31.8.22

Three Thousand Years of Longing


Australien, USA 2022, Regie: George Miller, mit Tilda Swinton, Idris Elba, 108 Min., FSK: ab 16

In diesem grandiosen Märchen für Erwachsene erzählt George Miller („Mad Max", „Schweinchen Babe in der großen Stadt") von einem Flaschengeist, der sich über Jahrhunderte immer wieder unglücklich verliebt.

Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet die Fach-Wissenschaftlerin für alte und neue Mythen Dr. Alithea Binnie (Tilda Swinton) in Istanbul beim Besuch des Bazars einen alten Glasflacon mit einem Flaschengeist findet. Allerdings lebt die geschiedene Engländerin wunschlos zufrieden mit ihrer Forschung, und die üblicherweise schon schwierigen und trickreichen Wunsch-Verhandlungen mit dem Dschinn (Idris Elba) fallen diesmal besonders gewitzt aus. Nachdem sich der Geist in Größe und Sprache angepasst hat - anfangs musste Alithea Altgriechisch sprechen – erklärt er die Regeln für die obligatorischen drei Wünsche und erzählt seine aufregende Geschichte: Im 10. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung war er Geliebter der Königin von Saba, bis der sagenhafte Salomon ihn mit seiner Musik und Zauberei ausstach und einer Flasche in den Tiefen des Meeres versenkte.

Erst nach Jahrhunderten bringt eine Reihe von atemberaubenden, grandios montierten Zufällen (Schnitt Margaret Sixel) den Dschinn in die Macht einer jungen Sklavin im Ottomanischen Reich. Mit ihrem ersten Wunsch kann Gülten die Liebe vom Sohn des Sultans gewinnen, unterschätzt aber schwanger die Ränke des Hofes. So bleibt der Dschinn ohne Erfüllung des dritten Wunsches eine gefühlte Ewigkeit als wirklicher Geist zurück, bis ein Zufall ihn zu einer genialen türkischen Erfinderin bringt.

Wie schon in seinem letzten „Mad Max: Fury Road" haben Frauen bei George Miller das Sagen und keine Angst. Eine weitere Hauptrolle spielt die Fantasie, die den Australier einst Jahrhunderte in die Zukunft und nun in die Vergangenheit führt. Das Ergebnis ist ein überraschend geistreicher Liebesfilm um die Extraklasse-Darsteller Tilda Swinton („Doctor Strange", „Der seltsame Fall des Benjamin Button") und Idris Elba („Avengers: Infinity War", „Der dunkle Turm") sowie 1001 wunderbare Szenen.

30.8.22

Freibad


Deutschland 2021, Regie: Doris Dörrie, mit Andrea Sawatzki, Maria Happel, Nilam Farooq, 102 Min., FSK: 12

Mit Burka oder oben ohne? Die richtige Postleitzahl oder Hautfarbe? Das „Frei" in Freibad hat nichts mehr mit Freiheit zu tun, auch die kleine Flucht aus dem Alltag ist von Regeln und Kulturkämpfen überlagert. Die wunderbar kluge Autorin und Filmemacherin Doris Dörrie bringt dies und noch viel mehr in ihrer kunterbunten, trefflich besetzten und mit überraschender Tiefe am Beckenrand ausgestatteten Komödie „Freibad" unter.

Ein paar Beach Girls singen „Wouldn't it be Nice" - „wäre es nicht schön" - und die Utopie von Doris Dörrie („Männer", „Kirschblüten – Hanami", „Die Friseuse", „Grüße aus Fukushima") ist ein reines Frauenfreibad. Nur Frauen, aber ansonsten sehr divers und mit viel Körpervielfalt, was schon die Unterwasserkamera zeigt. Über der Wasserlinie und auf der Wiese zwischen bunten Liegetüchern und Sonnenschirmen viel Freude und Lachen. Bis die Kamera (Hanno Lentz, „Fabian oder Der Gang vor die Hunde", „Kirschblüten – Hanami") auf tragikomische Einzelheiten einzoomt.

Doch vorher noch eine „herrliche" Slapstick-Einlage, als eine bajuwarisch geifernde Polizei-Mannschaft probiert, ins Frauenbad einzudringen, weil eine Schlägerei gemeldet wurde. (Eine alte Idee aus dem Inspector Clouseau-Film „Ein Schuss im Dunkeln" von 1964, in dem Peter Sellers ein Nudisten-Camp und Elke Sommer observieren musste.) Entsprechend der gängigen Medienmeldungen werden sofort die türkischen Frauen mit Kopftüchern aufgesucht, die nach eigenen Angaben ihren Kindern mal eine Backpfeife geben, sich aber keineswegs geschlagen haben. Für neues Aufsehen sorgt ein schwarzes Schaf aus diesem „Clan": Yasemin (Nilam Farooq) schwimmt mit extrem sexy Burkini, der jede Körperkurve nachzeichnet, sportliche Bahnen und flucht über die Querschwimmerin Eva (Andrea Sawatzki).

Die intrigante Unruhestifterin, welche die Polizei rief, ist Gabi (Maria Happel). Die herrliche Karikatur der unerträglich bitteren Meckertante trägt selbst ein Kopftuch, aber das sei schließlich von Hermes. Gabi ist Teil des ungleichen Freundinnenpaars Eva und Gabi, die das Geschehen um sie herum böse, spitz und empört kommentieren. Wie Statler und Waldorf aus der Muppet-Show. Über allem wacht die schwarze Schweizerin Steffi (Melodie Wakivuamina) als Bademeisterin - auf den ersten Anschein resolut, doch sie vermeidet auch gerne Konflikte. Und von denen marschiert plötzlich ein ganzer heftig verschleierter Haufen ein. Die angeblichen Syrerinnen empören vor allem die ehemalige Feministin Eva, die bald den Busen blank zieht. Gabi verstummt, als die Anführerin der schwarzen Schar unter der Burka einen überaus schicken Prada-Badeanzug zeigt. Die Spannungen wachsen über mehrere Tage bis zu einer tatsächlichen Schlägerei, diesmal geschlichtet von einer Frauen-Mannschaft. Da dies Steffi zu viel ist, gibt es am nächsten Tag einen männlichen Bademeister – ein Sakrileg, das zu Streit, Streik und Ausmarsch aus dem Paradies führt.

Aber reden wir hier von Gender-Diskussion, wenn sich der einzige explizite Mann als aquatisches Wesen sieht? Und der andere – Transfrau oder Transsexueller nach Geschmack einsetzen – jeden Morgen lustvoll zwischen seinen Beinen die riesige Aufblaswurst seines Würstchenstandes aufbläst? Das ist umwerfend komisch, das lässt die Luft aus jeder aufgeblasenen Diskussion raus, das ist großer, kluger Humor würdig eines Ernst Lubitsch-Preises.

Aus dem Gesellschaftsquerschnitt, den so ein Freibad immer ist, macht Doris Dörrie in „Freibad" einen knallbunten Mikrokosmos unserer Befindlichkeiten. Mittendrin ein Kulturkampf um das Alter, die Religion, die Körper und das Bodyshaming, dazu locker flockige Sommerhits wie „Solo una parola" von der Crucchi Gang. Was auch wieder ein Cultural Clash ist, denn bei dem Projekt singen ja deutschsprachige Musiker ihre eigenen Songs auf Italienisch! In diesem Fall Francesco Wilking „Nur ein Wort" von „Wir sind Helden". Wenn die syrische Anführerin schließlich ihren Schleier fallen lässt, klingt es auf schönstem Schweizerdeutsch: „Ich hab' in Zürich studiert, ich shoppe in Paris und ich bade in Deutschland. Aber das Einzige, was sie immer wissen, ist immer nur der Schleier!" Mit viel Witz und Scharfsinn gibt es hier Vielfalt vor allem in den Themen – ein Segen im Deutschen Film. Dazu geht Plakatives direkt baden und die Perspektiven wechseln bei schönen Überraschungen. Eine passende Spaß-Antwort auf unendlich viele dogmatische und dumme Diskussionen. So passt „Freibad" zu Freigeist!

