu klauen, scheitert nur in der blöden 3D-Welt, dem Fleisch-Space.

Doch die Sozialstrafe bringt Benjamin mit dem ganz anders strukturierten Max (Elyas M'Barek) zusammen: Auch Hacker, aber Meister des „social engineering", des Hackens von Menschen. Oder: extrovertierter, draufgängerischer Anmacher und Verführer. Mit dem wahnsinnigen Stephan (Wotan Wilke Möhring) und dem neurotischen Techniker Paul (Antoine Monot jr.) brechen sie bei Banken, Pharmakonzernen und Neonazis ein, um einfallsreich und witzig politische Statements abzulegen. In einer kindischen Konkurrenz mit MRX, dem Star der Hackerszene, düpieren sie schließlich den angeblich hochsicheren Bundesnachrichtendienst. Doch die Konkurrenz um Marie führt zum Mord an einem Undercover-Agenten. Benjamin sieht sich plötzlich von allen verfolgt.

Der ungewöhnlich dichte deutsche Film hat von Anfang an viel Power und Drive, gepuscht von Techno-Klängen (Musik: Michael Kamm). „Who Am I" ist fast komplett Benjamins Geständnis bei der Europol-Polizistin Hanne Lindberg (die großartige Dänin Trine Dyrholm) und ganz schnell gehört hier Keyser Soze zu den üblichen Verdächtigen. Also eine Art „23" für eine neue Generation. Hans-Christian Schmid war dabei 1998 der Regisseur und auch diesmal liegt der „Illuminatus" von Robert Anton Wilson als Bibel der Verschwörungstheorien neben dem Bett. Wobei, wenn Tom Schilling nun in der damaligen Rolle von August Diehl von allen verfolgt wird, ist es vor allem schneller und spannender, dafür weniger verrückt oder politisch.

Wenn das charakter-starke Quartett mit Masken die an den von Anonymus vereinnahmten Guy Fawkes erinnern, über die Dächer Frankfurts ziehen, sieht das aus wie im großen US-Krimi. Odars angestammter Kameramann Nikolaus Summerer fängt in Hell und Dunkel gute Bilder ein. Vor allem Tom Schilling legt eine klasse, facettenreiche Rolle hin. Die Kumpels von Benjamin sind tolle Ergänzungen seiner Persönlichkeit und mit Elyas M'Barek, Wotan Wilke Möhring und „Tech-Nick" Antoine Monot jr. super besetzt. Auch Hannah Herzsprung begeistert mit einer schillernden Marie.

Spannend ist „Who Am I" schon bevor irgendeine Rennerei losgeht. Cyber-Crime mit Fleisch und Blut, auch die unvermeidliche Visualisierung von Digitalem gelang gut. Dass ein „Darkroom" zum düsteren U-Bahnwagon voller maskierter Typen geriet, geht durch. Nur der Nothammer als IP-Tracer ist ebenso übertrieben wie das Versteckspiel des Endes. Das enttäuschte ja schon bei „Das letzte Schweigen". Vor allem auf die Fortsetzung der Karriere von Baran bo Odar darf man gespannt sein. Vielleicht ist beim nächsten Mal das Finale so exzellent wie der Rest.

16.9.14

Shirley - Visionen der Realität

Österreich 2013 Regie: Gustav Deutsch mit Stephanie Cumming, Christoph Bach 93 Min. FSK: ab 0

Bilder des amerikanischen Realisten Edward Hopper (1882-1967) gehören zum kulturellen Allgemeingut, zur gemeinschaftlichen ikonischen Bibliothek der westlichen Gesellschaften. So taucht die Eckbar von „Nighthawks" (1942) in zahllosen Filmszenen auf, bei Wenders und anderen, aber auch in allen möglichen Parodien. Nun nimmt sich der Regisseur Gustav Deutsch in „Shirley – Visionen der Realität" gleich 13 Gemälde von Hopper vor, lässt sie auf faszinierende Weise dreidimensional werden und bespielt sie mit der fiktiven Biografie einer Amerikanerin namens Shirley (Stephanie Cumming) in den 30er, 40er und 50er Jahren. Zum 28. August von 13 Jahren werden, beginnend 1931, vor Schwarzbild Nachrichten eingespielt, bevor ein Gemälde von Hopper aus diesem Jahr aufblendet. In diesen sehr exakten räumlichen Nachbildungen von gemalten Räumen rührt sich in einem immer wieder erstaunlichen Moment dann etwas. Handlung gibt es allerdings nur in begrenztem Maße, denn Deutsch treibt die Künstlichkeit noch weiter. Wir hören nur jeweils den inneren Monolog Shirleys, dazu nur mal ein wunderbares Lied von David Sylvian.

Shirley überdenkt dabei ihre Haltung zu Hollywood, während sie in „New York Movie" steht, und die wahrscheinlich im New Deal gegründete, linke Theatertruppe „The Living Theatre". Der Wirtschaftskrise folgt der 2. Weltkrieg, dann die Kommunistenhatz unter McCarthy und Nixon. Selten gibt es Gedanken zu Stephen (Christoph Bach), einem Partner Shirleys.

So erweist sich „Shirley – Visionen der Realität" als ideale Träumerei mit den meist einsamen Menschen in Hoppers Gemälden. Doch um Shirleys Lebensweg in die Bilder-Rahmen zu zwängen, muss die minimale Geschichte doch arg zurechtgebogen werden: Für „Office at Night" (1940) erzählt Shirley, dass sie für das method acting auch schon mal die Berufen annimmt, die sie in ihren Rollen spielt. Also wohl Sekretärin in diesem Fall. Dem Experimentalfilmer Gustav Deutsch gelang im Bild ein spannendes Experiment, die Tonspur irritiert eher.

Istanbul United

BRD, Tschechien, Schweiz, Großbritannien, Türkei 2014 Regie: Olli Waldhauer, Farid Eslam 90 Min. FSK: ab 16

„Istanbul United" ist ein unausgegorener Dokumentarfilm, der eine Fußnote vom Rand der türkischen Proteste zum Erhalt des Gezi-Parks aufbläht und übersieht, dass die eine Gewalt nur angesichts einer größeren sympathisch werden soll.

