30.9.18

Die Abenteuer von Wolfsblut

Frankreich 2018 (Croc-Blanc) Regie: Alexandre Espigares 87 Min. FSK: ab 6

Mit veganen, also blutlosen Jagd-Szenen probiert dieser französische Zeichentrick den schon oft verfilmten Jack London-Klassiker „Wolfsblut" (White Fang) zeitgemäß kindgerecht zu verbiegen: Von unschönen Szenen und Zeichnungen beim Hundekampf geht es zurück in die nordamerikanische Wildnis zur flauschigen Kindheit eines Mischlings aus Wolf und Schlittenhund. Mama bringt ihm in winterlichen Bergen das Jagen bei, ein Luchs kostet ihnen fast das Leben und wenn gar nichts mehr geht, bettelt man bei durchziehenden Menschen. Schließlich kehrt Mama zu den gutherzigen Rothäuten zurück - Wolfsbluts erste menschliche Unterkunft.

Danach folgt eine Karriere als Kampfhund und bei seinem dritten Menschen-Heim wird es sehr lächerlich, wenn Frauchen den Mischling bittet, nicht die Hühner zu essen. Also nicht nur ein extrem kluger Hund, er kann sogar vegan.

Die stark veränderte Geschichte ist vom literarischen Goldgräber Jack London und mehr als 100 Jahre alt. Heute fragt man sich: Mischling - ist das bei Tieren ein Problem? Muss sich der arme Kerl deswegen wirklich bei Wölfen und domestizierten Hunden verteidigen? Das ist trotz nur angedeuteter Wildheiten erstmal nix für Montessori-Kinder und wird so grob gezeichnet in gut und böse, bei Menschen und Tier, auch nicht bekömmlicher. Man könnte den Stil interessant nennen, doch mit untergemengten Jahreszeiten und heftigem Orchester-Sentiment (Musik: Bruno Coulais) wirkt dieser Ansatz von Regisseur Alexandre Espigares („Mr Hublot") so frisch wie eine verlassene Goldgräber-Stadt.

Während die für London als Gegenpol zur Zivilisation so wichtige Wildnis in dieser nächsten Verfilmung nicht wirklich wild sein darf, nervt völlig vermenschlichter Kitsch etwa mit dem wilden Wolfsvater, der seinen Bastard-Sohn anerkennt. Die rauen Geschichten von Jack London hatten vor allem für Jungs einen gewissen Reiz. Die Weiten und Welten des letzten Randes Wilder Westen kurz vor dem Pazifik ergaben mit der schroffen Berglandschaft einen abenteuerlichen Hintergrund. Aber dazu ein pazifistischer Gesetzeshüter und ein fieser Hundetrainer, der aussieht wie Gollum nach seinen Untergrund-Jahren? Diese Reduktion bekommt dem London-Stoff gar nicht und hinterlässt einen unschönen und vor allem uninteressanten Mischling.

26.9.18

The Man who killed Don Quixote

Regie: Terry Gilliam mit Jonathan Pryce, Adam Driver, Stellan Skarsgård, Olga Kurylenko 132 Min.

„The Man Who Killed Don Quixote" war schon vor seinem Start Film-Geschichte: Terry Gilliam, als legendärer Regisseur von „12 Monkeys", „König der Fischer", „Fear and Loathing in Las Vegas", „Brazil" oder „Das Kabinett des Doktor Parnassus", und als Ex-Monty Python nicht irgendwer, drehte im Jahr 2000 nach mühsamer Finanzierung seinen „Don Quixote" mit Johnny Depp in einer spanischen Wüste, die plötzlich überschwemmt wurde. Obwohl es dort jahrelang nicht geregnet hatte! Neben dauernder Störung durch Militär-Überflüge erwies sich ein Bandscheibenvorfall für den dauernd im Sattel aktierenden Hauptdarsteller Jean Rochefort („Der Mann der Friseuse") als tödlich für das Projekt. Dieses herzzerreißende Drama zeigte die wunderbare Doku „Lost in La Mancha" schon 2002. Doch der alte Hippie Gilliam gab nicht auf und nach jahrelangen Streitigkeiten mit dem portugiesischen Produzenten Paulo Branco präsentiert er nun seinen vollendeten „Don Quixote" als aberwitzige Reise eines Regisseurs durch seine eigene Geschichte und die Zeiten.

Der immer wieder faszinierend gute Adam Driver („Paterson", „Star Wars") spielt in der für Johnny Depp geplanten Rolle den zynischen Werbefilmer Toby. Beim chaotischen Dreh für einen Windkraft-Clip zwischen Windrädern und Windmühlen verkauft ein Zigeuner die Raubkopie des längst vergessenen Abschlussfilms von Toby. Und in der nächsten Nacht führt diesen ein Traum ins naheliegende Dorf Los Sueños, wo eben jener Film mit dem Titel „The Man Who Killed Don Quixote" in Schwarz-Weiß gedreht wurde. Zur eigenen Inspiration kehrt der dekadent gewordene Künstler nach zehn Jahren dorthin zurück und fackelt bei der ersten Widerbegegnung das ganze Dorf ab. Nach einer Folge absurder Ereignisse vereinnahmt ihn der alte Schuster (Jonathan Pryce), der damals für ihn den Don Quixote spielte und der niemals wieder aus dieser Rolle rauskam, als seinen Knappen Sancho Pansa. Der Fluss der Geschichte von Cervantes setzt sich auf mehreren Ebenen aus Traum, Mittelalter und Gegenwart fort.

Es ist verrückt und fantastisch, wie Toby irgendwie in seinem eigenen Film landet und alle Texte kennt, weil er sie ja selbst geschrieben hat. Auch dass der zum zynischen Werber gewordene Künstler mit dem irren Schuhmacher und dem zum Escort-Girl abgestürzten Mädchen Angelica zwei Menschen retten muss, die seinen Träumen geglaubt haben, macht nach etwas viel Abenteuern im Mittelteil schließlich einen bewegenden Film. Doch genial ist die selbstreflexive Besetzung mit dem großartig aufspielenden Jonathan Pryce, der ja schon 1985 in Gilliams „Brazil" den aus der Realität flüchtenden Träumer gab. Zwischen den üblichen Zwergen und Riesen, den dämonischen Rittern erweist sich der einzigartige Regisseur wieder als Meister des Fantastischen. Das war er schon in einer Zeit, als dies noch nicht wie Fantasy buchstabiert wurde.