28.8.22

Die Zeit, die wir teilen


Frankreich, Deutschland, Irland 2021 (A propos de Joan) Regie: Laurent Lariviére, mit Isabelle Huppert, Lars Eidinger, Swann Arlaud, 101 Min., FSK: ab 12

Die Pariser Verlegerin Joan Verra (Isabelle Huppert) erzählt ihr Leben – während einer verregneten Autofahrt direkt in die Kamera. Als Frau vom Fach hält sie im Spiel mit den Rückblenden das Interesse hoch. Allerdings ist sie Spezialistin für Fiktionales, es muss nicht alles wahr sein. Als Tochter einer Französin und eines Iren war Joan (jung: Freya Mavor) gerade Aupair-Mädchen in Dublin, als sie den Taschendieb Doug (Éanna Hardwick) kennenlernte. Wilde Nächte im Pub und gemeinschaftliche Diebestouren besiegelten diese Liebe. Doch bevor Joan erfuhr, dass sie schwanger ist, wurde sie erwischt und nach Frankreich abgeschoben. Bei der Rückkehr mit dem gemeinsamen Sohn Nathan sah die junge Mutter den Täuscher verliebt mit der Kellnerin im Pub und kehrte sofort um. So hat Doug niemals erfahren, dass er Vater wurde. Sie erzählt es ihm auch in der Jetztzeit nicht, als er mit Rucksack und ohne Wohnung in Paris auftaucht. Das kurze Wiedersehen wühlt die Frau um die 60 auf, die sich in ihr Landhaus und Lebenserinnerungen zurückzieht.

Es meldet sich dort nur der exzentrische Schriftsteller Tim Ardenne (Lars Eidinger), einer ihrer Klienten. Der jüngere Mann gestand auf kindische Weise öffentlich seine Liebe zu ihr und drohte seinen Stil zu verlieren, bevor Joan ihm nachgab. Es blieb allerdings eine wechselhafte Beziehung. Wie Joans Leben überhaupt die Geschichte instabiler Beziehungen und auch von Lebenslügen ist: Die Affäre der Mutter mit dem japanischen Karate-Lehrer führte dazu, dass diese ihre Familie nach Japan verließ – angeblich. Solche Erfahrungen verfestigten sich in bitteren Lebensbetrachtungen: Die Karate-Weisheit vom „Fallen und wieder Aufstehen" sei Blödsinn. Fallen tue einfach weh!

Zum Glück meldet sich Joans Sohn Nathan (Swann Arlaud) ausgerechnet zur Sinnkrise persönlich auf dem abgelegenen Landhaus. Es ist ein seltener Besuch, denn aus einem aufgeweckten Kind, das sehr oft auf sich alleine gestellt war, wurde ein erfolgreicher Wissenschaftler, der in Montreal arbeitet. Auch zwischen diesen Generationen gibt es reichlich Spannungen, schon am ersten Morgen fällt der Satz „Wenn du an meiner Liebe zweifelst, bringe ich dich um!" Die Rückblenden zu Nathan kurzer Kindheit zeigen exzentrische Mutterschaft, die perfekt zum Rollenbild von Isabelle Huppert passt. Aber auch der Junge lässt staunen. Irgendwann gibt er ihre gelesenen Tagebücher zurück und bespricht sie mit ihr; durchaus mit dem Ton eines Literaturagenten. Wobei sich die Gespräche immer öfter um einen tragischen Badeunfall Nathans im Alter von sieben Jahren drehen.

Es eine typisch zurückhaltende und sehr tiefgründige Rolle für die großartige Isabelle Huppert, diese Joan Verra. Ein Name, der im Französischen „Joan wird sehen" oder „Joan wird erkennen" bedeutet, was den psychologischen Clou des Films vorwegnimmt. Neben dieser Königin natürlich dargebotener Exzentrik muss selbst der dauer-clowneske Lars Eidinger in seiner Rolle als alberner, aber liebenswerter Autor an den Rand treten. Die nur in der bald zu ahnenden „Überraschung" spektakuläre Geschichte von „Die Zeit, die wir teilen" kann durch einige schöne Szenen der jungen Darsteller, gutes Spiel und sorgfältige Inszenierung gewinnen.

27.8.22

Over & Out


Deutschland 2022, Regie: Julia Becker, mit Julia Becker, Jessica Schwarz, Petra Schmidt-Schaller, Nora Tschirner, 109 Min., FSK: ab 12

Die Einladung zur Hochzeit von Maja (Nora Tschirner) in Italien kommt zum besten Zeitpunkt: Ihre drei Jugend-Freundinnen der selbst ernannten Gang „Muskeltiere" Lea (Jessica Schwarz), Steffi (Regisseurin Julia Becker) und Toni (Petra Schmidt-Schaller) stecken in frustrierenden Lebenssituationen. Doch statt Spaß erwartet das Trio ein Begräbnis, denn Maja war schon länger an Krebs erkrankt. Nun sollen die Überlebenden den Leichnam zur Küste transportieren und dort illegal verbrennen. 

Sie sind 38 und tragen alle ihren für solche Filme obligatorischen Problem-Rucksack mit sich. Workaholic Lea wurde „weil Frau" nicht befördert, Steffi wird von Gatten und Kindern ignoriert und befriedigt sich mit jedem greifbaren Mann. Toni hat zwar als Rockstar 350.000 Follower, aber ihren Manager bekommt sie nicht, Hashtag: traurig. Im Finale werden, dank Koks, endlich alle Konflikte auf den Punkt gebracht. Mit einigen Überraschungen. Das wirkt aufgesetzt, und deshalb kommen Einsichten im Sitzkreis nicht richtig gut an, obwohl die Rollen anständig gespielt sind. Tragisch: Die Komischste, Nora Tschirner, liegt nur tot im Auto rum.

Komm mit mir in das Cinema - Die Gregors


Deutschland 2022, Regie: Alice Agneskirchner, 155 Min., FSK: ab 12

Die Cineasten Erika und Ulrich Gregor sind wohl das wichtigste Paar für den deutschen und den internationalen Film: Mit ihren Vereinen und Kinoprojekten „Freunde der deutschen Kinemathek", das Kino Arsenal in Berlin und das „Internationalen Forum des jungen Films" als bester Teil der Berlinale verdanken Filmfreunde ihnen einen Großteil der Entdeckungen der letzten Jahrzehnte. Schon in den 1950ern förderten die in den 30ern geborenen Gregors den Diskurs über Film im Nachkriegsdeutschland und engagierten sich antifaschistisch. Als Journalist initiierte Ulrich Gregor Kommunales Kino und Programmkino in den meisten Städten.

Alice Agneskirchner verbindet dieses kaum fassbar wichtige Kapitel deutscher Kulturgeschichte mit einem sehr persönlichen Porträt des Paares, das sich bei der Hochschulvorführung von Robert Siodmaks „Menschen am Sonntag" kennenlernte und sich immer noch über den Film streiten kann. Alle Größen des deutschen Films angefangen mit Wenders, Schlöndorff, Reitz, Von Trotta erzählen von der Bedeutung der Gregors. Ein bewegender Liebesfilm nicht nur für den Film und das Kino, auch füreinander.

 

22.8.22

Die Känguru Verschwörung


Deutschland 2022, Regie: Alexander Berner, Marc-Uwe Kling, mit Dimitrij Schaad, Volker Zack, Rosalie Thomass, 103 Min., FSK: ab 6

Das Känguru ist wieder da, aber im eigentlich unerschöpflichen Beutel der populären Figur von Marc-Uwe Kling sind diesmal nur die bekannten Scherze nach den beliebten Büchern und Hörspielen in einer so gerade kinotauglichen Verpackung. Regie und Drehbuch sind viel lahmer als beim ersten Film „Die Känguru-Chroniken" von Danny Levy.

Es gibt nichts zu sehen, gehen Sie weiter! Denn die erste Szene ist Dunkelheit, ein „Blind Date" zwischen Marc-Uwe (Dimitrij Schaad) und seiner umschwärmten Nachbarin Maria (Rosalie Thomass). Die Romantik geht selbstverständlich schief, weil auch das Känguru als unfreiwilliger Untermieter von Marc-Uwe dabei ist und dauernd anarchisch dazwischenfunkt. Zwangsläufig folgen der Rauswurf und das Ende der Liebes-Hoffnungen. Für ein nächstes Date müsste der verliebte Kleinkünstler eine wahre Herkules-Tat vollbringen, nämlich Marias Mutter aus dem „Kaninchenbau" retten. Lisbeth Schlabotnik (Petra Kleinert) ist „im Internet falsch abgebogen" und leugnet nun nicht nur die Klimakrise, sie ist als „Diesel-Lisl" sogar Galionsfigur der Verwirrten. Der Einsatz für das Date ist allerdings hoch – sollte Marc-Uwe Marias Mutter nicht zurückholen können, werden Wohnungen getauscht. Die große von Kleinkünstler und Känguru gegen die kleine von Maria und Sohn.