Die Begeisterung der Fußballfanaten von drei verfeindeten Istanbuler Profi-Unternehmen verursacht Gänsehaut, weil die gleichen Gesichter auch bei faschistischen Massenaufmärschen, bei Bücherverbrennungen und vielem anderen Schrecklichen zu sehen waren. Und ein kurzer, nicht im Film vorkommender Gedanke rüber nach Ägypten, wo in Port Said noch 2012 bei gewalttätigen Ausschreitungen rund um ein doch angeblich so verbindendes Fußballspiel 74 Menschen getötet und knapp Tausend verletzt wurden, erdet diese naive Hymne auf ein paar zeitweise demokratisch engagierte Fußballfans. Denn zum Alltag der türkischen Ultras gehören Massenschlägereien und auch Tote. Und auch wenn Premier Erdogan im Schnitt als böser Anführer der korrupten Herrschaft angedeutet wird, es kommt auch der „Führer" eines Fan-Club mit martialischen Phrasen zu Wort: Sie würden für ihren Verein töten. Ein Sportreporter schildert den Mord zwischen Fans als epischen Vorgang, nicht als systemimmanente, zwangsläufige Folge von Fanatismus und Fußball.

So schwelgt „Istanbul United" lange distanzlos in Bildern von idealisierter Gemeinschaft mitten unter den Fans und Hooligans. Diese Erhöhung von aggressivem, männlichem Fanatismus erscheint einem mindestens als naiv, wenn nicht gar als widerwärtig. Aus den aggressiven Typen, die scheinbar nichts anderes wollen, als sich gegenseitig übel zu beleidigen und tot zu schlagen, werden dann nach circa dreißig Minuten Film angesichts der Proteste um den Gezi-Park unvermittelt - wieder aggressive - Demonstranten, die nun gemeinsam für eine wohl gute Sache kämpfen. Diese Wandlung ist für den Gesamtzusammenhang einer zunehmenden Ent-Demokratisierung unter Ex-Premier und Jetzt-Präsident Erdogan wahrscheinlich so wichtig wie David Hasselhoff für den Fall der Berliner Mauer. Allerdings ist der Film wenigstens wieder mittendrin, diesmal im Protest und im Tränengas-Nebel. Was zu einer halbwegs interessanten und informativen Dokumentation der Proteste aus Sicht der Niedergeknüppelten führt. Das hat mit Fußball nicht viel zu tun - außer der altbekannten Tatsache, dass es ohne die Dauerberieselung mit Sport in allen Medien viel mehr (Zeit für) Nachdenken, Proteste und Bürgerbeteiligung geben würde.

Heli

Mexiko, Frankreich, BRD, Niederlande 2013 Regie: Amat Escalante mit Armando Espitia, Andrea Vergara, Linda González, Juan Eduardo Palacios, Reina Torres, Gabriel Reyes 105 Min.

„Heli" war einer der stärksten bewegenden und schockierenden Film von Cannes 2013, wo der Mexikaner Amat Escalante den Preis für die Beste Regie erhielt: Wie in einer Sozialdoku erleben wir, wie der junge Heli gemeinsam mit seinem Vater, seiner 12-jährigen Schwester Estela, seiner Frau und dem gemeinsamen Kind in einem kleinen Haus am Rande einer Stadt in Zentralmexiko lebt. Vater und Sohn arbeiten in einer Automobilfabrik. Als Helis Schwester Estela den jungen Polizeikadetten Beto kennenlernt, der das junge Mädchen ungeachtet ihres beinahe noch kindlichen Alters gerne heiraten würde, verursacht der eine Katastrophe. Eher unwillig von Kollegen angestachelt entwendet Beto mehrere Päckchen mit Kokain und versteckt sie auf dem Dach von Estelas Familie, die von nichts ahnt. Was der brutalen Gewalt vom Drogenkartell, aber auch von Polizei und Militär egal ist. Entführung und Folter sind die Folgen.

Eine Gewalt, die schwerer erträglich als in aktuellem Hollywood-Schund ist, aber wohl leider ziemlich nahe dran am realen Leben in Mexiko. Gleichzeitig ein fein gezeichnetes Psychodrama zwischen Heli und seiner Frau, eine erotische Story um die ermittelnde, sexuell frustrierte Polizistin, eine erschütternde Ansicht vom völligen Verfall der Moral.

„Heli" ist mit seiner ergreifenden Geschichte, im tollen Schauspiel und durch eine klasse Inszenierung eindrucksvoll, auch wenn der junge Regisseur Amat Escalante nicht die Klasse seiner Landleute bei „Amores perros", „Y Tu Mamá También" oder bei den Filmen von Carlos Reygadas hat. Escalante bedankte sich nicht nur bei seinem deutschen Produzenten und der Förderung durch die Film- und Medienstiftung NRW, sondern auch bei deutschen Einflüssen: Fritz Lang, Friedrich Wilhelm Murnau, Werner Herzog und der Arriflex-Kamera, mit der er seinen ersten Film drehte.

Sin City 2: A Dame To Kill For

USA 2014 Regie: Frank Miller, Robert Rodriguez mit Jessica Alba, Josh Brolin, Eva Green, Joseph Gordon-Levitt, Mickey Rourke, Rosario Dawson, Bruce Willis 102 Min. FSK: ab 18

Nachdem „Sin City" im Jahre 2005 als stilistisch mutige Comic-Verfilmung ästhetisch reizte und mit einer düsteren, nihilistischen Grundhaltung abstieß, kommt der Nachfolger „Sin City 2: A Dame To Kill For" ungewöhnlich spät und im Stil gemäßigt daher. Die extreme Gewalt des nicht jugendfreien Films ist aber immer noch ein Totschlagargument gegen ihn.

Eine normale Nacht im verdorbenen, heruntergekommenen und düsteren Sin City, in der Stadt der Sünde: Ein junger Spieler (Joseph Gordon-Levitt) fordert seinen herzlosen Vater, den mächtigen, gewissenlosen Senator Roark (Powers Boothe) heraus, der ganz schlecht verlieren kann. Der Alkie Dwight McCarthy (Josh Brolin) verfällt seiner anderen Sucht, der Femme Fatale Ava Lord (Eva Green) erneut - mit tödlichen Folgen für alle drumherum. Die Nackttänzerin Nancy Callahan (Jessica Alba) rächt sich am Mörder ihrer Liebe (Bruce Willis). Und wie ein Gespenst hängt Marv überall rum, so wie sein Darsteller Mickey Rourke auch immer noch im Filmgeschäft herumgeistert.

Es sind wieder ein paar Episoden voller Mord, Brutalität und Grausamkeit, die zwar mit wechselnden Erzählperspektiven, aber eigentlich vom immer gleichen Typ Mann mit gleich tiefer Stimme kommentiert werden. Passend dazu die dunkle Gestaltung des im Comic-Stil von Frank Millers Vorlage nachbearbeiten Realfilms. Diesmal allerdings ist die Maskierung zurückhaltender als im ersten „Sin City", denn es gilt, eine eindrucksvolle Reihe von bekannten Gesichtern vorzuführen. Bis zu Legenden wie Christopher Lloyd, der kurz als schräger Quacksalber übel mit einer Zange gebrochene Finger wieder gerade biegt.