Eigentlich ist es tragisch, dass Terry Gilliam immer wieder seine Schauspieler vor Vollendung des Films wegsterben: Hier waren es Jean Rochefort und William Hurt in der Rolle des Don Quixote. Aber schon „Das Kabinett des Doktor Parnassus" rettete er über den Tod von Heath Ledger hinaus und ersetzte diesen genial durch unter anderem Johnny Depp, Jude Law und Colin Farrell. Nun doppelt er die Idee des Romans „El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha" (1608) von Miguel de Cervantes, macht ein wenig auf „8 1/2" mit Suche eines Filmemachers nach Inspiration und Wahrheit, lässt für die vom Kommerz bedrohte künstlerische Unschuld metaphorisch eine schöne Frau, sprich: Dulcinea, leiden. Nebenbei spielen sich die Semana Santa, Halloween und ein Mummenschanz kurz hintereinander ab, die spanische Inquisition rechnet mit modernen Einwanderern aus Marokko ab, ein russischer Wodka-Oligarch wird ebenso bloß gestellt wie in einem Nebensatz Trump. Das sind ganz schön viele Windmühlen-Flügel, in denen sich ein Film verheddern kann. Aber letztlich obsiegt die Illusion und mit Terry Gilliam einer der letzten Don Quixotes des Filmemachens.

25.9.18

Die Unglaublichen 2

USA 2018 (Incredibles 2) Regie: Brad Bird 118 Min. FSK ab 6

Obwohl „Die Unglaublichen", diese super starke und lustige animierte Heldenfamilie 2004 für das Pixar-Studio ein weiterer Erfolg auf hohem Niveau war, folgte die Fortsetzung keineswegs rasant. Um dann direkt in den ersten Szenen mit vollem Action-Einsatz verlorene Zeit aufzuholen: Elastigirl Helen Parr und Mr. Incredible Robert Parr hindern den Maulwurf-Bösewicht Underminer daran, aus dem aufgewühlten Untergrund Banken auszurauben. Ihre Superhelden-Kinder Violetta und „Flash" Parr lassen sich dabei nicht vom Babysitter-Job für Baby Jack-Jack zurückhalten. Leider ist der Schaden der Rettungs-Action größer als der versicherte Verlust der Bank, und so müssen die Helden endgültig in den Untergrund - Super Retten ist nun völlig verboten.

Was auch das Geschwisterpaar an der Leitung eines Super-Kommunikationskonzerns ärgert. Elastigirl soll nun für eine Marketing-Kampagne zur Rehabilitierung der Superhelden anonym Heldentaten vollbringen, ausgerüstet mit Bodycam. Während die Frau als Ernährerin arbeiten geht, ist Mr. Incredible mit den unglaublichen Aufgaben des Hausfrauen-Jobs überfordert. Als aber der schurkige Screenslaver Politiker und Helden mittels allgegenwärtiger Bildschirme zu willenlosen Wesen macht, muss die ganze Familie wieder ran.

Unglaublich auch bei den zweiten „Unglaublichen" ist nicht nur die Qualität der Animation, auch inhaltlich zeigt Pixar wieder, dass sie vor allem Figuren mit Verstand und Seele zeichnen. In Sachen Action und Geschwindigkeit lässt Elastigirl mit einem sehr elastischen Klappmotorrad bei der Verfolgungsjagd Konkurrenten wie Tom Cruise furchtbar ungelenk aussehen. Aber auch wie Baby Jack-Jack seine vielfältigen Superkräfte entdeckt, kann sich mit viel Spaß sehen lassen. Dass Teenager Violetta ganz ernsthafte Teenager-Probleme mit einem Jungen ihrer Klasse hat, dem die Geheimdienste das Gedächtnis gelöscht haben, gibt den Figuren ebenso Konturen, wie die problematischen Mathe-Hausaufgaben von Flash. Im Original sorgen die ganz hervorragenden Stimmen von Holly Hunter, Catherine Keener und Samuel L. Jackson für zusätzlichen Charakter. Auch wenn das Motto irgendwann lautet „fight now, talk later" (erst kämpfen, dann quatschen), gibt Pixar seinem neuesten großen Wurf ganz schön viele Gedanken über die Medienwelt von heute und die Verlockungen von schnellem Ruhm mit. Die Nachteile des Superseins, das ja nur eine Sonderform des Besonders-Seins ist, geben Teenager Identifikations-Angebote.

24.9.18

Offenes Geheimnis

Spanien, Frankreich 2018 (Todos lo saben) Regie: Asghar Farhadi mit Penélope Cruz, Javier Bardem, Ricardo Darín 133 Min. FSK ab 12

Bereits zweimal hat der iranische Regisseur Asghar Farhadi den Auslands-Oscar gewonnen, zudem mehrere Preise in Berlin und Cannes erhalten. Nach seinem Pariser Beziehungsdrama „Le Passé" gelingt ihm auch in Spanien ein feiner Blick auf menschliche Zwänge und Abgründe. Penélope Cruz und Javier Bardem spielen ein ehemaliges Liebespaar, das sein Verhältnis in einer dramatischen Situation neu definieren muss.

Ein spanisches Familienfest, wie es im Filme steht: Für die Hochzeit ihrer Schwester kehrt Laura (Penélope Cruz) aus Argentinien zurück ins spanische Heimatdorf. Die Küsschen für die Verwandtschaft hören gar nicht auf, Nichten sind schnell groß geworden, Schwestern fassen die Ereignisse der letzten Jahre zusammen, der Vater ist mittlerweile gebrechlich. Der ehemalige Geliebte Paco (Javier Bardem) taucht mit seiner Frau auf. Lauras Tochter Irene (Carla Campra) wird von Pacos gleichaltrigen Neffen Felipe angebaggert und verschwindet direkt für eine Moped-Tour.