So startet das streitende, philosophierende und albernde Gespann zu einem absurden Roadtrip Richtung „Conspiracy Convention" in Bielefeld. Derweil kommt auch noch Marias Ex Joe aus dem Knast zurück und erweist sich als extremer Supermann und Supertyp, neben dem Marc-Uwe erst recht keine Chance hat. Selbst die Sache mit dem Gefängnis sticht nicht als Joker für den Verliebten, denn Joe war keineswegs wegen dummer Jugendsünden inhaftiert, sondern weil er irgendwie nordkoreanischen Flüchtlingen geholfen hatte.

Egal ob Fan oder Gegner dieser Känguru-Witzchen, was soll man zu einer Aneinanderreihung von Scherzchen sagen? Der erste Film, „Die Känguru-Chroniken", hat dank des erfahrenen Regisseurs Danny Levy noch die Kurve bekommen. Jetzt macht Autor Marc-Uwe Kling zusammen mit Alexander Berner selbst auf Regisseur und das Känguru wird darüber heftig stirngerunzelt haben. Denn so was geht selten gut. So gibt es nicht wirklich frische Bielefeld-Scherze, wenn die Stadt nicht auf dem Navi auffindbar ist. Und die beliebte Witz-Serie „Falsch zugeordnete Zitate" mit dem Gewinner Armin Laschet: „Ich kam, ich sah, ich siegte!" Ein Albtraum des Beuteltiers als wilde Achterbahn-Fahrt im Braunkohleloch, der „bestimmt die Hälfte vom Budget verschluckt hat" ist ebenso wie der dauernde Verweis „ich habe das Drehbuch gelesen" als Selbstreferenz ermüdend. Ein paar Drogenkekse zu viel lassen das Känguru in einem ostdeutschen Dorf eine dunkle Gegenwelt mit einem „Dark Uwe" und sprechendem Schäferhund anstelle des beutligen Titelhelden fantasieren.

Der antikapitalistische Klassenkampf, eigentlich eine Herzensangelegenheit des Kängurus und Thema des ersten Films, spielt diesmal nur eine Nebenrolle. Wie der Titel schon verrät, geht es in der erzählerischen Zwangsklammer um Verschwörungstheorien, speziell um Klimaleugner. Was vielleicht ein Test für die Zielgruppe ist. Obwohl – gibt es eine Schnittmenge zwischen Fans von Marc-Uwe Kling und Verschwörungstheoretikern? Marc-Uwe Kling ist es egal: „Der große Vorteil am Verschwörungsgeschwurbel: Wenn man genau hinsieht, ist da so unglaublich viel Absurdes ... Reichlich Stoff für eine Komödie." So ist auch die „Conspiracy Convention" nur eine lächerliche Freakshow und den Deppen lässt sich in wenigen Minuten die Idee einer würfelförmigen Erde unterjubeln! Marc-Uwe sucht jedenfalls einfach mal ein ernsthaftes Gespräch mit Marias Mama, die gar nicht so verschroben ist. Andere wollen jedoch das Känguru umgehend schlachten...

Dimitrij Schaad verliert als Marc-Uwe neben dem digitalen Känguru, so wie seine Figur immer beim „Schere, Stein, Papier" in den absurdesten Formen den Kürzeren zieht. Rosalie Thomass hat als Maria zu wenig Zeit im Film, wie man überhaupt die ganze Gang vom Berliner Kiez aus dem ersten Film vermisst. Dafür gibt es nun Benno Fürmann, nicht mehr als routiniert in der Rolle des charismatischen Verschwörungs-Guru Adam Krieger. „Die Känguru Verschwörung" enttäuscht auf so vielen Ebenen - da muss mehr hinter stecken, als nur der Fluch des Zweiten Teils. Wahrscheinlich irgendeine Verschwörung. Mal das Känguru fragen.

Beast - Jäger ohne Gnade


USA 2022 (Beast) Regie: Baltasar Kormákur, mit Idris Elba, Sharlto Copley, Iyana Halley, 91 Min., FSK: ab 16

Baltasar Kormákur („Everest", „2 Guns"), der isländische Arthouse-Filmer unter den Action-Regisseuren, beweist mit „Beast - Jäger ohne Gnade" erneut, dass er in beiden Welten zuhause ist und Qualität abliefert. Die übersichtliche Bewährung eines Familienvaters in archaischer Umgebung wird sehr effektiv inszeniert und von Idris Elba klasse gespielt.

Nach dem Krebs-Tod seiner Frau reist der Arzt Dr. Nate Samuels (Idris Elba) mit seinen Teenager-Töchtern Meredith (Iyana Halley) und Norah (Leah Jeffries) in die südafrikanische Savanne. Dorthin, wo er seine Frau einst kennenlernte. Die Familie kämpft mit Trauer und Verlust. Die Kinder werfen dem Vater vor, dass er während der Krankheit abwesend war. Nun entdecken sie im Wildreservat des Biologen und alten Freundes der Familie, Martin Battles (Sharlto Copley), frühe Fotos der Mutter, aber auch ein Dorf voller Leichen. Ein Löwe hat hier jeden umgebracht und bald ist er auch ihnen auf den Fersen. Die Familie und der Wildhüter sind schnell allein, ohne Umschweife wird „Beast - Jäger ohne Gnade" sehr spannend.

Als Arzt verpflegt Nate Samuels zuerst einige der vielen Verwundeten und macht per Walkie-Talkie Fern-Medizin. Aber schließlich ergreift er auf ziemlich macho-bescheuerte Weise die Gelegenheit, zu beweisen, dass er sich um seine Familie kümmert. Die pubertierenden Töchter beweisen derweil ihre Abstammung, indem sie eher das Heldenhafte als das Vernünftige tun.

Der grandiose Regisseur Baltasar Kormákur bewegt sich gekonnt zwischen seiner isländischen Heimat und Hollywood. Mit Keira Knightley, Emily Watson und Jake Gyllenhaal drehte er „Everest" (2015), „2 Guns" (2013) mit Denzel Washington und „Contraband" (2011) mit Mark Wahlberg. Dann faszinierendes Arthouse mit schrägen Beziehungsgeschichten wie „101 Reykjavik" (2000) oder das fast mythologischen Drama eines tiefgekühlten Fischers in „The Deep" (2012). In der Netflix-Serie „Katla" ließ er - wieder in Island - ein Jahr nach dem Ausbruch eines vom Gletscher bedeckten Vulkans aus Ascheregen eine Frau auftauchen.

„Beast - Jäger ohne Gnade" gefällt mit sehr sorgfältiger Bildgestaltung und gradliniger Erzählung. Erfreulich, dass in diesem Actionfilm mal nicht alles doppelt und dreifach erklärt wird und nicht „rennen" gerufen wird, bevor man losrennen muss. Besonders effektvoll sind die Szenen nächtlicher Angriffe, die nur mit ein paar Taschenlampen ausgeleuchtet wurden (Kamera: Philippe Rousselot). In Traumsequenzen lässt Regisseur Baltasar Kormákur das Übersinnliche zu, das in seinen Arthouse-Filmen eine große Rolle einnimmt. Da leitet mal die verstorbene Frau Nate Samuels auf den richtigen Weg, ein anderes Mal sorgt ein Albtraum für heftigen Schreck im Kino.

Idris Elba („Fast & Furious: Hobbs & Shaw", „The Suicide Squad") gelingen sowohl die Momente des angeschlagenen Trauernden als auch die Action-Szenen glaubhaft. Dabei ist sein Rolle keineswegs als unkaputtbarer Held angelegt, was ernsthaftes Mitfiebern erst möglich macht. Ebenfalls eindrucksvoll, wie gut sich die Darstellerinnen der Töchter Iyana Halley („This Is Us – Das ist Leben", „The Hate U Give") und Leah Jeffries („Empire") neben dem Star bewähren.

