26.2.19

Asche ist reines Weiß

VR China, Frankreich, Japan 2018 (Jiang hu er nü) Regie: Jia Zhang-Ke, mit Zhao Tao, Liao Fan, 150 Min.

Jia Zhang-Ke stammt aus der Chinesischen Volksrepublik und ist nicht nur wegen seiner Festival-Erfolge „Still Life" (Goldener Löwe Venedig 2006) und „A Touch of Sin" (Bestes Drehbuch Cannes 2013) ein international angesehener Regisseur. Er erzählt öfters in Episoden, aber immer taumeln seine Figuren im raschen Wandel Chinas. „Still Life" spielte zum Beispiel vor dem Hintergrund des größten Staudamm-Projekts der Welt, für das zahllose Menschen umgesiedelt wurden.

Nun ist Qiao (gespielt von Zhang-Kes Ehefrau Zhao Tao) Fixpunkt in drei Epochen: Als junge, resolute Frau liebt sie 2001 Bin, einen lokalen Gangster in einer Bergbau-Region im Norden Chinas (aus der Zhang-Ke selbst stammt). Qiao ist eine richtige Nummer, tanzt, säuft, kümmert sich um ihren Gangster und den alten Vater. Ihr Dorf ist im Niedergang, weil sich die Menschen nicht damit abfinden wollen, dass die Kohle keine Zukunft mehr hat. Bei einem Angriff von jüngeren Gangstern, die den alten König Bin stürzen wollen, rettet sie ihn mit einer Pistole und muss dafür fünf Jahre in Haft.

Nach der Entlassung 2006 taucht Bin nicht auf. Er hat nicht nur eine neue Frau, sondern ein ganz neues Leben in einer großen Stadt: Aus Gesetzlosen sind Unternehmer geworden. Doch Qiao wird überall abgewiesen und kann sich nur mit Tricks und Diebstahl in die Heimat zurückschlagen. Dorthin wird sie auch zwölf Jahre später Bin bringen, der mit verletztem Wirbel nicht mehr gehen kann.

Beeindruckend sicher inszeniert, packt „Asche ist reines Weiß" ohne lautes Drama. Deutlich werden die dokumentarischen Tendenzen des Regisseurs, sein zwölfter Film zeigt nicht nur nebenbei den Wandel Chinas auf. Bei Qiaos Entlassung läuft der Drei-Schluchten-See gerade voll und versenkt alte Sehenswürdigkeiten. Auch wenn Jia Zhang-Ke einem breiten Publikum noch nicht bekannt sein sollte, „Asche ist reines Weiß" erweist sich als ein weiteres bemerkens- und sehenswertes Werk.

Ein königlicher Tausch

Frankreich, Belgien 2017 (L'Echange des Princesses) Regie: Marc Dugain, mit Lambert Wilson, Anamaria Vartolomei, Olivier Gourmet, Catherine Mouchet 100 Min.

Frieden machte man früher nicht mit Abrüstung, man verheiratete. So ein besonderer Fall grenzüberschreitender Frieden-Verbindungen ergab sich 1721 zwischen Frankreich und Spanien nach zwölf Jahren Krieg und Millionen von Toten.

Regent Herzog Philipp von Orléans (Olivier Gourmet) will den elfjährigen französischen König Ludwig XV. mit der erst vier Jahre alten Tochter des spanischen Königs (Lambert Wilson), Infantin Maria Anna Victoria, verheiraten. Im Gegenzug soll die Tochter Philipps, die zwölfjährige Louise Elisabeth, die Gemahlin des jungen spanischen Thronfolgers Don Luis werden. Der Austausch der beiden Prinzessinnen findet auf einer Insel an der Grenze zwischen beiden Ländern statt.

Den steifen Formalien sucht vor allem die lebenslustige Tochter des Regenten zu entkommen. Doch Don Luis spürt zwar die Erregungen eines Jünglings, weiß aber nichts damit anzufangen. Derweil begeistert in Frankreich die kleine Infantin als Püppchen, das allerdings „erst" in zehn Jahren die Ehe vollziehen kann. Seine Höflinge versuchen Ludwig von den Vorzügen der Jagd und der Liebe unter Männern zu überzeugen.