Die Hochzeit ist das große Fest, das man kennt und erwartet. Selbst Wolkenbruch und Stromausfall rufen nur kurz ein „Mamma Mia" hervor. Das ist nicht schlecht, aber erscheint so undramatisch nett, dass man sich gerne wie Irene zurückziehen würde. Der ist allerdings sehr schlecht und als Laura etwas später nach der Tochter schauen will, ist diese verschwunden. Und bald trifft per SMS eine Lösegeld-Forderung ein. Während die Suche - wie verlangt ohne Polizei - nicht weiter führt, bringt ein Privatdetektiv ungewünscht verschwiegene Details aus der Familie ans Licht. Der Alkoholismus von Lauras ehemals reichem (Geschäfts-) Mann Alejandro wird ebenso Thema wie seine aktuelle Arbeitslosigkeit. Dass Lauras komplette Familie Paco, dem Sohn einer ehemaligen Bediensteten, fortwährend vorwirft, das Land seines Weinguts zu billig von der Familie bekommen zu haben, ist mehr als offensichtlich. Auch das frühere Verhältnis zwischen Laura und Paco ist in Stein und das allgemeine Gedächtnis gemeißelt.

Während in den genialen iranischen Filmen Asghar Farhadis für den Westeuropäer auch alltägliche Handlungen und Verhalten befremdlich als möglicher Code betrachtet werden, erscheint die spanische Familienfeier dem fleißigen Urlauber im Süden sehr vertraut. Zu vertraut. Erst im dramatischen weiteren Verlauf der Geschichte wird genauer hingeschaut. Mit Hilfe der Kameras und Drohnen, die bei der Hochzeit dabei waren. Diese Gesellschaft ist nicht die heimelige Familie, heimliche und schockierende Absichten verbergen sich hinter bekannten Ritualen.

Was ist man bereit für ein Menschenleben zu tun? Oder im Kapitalismus: zu zahlen? Nach „The Salesman" (2016), „Le passé - Das Vergangene" (2013) und „Nader und Simin - Eine Trennung" (2011) seziert der iranische Regisseur Asghar Farhadi in seinen achten Spielfilm wieder vortrefflich menschliches Verhalten. Wie fein die Geschichte von „Offenes Geheimnis" entwickelt ist, zeigt sich an den verschiedenen ausgelegten Fäden, denen man sehr erquicklich folgen kann. Es könnte übersehen werden, in einer Gesellschaft, in der jeder trinkt, aber Alkohol im Gegensatz zu Marihuana keine Droge ist: Hier ist Alkohol ein großes Thema. Paco mit seinem Weingut, Alejandro (Ricardo Darín) mit seinem Alkoholismus und sein Schwiegervater Antonio zeigt auch betrunken nicht seine beste Seite. Den Lehrsatz dazu bringt Paco als Ersatzlehrer in der Klasse seiner Frau: Der Unterschied zwischen dem Traumensaft und dem Wein ist allein Zeit. Zeit zur Entwicklung zu etwas Gutem oder Schädlichem. Wie sich die Menschen in Lauras kleinem Dorf während der letzten 16 Jahre entwickelt haben, ist ebenso aufschlussreich wie spannend.

17.9.18

Wackersdorf

BRD 2018 Regie: Oliver Haffner mit Johannes Zeiler, Peter Jordan, Florian Brückner, Anna Maria Sturm 123 Min.

Die Wiederaufbereitungsanlage für Kernbrennstäbe in Wackersdorf ist Geschichte. Die Geschichte eines erfolgreichen Widerstands gegen Großprojekte von Energiekonzernen, bei denen Landesregierungen Gesetze brechen und Polizeigewalt einsetzen. Letztlich ohne Erfolg, wie diese Geschichte eines eigensinningen Landrates in der Oberpfalz zeigt.

Regisseur Oliver Haffner beginnt die Geschichte ganz anders. Nicht bei den allseits bekannten Protesten und Schlachten am Zaun der Baustelle der WAA, nicht mit ikonischen Bildern, sondern Anfang der 1980er Jahre mit einem Dorf, das von großer Arbeitslosigkeit betroffen ist. Viele sind verschuldet, Höfe werden versteigert. Die Stimmung der Menschen bei einer Gemeindeversammlung kocht über. Da verspricht ein plötzlicher Segen aus München tausende Arbeitsplätze. Die selbstherrlichen Politiker und Energie-Manager wollen die Trottel vom Dorf mit einem Geschenkkorb überzeugen. Doch Hans Schuierer (eindrucksvoll: Johannes Zeiler) fällt der 200 Meter hohe Schornstein bei dieser „modernen, sauberen Sache" auf. Ja, da würde man ja nur die radioaktiven Stoffe, die ja eigentlich gar nicht vorhanden wären, in die höheren Luftschichten leiten ...

„Wackersdorf" könnte „Landrat Schuierer" betitelt werden, denn alles macht er an der Person des „roten" Landrates fest. Ein gewisses Misstrauen gegenüber plump-forscher Einvernahme. Das langsame Einarbeiten in die Gefahren der Atomkraft. So wird der Radfahrer und Naturliebhaber langsam zum kritischen Gegner der Atomkraft und legt sich sogar mit dem mächtigen - sprich: Alleinherrscher - Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß an.

„Wackersdorf" ist richtig retro: Überall qualmt es, deftige Fleischplatten werden aufgefahren. Der Film selbst scheint mit seiner Entwicklung auch aus dieser Zeit zu stammen. Nicht nur vom Look her. Er kommt langsam, aber dann gewaltig, und vor allem mit stiller, ernster Kraft.