21.8.22

Evolution (2021)


Deutschland, Ungarn 2021, Regie: Kornél Mundruczó, mit Lili Monori, Annamária Láng, Goya Rego, 100 Min., FSK: ab 12

Das Triptychon dreier Generationen einer jüdischen Familie ist ein großes Werk von Regisseur Kornél Mundruczó („Pieces of a Woman") und Drehbuchautorin Kata Wéber, das 2019 als Theaterstück auf der Ruhrtriennale uraufgeführt wurde: In der schauerlichen, unheimlich starken Eröffnungsszene sehen wir das entsetzte Staunen von Reinigungskräften in einer dunklen Kammer. Sie finden Haarsträhnen im Putz und Duschköpfe an der Decke. Der reale Horror der Gaskammern endet mit dem wundersamen Fund eines Kindes in der Kanalisation. Die Männer verlassen mit dem schreienden kleinen Wesen den Raum und wir erkennen, dass sowjetische Soldaten gerade das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreit haben.

Jahrzehnte später streitet diese Éva (Lili Monori) als alte, demente Frau mit ihrer Tochter Léna (Annamária Láng) über deren Leiden als Kind einer Holocaust-Überlebenden, von welcher die Härte des KZs erwartet wurde. Léna braucht die mühsam erworbene Geburtsurkunde Évas, um einen Kindergartenplatz für ihren Sohn Jónás (Goya Rego) zu bekommen. Doch Éva meint, „Ich schlage keinen Vorteil aus der Tragödie". Worauf Léna verzweifelt „Wir waren jüdisch, als wir es nicht sein durften, und jetzt wo wir es dürfen, sind wir nicht jüdisch?"

Dem raffiniert gefilmten Kammerspiel über das Psychodrama einer Kindheit in Habacht-Stellung und dem Problem, die wahren Erinnerungen zu erkennen, folgen ganz andere Probleme der nächsten Generation. Jónás ist früher zuhause, weil die Mitschüler seine Martinszug-Laterne angezündet haben. Die hat seine Mutter unbedingt als Hanukkah-Lampe gestalten müssen, obwohl der zierliche Junge sowieso gemobbt wird. Realsatire ist, wie die Lehrerin herumdruckst, um auf keinen Fall das Hassverbrechen anzuerkennen. Während eines wiederum schauerlichen Martinszugs mit einer für Berlin auffällig weißen Klasse ergibt die Flucht des jüdischen Jungen und seiner arabischen Freundin eine wunderschöne Utopie.

Dem in Berlin lebenden ungarischen Paar Mundruczó/Wéber gelingt der große Bogen jüdischer Lebensbedingungen kunstvoll mit verschiedenen Filmformen und frei von Klischees.

Mit 20 wirst Du sterben


Ägypten, Deutschland, Frankreich, Katar, Norwegen, Sudan 2019 (You will die at 20) Regie: Amjad Abu Alala, mit Mustafa Shehata, Islam Mubarak, Mahmoud Elsaraj, 103 Min., FSK: ab 12

„Mit 20 wirst Du sterben" prophezeit der heilige Mann in einem kleinen sudanesischen Dorf dem gerade geborenen Baby Muzamil! Der Vater haut angesichts dieser Vorhersage ab, der „Sohn des Todes" wird überbehütet von der Mutter, darf nicht Fußball spielen oder zum Fluss gehen. Die anderen Kinder grenzen ihn aus und quälen ihn in grausamen Spielen, wenn sie ihn in ein Leichttuch packen und in eine Kiste stecken. Erst als fast erwachsener Mann (Mustafa Shehata) bringt ein alter Fremder, der in einem verlassenen Haus gegen die Regeln Alkohol trinkt, den naiven Aberglauben ins Wanken. Sulaiman (Mahmoud Maysara Elsaraj) zeigt Muzamil mit einem alten Filmprojektor die Welt und meint, auch wenn die Prophezeiung stimmen würde, solle er doch bis dahin das Leben genießen und seine Freundin Naima (Bunna Khalid) nicht mehr abweisen.

Großartige Bilder, komplexe Figuren und eine Geschichte, die weit über den scheinbar begrenzten Horizont eines strenggläubigen Dorfes hinausgeht, machen klar, weswegen „Mit 20 wirst Du sterben" bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig mit dem Preis für den besten Debütfilm ausgezeichnet wurde.

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Märzengrund


Deutschland, Österreich 2022, Regie: Adrian Goiginger, mit Johannes Krisch, Jakob Mader, 110 Min., FSK: ab 12

Auf Basis des Theaterstücks vom österreichischen Dramatiker Felix Mitterer hat Regisseur Adrian Goiginger ein Aussteigerdrama im Umfeld traditioneller Alpenbauern geschaffen: Elias (Jakob Mader) wächst unter einem rücksichtslosen Vater (Harald Windisch) auf, der ihn zu einem „echten" stumpfen und gefühllosen Bauern erziehen will. Weil er ja einmal den mit Härte und Gnadenlosigkeit zusammengerafften Hof übernehmen soll. Die Bücher der Mutter (Gerti Drassl) werden ihm verboten. Das geschenkte Auto, ein NSU Prinz, darf er nur behalten, bis die geschiedene Freundin (Verena Altenberger) den Eltern missfällt. Dieser enorme Druck führt in eine Depression, die der Arzt mit Elektroschocks behandeln will, doch der Vater schickt den Jungen auf die Hochalm „Märzengrund" in die Tiroler Alpen, wo Elias endlich seine Freiheit findet und für Jahrzehnte bleibt.

Erzählt in Rückblende vom Totenbett des alten Elias (Johannes Krisch), ähnelt der solide inszenierte und gespielte „Märzengrund" der Aussteiger-Romantik von „Der große Trip – Wild" oder „Into the Wild", ist allerdings erdverbundener, wenn Elias dem Ruf der Greifvögel in immer höhere Verstecke folgt.

 

17.8.22

Der Gesang der Flusskrebse


USA 2022 (Where the Crawdads sing) Regie: Olivia Newman, mit Daisy Edgar-Jones, David Strathairn, Taylor John Smith, 126 Min., FSK: ab 12

Die bescheidene Verfilmung eines Romans von Delia Owens kann als konventionelles Gerichtsdramas mit vielen Rückblenden wohl nur Fans des Buches interessieren oder verärgern. Für alle anderen ist „Der Gesang der Flusskrebse" eine mäßige Emanzipationsgeschichte mit schönen Sumpfbildern.

Als der ehemalige Quarterback Chase Andrews (Harris Dickinson) tot am Boden liegt, ist das schockierend für die Nation, die den American Football so glorifiziert und die Sportler uneingeschränkt zum Helden macht. Noch dazu gehörte der zukünftige Erbe eines florierenden Geschäfts zur „guten Gesellschaft" des Städtchens Barkley Cove und die erwählt Ende der 1960er-Jahre im ländlich rückständigen North Carolina eine Außenseiterin zur Hauptverdächtigen. Schnell wird Catherine „Kya" Clarke (Daisy Edgar-Jones), die allein in einer Hütte im Marschland lebt, von Polizisten mit kurzgeschorenem Haar verfolgt und verhaftet.

Es gibt keine Zeugen, keine Beweise, doch die unabhängige Frau, die nie mit ihrem Namen angesprochen, sondern immer nur „das Marschmädchen" genannt wird, wird von allen verurteilt, bevor der Prozess beginnt. Nur der ältere Rechtsanwalt (David Strathairn) kann ihr Schweigen brechen, indem er ihr eines der Notizbücher aus der Hütte bringt. So blicken wir mit seiner langsamen Annäherung hinter das Bild der Vorurteile, entdecken, dass Kya kein wildes Wesen aus dem Sumpf ist, das kaum sprechen kann.

In langen Rückblenden erzählt die kluge und sensible Frau dem Anwalt ihre unglaublich melodramatische Lebensgeschichte: Die Familie der kleinen Kya wird von einem gewalttätigen und saufenden Vater terrorisiert. Früh lernt das Kind, es ist am besten, sich zu verstecken. In einer dramatischen Entwicklung, die unfreiwillig komisch wirkt, läuft erst die Mutter weg. Dann lassen nach ein paar rührenden Abschiedsszenen mit Überlebenstipps die älteren Geschwister das hilflose kleine Mädchen zurück. Und zur Krönung haut dann noch der Vater als der Verursacher all des Elends ab. Aber die Siebenjährige überlebt auf sich gestellt mit dem Verkauf von ihren Fängen aus dem Sumpf und mit der Unterstützung eines afroamerikanischen Händlerpaares. Zur Schule geht sie wegen des Spotts der Mitschüler nicht, vor den Behörden versteckt sie sich im Marschland. Als Teenager lernt sie den gutherzigen Tate (Taylor John Smith) kennen, doch der enttäuscht ihre Liebe, als auch er sie verlässt - für sein Biologie-Studium. Für den extrem unsympathischen Chase Andrews ist Kya nur eine weitere Trophäe, doch aus Einsamkeit lässt sie sich kurzzeitig auf eine Beziehung ein. Die ist jedoch schon seit Jahren beendet, als Chase tot aufgefunden wird.