Bis auf Farbtupfer wie rostrote Haare, ein blaues Kleid an Eva Green und selbstverständlich rotes Blut ist „Sin City 2" schwarz-weiß und ganz nahe an der schwarzen Serie. Wenn man zu all der Lust an Gewalt unbedingt einen Sinn finden muss, stülpt er die innere Visage vom Monster in Männern nach außen. Männer, die sowieso Monster sind, aber mit rauer Stimme viel drüber jammern. Soll man sich außerdem Gedanken darüber machen, weshalb das Blut nur manchmal rot spritzt? Oder die Anleihen bei alten Filmstilen interpretieren, die Spiegelkabinette würdigen? Nüchtern betrachtet, ist „Sin City" ein Film der nur aus Gewalt, Verstümmelung und Quälereien besteht und aus Frauen, die sich prostituieren. Bis auf eine Gang aus knapp bekleideten Killer-Frauen.

„Sin City 2: A Dame To Kill For" ist halt auch vom alten Gewalttäter und Tarantino-Kumpel Robert Rodriguez („El Mariachi", „From Dusk till Dawn"), mit Ko-Regie, Kamera, Musik und Schnitt hauptsächliche Mittäter von Frank Miller, der seine Comic-Vorlage selbst umsetzte. Es wirkt auch wie ein Tarantino, nur noch entseelter, mit noch stilisierterem Morden und entmenschlichtem Schlachten. Passend läuft kaum jemand ohne zerschlagenes Gesicht herum, alle haben eine üble Vergangenheit und immer eine verführerische betrügerische Frau darin. Eine unnötige Gewaltorgie, bei der ein paar Minuten Trailer reichen, um den Stil zu würdigen.

15.9.14

Wenn ich bleibe

USA 2014 (If I stay) Regie: R.J. Cutler mit Chloë Grace Moretz, Mireille Enos, Liana Liberato, Jamie Blackley, Stacy Keach 107 Min.

Schöne Jugendzeit ... Eine gute Zeit, um sich mit dem Tod zu beschäftigen? Eher nicht, im Teenie-Film wird die Begegnung mit dem Tod zum Horror, fast immer. „Wenn ich bleibe" schlägt die andere Richtung zum romantischen Rührstück ein: Mia Hall (Chloë Grace Moretz) hat, obwohl Tochter von Punk-Eltern, eine enorme Begabung und Begeisterung für das Cello-Spiel. Aber ausgerechnet Adam (Jamie Blackley), der Held einer aufsteigenden Rockband interessiert sich für das etwas nerdige Mädchen. Nach vorsichtigem Flirt und liebevollem Anfang einer Beziehung geht Adam auf seine erste längere Tour und Mia bewirbt sich für die berühmte Juilliard School im fernen New York. Was ausgerechnet bei Adam, der keine behütete Kindheit hatte, große Angst hervorruft, verlassen zu werden. Kurz, eine erste Probe für die frische Liebe, ein Thema, das man so direkt als unspannende Wiederholung von Altbekanntem abhaken könnte.

Doch ein Winterausflug von Mias Familie endet tödlich. Nur Mia überlebt schwerverletzt und landet im Koma. Und völlig neben sich in einer langen außerkörperlichen Erfahrung. Sie erlebt die eigene OP, das Eintreffen der Großeltern und Freunde an dem Krankenbett, in dem sie selbst reglos liegt. In der Verzahnung dieser dramatischen Situationen mit der Entwicklung von Mias Beziehung mit Adam wird deutlich, dass irgendwie nur ihre Entscheidung für oder gegen die Juilliard School, für oder gegen Adam den Dornröschenschlaf beenden kann. Was Mia schließlich zurückholt, ist Musik, von der es angenehm viel im Film gibt.

Einmal abgesehen davon, ob diese Konstruktion nach Gayle Formans Roman „If I Stay" (dt.: „Wenn ich bleibe") psychologisch haltbar ist, hat die Verflechtung von „Out of Body Experience" und Mias Vorgeschichte ihren Reiz. Gut gespielt vor allem von Chloë Grace Moretz („Hugo Cabret", „Let Me In"), nur etwas zu träge montiert, gewinnt die einfache Romanze so tatsächlich eine weitere Dimension. Von der man allerdings nicht viel erwarten darf: Das Jenseits bleibt als ein hell leuchtendes Glücksgefühl undifferenziert und religiös neutral. Die Entscheidung, ob man im großen New York studieren soll oder bei dem rumtourenden Rocker bleiben, ist auch nicht wirklich eine Frage von Leben und Tod. Doch wenigstens in dieser Form für das Zielpublikum unterhaltsam. Nur schade, dass der Film die Krücke des Voice over benutzt, dass wir Mias Gedanken, ob sie sterben oder weiterleben möchte, ausdrücklich hören und nicht das gute Minen-Spiel von Chloë Grace Moretz dies allein ausdrücken darf.

9.9.14

Der Junge Siyar

Norwegen, BRD, Irak 2013 (Før snøen faller) Regie: Hisham Zaman mit Taher Abdullah Taher, Suzan Ilir, Bahar Özen, Nazmi Kirik, Ahmet Zirek 105 Min. FSK: ab 12

Siyar lebt in einem kleinen kurdischen Dorf im Nordirak. Er ist zwar noch ein Teenager, aber nach dem Tod seines Vaters stimmt er einer arrangierten Hochzeit für seine ältere Schwester zu. Diese flieht und Siyar wird gedrängt, mit einem „Ehrenmord" die Familie zu rächen. Mit einem Messer bewaffnet und entschlossen zu tun, was die alten Männer von ihm fordern, folgt er der Schwester zuerst nach Istanbul. In der Stadt kann sich der Dorfjunge nur mit einigen schmerzhaften Erfahrungen mühsam zurechtfinden. Er lernt aber auch das kurdische Straßenmädchen Evin kennen, das ihn zuerst beklaut. Gemeinsam lassen sie sich von Schleusern nach Nordeuropa bringen. Über Berlin geht die Odyssee nach Oslo.