Es ist überdeutlich, wie wenig die Kinder und Jugendlichen miteinander anfangen können. Der Thronfolger bespricht die scheinbar verbreiteten Probleme mit zu jungen Gattinnen bei der Jagd mit den Kumpels vom Adel. Nachdem in beiden Ländern die Thronfolge schneller als geplant eintritt, gibt es schnelle Anatomie-Nachhilfe.

Der vertraute Dardenne-Darsteller Olivier Gourmet zeigt im Kostüm des Regenten von Frankreich ein anderes eindrucksvolles Gesicht. Lambert Wilson hingegen, agiert als lustvoller und sich selbst kasteiender Philipp V. reichlich übertrieben. Über allem schwebt immer eine Ahnung von den Schrecken der kaum beendeten Kriege.

Nach dem Roman von Bestsellerautorin Chantal Thomas („Leb wohl, meine Königin!") inszeniert Marc Dugain diese Fußnote der Geschichte wie einen typischen Kostümfilm mit einem Hauch von Realität bei der spürbaren Länge der Entfernungen über matschige Waldwege, mit einem „Stuhlgang" direkt bei Tische. Dass die vier Kinder kein eigenes Leben haben können, wird deutlich. Doch ist das jetzt wirklich interessant? Oder relevanter als die heutige Hofberichterstattung? Müssen wir uns wirklich um eine Maggie oder Meghan sorgen? So bleibt „Ein königlicher Tausch" ein hübsches, dekoratives Kostümbild ohne Nachwirkung.

The Hate U Give

USA 2018 Regie: George Tillman jr., Amandla Stenburg, K. J. Apa, Sabrina Capenter, Algee Smith Issa Rae, Regina Hall 133 Min. FSK ab 12

Erinnern Sie sich auch daran, wie Sie als kleines Kind zuhause lernten, wie man eine Polizei-Kontrolle überlebt? Im Auto die Hände aufs Amaturenbrett legen, nicht widersprechen, keine hastigen Bewegungen ... Nein? Glück gehabt, dann sind Sie nicht als dunkelhäutiger Mensch in einer Gegend aufgewachsen, in der weiße Polizisten erst schießen und dann fragen. „The Hate U Give" vermittelt auf ungemein ergreifende Weise mit der sagenhaften Hauptdarstellerin Amandla Stenberg etwas vom Leben und Sterben in afro-amerikanischen Vierteln der USA.

Der Schock, zu sehen, wie ihr bester Freund Khalil bei einer Verkehrskontrolle aus heiterem Himmel von einem weißen Polizisten erschossen wird, trifft die 16-jährige Starr Carter (Amandla Stenberg) wie ein Donnerschlag. Obwohl sie vom Vater eindringlich die Gefahr dieser Situationen erklärt bekam. Der Teenager lebte bislang zwei Rollen: Auf der hauptsächlich weißen, guten Privatschule vermeidet sie alles, um mit der heimatlichen Brennpunkt-Gegend Garden Hights in Verbindung gebracht zu werden. Nach dem Mord an Khalil müsste sie als einzige Zeugin ihr heimliches Privatleben für die Gerechtigkeit ablegen und öffentlich aussagen. Mit dem Risiko von Drohungen aus der Dealer-Szene und der Gefahr einer besonderen Polizei-„Beobachtung".

Basierend auf dem Bestseller „The Hate U Give" von Angie Thomas adressiert der erfahrene Regisseur George Tillman jr. („Men of Honor") das brennende Problem unfassbar vieler junger schwarzer Opfer von weißer Polizeigewalt in den USA. Das gleiche Thema wie im ähnlich eindrucksvollen „Nächster Halt: Fruitvale Station" von Ryan Coogler. Doch wie im Jugend-Roman von Thomas nimmt „The Hate U Give" die Perspektive eines Teenagers ein, erzählt gradlinig und erschütternd.

Vor allem Amandla Stenberg („The Darkest Minds") in der Rolle der Starr ist grandios: Zuerst, wie sie die beiden Welten in sich verkörpert. Dabei die kluge, wache Reflektion über ihre eigene Situation sichtbar macht. Dann der „Ausbruch" der brav Angepassten gegenüber einer rassistischen weißen Freundin mit deutlicher Körperhaltung „aus dem Ghetto". Was die Mitschüler völlig schockiert. Das Gesicht mit Angst und Mut gleichzeitig.