Und gerade angesichts der Auseinandersetzungen um den Endpunkt der zukunftslosen Braunkohle ist dieser starke Film plötzlich hochaktuell: Schon bei einem einfachen Hochstand zur Beobachtung der Baustelle wird „auf Anweisung von Oben" hemmungslos Recht gebrochen, „wie bei den Nazis, wie im Dritten Reich" stellen selbst Konservative fest. Oder anders gesagt, „der Atomstaat braucht die totale Kontrolle", wie der Rechtsdezernent, der heimlich ein Befürworter der Anti-AKW-Bewegung ist, treffend analysiert. So sieht man die bekannten Absurditäten, dass etwa bei einer Autokontrolle von der Polizei im unverschämten Ton der Wagenheber als „Passivbewaffnung" beschlagnahmt wird. Zudem geht es nicht nur um die Gewinne der Energiewirtschaft, sondern auch um waffenfähiges Plutonium für Atombomben.

Der immer mehr packende Film singt vor allem in Kontakt mit den schleimigen Industriellen aus München und den selbstherrlichen Politikern ein Loblied auf den störrischen, eigensinnigen Landmenschen. Denn dieser Landrat lässt sich nicht einwickeln, verführen oder kaufen. Sein Wandel in der Haltung ist so überzeugend, weil er sich nicht leicht überzeugen lässt. Dabei hat „Wackersdorf" immer die Gefährdung der Demokratie im Blick - wie eine Blaupause für aktuelle Ereignisse um den Hambacher Forst.

Die Chronologie der damaligen Ereignisse läuft am Rande bis zur Atomkraft-Katastrophe von Tschernobyl mit, deren weiterhin von der Politik verleugneten Folgen im Abspann zu sehen sind. Nach zehn Jahren wird der Bau eingestellt, er verursachte Kosten von 10 Milliarden Mark und kostete zwei Menschen das Leben.

Searching

USA 2018 Regie: Aneesh Chaganty mit mit John Cho, Michelle La 102 Min. FSK ab 12

Es nicht wirklich originell oder interessant, das Eröffnen eines Mail-Accounts und das Aufwachsen der Tochter als Dia-Show zu dicker Orchester-Soße zu sehen. „Searching" sucht sich von anderen Thrillern mit dem Prinzip „Ich suche meine Tochter/Frau/Autoschlüssel" mit dem gleichen Prinzip wie schon der Horror-Film „Unfriended" abzusetzen. Der ganze Film findet praktisch nur am abgefilmten Computer-Bildschirm statt. Mit gemischten Ergebnissen: In der digitalen Familien-Chronologie der Kims taucht die Krebs-Erkrankung der Mutter als Betreffzeile von ein paar Emails auf, das Verschieben ihrer Rückkehr aus dem Krankenhaus auf dem Kalender. So eine Montage hätte man vielleicht einem Filmschüler vor zehn Jahren durchgehen lassen. Das ganze Blättern und Klicken von Vater David Kim (John Cho) wird spannend, als seine 16-jährige Tochter Margot (Michelle La) nicht mehr auf SMS und Anrufe reagiert.

Nach kurzem Videochat-Kontakt mit der zuständigen Polizeibeamtin durchsucht David - ohne irgendwelche Bedenken - den nicht gesicherten Laptop seiner Tochter, hackt sich einfach in ihren Facebook- und Google-Account. Viel Hörspiel mit Bildschirmvorgängen zum Nachlesen eröffnen ihm das wahre Leben und die echte Verfassung seiner vereinsamten Tochter. Chat- und Videoprotokolle aus der Vergangenheit zeigen die Verführbarkeit durch soziale Medien.

Diese Vereinzelung, die dieser Film selbst zelebriert, erlebte Margot nach dem Tod ihrer Mutter. Ab da war die Musik gedämpft und der Vater David übervorsichtig. Dabei zeigt sich das Drama der Entfremdung zwischen Tochter und Vater nicht wirklich dramatisch. Mehr als einen Streit um den vollen Mülleimer gibt es nicht. Dass wir mit unseren täglichen Google-Suchen diese Recherche-Schritte des panischen Papas nachvollziehen können, macht die Sachen nicht sensationell originell. Die Handlung wird vor allem durch sehr willkürliche Sprünge im Gang gehalten. Die Suche an sich fällt trotzdem leidlich spannend aus. John Cho hält sein Gesicht effektiv in die Kameras, sein Schauspiel ist allerdings in das jeweilige Bildschirmfenster eingesperrt.

So aufgesetzt die Machart auch sein mag, sie passt vielleicht tatsächlich zu einer Gesellschaft mit dramatisch verkürzter Aufmerksamkeits-Spanne. Da kann sich kein Film eine sorgfältig über 90 Minuten entwickelte Geschichte erlauben. Figuren existieren nur noch als digitale Fußspuren, alle Fragen kann Google beantworten.

Utøya 22. Juli

Norwegen 2018 Regie: Erik Poppe mit Andrea Berntzen 98 Min. FSK ab 12

Man weiß was passiert ist: Der rechtsextreme Norweger Anders Breivik ließ am 22. Juli 2011 in Oslo eine Bombe explodieren, die acht Menschen tötete, und ermordete darauf in einem Zeltlager der sozialistischen Jugendorganisation auf der Insel Utøya 69 Menschen, 300 wurden schwer verletzt. In seinem umstrittenen Film „Utøya 22. Juli" zeigt Regisseur Erik Poppe zuerst die Explosion in Oslo aus der Perspektive von Überwachungskameras. Dann Jugendliche auf der Insel, die vom Anschlag wissen, sich aber besonders sicher fühlen. Norwegen ist auch hier eine bunte Gesellschaft. Aufgeweckte, politisch bewusste junge Menschen diskutieren die Möglichkeit eines Terroranschlages und die von den Medien auch wieder mal vorgegebenen Schlagworte wie Al Quaida. Dann beginnt der Horrorfilm. Schüsse und Schreie im Off, einige Kinder kommen aus dem Wald gerannt. Per Handkamera (Martin Otterbeck), die der 19-jährigen Kaja (Andrea Berntzen) konstant folgt, bekommt man das Gefühl, mittendrin zu sein, ohne den Täter je wirklich zu sehen.