Reich an Eindrücken und Begegnungen ist die Reise Siyars. Doch die alten Regeln herrschen in einem weitreichenden Netzwerk noch überall, auch in Nischen der moderneren Demokratien. „Der Junge Siyar" steht zwar namensgebend und zentral in diesem europäischen Epos, aber lange bleibt er eine blasse Leerstelle, die von äußeren Anweisungen angetrieben wird. An seiner Figur und seinem äußerlich kaum erkennbaren Konflikt, die Schwester umzubringen, reibt man sich als Zuschauer. Siyar verkörpert - sehr zurückhaltend gespielt - ein Drama, das sich unmerklich aber dann erschütternd bis zum tragischen Ende zuspitzt. Als starker, emotionaler Gegenpol agiert das Straßenmädchen Evin mit ihren offen gezeigten Ängsten und Sehnsüchten. Regisseur Hisham Zaman inszeniert die Geschichte sehr souverän mit stimmigen Bildern und Farben für Heimat und Nordeuropa.

Sex Tape

USA 2014 Regie: Jake Kasdan mit Cameron Diaz, Jason Segel, Rob Corddry, Ellie Kemper, Rob Lowe 94 Min. FSK: ab 12

Der Versuch, zehn Jahre sexarme Ehe mit einem selbstgedrehten Porno zu beleben, gerät für Annie (Cameron Diaz) und Jay (Jason Segel) dank digitaler Unfähigkeit zur Katastrophe, als die dreistündige Verfilmung von „Joy of Sex" mit der Funktion „Frankensync" automatisch verbreitet wird. Nun startet eine Jagd nach einer Reihe von einst an Familie, Freunde und tatsächlich auch an den Briefträger verschenkten iPads, auf denen das Video landete. Und nach dem Sender einer anonymen Nachricht, der es auf jeden Fall gesehen hat.

Wer verschenkt eigentlich iPads als wären es Werbe-Kugelschreiber? Ebenso wenig wie um diese und andere grundlegende Fragen kümmert sich das klapperige Konstrukt um eine psychologische Grundierung der Geschichte. Kurz-Krise und Streit fallen erst nach fast 60 Minuten aus heiterem Himmel, bevor Jack Black als knallharter Pornoseiten-Betreiber mit großem Herzen noch ein paar Beziehungstipps gibt. Und die süßliche Musik ist keine Parodie sondern schrecklich ernst gemeint.

Was als Idee noch gut klang, geriet in der Ausführung von Jake Kasdan („Bad Teacher") erbärmlich: Nach mühsamem Start mit langen Erklärungen zum Sex vor und nach Geburt der Kinder windet sich der dünne Handlungsfaden ziellos umher. Eine lange Episode beim exzentrischen Firmenchef, der einen dicken Auftrag für Annie hätte, lässt Diaz eine unerfahrene Kokserin spielen, während Segel Ewigkeiten vor einem Schäferhund flieht. Eine Wiederbelebung des versehentlich ausgeknockten Haustieres erinnert schmerzlich an „Verrückt nach Mary". Hier hingegen stimmt das Timing weder im komödiantischen Moment noch in Großen und Ganzen.

Und überhaupt, was will das „Sex Tape" - außer mit erstaunlich wenig Handlung schlecht unterhalten? Die Verlogenheit der braven Gesellschaft entspannen? Vor den Gefahren des bösen Internets warnen? Oder beweisen, dass Familie und Erziehung im Disney-Stil wichtiger als dieser vernachlässigungswürdige Sex sind? Auf Basis einer verklemmten gesellschaftlichen Grundhaltung kann für den Mainstream keine sexuelle Komödie entstehen. Nach diesem unleidlichen, lustlosen und wenig lustigen Komödien-Krampf sind dann auch die originalen Turnübungen vom „Sex Tape" im Abspann nur noch nervig.

8.9.14

A Most Wanted Man

Großbritannien, USA, BRD 2013 Regie: Anton Corbijn mit Philip Seymour Hoffman, Rachel McAdams, Robin Wright, Grigori Dobrygin, Nina Hoss, Daniel Brühl, Willem Dafoe 122 Min. FSK: ab 6

Ein neuer Film des niederländischen Star-Fotografen Anton Corbijn („Control", „The American") ist immer ein Fest für alle, die Kino sehen und nicht nur Explosion hören wollen. Seine Verfilmung von John Le Carrés Roman „A Most Wanted Man" (mit dem enthüllenden deutschen Buchtitel „Marionetten") garantiert Augenschmaus, Spannung und gesellschaftliche Brisanz. Wobei sich die Action sich auf handgestoppte zwei Szenen beschränkt. Zudem ist noch ein großartiger Auftritt des im Februar 2014 verstorbenen Philip Seymour Hoffman zu feiern.

Nachdem sich einige der vermeintlichen 9/11-Attentäter rund um Mohammed Atta in Hamburg aufhielten, geriet die Stadt verstärkt ins Visier der Geheimdienste. Unter ihnen ist in „A Most Wanted Man" der anscheinend strafversetzte Günther Bachmann (Philip Seymour Hoffman) Chef einer kleinen deutschen Einheit, die einen Job machen sollen, den deutsche Gesetze eigentlich nicht erlauben. In ihr Netz gerät nun der tschetschenische Flüchtling Issa Karpov (Grigori Dobrygin) direkt als er als Fremder die sehr bedrohlich dargestellte und komplett überwachte Stadt betritt. Nun reißen sich nicht nur das CIA mit der täuschend freundlichen Martha Sullivan (Robin Wright) und die offiziellen deutschen Schnüffler (bürokratisch: Rainer Bock) um ihn, auch die Menschenrechts-Anwältin Annabel Richter (Rachel McAdams) will ihn - erst einmal unterstützen. Issa ist hasserfüllter Sohn einer mit 15 Jahren vergewaltigten Tschetschenin und eines russischen Offiziers und Vergewaltigers, der viele geraubte Millionen bei der Hamburger Bank von Tommy Brue (Willem Dafoe) gebunkert hat. Während Bachmann mit seinem Team (mit unter anderem Nina Hoss und Daniel Brühl in kleinen Rollen) Issa in einem fairen Deal als Lockvogel für größere Fische und internationale Waffenlieferungen nutzen will, folgt die geheime Konkurrenz bewährten Prinzipien: Erst erschießen oder foltern, dann Fragen stellen.

Die Handlung ist diesmal nicht so unübersichtlich wie zuletzt in dem ebenfalls großartigen „Dame, König, As, Spion". Doch wieder packend durch Schauspiel auf höchstem Niveau sowie eine besonders sorgfältige Inszenierung. Dass man den Film immer wieder anhalten möchte, um einzelne Bildkompositionen zu „liken", war zu erwarten, ist aber trotzdem nicht alltäglich im Kino. Die Hamburger Filmförderung darf für ihr verfilmtes Geld ausführlich in Hafenkaschemmen und Reeperbahn-Kulissen schwelgen. Aber vor allem das nahezu mythisch fotografierte Pyramiden-Gebäude der deutschen Geheimdienstler wie auch ein fast in Popart gestaltetes Sitzungsbüro sind optische Leckerbissen, die sich vom üblichen Postkarten-Abfilmen absetzen. John Le Carrés äußerst skeptische Sicht auf Geheimdienste und Politik wird hier in Figuren und Atmosphären kongenial umgesetzt. Da braucht es gar nicht die naiven Spitzen der Menschenrechtlerin Frau Richter zum Weißwaschen von dreckigem Geld unter dem Codenamen Lipizzaner.