„The Hate U Give" ist nicht einer dieser Gangster- und Ghetto-Filme, in denen schnell gemordet wird und dann ein paar zerdrückte Tränchen folgen. Selbst die in Unruhen und Plünderungen umschlagenden Proteste sind wie aus Starrs Blick mit einem vorsichtigen Abstand beobachtet. Um sie herum einige erschütternde Geschichten und sehr dichte Dialoge, die vom Leben in der Falle des eigenen vernachlässigten Viertels und von die Verführung schnellen Geldes erzählen. Nicht nur die dramatische Schlüsselszene am Ende prägt sich tief ein. Hier wurde mit exzellentem Ensemble und sicherer, zurückhaltender Inszenierung eine starke und packende filmische Mahnung ausgesprochen.

25.2.19

Wie gut ist Deine Beziehung?

BRD 2018 Regie: Ralf Westhoff, mit Friedrich Mücke, Julia Koschitz, Bastian Reiber 111 Min.

Das Leben ist eine Prüfung! Denken zumindest die beiden Rotznasen von der Unternehmensberatung, die das Software-Unternehmen von Steve (Friedrich Mücke) prüfen. Da dessen befreundeter Kollege Bob (Bastian Reiber) gerade durch seine Freundin verlassen wurde, lässt Steve vor lauter Unsicherheit mittels eines charmanten, älteren Tantra-Lehrers (Michael Wittenborn) testen, wie es mit der Treue von seiner Carola (Julia Koschitz) steht. Solche dummen Ideen kennt man von Buch, Bühne und Oper, besonders schön in Mozarts „Così fan tutte".

Was solche Tests letztlich mit der Beziehung anstellen, ist immer wieder ein spannendes Experiment. Nach dem schönen und sensiblen Spaß um alte und junge Wohngemeinschaften „Wir sind die Neuen" (2014) gelingt Autor und Regisseur Ralf Westhoff auch diese frühe Midlife-Crisis „Um die 30": Die Dialoge sind alltagstauglich, aber trotzdem witzig („Kein Mensch ist um diese (Morgen-) Zeit glücklich"), die Figuren glaubhaft gut gespielt. Die Metapher mit der Unternehmensberatung, die Stefans Vertrauen für die Tests genauso missbrauchen wir er das von seiner Carola, wird etwas zu deutlich. Letztlich erweist sich „Wie gut ist Deine Beziehung?" für das Genre der deutschen Romantischen Komödie recht gelungen und leicht unterhaltsam.

21.2.19

Hard Powder

Großbritannien 2018 (Cold Pursuit) Regie: Hans Petter Moland, mit Liam Neeson, Laura Dern, John Doman 119 Min. FSK ab 16

Nach dem furchtbaren Remake von „Ziemlich beste Freunde" beweist „Hard Powder", dass es immer schlimmer geht: Hans Petter Moland dreht seinen norwegischen Action-Spaß „Einer nach dem Anderen"in den USA neu, anstelle von Stellan Skarsgard dreht nun Liam Neeson durch und der Witz der Inszenierung ist komplett weg.

Die Story ist so schnell weggeräumt wie ein Schauer nassen Schnees im April: Als der Sohn des Schneepflugfahrers Nels Coxman (Liam Neeson) bei Drogengeschäften unbeteiligt umgebracht wird, rächt sich der angesehene Bürger Coxman. Vom Dealer bis zum Boss erlegt und versenkt er die komplette Organisation. Im Rocky-Skiort Kehoe löst das einen Bandenkrieg und eine Leichen-Lawine aus.

Hans Petter Moland ist ein extrem flexibler Regisseur. Gerade zeigte er auf der Berlinale die einfühlsame, historische Vater-Sohn-Geschichte „Pferde stehlen" mit Stellan Skarsgard in der Hauptrolle. Zwei Jahre vorher, ebenfalls bei der Berlinale lief der herrlich makabre Schneeflug-Thriller „Einer nach dem Anderen" mit vielen Blutspritzern auf winterlichem Weiß und wieder mit Skarsgard. Nun nahm Moland selbst die Neuauflage in die Hand, ein Sonderfall der meist traurigen Remake-Geschichte, in der mit „Der Mann, der zuviel wusste" (1934 / 1956) auch ein doppelter Hitchcock vorkommt.