72 Minuten dauerte das Massaker Breiviks, über eine Stunde lang hetzt der Film Kaja über die Insel. Im Wald auf dem Boden liegend, sich vor den Schreien und Schüssen wegduckend. Die Menschen im Ferienlager wissen nicht, ob da einer oder viele schießen. Dann heulende Telefongespräche mit der Mutter, Kaja kann die kleine Schwester nicht mehr finden, die zuletzt alleine im Zelt war und wird bei der Suche zur Helferin und Heldin. Das ist anfangs nur atmosphärisch im Dauerfeuer drastisch, dann auch noch in der Darstellung der Verwundungen.

Die Verortung in der neuerlichen Zeitgeschichte nimmt „Utøya 22. Juli" erst einmal den Verdacht des Spekulativen, aber gerade seine gute, spannende Machart macht ihn als Genrefilm austauschbar. Ausgerechnet der Dreck und Schlamm, in einem nördlichen Sommerlager eher natürlich vorkommend, erinnern noch einmal an aus purer Mordlust rumballernde Genrefilme. Gerade weil man es beim Attentäter Breivik mit einem intelligenten Wahnsinnigen zu tun hat, wirkt so ein Ansatz, pur den Schrecken erleben zu lassen, recht einfach. Brüche in der Perspektive oder Reflektionen wie in Gus Van Sants „Elephant" fehlen. Ansonsten ist das Drama dramaturgisch mit ruhigen Momenten des Sterbens und einem Gespräch über Zukunftsträume gut aufgelöst (Buch: Siv Rajendram Eliassen, Anna Bache-Wiig). Die Tour de Force von Hauptdarstellerin Andrea Berntzen macht Eindruck, der Film schockt nachhaltig und warnt im letzten Satz vor dem zunehmenden Rechtsextremismus in Europa und der westlichen Welt.

12.9.18

Cobain

Niederlande, Belgien, BRD 2017 Regie: Nanouk Leopold mit Bas Keizer, Naomi Velissariou, Wim Opbrouck 94 Min.

Die niederländische Regisseurin Nanouk Leopold dreht immer wieder Filme über echte Menschen in besonderen Situationen. Extreme Filme, wie „Brownian Movement" oder „Oben ist es still", die man nicht mehr vergisst. „Cobain" ist nun die Geschichte eines 15-Jährigen (Bas Keizer) in einem staatlichen Heim: Cobain hat noch das Gesicht eines Kindes, will aber ganz cooler Typ sein. Bei den neuen Pflegeeltern hält er es nicht mal die erste Nacht aus. Stattdessen will er für den ehemaligen Zuhälter seiner Mutter Mia (Naomi Velissariou) arbeiten. Die ist drogenabhängig, Säuferin und schwanger. Cobains Mann-Werdung erfolgt, indem er Verantwortung übernimmt. Er kümmert sich um den Entzug der Mutter, will ihrem nächsten Kind ein besseres Leben geben. Und vor allem einen normalen Namen!

Nanouk Leopolds nächster bemerkenswerter Film lässt die exzellente Kamera (Frank Van den Eeden) frei in seinem sehr authentisch wirkenden Milieu arbeiten. Dazu gibt es sehr passende, starke, aber stille Gitarrenklänge (Musik: Harry de Wit) und vor allem mit Bas Keizer in seiner ersten Rolle einen sensationellen, jungen Laiendarsteller.

11.9.18

Book Club

USA 2018 Regie: Bill Holderman mit Diane Keaton, Jane Fonda, Candice Bergen, Mary Steenburgen, Andy Garcia 105 Min. FSK ab 0

Vier betagte US-Damen müssen an ihrem normierten Beziehungsleben zu ebenfalls weißen und ebenfalls reichen Hetero-Männern etwas ändern. Dass sie in ihrem Buch-Club den Roman „Fifty Shades of Grey" lesen, hat dabei gar nichts mit den einschläfernden Episoden dieses dummen Senioren-Films zu tun. Ideenlos geriet schon die Vorstellung der Karrieristin Vivian (Jane Fonda), der typischen Diane Keaton-Figur Diane, der sexuell frustrierten Charity-Frau Carol (Mary Steenburgen) und der seit langem beziehungs-abstinenten Richterin Sharon (Candice Bergen). Sie werden reduziert auf ihre Beziehungen, selbst der titelgebende Buch-Club ist ein schlechter Witz, weil die Bücher immer fünf Minuten besprochen sind. Ein schlappes Viagra-Scherzchen, und dann werden sie beim Lesen ganz feucht - die Pflanzen, die Carol gerade gießt.

Auffällig, dass hier tatsächlich wieder die lebendigeren, kreativeren und attraktiveren Männer Andy Garcia und Don Johnson der ausgesuchten Darstellerinnenriege des betonten Frauen-Films die Schau stehlen. Sie sind allerdings auch ausnahmsweise im Realleben zehn Jahre jünger als ihre Film-Partnerinnen. Dabei hat Garcia cool immer alles im Griff, während Diane Keaton in ihrem angeschweißten Hosenanzug öfters peinlich sein muss.

Generell sind diese Menschen so originell und geistreich, wie es Menschen im scharf kalkulierten Hollywood-Film nun mal sind. Jede hat ihre Affäre oder den müden Ehemann, dazu schon beim Date Nachhilfe nötig und keine Peitsche weit und breit zu sehen. Obwohl Autor, Produzent und Regisseur Bill Holderman die Peitsche oder eine andere Prügelstrafe verdient hätte. Der Film ist für jedes Alter geeignet, sogar für Herzpatienten, denn es passiert herzlich wenig. Dialoge sprudeln wie abgestandener Sekt, der lahmen Inszenierung sieht man nicht an, dass es ein Erstling ist. Denn die wollen eigentlich noch was. Modern ist in diesem verstaubten „Book Club" allein die Erscheinung der alles kontrollierenden Helikopter-Töchter, ausgerechnet von der einst wilden Alicia Silverstone mit bitteren Mundwinkeln gespielt. Doch wer soll es ihr verdenken, sie musste sogar mehr als zwei Stunden Lebenszeit mit diesem überflüssigen Bewegtbild verschwenden.