Das Plädoyer für mehr Originalversion fällt diesmal nicht ganz eindeutig aus. Denn obwohl Philip Seymour Hoffman irgendwie absurd als Deutscher mitten in Deutschland mit Deutschen Englisch spricht - es bleibt die Stimme eines großen Künstlers und nicht die eines wie auch immer begabten Synchronsprechers.

„A Most Wanted Man" ist auch eine Hommage an Philip Seymour Hoffman in einer seiner letzten Rollen. Aus einem faltigen Gesicht mit der gleichen Schlagkraft, die ein DeNiro hat, fallen nur ein paar, aber dafür sehr starke Worte und Blicke. Wie Hoffman in Körperhaltung und Kettenrauchen, mit jedem Gang wie mit jedem Gesichtszug, mit dem gleichen beigen Anzug, der veralteten S-Klasse seinem Geheimdienstler Günther Bachmann (einem Verwandten Horst Herolds, des Vaters der Rasterfahndung) dieses ganz spezielle Format gibt, könnte man seitenlang feiern. Oder immer wieder sehen.

Lügen und andere Wahrheiten

BRD 2013 Regie: Vanessa Jopp mit Meret Becker, Thomas Heinze, Florian David Fitz, Jeanette Hain 106 Min.

Irgendwann will der im Film und im Kino umschwärmte, sanfte, asketische Yoga-Lehrer Andi (Florian David Fitz), der auch schon mal jemanden auf der Straße brutal zusammenschlägt, aussteigen und nach Indien. Instinktiv greift man im Kino zu seinen Sachen, um mitzugehen. Denn zum Aussteigen bietet der neue Film von Vanessa Joop, an deren andere Filme man sich einfach nicht erinnern will, viele Gelegenheiten. Da wäre die Parade der hölzernen Klischees, angefangen bei Meret Beckers egozentrischer Zahnärztin Coco („Wir haben alle unsere Probleme"). Wenige Tage vor ihrer Hochzeit befallen Coco heftigste Zweifel am Verlobten Carlos (Thomas Heinze). Ohne dass sie ahnt, wie teuer der Polterabend-Besuch im Puff war und dass ihm der Spaß auch den Führerschein kostete. Falls jetzt „Hangover" anklingt, dies ist Anti-Hangover, im Umfeld von Coco gibt es keinen Spaß und keine Gnade. So fliegt die zugegeben verlogene russische Assistentin Vera (Alina Levshin) raus, die Nachbarin Cindy (Lilith Stangenberg) bringt sich unbemerkt fast um und die beste Freundin Patti (Jeanette Hain) überlebt den Sprung aus dem Fenster nur mit Glück.

Um das Übermaß voll zu machen, hat die Künstlerin Patti noch ein Verhältnis mit dem Yoga-Beau Andi, der wiederum von Vera erpresst wird, weil deren Familie in Russland vorgibt, eine dringende Operation zahlen zu müssen. Falls es jemand noch nicht kapiert hat, zwischendurch ist allen ganz arg kalt, damit man merkt, wie kalt unsere Gesellschaft sein soll. Der Kommentar eines Zuspätkommers im Kino, „Ist das Werbung?", trifft dabei exakt den oberflächlichen Stil des Films. Die tolle Meret Becker gefällt in braver, spießiger Rolle gar nicht, auch wenn so eine nüchtern herzlose Fassade erst mal hingelegt werden muss und sie trotzdem ein paar ihrer typischen Momente hat. Ganz einfach direkt, ohne großes Getue. Thomas Heinze ist sowieso nicht so der Hit. Jeanette Hain kann als verrückte und unbefriedigte Künstlerin, die eine Ausstellung mit lauter Vulvas, vulgo: Muschis, hinhängt, in ihrer mutigen Offenheit und Tragik gefallen. Dass der schlagende Yogi Andi noch vor den offenen und dann tatsächlich mal interessanten letzten Minuten mit einer gebrochenen Figur die Aufmerksamkeit wieder weckt, bleibt leider nur eine Randerscheinung in diesem bei dünnem Gestaltungsmut stark überfrachteten Emo-Drama (Buch: Stefan Schneider, Vanessa Jopp), das problemlos montags im ZDF versendet werden könnte.

Maps to the Stars

Kanada, BRD, USA, Frankreich 2014 Regie: David Cronenberg mit Julianne Moore, Mia Wasikowska, John Cusack, Robert Pattinson 112 Min. FSK: ab 16

Regisseur David Cronenberg ist einerseits für legendäre Horrorfilme wie „Die Fliege" (1985), „Videodrome" (1982), den Medizin-Schocker „Die Unzertrennlichen" (1988) oder „Scanners - ihre Gedanken können töten" (1980) bekannt. Aber auch für ebenso spannende wie erschreckende Werke aus andern Genres etwa den Politthriller „Dead Zone" (1983). Vor allem in den letzten Jahren sezierte der Kanadier mit den großen Freiheiten der kanadischen Filmförderung unsere westliche Gesellschaft mit verschiedensten Formen, aus unterschiedlichen Blickwinkeln: Die Finanzwelt in „Cosmopolis" (2012), die Psychoanalyse von C. G. Jung in „Eine dunkle Begierde" (2011), Psychogramme von Gewalt („A History Of Violence", 2005) oder heftigster Traumata („Spider", 2002), um nur ein paar Beispiele des reichen Spektrums zu nennen. „Maps to the Stars", eine horrende Familien-Psychologie, die ihre Weltpremiere im Wettbewerb der 67. Internationalen Filmfestspiele von Cannes feierte, stürzt sich nun auf den Ruhm in Hollywood, der sich selbst verzehrt.