Direkt fällt auf: Im Remake ist der Schnee drastisch viel höher als im Original. Während Skarsgard mit mörderischer Lakonie die Gangster-Organisation auslöschte, ist Liam Neeson nun als vertraute Action-Figur ernst und verbissen. Stilisierte Härte ersetzt den originellen Stil, der brave Bürgerlichkeit mit plötzlichen und heftigen Gewaltausbrüchen kombinierte. Der Humor ist komplett weg, die Nebenfiguren sind uninteressanter, aus den dealenden Serben wurden Indianer. Laura Dern taucht völlig unnötig als typisches Trauerweib auf. Es bleibt vor allem erstaunlich, wie viel schlechter ein scheinbar so simpler Genrefilm mit ein paar Veränderungen werden kann. Hier kann man sich nur mit dem Original amüsieren.

19.2.19

Die Winzlinge - Abenteuer in der Karibik

Frankreich, China 2018 (Minuscule 2: Les mandibules du bout du monde) Regie: Hélène Giraud, Thomas Szabo 92 Min. FSK ab 0

Nach der Sensation des ersten „Winzlinge"-Films vor fünf Jahren ist auch die Fortsetzung wieder ein begeisterndes Marienkäfer-Epos mit großen Gefahren, Romantik und Ökologie. Die Abenteuer der recht lebensecht animierten Insekten in realen Welten sind ein umwerfender Spaß für groß und winzig.

Seit dem ersten Film sind sie befreundet und so verwundert es nicht, dass der Marienkäfer der Ameise zu Hilfe kommt, als diese in einer Kastanienmus-Fabrik in die Klemme gerät. Aber am Ende steckt der Marienkäfer-Nachwuchs in der Lieferung für eine Karibikinsel. Papa und die Ameise düsen auf den irrwitzigsten Weisen hinterher. Da geht es vom Fliegenden Holländer in den Bauch des Hais.

Es ist unglaublich, wie verrückt und witzig diese Winzlinge funktionieren: Sie sprechen nicht, sondern brummen, was genauso komisch ist. Zwar ist beeindruckend, was die alle heben, tragen und auffangen, aber echt der Hammer ist, was sie an atemberaubenden Filmszenen hinlegen. Da gibt es eine Verfolgungsjagd mit fiesen Fliegen durch die Wälder wie in „Star Wars". Vor allem die Ameise hangelt sich akrobatisch wie ein Agent durch alle brenzligen Momente. Selbst die klassische „Mission Impossible"-Szene, einen Flieger noch Last Minute auf der Startbahn zu entern, kommt vor. Und wie bei Bond & Co. geht es um die ganze Welt.

Bei der abenteuerlichen Rettungsaktion fliegt ein Segelschiff-Modell an Luftballons übers Meer. Kapitän ist eine Spinne mit iPod und Musikgeschmack. Ja, auch die „Ausstattung" der kleinen Welt mit den Resten der Konsumgesellschaft ist wieder wunderbar. Dabei sorgen die Regisseure Hélène Giraud und Thomas Szabo nicht nur im Minutentakt für tolle Szenen, selbst die Kadrierung der kleinen Helden hat eigenen Bildwitz. Und so einfach sie gezeichnet sind, sie haben ganz schön viel Charakter.

Als der Nachwuchs im Karibik-Urwald landet, begegnet er vielen Gefahren, kann sich aber mit seinen giftgrünen Pupsern herrlich verteidigen. Dabei sieht selbst die Tarantel komisch aus und können Gottesanbeterinnen schön dumm kucken. „Die Winzlinge 2" begeistert mit reihenweise grandiosen Szenen und großartigen kleinen verrückten Ideen. Das muss unbedingt fortgesetzt werden...

Can You Ever Forgive Me?

USA 2018 Regie: Marielle Heller mit Melissa McCarthy, Richard E. Grant, 107 Min. FSK ab 0

Nach dem großartigen „The Diary of a Teenage Girl" begeistert Regisseurin Marielle Heller nun mit dem Porträt einer 50-jährigen Fälscherin. Melissa McCarthy brilliert befreit vom Ulknudel-Image in einer wunderbaren Charakterrolle.

Ihre alten Biografien über Katherine Hepburn oder Estée Lauder stehen selbst beim Antiquar auf dem Ramschtisch, ihre Ideen für neue interessieren keinen, weil die Persönlichkeiten niemand mehr kennt. Lee Israel (Melissa McCarthy) ist 1991 in New York ganz unten angekommen und bekommt von ihrer Agentin gesagt: „Du kannst ein Arschloch sein, wenn du berühmt bist". Auch bei der Party mit lauter Autoren kann niemand mehr etwas mit der Biografin anfangen. Aber wenigstens zwei halbe Rollen Toilettenpapier und einen warmen Wintermantel kann Lee Israel dort abstauben.