Styx

BRD, Österreich 2018 Regie: Wolfgang Fischer mit Susanne Wolff, Gedion Oduor Wekesa 95 Min. FSK ab 12

Mit viel Ruhe für Details beginnt Rikes Reise in Gibraltar. Auf ihrer Segeljacht bricht die Ärztin (Susanne Wolff) allein zu einer traumhaften Insel im Südatlantik auf. Das Verstauen der Vorräte und Karten, das Kontrollieren der Route bekommen die Zeit, die eine einsame Seereise hat. Zwischendurch ein Funkgespräch mit einem Frachter, der die gleiche Route fährt. Dann der angekündigte Sturm, den Rike knapp übersteht. Ziellos wirkt der Film eine Weile, bis Rike ein Boot voller Menschen in Seenot ausmacht. Die Vorgehensweise ist ihr klar: Der Funkspruch an die Küstenwache soll Hilfe bringen, doch die Retter kommen nicht. Derweil springen vom schrottigen, still liegenden Kahn Menschen ins Wasser und versuchen, Rikes Jacht zu erreichen. Die Alleinseglerin rettet einen Jungen, versorgt ihn mit all ihrer medizinischen Kenntnis und setzt weiter Hilferufe ab.

Da ist plötzlich, bei dem von Kameramann Benedict Neuenfels („Die Fälscher") so klaren und nüchtern schön gefilmten Trip ins Paradies die typische Situation zahlloser Dramen vor allem im Mittelmeer: Menschen sind in höchster Not, aber die zuständigen Organe tun nichts und untersagen auch noch anderen, zu helfen. Die Küstenwache vertröstet, der Kapitän eines Frachters hat Anweisungen seiner Firma und riskiert mit der Rettung von Menschen nicht seinen Job. Nur Rike bleibt trotzig in der Nähe der Sterbenden - mit hoch spannenden Folgen. Liegt es am Hippokratischen Eid, der ihr als Ärztin vertraut sein sollte? Wir sahen allerdings auch schon vorher, wie sie sich um einen Vogel sorgte, der an Deck landete.

Letztlich hat Rike, wie auch der Film, keine Antworten. Weder auf die Fragen des geretteten Jungen, der seine Schwester noch auf dem Flüchtlingsboot weiß, noch auf die allgemeine Situation. „Styx" ist nur teilweise eines dieser Hochsee-Dramen, bei denen die Einsamkeit und die Hilflosigkeit des Menschen angesichts unfassbarer Weite und gewaltiger Natur eine große Rolle spielt. Dies weiterführende Drama konzentriert sich am Ende ganz auf Susanne Wolff („Rückkehr nach Montauk"), deren Gesicht das Unfassbare der Situation in schockiertem Schweigen ausdrückt. „Styx" ist eine Anklage, die nicht unberührt lässt. Gleichzeitig, während zu den letzten Bildern über Funk reihenweise Notrufe zu Booten und Hunderten Menschen eingehen, vermeidet Regisseur und Ko-Autor (mit Ika Künzel) Wolfgang Fischer („Was du nicht siehst"), einfache Lösungen zu behaupten. „Styx" feierte seine Premiere bei der diesjährigen Berlinale und gewann dort den Heiner-Carow-Preis der DEFA-Stiftung, den Preis Label Europa Cinema und den Preis der Ökumenischen Jury in der Sektion Panorama. Das unbedingt sehenswerte Drama ist einer der drei Finalisten des diesjährigen LUX-Filmpreises, der am 14. November vom Europäischen Parlament vergeben wird.

10.9.18

Mackie Messer - Brechts Dreigroschenfilm

BRD 2017 Regie: Joachim Lang mit Lars Eidinger, Tobias Moretti, Hannah Herzsprung, Joachim Król 136 Min. FSK ab 6

Das typische Chaos vor der Generalprobe einer „Dreigroschenoper" mündet in des Austritt des Theaters in die restliche Welt: Brecht (Lars Eidinger) inszeniert nun selbst den Film nach seinem Bühnenerfolg. Dreigroschen-Briefpapier und -Tapete verkaufen sich ja schließlich auch hervorragend! Ja, „Mackie Messer" liefert nicht nur eine Aufführung oder deren Verfilmung. Hier gibt es gleich die Inszenierung, ihre Geschichte und das Drumherum zum Preis von einem Eintritt - hereinspaziert! Brechts Poetische Theorien werden im Vorübergehen eingestreut, mal spricht er zu den Frauen auf dem Rücksitz eines flotten Automobils, mal in die Kamera. Das ist großes Theater, Verzeihung: Kino, mit teilweise albern getanztem Ballett auf Kanälen und Brücken von Soho (gedreht in Gent). Und weiterhin die alte Geschichte vom Kampf des Londoner Gangsters Macheath (Tobias Moretti) mit dem Kopf der Bettelmafia Peachum (Joachim Król). Denn ausgerechnet Polly (Hannah Herzsprung), die Tochter von Peachum und dessen Frau (Claudia Michelsen), verführt den Zuhälter und Schwerenöter Macheath - genannt Mackie Messer - mit ihrem Hintern zur Ehe.

Die Hochzeit wird in einer der vielen großen Szenen von Macheaths Bande zusammengeklaut. Der Polizei-Chef kann hilflos nur selber mitfeiern, privat selbstverständlich. Aber die Kosten der aufwendigen Brautwerbungs-Szene bekümmern den Produzenten, ein Film ist nun mal kein Episches Theater. Dieser „Mackie Messer" schon mal gar nicht, so üppig wie er daherkommt. Ja, wieder werden die Illusion einer klassischen Spielfilm-Handlung und die Vierte Wand durchbrochen. „Mackie Messer" und seine Protagonisten sind dauernd selbstreflexiv, wenn der Produzent den Film unterbricht, weil die Reihenfolge verändert wurde, wenn Brecht das Geschehen kommentiert, wenn Mackie augenzwinkernd in die Kamera scherzt oder sein Darsteller aus der Rolle tritt und Kritik an der Umsetzung äußert.