Eine Karte zu den Stars von Hollywood Hills - „a map to the stars" - hätte Agatha Weiss (Mia Wasikowska), die nach Brandstiftung im Elternhaus in die Psychiatrie kam, bei ihrer Rückkehr gerne. Lange, schwarze Handschuhe bedecken auch im strahlenden Licht Kaliforniens ihre vernarbten Arme. Die schwarze Limousine mit Chauffeur und Möchtegern-Schauspieler Jerome (Robert Pattinson), bringt Agatha zuerst zu den verkohlten Ruinen der Weiss-Residenz, in denen ein dunkles Geheimnis schlummert. Dann bekommt die hart blickende junge Frau einen Job bei der alternden Schauspielerin Havanna (Julianne Moore), die gerade verzweifelt auf ein Comeback hofft. Ausgerechnet mit der berühmtesten Rolle ihrer eigenen, verhassten Mutter, die ihr als Geist erscheint. Nicht ganz zufällig wird Havanna in esoterischen Sitzungen vom Hollywood-Guru Weiss (John Cusack) aufgebaut, der Agathas Vater ist. Dass sie auch Jerome rumkriegen muss, nachdem der eine Affäre mit ihrer Angestellten Agatha angefangen hat, ist nur die harmloseste der atemberaubenden Entwicklungen in dieser schrillen Hollywood-Satire. Denn eigentlich will das vom Leben gebrannte Mädchen an ihren 13-jährigen Bruder ran, den Kinderstar Benji Weiss (Evan Bird). Weil sein exorbitanter Drogenkonsum die Fortsetzung von „Bad Babysitter" verhindert, wird er nicht nur vor Agatha und dem Familiengeheimnis abgeschirmt...

Wer bei Cronenberg nun die Essenz des Films in einem Satz präsentiert haben will, ist im falschen Film. Auch wenn der Stoff für drei Jahre Soap reichte, der Meister der Spannung präsentiert all die krassen Emotionen, all die extremen Dramen mit kühler Distanz, die auch schon „Cosmopolis" bestimmte. Der Geist des Films lauert in den Fugen der offensichtlichen Bausteine Handlung, Figuren und Szenen. So schmeißt einen dieser Cronenberg nicht durchgeschüttelt und höchst emotionalisiert aus dem Kino. Er meldet sich aber in den Wochen und Monaten danach immer wieder mit Momenten oder Stimmungen, die sich auf unbewußten Wegen eingegraben haben. Das ist neben dem exzellenten Schauspiel (Goldene Palme für Julianne Moore), der bissigen Hollywood-Karikatur und der verrückten Handlung ein weiterer Grund, auch diesen Cronenberg auf keinen Fall verpassen zu dürfen.

2.9.14

Ohne Dich (2014)

BRD 2014 Regie: Alexandre Powelz mit Katja Riemann, Charly Hübner, Helen Woigk, Arne Gottschling, Meral Perin 90 Min. FSK: ab 12

Die Liebe zwischen der engagierten Hebamme Rosa (Katja Riemann) und dem unkonventionellen Therapeuten Marcel (Charly Hübner) erschüttert ihre Krebserkrankung im Endstadium. Sie will nicht noch eine Operation mitmachen, was ihn verzweifeln lässt. Die Kellnerin und Einzelgängerin Motte (Helen Woigk) ist von ihrem besten Freund Neo (Arne Gottschling) schwanger, der nicht weiß ob er schwul oder hetero ist. Rosa und Marcels Putzfrau Layla (Meral Perin) ist krampfhaft eifersüchtig auf ihren Ex (Bijan Zamani), der sie für eine jüngere Frau verlassen hat.

Die nur locker verbundenen Episoden im Kinodebut von Alexandre Powelz liefern jeweils nicht mehr Material als für einen Kurzfilm. Da kommt es dann auf die Umsetzung an, die weder in der Inszenierung noch im Schauspiel Besonderes bietet. Vor allem Katja Riemann wirkt in ihren Episoden zu bemüht exaltiert. Dreimal kleine Rührgeschichte ergibt weder große Rührung noch guten Film.

Erlöse uns von dem Bösen (2014)

USA 2014 (Deliver us from evil) Regie: Scott Derrickson mit Eric Bana, Édgar Ramírez, Sean Harris, Joel McHale 118 Min. FSK: ab 16

Das Böse entsteht im Krieg. Nicht durch die Gewalt, die entmenschlichte Soldaten mit nach Hause bringen, sondern hier in „Erlöse uns von dem Bösen" mystisch überhöht, nachdem US-Marines etwas in irakischen Katakomben finden. In einer scheinbar ganz neuen Geschichte 2013 muss sich dann der Polizist Ralph Sarchie (Eric Bana) in der Bronx mit rätselhaften Verbrechen auseinander setzen.

Das bringt eine ganze Reihe spannend inszenierter Szenen, die man eher dem Thriller als dem Horror-Genre zuordnen kann. Wobei der immer wieder auftretende Priester Joe Mendoza (Édgar Ramírez) und das höllisch tiefe Sprechen einer Verhafteten sehr an „Der Exorzist" erinnern. Und die Stimme hat nichts mit der horrenden us-amerikanischen Mode-Erscheinung „Voice Fry" zu tun. Das Unheimliche wird anfangs noch mit Scherzen weggelacht. Da singt ein Besessener die Melodie der Addams Family und das genremäßige Knacken in den Rohrleitungen solle doch besser ein Klempner beseitigen.

Doch bald ist es vorbei mit nur Schreckmomenten, bald wird der Horror explizit gezeigt. Ralph Sarchie, schon immer mit einem „sechsten Sinn" ausgestattet, sieht und hört plötzlich schreckliche Dinge - die andere nicht wahrnehmen. All das belastet sein Familienleben mit Kind und schwangerer Frau sehr. Also ein anständiger, spannender, gut gespielter und inszenierter Thriller. Mit Eric Bana in der Hauptrolle des Polizisten Ralph Sarchie ist die „böse Sache" hochwertig besetzt, was dem allzu bekannten Exorzisten-Theater Einiges an Ernsthaftigkeit verleiht. Bis zum üblichen Exorzismus-Finale, aufgehübscht mit viel Blut, Lichtflackern und - besonders originell - Songs von den Doors als teuflische Musik. Dazu etwas Geschwafel über „primary evil", ursprüngliches Böses, das nicht mit menschlichem Handeln erklärt werden kann.

Dabei zeigt sich allerdings, dass die ganze Entwicklung der Tricktechnologie letztlich doch nicht so wirkungsvoll ist, wie ein wenig Kopfdrehen. Am Ende soll dann alles wieder gut sein, nur fragt man sich, ob etwas Exorzismus neben der Dienstzeit unter Überstunden läuft oder doch wie beim Frankfurter Polizeipräsidenten eher als Folter verurteilt werden sollte.