Die 50 jährige Frau, die Katzen mehr mag als Menschen, kann die Miete für ihr stinkendes Drecksloch nicht mehr zahlen, als sie zufällig den Wert signierter Briefe berühmter Autoren entdeckt. Nun lebt sie ihr literarisches Talent in kurzen Nachrichten von Dorothy Parker oder Noel Coward aus. Zum wunderbaren Brummen der elektrischen Schreibmaschine, dem Soundtrack ihrer Schreibblockade, gesellen sich andere Typographen für die jeweiligen Schreib-Epochen. Der Autorin ohne Freunde ist dabei ihr schwuler Zufallsbekannter Jack (Richard E. Grant) behilflich, der mit der gleichen besoffenen Arroganz auf der Straße gelandet ist.

Es ist unglaublich wohltuend, Melissa McCarthy nach furchtbaren Ulknudel-Klamotten wie „Spy - Susan Cooper Undercover" oder „How to Party with Mom" hier als wirklichen Charakter zu sehen. Tatsächlich befolgt Lee Israel irgendwann den Rat der Agentin, ein netterer Mensch zu werden und ein sauberes Hemd anzuziehen. Das Trinken aufzugeben, wäre allerdings zu viel verlangt. „Can You Ever Forgive Me?" entwickelt sich irgendwann zu einer kleinen Gangster-Geschichte, weil das FBI hinter einer Serie von Brief-Fälschungen her ist. Aber vor allem der Mensch-Werdung der empfindlichen und einsamen Autorin folgt man gerne. Lee Israel ist, wie sie selbst sagte, keine Dorothy Parker, aber auch ohne die lauten, unflätigen Töne ein sehr interessanter Charakter. Dass Marielle Heller aus den Memoiren der Leonore Carol Israel (1939-2014) so einen schönen Film machte, bestätigt posthum die Kommentare aller Bekannten: Du solltest mal etwas über dich selber schreiben.

18.2.19

Der verlorene Sohn (2018)

USA 2018 (Boy erased) Regie: Joel Edgerton mit Lucas Hedges, Nicole Kidman, Russell Crowe, Joel Edgerton 115 Min. FSK ab 12

Ein junger Schwuler gerät in die Fänge der Kirche und man will dieses Übel nur noch ausmerzen, verdammen und ein für alle mal von der Erdoberfläche verschwinden lassen. Also die Kirche, selbstverständlich. Doch statt einen klaren Standpunkt gegen kirchliche Verwirrung, Gehirnwäsche und Unmenschlichkeit einzunehmen, sucht „Der verlorene Sohn" größtenteils nach Erklärungen und Verständnis. Nun muss man die Religiösen nicht direkt verbannen, aber man muss diesen Wahnsinn auch nicht verstehen wollen.

Anhaltendes Kopfschütteln begleitet die Geschichte des neunzehnjährigen Jared (Lucas Hedges), der in einem Priester-Haushalt in den amerikanischen Südstaaten aufwächst. Als er, seiner Homosexualität noch nicht ganz sicher, von einem Kommilitonen vergewaltigt wird, drängt ihn der orthodoxe Vater (Russell Crowe) zur Teilnahme an einer fragwürdigen Reparativtherapie (Conversion Therapy). Dahinter stehen Gehirnwäsche, Psychoterror und Foltermethoden mit dem absurden Ziel, Homosexualität austreiben zu können.

In einem unheimlichen Klima beobachtet Jared, als Mensch, der noch etwas Verstand beisammen hat, zweifelnd die brutalen, menschenverachtenden Methoden. Die jungen Menschen sollen ihre Eltern und andere Verwandte anschwärzen, sadistische und brutale Praktiken gipfeln in Prügel und Folter im Namen Gottes. Bis sich ein Zögling umbringt. Doch es dauert lange, bis der stille, nachdenkliche junge Jared rebelliert. Seine Befreiung bedarf erst einer aufgeklärten Handlung der Mutter (Nicole Kidman).