Während es das Gerichtsdrama mit öden Spießbürgern, die alles Abweichende hassen, tatsächlich schafft, dass man nie um das Wohlergehen von Kya und den Ausgang des Prozesses bangt, kann die autodidaktische Entwicklung der jungen Frau punkten. Ihre Begeisterung für die Natur um sie herum, führt mit Unterstützung Tates zu genauen Studien und schönen Zeichnungen der Fauna und schließlich zu einem in Fachkreisen anerkannten Buch. So verwundert es nicht, dass ausgerechnet Hollywood-Schauspielerin Reese Witherspoon großen Anteil am Erfolg des im Sommer 2018 erschienenen Buches hatte. Sie stellte es in der populären Literatursendung „Hello Sunshine" vor, was dazu führte, dass „Der Gesang der Flusskrebse" mit 4,5 Millionen verkauften Exemplaren 2019 das erfolgreichste Buch in den USA war. Witherspoon sicherte sich die Filmrechte und produzierte den Film mit. Wegen ihrer Erfolge mit Filmen wie „Pleasantville – Zu schön, um wahr zu sein", „Natürlich blond", „Walk the Line" und „Der große Trip – Wild" darf man sie nicht unterschätzen, sie ist längst als Produzentin eine einflussreiche Person in Hollywood.

Das Ergebnis der allgemeinen Begeisterung für die Vorlage von Delia Owens - Taylor Swift schrieb einen Song für den Film – ist allerdings eine erschreckend triviale Geschichte, die auch von haufenweise schwülstigen Naturaufnahmen nicht überdeckt werden kann. „Der Gesang der Flusskrebse" erinnert stark an die berüchtigten Eichinger-Literaturverfilmungen, die brav den Inhalt der Bücher und den Willen der Fans zusammenrafften, aber nie etwas darüber hinaus riskierten. Große Langeweile war der gemeinsame Nenner, siehe „Fräulein Smillas Gespür für Schnee". Bis auf die eine dicke Überraschung der letzten Seiten und Minuten bleibt es auch nun übersichtlich. Tate selbst nimmt jede Hoffnung auf Besonderes: „Flusskrebse singen nicht!"

16.8.22

Goliath (2022)


Frankreich, Belgien 2022, Regie: Frédéric Tellier, mit Gilles Lellouche (Patrick Fameau) · Pierre Niney (Mathias Rozen) · Emmanuelle Bercot, 121 Min., FSK: ab 12

Der Kampf von David gegen Goliath, von schwachen Opfern gegen einen übermächtigen Chemiekonzern, findet in dem bewegenden und überzeugenden Polit-Drama „Goliath" mit einem entschlossenen Ensemble statt. So kann Regisseur und Koautor Frédéric Tellier sein engagiertes großes Werk ganz anders als Hollywood und viel glaubhafter bringen.

Das Landwirtschaftsgift heißt Tetrazine und der Konzern Phytosanis. Doch direkt ist klar, dass Glyphosat und Monsanto, beziehungsweise der Nachfolger Bayer gemeint sind, wenn die junge Witwe unter Tränen vor Gericht erzählt, wie ihre Frau qualvoll am Krebs sterben musste, welches dieses „Pflanzenschutzmittel" erzeugte. Während Anwalt Patrick (Gilles Lellouche), Spezialist für Umweltrecht, die Landwirtinnen mit enormer Leidenschaft verteidigt, ist sein Gegenspieler Mathias (Pierre Niney) noch damit beschäftigt, Europa weiszumachen, dass Dieselmotoren eine total saubere Sache sind. Was wissenschaftlicher Blödsinn und eine dreiste Lüge ist – also das Spezialgebiet des Lobbyisten, der Internet-Filmchen von kleinen schwarzen Sklaven in Kobalt-Minen produzieren lässt, um umweltschonende Elektroautos zu diskreditieren. Als ein französischer Minister öffentlich exakt die Worte des Lobbyisten nachspricht, ist die Sache gewonnen. Politiker sind Sprechpuppen der Industrie. Mathias übernimmt nun für einige Millionen den Fall von Phytosanis. Dieser Gegner bekommt Charisma und Überzeugungskraft zugeschrieben, aber nie Sympathien: Nach einem weiteren Erfolg redet er in einer Bar über das Familien-Glück mit seiner Frau, kurz bevor er zu einer Prostituierten geht!

Regisseur Frédéric Tellier hat hier zwar mit Gilles Lellouche („Ein Becken voller Männer", „Kleine wahre Lügen") und Pierre Niney („Yves Saint Laurent", „Frantz") zwei starke Hauptdarsteller, er vermeidet aber eine Zuspitzung auf diese Konfrontation. Statt der üblichen überdramatischen Gerichtsszenen zeigt er uns ein breites Spektrum von Schicksalen in ausgewogener Montage: Da gibt es auch die Sportlehrerin, die zusätzlich zu ihrem Beruf in einer erschreckend automatisierten Fabrikhalle Gabelstapler fährt und sich für ein Verbot von Pestiziden einsetzt, weil ihr Partner, ein Zirkusartist mit kleiner Tochter, einst wegen ihnen schwer erkrankte. Parallel zum Kampf von Anwalt Patrick beginnt eine Gruppe von Aktivisten mit Aktionen gegen die Lobbyisten, die mit Schlägern reagieren. Mathias' Organisation, die sich extrem zynisch „Better world", „Bessere Welt" nennt, hetzt dem Gegner eine Steuerprüfung auf den Hals und lässt dessen ehemalige Freundin, eine Recherche-Journalistin, brutal zusammenschlagen. Gegen all diese Macht und Gewalt scheint der Fall verloren, bis sich eines der Opfer vor der Konzernzentrale öffentlich verbrennt...

Jede dieser Szenen, jede der Figuren von „Goliath" ist bis zum enorm ergreifenden Plädoyer für eine gerechtere und ehrlichere Welt exakt und packend. Frédéric Tellier gelingt die Überraschung, aus einem bekannten Thema mit klar abgesteckten Fronten einen durchgehend fesselnden Film ohne falsches Pathos zu machen.

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15.8.22

Jagdsaison (2021)


Deutschland 2021, Regie: Aron Lehmann, mit Rosalie Thomass, Almila Bagriacik, Marie Burchard, 93 Min., FSK: ab 12

Eva (Rosalie Thomass) ist begnadete Fettnäpfchen-Finderin und klassische Ulk-Nudel. Ihre klasse farbenfrohen Klamotten kann ein Clown problemlos als Ersatzdress einsetzen, nachdem sein Kostüm wegen ihr ruiniert ist. Gar nicht lustig findet Eva allerdings, dass ihr Mann sie nach elf Jahren Ehe für die jüngere Influencerin Bella (Almila Bagriacik) verlassen hat. Die auf den ersten Klick unsympathische Beauty-Ratgeberin gibt sich nun nicht nur alle Mühe bei Evas Tochter Olivia, auch Evas beste Freundin Marlene (Marie Burchard) wird ausgespannt. Als Marlene bei einem von Bella ausgegebenen Wellness-Wochenende ihrem langweiligen Ehe-Sex mit einem Seitensprung entfliehen will, hängt sich Eva an die „Jagdgesellschaft". Sie möchte die Freundin vor einem Fehler retten und verhindern, dass sich die Nebenbuhlerin Bella beim bevorstehenden Kinder-Geburtstag mit einem Hund ins Herz der Tochter einschmeichelt. So wird einerseits das Ladies-Luxus-Wochenende reichlich peinlich und zerstritten. Aber auch die benachbarte Jagdpartie mit Marlenes adeligem Liebhaber mischt Eva gründlich auf. Dabei ist es passend und gemein, dass ausgerechnet der Clown den Unglücksvogel am besten versteht.