Dazu fließt Biografisches ein: Proben zu „Die heilige Johanna der Schlachthöfe", die Reichstagswahlen mit dem Aufkommen von Hitler, die Vielweiberei Macheaths wird mit der von Brecht verglichen. Auch die populärsten Zitate dürfen nicht fehlen: „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank? Was ist die Ermordung eines Mannes gegen die Anstellung eines Mannes?" Derweil müssen Brecht und vor allem Kurt Weill immer mehr den rechten Mob fürchten.

Das ist ironisch, verfremdend, spaßig, manchmal auch nervig. Joachim A. Lang „George", „Brecht - Die Kunst zu leben") interpretiert in seinem Kinofilmdebüt den Welterfolg von Brecht und Weill vielschichtig und reizvoll komplex in einem witzigen Erzählfluss auf mehreren Ebenen. Dabei ist Eidinger als Brecht allein schon Spektakel, der Rest noch mehr. Ein großes Spektakel! Großartige Szenen wie das Polizei-Amt, das an „Brazil" erinnert, wechseln sich mit intensivem Schauspiel ab. Eine wilde Kamera will unbedingt Kino machen. Auch Tobias Moretti, Joachim Krol und ein interessanter Mix an anderen bekannten Darstellern passen sich trefflich in den Reigen ein.

Während dies alles - bis auf die Aktualität des originalen Stoffes - recht braves Bildungs-Kinos ist, verstört einzig das dekorative Getanze von ein paar Hupfdohlen. Wer so was auf offener Bühne verbricht, hat noch nie was von Baz Luhrmann („Moulin Rouge", „Romeo + Julia") gesehen. Irritierend dekorativ auch Max Raabe, der am Leierkasten singen muss. Zum Glück ist das Denken von Brecht nicht klein zu kriegen: Die Schlussszene zeigt dann all die Verbrecher vereint im Anzug, bereit die Gesellschaft in moderner Form als Bank zu übernehmen und auszunehmen. Das ist immer noch stärker eine weitere aufgesetzte Selbstreflexion.

4.9.18

Menashe

USA 2016 Regie: Joshua Z Weinstein mit Menashe Lustig, Yoel Falkowitz, Ruben Niborsk, Meyer Schwartz 82 Min. FSK ab 6

Menashe Lustig (Menashe) lebt als alleinerziehender Vater in New York. Gleichzeitig lebt er als orthodoxer Jude in noch so einer Parallel-Gesellschaft: In Brooklyns jüdisch-orthodoxem Viertel Borough Park hört man kein Englisch, sondern Jiddisch mit englischen Einsprengseln und Lehnwörtern wie Mischpoke (für Familie), die noch im heutigen Deutsch existieren. Menashe arbeitet im koscheren Lebensmittelladen, die Kleidung ist traditionell, sein Sohn geht auf eine Tora-Schule, man besucht regelmäßig den Rabbi. Der mollige Papa befolgt die Regeln der Religion, aber sein Familienleben möchte er doch selbst bestimmen. Und obwohl Vater und Sohn super miteinander auskommen und richtig viel Spaß haben, darf Menashe Rieven nur zu abgesprochenen Zeiten sehen. Bis er ihm wieder ein „anständiges" Heim mit Frau bieten kann. Sagt, der Rabbi, der hier das Familiengericht darstellt. Denn Menashes Frau starb vor einem Jahr. Die Schule schmeißt auch Kinder von Alleinerziehenden raus. Doch Menashe hat genügend schlechte Erfahrungen mit seiner ersten arrangierten Ehe gemacht, um auf die vielfältigen Angebote eines Heiratsvermittlers einzugehen.

Regisseur Joshua Z Weinstein war Dokumentarfilmer und dokumentarisch sind die Aufnahmen von Borough Park mit verhüllten Männern, Frauen unter ihren Pflicht-Perücken und Kindern in religiösen Uniformen. Das ist auch ethnographisch im Aufzeichnen überkommener Riten, die mit sehr stimmungsvollen Bildern ästhetisch gezeigt werden. Hier ist eine noch Gesellschaft, in der Frauen, die Auto fahren, „nicht normal" sind. Ehe und Kinder sind zwar das Wichtigste, aber die Männer mit den Hüten und den Schläfenlocken klagen heimlich, dass ihre Frauen jedes Jahr ein weiteres Kind wollen. Und sie haben schon viele!

Menashe, wie viele andere Rollen großartig von einem Laien gespielt, trägt zwar nicht Hut und Mantel wie die anderen, ist aber auch kein Rebell. Was den Film umso glaubhafter macht. Der einfache Mann hat nur eigene, sehr vernünftige Ansichten übers Leben, die Ehe und die Inhalte der Tora-Stunden. Eigentlich ein klasse Typ, nur etwas aus der Spur mit seinen Schulden und dem miesen Job. Er steckt in der schwierigen Situation, in der meistens alleinerziehende Frauen gezeigt werden. Dass er eigensinnig und dickköpfig seinen Sohn wieder haben will, verhindert eine rein plakative Anklage dieser bedenklichen Parallelgesellschaft mit ihren unmenschlichen Regeln. Das ist weniger heftig als etwa „Kadosh" von Amos Gitai, der die Leiden der Frauen von solchen jüdischen Extremisten zeigte. Dafür gewährt Joshua Z Weinstein einen bemerkenswert authentischen Einblick in diese abgeschlossene Gesellschaft.