Mr May und das Flüstern der Ewigkeit

Großbritannien, Italien 2013 (Still Life) Regie: Uberto Pasolini mit Eddie Marsan, Joanne Froggatt, Karen Drury 92 Min. FSK: ab 12

Mr. May (Eddie Marsan) besucht konfessionsübergreifend eine Beerdigung nach der anderen. Immer ist er der einzige Trauergast, wählte die Musik aus, schrieb die Trauerrede für den Priester. Mr. May kümmert sich von Amts wegen um Verstorbene ohne Angehörige. Versucht akribisch Freunde oder Bekannte zu finden, die am Tod dieses Menschen Anteil haben könnten. Plädiert selbst bei Söhnen voller Hass für einen versöhnlichen Abschied. Meist vergebens.

Dabei ist John May selber so ein trauriger Fall. Er hat, außer dem beruflichen, keinen Kontakt mit anderen Menschen. Sitzt in einem fast komplett grauen Büro und seine Wohnung sieht noch trüber aus. Das pedantisch aufgedeckte Essen - eine Dose Tunfisch und ein Toast - ist gänzlich ein Trauerspiel. Einsam und verloren geht er mit seinem leicht schiefen Kopf durchs Leben. Nie sieht man ihn lächeln. Eine traurige und komische Gestalt. Sein Blick über ein Gräberfeld wirkt wie der Blick auf das eigene Leben.

Der perfekte Hauptdarsteller Eddie Marsan hat eines dieser unverwechselbaren Gesichter, das man sofort erkennt, obwohl man sich seinen Namen niemals merkt. In „Sherlock Holmes" spielt er den Inspector Lestrade, in „The World's End" war er einer der Saufkumpane neben Simon Pegg.

Nach 22 Jahren Dienst wird Mr. May von einem dieser zynischen Effizienz-Heinis gefeuert: Er sei ja gründlich, aber auch langsam und teuer. Vielleicht wolle einfach niemand mehr an die Toten denken. Für seinen letzten Fall hat er noch drei Tage. Der ist ausgerechnet einer seiner Nachbarn. Nun geht Mays Blick immer wieder zur Wohnung gegenüber. Aber bei der bemühten Recherche in einer Bäckerei und einem Seebad begegnet der einsame, graue Beamte immer mehr Menschen. Er verlässt die eingetretenen Wege, obwohl der Versuch, mal einen frischen Fisch zu essen, großartig misslingt. Doch May entdeckt in den Nacherzählungen der Zeitgenossen das faszinierende Leben seines letzten Klienten. Billy, ein Fallschirmspringer auf den Falklands, Obdachloser, Häftling, Vater, geliebt, gehasst.

Mr. May gehört einer aussterbenden Gattung an. Wie der Dodo, den niemand außer ihm mehr zu kennen scheint. Und wie er selbst, ist auch der Film wortkarg. Dafür gibt es immer wieder sehr schöne Kleinigkeiten in den Wohnungen der Verstorbenen, die Spuren eines Lebens fast poetisch zeigen. Die Abrücke einer Hand in der Creme-Dose, das gefundene Familien-Fotoalbum. Auch die Bilder von Kameramann Stefano Falivene sind Kleinode, während die Inszenierung von Regisseur und Autor Uberto Pasolini wunderbar kuriose Szenen zeigt. (Der ehemalige Investment Banker und Produzent von „Ganz oder gar nicht" ist nicht verwandt oder verschwägert mit Paolo Pasolini, aber ein Neffe von Luchino Visconti.) Besonders das Ende ist emotional tief bewegend, wunderschön mit einer bitteren Note, wenn der Film die Aufgabe von Mr. May übernehmen muss, weil er selbst dafür nicht mehr da ist.

Amma & Appa - Eine bayerisch-indische Liebe

BRD 2014 Regie: Franziska Schönenberger, Jayakrishnan Subramanian 89 Min. FSK: ab 12

Eine bayerische Filmstudentin ist in einen tamilischen Kunststudenten verliebt. Nun denken die beiden, die sich lange Zeiten nur über Skype sehen, an Heirat und müssen die jeweiligen Eltern einbeziehen. Das (Filmemacher-) Paar Franziska Schönenberger und Jayakrishnan Subramanian hält alles mit der Kamera im Dokumentarfilm „Amma & Appa" fest, was erst zu einer Indien-Reise führt, bei der die sehr emotionale Schönenberger reichlich auf der Tonspur kommentiert. Kitschige indische Liebes-Lieder, viel Straßenstimmung und dazwischen Interviews mit den Schwiegereltern. Danach wirkt der Besuch bei den bayerischen Eltern ähnlich exotisch, vor allem als diese für ihre Indien-Reise Trachtenhosen und Dirndl einpacken. Außerdem bringen sie Lebkuchenherzen mit, und damit die herbe Schwiegermutter endlich zum Lachen. Schwiegerpapa sprühte vorher alles mit Riesendose Insektenvernichter ein, während in Deutschland noch ein letztes Mal richtig gegrillt und gegessen wurde. Hier prallen unterschiedliche Haltungen zur Aufgabe von Kindern und vor allem zum Alkohol aufeinander. Doch es gibt eine Einigkeit im Rassismus, während die Eltern zusammen sitzen und sich gegenseitig die Kinder schlecht machen.

Der Hochschulfilm von Franziska Schönenberger findet viele nette und aussagekräftige Momente, bewegt sich aber auch immer gefährlich nahe am Home Movie, wenn das Thema nicht über den privaten Tellerrand hinauskommt.

1.9.14

Lola auf der Erbse

BRD 2014 Regie: Thomas Heinemann mit Tabea Hanstein, Christiane Paul, Tobias Oertel, Arturo Perea Bigwood, Antoine Monot jr. 90 Min. FSK: ab 0

Ein Herz für Kinder und Kurden hat dieser trotz einiger Unzulänglichkeiten sympathische Kinderfilm: Die elfjährige Lola (Tabea Hanstein) lebt mit ihrer Mutter (Christiane Paul) auf einem Hausboot namens Erbse. Sieht idyllisch aus, doch dem Glück im Wege steht der Hafenmeister und Biedermann Herr Barkelt (Antoine Monot jr.). Und auch Lolas Mitschüler machen es dem Mädchen sehr schwer. Doch wie es immer wieder direkt in die Kamera erzählt, hat sie vielleicht selbst schuld dran. Weil sie die Stelle, an der ihr verschwundener Vater sie geküsst hat, nicht waschen will, und auch ihr rosa Haaransatz seitdem längst rausgewachsen ist.

Der Kampf gegen deutsche Spießer allerorten wird dramatisch, als spät im Film klar wird, dass Lolas neuer Freund Rebin (Arturo Perea Bigwood) und seine Familie „illegale" kurdische Flüchtlinge sind. Sie dürfen nicht offiziell zur Schule und auch nicht zum Arzt, wenn sie sich überhaupt einen leisten könnten. Nun zeigt sich, wer wirklich mutig ist und ein Herz hat. Ein ganz schön schwerer Kampf für Lola, die auch noch lernen muss, den neuen Freund der Mutter, einen bayerischen Cowboy, zu akzeptieren.