Rosalie Thomass („Eine ganz heiße Nummer 1+2", „Die Känguru-Chroniken 1+2", „Eine unerhörte Frau") ist die eigentliche Hauptrolle bei diesem Komödien-Trio: Als unglückliche Thirty-Something-Frau hat sie unter ihren rosa Strähnchen viel mehr emotionalen Verstand als ihre Freundinnen mit sehr pubertären Beziehungskonzepten. Der Humor mit Verbrennungen beim Intim-Waxing und an den Chef geschickten Anus-Selfies würde denen allerdings gefallen. Bei einem Haufen Klamauk-Nummern wurde bis zum wenig glaubwürdigen Verschwesterungs-Finale wenig aus den Figuren entwickelt. Thomass wirkt im Vergleich zu ihren besten Filmen („Grüße aus Fukushima", „Taxi") unterfordert. Auf jeden Fall sieht mal sie lieber in Filmen, bei denen sie nicht selber am Drehbuch mitschrieb. „Jagdsaison" ist eine eindeutige Empfehlung für die in jeder Faser flottere und lebensweisere US-Komödie „Die Schadenfreundinnen" (2014) von Nick Cassavetes mit Cameron Diaz und Leslie Mann.

Il mio corpo


Schweiz, Italien 2020, Regie: Michele Pennetta, 80 Min., FSK: ab 12

Der stark inszenierte Dokumentarfilm „Il mio corpo" folgt zwei Jugendlichen aus gänzlich unterschiedlichen Welten auf Sizilien: Der italienische Teenager Oscar sammelt mit seinem herrischen Vater und seinem Bruder Altmetall auf den Müllhalden. Die Stiefmutter der Patchwork-Familie ist mehr an „ihren" Kindern interessiert. Ein paar Kilometer weiter putzt der aus Nigeria geflüchtete Stanley die Kirche. Er darf für sechs Monate bleiben und genießt den Schutz des Priesters, für den er sich auch um den Garten und die Schafe kümmert. Allerdings muss er auch Miete zahlen! Mit einem befreundeten Flüchtling unterhält er sich über die gemeinsame schwierige Situation und streitet sich wegen unterschiedlicher Wege. Mit „Il mio corpo" beschließt Michele Pennetta seine Sizilien-Trilogie aus „'A iucata" (2013) und dem überragenden „Pescatori di corpi" (2016) über einen lokalen Flüchtlingsretter. Erneut lässt er mit sehr schönen, authentischen Bildern viel Raum für das eigene Beobachten, Entdecken und Denken.

Mein Lotta-Leben - Alles Tschaka mit Alpaka


Deutschland 2022, Regie: Martina Plura, mit Meggy Hussong, Yola Streese, Levi Kazmaier, 88 Min., FSK: ab 6

Die zweite Kino-Geschichte nach der Kinderbuchreihe „Mein Lotta-Leben" von Autorin Alice Pantermüller und Illustratorin Daniela Kohl schickt die elfjährige Lotta Petermann (Meggy Hussong) auf Klassenfahrt nach Amrum mit Freundinnen, einem süßen französischen Austauschschüler Remi (Timothy Scannell) und dem Vater Rainer (Oliver Mommsen) als Begleitperson! Lottas Gang der Wilden Kaninchen muss die (G)Lämmer-Girls, angeführt von der eingebildeten Berenike (Laila Ziegler), und die Rocker überstehen. Dazu das Rätsel der mysteriös verschwundenen Zimmer in der Jugendherberge lösen und eine Watt-Wanderung überleben. Das wirkt mit den originellen Kritzeleien im Bild halbwegs nett, aber doch ein wenig zu bekannt. Selbst der vermutete Geist auf dem Dachstuhl scheint von „Bibi und Tina" oder einer anderen Kinderserie herüber geflattert zu sein. Die Inszenierung und das entspannte Spiel sorgen dafür, dass wir mitfühlen beim Cliquen-Streit, bedrohten Freundschaften, pubertäts-peinlichen Eltern und der finalen großen Klassen-Solidarität.

9.8.22

Namaste Himalaja - Wie ein Dorf in Nepal uns die Welt öffnete


Deutschland 2022, Regie: Anna Baranowski, Michael Moritz, 93 Min., FSK: ohne Angabe

Der Dokumentarfilm ist einer der inflationären Selbsterfahrungs-Reisefilme, die sich mit enormer Naivität nicht von mangelnder Kenntnis im Filmemachen stoppen lassen und das ehrenwerte Genre der Amateur-Filmerei ins Kino bringen. Dieser Urlaubs-Film beschreibt die Weltreise des Luxus-Aussteigers Michael. Anna folgt ihrer Jakobsweg-Bekanntschaft verliebt für einige Wegstücke. So ist sie zufällig gerade zu ihm nach Nepal geflogen, als der Ausbruch der Corona-Pandemie das Reisen verhindert. (Und auch den Blick auf solche Filme nachhaltig verändert.) Über zwanzig Minuten braucht „Namaste Himalaja" bis diese persönliche Corona-Geschichte mit exotischer Umgebung interessieren will. Mit unbedarften Figuren und oberflächlicher Aussteiger-Esoterik ist diesen Weltentdeckern die eigene Befindlichkeit lange wichtiger als die Welt um sie herum. Nach halber Laufzeit interessieren sich die für fünf Monate Gestrandeten aus Langeweile endlich etwas mehr für andere Menschen. Was die mangelnde Relevanz des ganzen Films nur umso deutlicher macht.

Nope


USA 2022, Regie: Jordan Peele, mit Daniel Kaluuya, Keke Palmer, Brandon Perea, 131 Min., FSK: ab 12

Science-Fiction und Horror, Hollywood und Rassismus – bei Regisseur und Oscar-Gewinner Jordan Peele, der mit „Get Out" und „Wir" den Horror-Film raffiniert gegen Unterdrückung einsetzte, passt das alles zusammen. Bei „Nope" benutzt er die Hülle eines kleinen B-Movies, um das große Hollywood mit seiner Geschichte des Rassen- und Klassenkampfes vorzuführen. Und auch noch gekonnt recht spannend zu unterhalten.

Emerald (Keke Palmer) und OJ Haywood (Daniel Kaluuya) versuchen, mit einer Farm für Hollywood-Filmpferde über die Runden zu kommen, nachdem ihr Vater bei einem mysteriösen Ereignis von umherfliegenden Metallstückchen erschlagen wurde. Ihre kalifornische Haywood-Ranch ist seit Jahrzehnten in Familienbesitz. Doch der stille Zureiter OJ zeigt sich im Showbetrieb überfordert. Seine verantwortungslose schrille Schwester „Em" interessiert sich eher für eigene Jobs vor der Kamera und träumt von einer Filmkarriere. So verlieren sie den nächsten Job und müssen ein Pferd an den erfolgreichen Westernpark des einstigen Kinderstars Ricky „Jupe" Park (Steven Yeun) abgeben. Mehr Erfolg als mit der alten Goldgräber-Geschichte hat Ricky mit der Multimedia-Präsentation einer UFO-Sichtung. Deshalb erhoffen sich auch Emerald und OJ Rettung, als eines Nachts der Strom ausfällt und er eine unerklärliche Erscheinung am Himmel sieht. Mit Hilfe des UFO-affinen Angestellten vom Technik-Supermarkt soll ein Kamera-System den Beweis für die Außerirdischen liefern. Doch die Sache entwickelt sich komplizierter und vor allem bösartiger...

1887 fertigte Eadweard Muybridge die berühmte Serienaufnahme von 16 aufeinanderfolgenden Fotografien eines schwarzen Jockeys auf einem Pferd an. Hintergrund war der Beweis, dass zu einem Moment alle Beine des Tieres in der Luft sind. Als Nebeneffekt wurde diese früheste Chronofotografie Vorlage für bewegte Bilder, für den Film. Emerald Haywood beruft sich in „Nope" auf den unbekannten Jockey als einen ihrer Vorfahren und Gründer der Haywood-Ranch. Womit der Film während seiner langen und ruhigen Einführung den kämpferischen Themenpunkt des afroamerikanischen Regisseurs Jordan Peele setzt: Ein Buch über Muybridge war für ihn der Einstieg, „um sich mit einigen Aspekten und Medienmechanismen in Hollywood und der Filmindustrie an sich zu beschäftigen – und um die Ausbeutung aufzudecken, die dieser Industrie schon immer innewohnte." Jordan war von der Idee fasziniert, dass Muybridges Jockey den Urtyp des Filmstars – ob Schauspieler, Stuntman oder Tierpfleger – verkörpert: Ein unbekannter schwarzer Mann, der auf ewig weiterreitet". Im Film treten die Geschwister Haywood dieses Erbe sowohl auf wörtlicher als auch auf metaphorischer Ebene an.