3.9.18

Das schönste Mädchen der Welt

BRD 2018 Regie: Aron Lehmann mit Aaron Hilmer, Luna Wedler, Damian Hardung, Anke Engelke, Heike Makatsch 103 Min. FSK ab 12

Nein, diese Nase ist nicht zu übersehen: Sowohl Cyril als auch seine Mutter (Anke Engelke) schmückt ein gewaltiger Zinken im Gesicht. Der Teenager wird dafür heftig gemobbt. Deshalb versteckt er sich hinter einer goldenen Maske, wenn er bei Rap-Battles anonym flott und wortreich treffend selbst austeilt. Der heimliche Ruhm hilft Cyril aber überhaupt nicht bei der anstehenden Klassenfahrt nach Berlin, die plötzliche Erkältung rettet ihn ebenso wenig. Doch im Umfeld von eher unterbeleuchteten Smartphone-Anhängseln taucht in letzter Minute die neue Schülerin Roxy (Luna Wedler) auf. Hier finden sich zwei flotte Denker und Sprücheklopfer direkt und sympathisch.

Cyrano heißt jetzt Cyril und Roxanne Roxy. Es bedarf nur noch einer Verwechslung und allen belesenen Schülern wird die Cyrano de Bergerac-Adaption klar: Roxy sieht den unglaublich dämlichen, aber gut aussehenden Rick (Damian Hardung) mit Cyrils Büchern und schwärmt fortan für den herrlich dummen Schönling mit der Klampfe neben dem Bett. Cyril, der meint mit seiner Nase keine Chance beim schönsten Mädchen der Welt zu haben, baut mit eigenen Versen, Liedern und SMS-Poesie den hirnlosen Rick als seinen Avatar und Roxys Liebesobjekt auf, um zu verhindern, dass der eklige Benno sich wegen einer Wette an Roxy ran macht. Er selbst hängt auf der Position Bester Freund fest, während er als Ghostwriter tolle Songs in Ricks Namen schreibt.

Also kein Soufflieren unter dem Balkon, wie man es wohl eher von Jean-Paul Rappeneaus wunderbarem Film „Cyrano de Bergerac" (1990) mit Gerard Depardieu als vom Original, von Edmond Rostands romantisch-komödiantischem Versdrama des Jahres 1897 kennt. Es ist (kon-) genial, die Szenerie von Gedichten und Theater zu den Hiphop-Battles zu verlagern. So kommt die Verwechslungs-Komödie locker in die Gänge, während Cyril hinter seiner Maske er die Battles rockt. Aber auch Roxy hat unverschämte „rimes" drauf, mit der sie auf der Bühne und im richtigen Leben die Machos stehen lässt. Das ist von den beiden Jung-Mimen Luna Wedler („Blue my mind") und Aaron Hilmer („Einsamkeit und Sex und Mitleid) richtig gut gespielt. Klasse ist bei der Klassenfahrt auch Heike Makatsch als genervte und ruppig resolute Lehrerin.

Bei den Battles und auch den Streits in der Schule ist viel von „Opfer" die Rede. Das Buch von Judy Horney und dem auch als Regisseur exzellenten Lars Kraume („Das schweigende Klassenzimmer", „Terror - Ihr Urteil", „Der Staat gegen Fritz Bauer") dämpft allerdings schon das Mobbing von Cyril auf Komödien-Verhältnisse runter. „Das schönste Mädchen der Welt" erzählt kein hartes Drama, sondern eine nette Liebesgeschichte im glaubwürdigen Teenager-Milieu von heute. Kein „Fack ju Bergerac", hier wird auch auf der Leinwand mal nachgedacht und dumm ist nicht Trumpf. Regisseur Aron Lehmann („Highway to Hellas", „Die letzte Sau") hält sich mit dem Berlin-Sightseeing zurück. Zum Finale hin wird der Text auffällig stärker als die Inszenierung, für ein sehr schön romantisch gerapptes Happy End reicht es aber noch.

Alpha

USA 2018 Regie: Albert Hughes mit Kodi Smit-McPhee, Natassia Malthe 96 Min.

Auf den Hund gekommen ist der Film schon lange, jetzt gräbt er einen uralten Knochen aus:
20.000 Jahre vor unserer Zeit soll der junge Keda (Kodi Smit-McPhee) auf seine erste Jagd mit den Männern seines Stammes. Bisons mit dem Stock abstechen, ist allerdings nicht so ganz sein Ding, er stürzt einen Abhang hinunter und wird vermeintlich tot zurückgelassen. Verwundet schleppt er sich durch die Wildnis, bei der Attacke eines Wolfsrudels verletzt Keda eine Wölfin. Nun macht der Junge auf „Der kleine Prinz", raue Steinzeit-Edition. Mann und Hündin raufen um spärliche Nahrung, helfen sich aber letztlich beim Überleben.

Wie ein wildes Tier zum Schoßhündchen und Stadt-Vollkoter pervertierte, ist eigentlich eine hoch spannende Geschichte. Hier hat aber jemand zu sehr auf den Vierbeiner unter dem Schreibtisch geschaut und dessen Verhalten mäßig zurückdatiert. So ist beim Kuscheln und Löffeln am Lagerfeuer, bei ein paar Lektionen vom Hunde-Flüsterer, die allerdings nach 20.000 Jahren Dressur noch nicht bei all den Viechern angekommen sind, der lange Heimweg auch ziemlich langweilig. Das Survival, unterfüttert mit Regenwürmern und Fliegen, die Gespräche zwischen Junge und Hund, die keineswegs oscar-reif sind - viel mehr passiert nicht, bei der altmodischen Mannwerdung. Ein Säbelzahn-Tiger hat einen kurzen Auftritt - aber, dies ist ein Hunde- und kein Katzen-Film. Lassie bekommt die besseren Szenen. Regisseur Albert Hughes, der zusammen mit seinem Bruder Allen „The Book of Eli", „From Hell" und „Menace II Society" hingelegt hat, musste „Alpha" sicher nach der Arbeit für seine Kinder runterdrehen. Sehr heutig ist deshalb auch die eindrucksvolle Kameraarbeit. Dauernd fliegt und rast die Perspektive über die Landschaften. „Alpha" ist enorm gut aussehende Langeweile.