„Lola auf der Erbse" erzählt zwar eines der typischen Trennungskind-Dramen, wirkt auch lange überfrachtet, weil einiges an den Haaren herbei gezogen wird. Doch kleine Inszenierungsideen machen Spaß und bleiben hängen. So wie Lolas Schlaflied vom Papa aus dem animierten Bilderrahmen oder der gestrandete Kapitän mit Schifferklavier und viel Seemannsgarn. An der Schuldirektorin, die stellenweise grandios komisch überzeichnet, aber auch mit ihren Gewissensbissen ernst genommen wird, zeigt sich im Kleinen eine sorgfältige Figurenzeichnung. Besonders gelungen, wenn auch sehr demonstrativ, ist das nette Finale mit der Multikulti-Feier auf dem Fluss im Zusammenspiel mit der drögen Blasmusik des Hafenmeisters.

Tabea Hanstein überzeugt als Lola vor allem mit ihrem trotzigen Gesicht und ist ansonsten keine große Entdeckung. Christiane Paul wird von noch einer Mutterrolle wie schon in „Doktorspiele" eher unterfordert. Antoine Monot jr., der Technik-Nick aus der Elektromarkt-Werbung und der Tod aus dem Soap-Piloten „Jetzt ist Sense", gibt seinen gierigen Hafenmeister Herr „Bargeld" als reine Karikatur. Doch viele Szenen sind flott aufgelöst, nur die sozial betrübte Ethno-Musik auf der Tonspur nervt wirklich. Insgesamt kein ganz großer Wurf, aber besser als vieles, was mehr kostet und in der Werbung mehr Lärm produziert. Vor allem der Charme der Machart und der Mut, auch komplizierte Dinge wie „illegale Einwanderer" oder die dreigeteilte Verfolgung der Kurden zu erklären, fordern Beachtung.

Hercules (2014)

USA 2014 Regie: Brett Ratner mit Dwayne Johnson, John Hurt, Joseph Fiennes, Rufus Sewell, Peter Mullan 98 Min. FSK: ab 12

Mein Gott! Oder besser: Mein Halb-Gott! Wie ist es nur möglich, dass für einen schauspielerisch mäßig begabten Ex-Wrestler haufenweise richtige Darsteller und noch mehr richtige Gelder rangekarrt werden, um ein handlungsmäßig mäßig begabtes Filmchen abzudrehen? Dwayne Johnson soll Herkules sein, doch ein echter Titanen-Job ist es, aus dem Kleiderschrank eine Titelfigur zu machen.

Die Idee ist interessant: Da haben wir einen Scharlatan, der behauptet, der Gottessohn und folglich Halbgott Herkules zu sein. Mit diesem einschüchternden Image bekämpft er mit seiner Söldnertruppe im alten Griechenland für gutes Geld ein paar Schurken. Der zynische Kämpfer hat keine Ideale, aber ein Löwenfell auf dem Kopf und einen Job. Dass er schließlich doch sein edles Herz entdeckt und für eine gute Sache kämpft, ist spätestens seit 1954 und Kurosawas „Die sieben Samurai" ein klassisches Thema für Samurai-Filme, Western oder Film-Noir. Als direkte Vorlage diente diesmal der Comic „Hercules: The Thracian Wars" von Steve Moore. Doch ansonsten ist alles so wie immer, nur schlechter.

Hercules, um jetzt orthografisch von der Mythenfigur zur Witzfigur des Films zu wechseln, wird im Kampf gegen grüne Heerscharen unterstützt von einem pessimistischen Hellseher, einen komischen Herold, von der Quoten-Amazone, die für das Auge des männlichen Zielpublikum dekorativ dabei ist, und vom Tier, einem brüllenden Wüterich - fast wie aus der Muppet-Show. Dann gibt es, als Lord Cotys (John Hurt) die Söldner gegen dämonische Zentauren zur Hilfe ruft, die übliche Ausbildung der waffenunfähigen Bauern, die gewohnten Ansprachen, die zu erwartende erste Niederlage und das Aufraffen für die entscheidende Schlacht. Dazu noch eine seltsame, behauptete Einigung des antiken Griechenlandes und etwas Verrat.

Was alles unterhaltsam sein könnte, wäre es gut gemacht. Doch hier dauert es eine halbe Stunde bis zur ersten Schlachterei, also bis der Film erstmals das Erwartete liefert. Die zweite kommt dann nach einer Stunde mit hohl und hölzern klingenden Schlacht-Reden. Überhaupt ist dies wieder mal ein Massenmorden, bei dem fast kein Tropfen Blut zu sehen ist. Töten als einfaches Vergnügen ohne Konsequenzen - so wie viele Politiker das auch sehen. Zuvor langweilte eine lange Vorstellung nicht echt vielschichtiger Figuren. „The Rock" Dwayne Johnson hat mit Bart und Zottelhaar seine bislang unattraktivste Rolle gefunden. Als sein Hercules in höchster Bedrohung zu seiner wahren Existenz steht, ist das symptomatisch ein Kraftakt und fordert jeden Muskel, außer denen im Gesicht.

So ist „Hercules" in jedem Schritt extrem vorhersehbar, die wenigen guten Momente kennt man aus dem Trailer. Während sich die Schlächter auf der Leinwand und die Streicher auf der Tonspur furchtbar abmühen, schaut man dauernd auf die Uhr, wann denn diese legendäre Langeweile endlich ende.

Dabei irritiert die erstaunlich gute Besetzung rund um die Hauptfigur. Um in der Metapher zu bleiben: Da steht ein Schauspielgott namens John Hurt, der seit Jahrzehnten reihenweise grandiose Leistungen in die unterschiedlichsten Filme legt, von „Alien" über Lynchs „Der Elefantenmensch", den Western „Heavens Gate" „1984" bis zu letztlich „Snowpiercer" oder Jarmuschs „Only Lovers Left Alive". Und neben ihm - ein Kleiderschrank in der Hauptrolle. Das schauspielerische Talent von Herrn Johnson ist in dieser Riege ohne Vergleich. Höchstens ab Schlachtreihe 16 der Statisten kann sich jemand mit ihm messen. Regisseur Brett Ratner, der mal akzeptable Action wie „Rush Hour" oder „Roter Drache" gemacht hat, setzt seinen Ausverkauf fort. Hier hat unter all den Söldner des Boxoffice hinter der Kamera niemand sein edles Herz für das wahre Filmemachen entdeckt.