Als Science-Fiction bedient sich „Nope" mit dem Schreien und dem Blutregen der Aliens deutlich bei den Film-Fassungen von H.G. Wells' „Krieg der Welten". Eine weitere Inspiration war „Die unheimliche Begegnung der 3. Art". Auffällig im Genre der Außerirdischen ist jedoch, dass in „Nope" kein FBI im Stil von „Akte X" auffährt, um Aliens zu jagen. Es geht Peele nur um das Verhältnis von außerirdischen Erscheinungen und Darstellbarkeit in den sozialen Medien. Es gilt nicht mehr Mulders „Die Wahrheit ist irgendwo da draußen", die einzige Wahrheit, die noch existiert, ist im Netz. In der Cloud, der Wolke, in der sich das Ufo tatsächlich dauernd versteckt. Und so lässt sich im anderen großen Themenkomplex des Films, der Aufmerksamkeitsökonomie, mit viel interpretatorischem Verbiegen im UFO ein Auge erkennen. Im Stil eines B-Movies sehen wir nämlich anfangs eine unspektakuläre Schüssel - nicht glänzend, nicht glatt, eher ein graues Spiegelei. Doch es verschlingt alles, was zu ihm aufblickt. Zufällig rettet dies den bescheidenen OJ, da er wie seine Pferde selten jemandem direkt ins Auge blickt.

Die eher solide als spektakuläre Handlung bleibt auch mit einem wahnsinnigen Kameramann, der mit mechanisch angetriebener Kamera von einem militärischen Unterstand die Aliens abschießen will, auch trotz zunehmender Spannung, übersichtlich. Die Subtexte sind dagegen mannigfaltig: Da ist die andere große Metapher der Tierdressur, die sich unweigerlich auf Schauspielerinnen und Schauspieler übertragen lässt. Das Starsystem täuscht kaum drüber hinweg, dass unsere Idole wenig mehr als austauschbare Zirkustiere sind. Zentral stehen dabei die Rückblenden auf Parks Vergangenheit und das legendär horrende Massaker eines Schimpansen während einer Familien-Show. Reichlich Kopf-Futter für einen nur scheinbar kleinen Film.

Alcarràs - Die letzte Ernte


Spanien, Italien 2022 (Alcarràs) Regie: Carla Simón, mit Jordi Pujol Dolcet, Berta Pipó, Ainet Jounou, 120 Min., FSK: ab 6

Der Gewinner der diesjährigen Berlinale zeigt eine spanische Großfamilie am Rande einer Zeitenwende in einem lebendigen Sommer-Kaleidoskop. „Alcarràs - Die letzte Ernte" lässt drei Generation in authentischen Momenten feiern, streiten und kämpfen.

Das Wrack eines Renault R4 ist für die Kinder der Familie Solé ein fantastisches Raumschiff auf dem Weg zur Sonne ... bis eine monströse Maschine auftaucht: Ein Bagger klaut ihnen ihr „Spielzeug". Zuhause bei den Solés ist schon eine Nachricht angekommen, die mit dem Aufräumen des Baggers zusammenhängt. Seit 80 Jahren haben sie auf diesem Land Pfirsiche geerntet. Doch nun will der Großgrundbesitzer Pinyol dort eine Photovoltaik-Anlage errichten. Die Bauern müssen wegziehen. Dabei wurde Großvater Rogelio (Josep Abad) einst die Ländereien versprochen, weil er im Spanischen Bürgerkrieg die Familie der Pinyols im Keller versteckt und ihnen so das Leben gerettet hatte. Nur gibt es kein Dokument für diese Schenkung und der sich clever glaubende Pinyol Junior will sich nicht an alte Vereinbarungen erinnern.

In Aufregung und Ratlosigkeit macht der herrische, übermäßig strenge Solé-Sohn Quimet (Jordi Pujol Dolcet) weiter wie immer, treibt die ganze Familie zur anstehenden Pfirsichernte an. Sein Schwager Cisco interessiert sich derweil für das Angebot, für die Energie-Firma zu arbeiten, was zu weiteren Konflikten führt. Unter dem Streit der Brüder um die Zukunft leiden die kleinen, unzertrennlichen Kinder Iris, Pau und Pere, die nicht begreifen, weshalb sie nicht mehr miteinander spielen können. Der Senior Rogelio versucht es versöhnlich und bringt dem Enkel Pinyols die Früchte eines Feigenbaums, die seinem Großvater durch die Hungersnot halfen, um an das damalige das Versprechen zu erinnern.

Alcarràs ist ein kleines Dorf in Katalonien, wo die Familie der Regisseurin Carla Simón Pfirsiche anbaut. Für sie ist der Film „Alcarràs" „eine Hommage an die Widerständigkeit der letzten Familien von Landwirten, die in unserer westlichen Welt jeden Tag mehr vom Verschwinden bedroht sind. Eine Geschichte über die Verbundenheit mit dem Land, über Familienbeziehungen und die Spannung zwischen den Generationen, über die Notwendigkeit, Althergebrachtes zu überwinden, über die Bedeutung des Familienzusammenhalts in Krisenzeiten." Denn tatsächlich dreht sich überhaupt nicht alles in diesem schönen „Familienfilm" um den drohenden Abschied. Mit der harten Arbeit auf den Feldern, den Feiern, den Streits und sogar dem spürbaren Wetter bildet der Sommer von „Alcarràs" mit seinen vielen gleichzeitigen Stimmungen ein reiches Kaleidoskop des Lebens in mehreren Generationen. Die unbekümmerten Kinder finden immer wieder neue Spiele, die ältere Tochter übt für einen Tanzauftritt, der ungeliebte Sohn von Quimet lebt sich in wilden Partys aus und pflanzt heimlich Marihuana im Maisfeld.

Mit Laiendarstellern und der vertraut nahen Kamera von Daniela Cajías fängt Simón vor allem Lebensfreude ein. Und trotzdem ist „Alcarràs" eine große, schreckliche Parabel für Vergänglichkeit, wenn die Familie am Ende zusammensitzt und zusehen muss, wie der Bagger die Pfirsichbäume zerstört.

8.8.22

Der Engländer, der in den Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr


Großbritannien, Vereinigte Arabische Emirate 2021 (The Last Bus) Regie: Gillies MacKinnon, mit Timothy Spall, Phyllis Logan, Natalie Mitson, 86 Min., FSK: ab 12

In einem sehr rührenden Abschiedsfilm reist der 90-jährige Tom (Timothy Spall) per Bus vom Nordosten Schottlands bis zu „Land's End" im Südwesten Cornwalls, wo er vor 70 Jahren seine inzwischen verstorbene Frau Mary kennengelernt hat. Es ist eine Erinnerungsreise für den langsamen, aber energischen Mann. Und so begegnet er schon an der ersten Straßenecke seinem jüngeren Ich, das gerade mit Mary in die neue Wohnung zieht. Ankunft und Abschied in einer wundervollen Szene!

„Der Engländer, der in den Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr" reist nicht nur zurück auf der Straße seiner Erinnerungen, hin zu einem tragischen Ereignis, das uns lange vorenthalten wird. Die Fahrt auf einer Art 9-Euro-Ticket für Senioren, von einer Buslinie auf die andere, geht auch quer durch die Gesellschaft. Tom begegnet den unterschiedlichsten Menschen, grobe und mitfühlende, glückliche und tieftraurige. Der einsame alte Mann ist dabei selbst überraschend hilfsbereit und auch wehrhaft: Mal repariert er zum Staunen des Fahrers den Bus, dann bringt er einen jungen Mann davon ab, sich wegen Liebeskummers bei der Armee zu melden. Zwischendurch bevölkern Schafe einen Doppeldeckerbus, dann eine Gruppe junger Cheerleader. Eine Haltestelle ist ein Kunstwerk im Mondrian-Stil. Grandios, wie Toms Zivilcourage einen ganzen Bus solidarisch gegen einen betrunkenen Rowdy aufstehen lässt, der eine verschleierte Frau belästigt. Am Ende muss der Aggressor aussteigen. 

Im Gegensatz zu den skandinavischen Klamotten („Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand"), auf die der dumme deutsche Titel referiert, ist dieser Film von Regisseur Gillies MacKinnon („Ein Kind von Traurigkeit", „Marrakesch") stille Tragödie und Liebesfilm. Mit einer herrlichen Rolle für den großartigen preisgekrönten Schauspieler Timothy Spall („Spencer", „The King's Speech", „Mr. Turner"). Mit feinen Tönen trägt er diesen bewegenden Film, so wie das „Amazing Grace" seiner Figur mit leiser Stimme ein lautes Gesangsduell zwischen Fußballfans und Junggesellinnen-Abschied gerührt verstummen lässt.

Der Engländer, der in den Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr

3.8.22

Bullet Train


USA, Japan 2022, Regie: David Leitch, mit Brad Pitt, Sandra Bullock, Joey King, 152 Min., FSK: ab 16

Der Eröffnungsfilm des 75. Filmfestivals von Locarno ist mit Höchstgeschwindigkeit ins Kino gerast und unterhält mit ironischer Action in der Verfilmung des gleichnamigen Erfolgsromans von Kotaro Isaka. Brad Pitt gibt in „Bullet Train" einen friedliebenden Killer im Schnellzug voller Kollegen und Rachepläne.

Nein, ein Glückspilz ist dieser Auftragskiller (Brad Pitt) keineswegs – auch der Codename Ladybug, Marienkäfer, bremst die Pechsträhne nicht aus. Das Gegenteil vom üblichen coolen Killer, kommt er frisch vom Therapeuten, lehnt Pistolen ab und probiert im Nahkampf, dessen Weisheiten an den Mann zu bringen. Er will erst mal reden, aber ist damit der Einzige. Trotzdem hält sein „Handler" Maria Beetle (Sandra Bullock) zu ihm und hat einen neuen Auftrag: Er soll im schnellsten Zug der Welt, Japans Bullet Train, nur einen Aktenkoffer stehlen und dann an der nächsten Station wieder aussteigen. Doch dieser Zug, schnell wie eine „Kugel" (Bullet) wird bald zu einem Transportmittel voller Kugeln. Ein „Bullet Train" in anderer Hinsicht.

In den sechszehn Waggons, die in Höchstgeschwindigkeit durchs Land rasen und vor allen zum Ende hin Auflösungserscheinungen zeigen, befinden sich neben Ladybug noch mindestens fünf weitere Killer und eine Giftschlange. Wespe, Wolf, Tangerine, Lemon und Prince lauten die schillernden Namen und alle bekommen in kurzen, flotten Rückblenden zu japanischen Song-Covern ihre Vorgeschichte. Tarantino-mäßig gibt es in der ersten Hälfte mit den Einführungen skurril witzige Dialoge. Ein Killerpaar streitet sich über die Decknamen Lemon (Brian Tyree Henry) und Tangerine (Aaron Taylor-Johnson), sowie die Weisheiten von Lemon, der das ganze Leben mit seinen Erfahrungen aus der Kinderserie „Thomas, die kleine Lokomotive" betrachtet. Er verteilt auch Kinder-Sticker im Bullet Train, die auf einen mysteriösen Killer hinweisen. Genauso „nett" wie diese Gespräche sind Auflistungen von siebzehn blutigen Morden, klasse montiert zu einem luftigen Song. Auch der mexikanische Killer Wolf (Bad Bunny) bekommt eigentlich nur ein Song und eine Action-Einlage als Kurz-Auftritt.

Es ist schwer zu übersehen, dass Regisseur David Leitch von Stunt-Fach kommt. Er begann als Stuntman, Fight Choreographer und Stunt Coordinator, bevor er die Regie übernahm. „Fast and Furious Presents: Hobbs & Shaw", „Deadpool 2; Atomic Blonde" und „John Wick" (ohne Credits) sind seine bisherigen großen Regie-Erfolge. Die Action des erfahrenen Routiniers auf diesem Fach entwickelt sich in „Bullet Train" anfangs auf gezwungenermaßen engem Raum sehr raffiniert. Sogar im Stil des 9-Eurotickets ganz beengt auf zwei Sitzen in einem lauten Ruheabteil. Was wie alles Hauen und Stechen in „Bullet Train" auch immer sehr komisch abläuft. Humor, der schon in der Spannweite von blutrünstigen Killern zu „Thomas, die kleine Lokomotive" steckt. Alle Passagiere, die letztlich übrigbleiben, haben eine Verbindung zum Psychopathen White Death (Michael Shannon) aus Russland, der sich zum nicht nur in Japan gefürchteten Boss emporkämpfte. Und der wartet mit seiner japanischen Mafia am Zielbahnhof in der vorerst noch intakten alten Stadt Kyoto.

Channing Tatum hat einen grandiosen und scharfen selbstironischen Cameo-Auftritt. Sandra Bullocks wenig überraschende Erscheinung am Ende ist hingegen eher lahm. Brad Pitt spielt seinen Ladybug, der durch eine Existenzkrise geht, mit dem bekannten Mix aus Lässigkeit und Verwirrtheit. Der Ansatz, seinen Job in Ruhe und Frieden zu erledigen, hat in diesem Metier viel komödiantisches Potential. Am Ende trifft der sanfte Killer sogar auf jemandem, der ihn versteht und die japanische Erklärung für sein Codenamen Ladybug liefert, denn der Marienkäfer ist da kein Glücksbringer. Der „Tentomushi" trage mit seinen sieben Punkten die sieben Sorgen der Menschen auf seinem Rücken. Doch ernst zu nehmen ist in „Bullet Train" nichts, selbst die Auflösung des großen Puzzles wird sofort ironisch und mit dem nächsten lauten Knall gebrochen.

Ein fahrender Zug wird immer gerne als Möglichkeit gesehen, die Beteiligten einzuschließen und die Handlung zu komprimieren - siehe „Mord im Orientexpress" oder ganz modern „Snowpiercer". Der Metapher der Gesellschaft kann man hier allerdings ganz vergessen, der Spaß an raffinierter Action hat Vorfahrt. „Bullet Train", der Film zum 9 Euro-Ticket, ist mit einem fast leeren Zug und viel Spaß darin eine völlig unrealistisches und großes Action-Vergnügen.

1.8.22

Guglhupfgeschwader


Deutschland 2022, Regie: Ed Herzog, mit Sebastian Bezzel, Simon Schwarz, Lisa Maria Potthoff, 97 Min., FSK: 12

In der achten Rita Falk-Verfilmung um den niederbayrischen Dorfpolizisten Franz Eberhofer (Sebastian Bezzel) muss dieser eine Kriminalgeschichte, Beziehungsprobleme und Freundschaftsbelastungen lösen: Seine Freundin Susi (Lisa Maria Potthoff) will Paartherapie, vielleicht kommt es da ganz gut, dass mafiöse Geldeintreiber den Laden von Lotto-Otto (Johannes Berzl) in die Luft jagen und es ein Todesopfer gibt. Während Franz Otto versteckt, vermutet das ganze Dorf außer Susi, dass da „mal was mit Ottos Mutter war". Bevor der alte Bromance-Kumpel und Kaufhausdetektiv Rudi (Simon Schwarz) mit in die Ermittlungen eingreift, schäumt reichlich Eifersucht wegen dessen neuer Flamme auf, der esoterischen Theresa (Stefanie Reinsperger) mit dem großen Herzen. Zu aller Aufregung in Niederkaltenkirchen gesellt sich auch noch ein dicker Lotto-Gewinn mit verschwundenem Lotto-Zettel.

Nach den Erfolgen von „Sauerkrautkoma", „Leberkäsjunkie" und „Kaiserschmarrndrama" setzt Ed Herzog seinen Region-Krimi für Das Erste weiter im Kino fort. Es gibt ein Wiedersehen mit dem bekannten Personal, das ganz groß ins (Fernseh-) Bild geholt wird, Boulevard-Verquickungen mit etwas Kriminalgeschichte und Humor zwischen seltenem Schmunzeln und groben Schenkelklopfern. Wenn gleich zweifach reihenweise Slangbegriffe für Sexualverkehr konjungiert werden, wirkt das eher pubertär befremdlich als eigenwillig reizvoll. Im Gegensatz zu anderen Regionalkrimis wie den schwarzhumorigen Österreicher Brenner-Krimis von Wolf Haas mit einem genialen Josef Hader in der Hauptrolle, bleibt es im Niederbayrischen mit dem Lokalkolorit provinziell. Es gibt nicht die großen Gedanken, keine Ausbrüche aus den erzählerischen Konventionen. Da ist die Eberhofer-Reihe viel eher auf dem Niveau einer TV-Reihe wie der alte Eifler „Mord mit Aussicht" mit Caroline Peters als Kommissarin Sophie Haas. OK fürs Fernsehen, aber deplatziert im Kino.