„Der verlorene Sohn" wirkt zwiespältig: Will man sich einen Film voller verbrämter, engstirniger und vorurteilsvoller Menschen ansehen, wo es doch auch gutes Coming Out in Umgebungen mit liebevollen, klugen Menschen gibt. In André Téchinés „Siebzehn" beispielsweise oder im wunderbaren „Call me by your name" von Luca Guadagnino. Da muss nicht das Gespräch mit dem Vater, der endlich mal erwägt, ob er einen schwulen Sohn akzeptieren könne, am Ende stehen. Allerdings ist diese unfassbare „Conversion Therapy" tatsächlich noch in 36 US-Staaten erlaubt und hat bislang mehr als 700.000 Menschen schwer geschädigt.

So muss man „Boy erased" - der deutsche Titel „Der verlorene Sohn" vergreift sich dumm im Biblischen - als Memoiren von Garrard Conley ernst nehmen und muss man enthüllen, dass „Conversion Therapy" gefährlicher Blödsinn ist. Auch wenn der Film alles eher grob zeichnet. Der schwächliche Dicke, der engelsgleiche Schwule, der Besessene mit den dunklen Augenrändern, sie sind alle überdeutlich in ihrer Funktion gekennzeichnet. Joel Edgerton überzeugt als homophober Sekten-Führer Victor Sykes, der in der Realität zum Schwulen konvertierte.

Der Goldene Handschuh

BRD, Frankreich 2019 Regie: Fatih Akin mit Jonas Dassler, Margarethe Tiesel, Katja Studt, Martina Eitner-Acheampong, Hark Bohm 110 Min. FSK ab 18

„Ab 18" ist ein hartes Urteil, selbst für einen harten Film nach einem harten Stoff. Doch die Verfilmung des Romans „Der Goldene Handschuh" von Heinz Strunk ist nicht nur in der Behandlung des (weiblichen) Körpers schwer erträglich drastisch, die Darstellung von Randgestalten der Gesellschaft geriet auch gegen die Absichten aller Beteiligten sehr menschenverachtend. So ist der neue Fatih Akin erschreckend und in mehrfacher Hinsicht „Horror".

Fritz „Fiete" Honka sieht bucklig mit krummer, warziger Nase, faulen Zähnen, schiefem Blick und schrägen Gesicht nicht nur aus wie ein Monster, er brachte Anfang der 70er-Jahre in Hamburg auch vier Frauen um und versteckte einige der zerstückelten Leichen monatelang in seiner Dachwohnung. Hinweise der Nachbarn auf den Gestank blieben ohne Folgen.

Der Reiz des „Milieus", der Schilderung der Menschen in St. Pauli und vor allem von Honkas Stammkneipe „Der Goldene Handschuh", machte das Buch des vielseitigen Autoren und Satirikers Heinz Strunk („Fraktus") interessant. Nun taucht Fatih Akins Film detailverliebt in diese historischen Szenen ein, den Ausstattern und dem Auge ist das noch eine Freude. Auch die Wohnung des Mörders wurde nach Polizeifotos rekonstruiert. In diesen Kulissen tummeln sich die fertigen Typen, Säufer, Vergessene und Verlorene. Als Heimat und Sammelbecken dient ihnen der „Goldene Handschuh". Auf der Suche nach ein wenig Zuneigung und Liebe nehmen sie viel in Kauf. Doch Fritz Honka (Jonas Dassler aus „Das schweigende Klassenzimmer", „Werk ohne Autor") wird selbst hier von den alten Frauen verachtet. Rache nimmt der einsame Mann dann in seiner Wohnung. Nicht erst die brutalen Taten sind schockierend, sein ganzer Umgang, jedes Wort ist verächtlich. Während die meisten Frauen sich das gefallen lassen, kommen sie in der meist widerlichen Darstellung der Elenden noch mit etwas Würde weg.

Es sollte wahrscheinlich kultig und komisch sein, dabei dann auch noch menschlich. Doch vor allem im letzten Punkt scheitert Fatih Akin bei der Darstellung der Figuren von Strunk. Gerade der Hamburger Akin, der so gelungene Milieu-Filme wie „Soulfoud Cafe" hingelegt hat. Lachen kann man hier nur unter der Bedingung vorheriger Abstumpfung. Zum Deko-Kult um verräucherte Buden sowie Schlaghosen und bunte Hemden aus Plastik gehören die deutschen Schlager: Adamos „Es geht eine Träne auf Reisen" ist so etwas wie der sarkastische oder ironische Titelsong, aber diesem furchtbaren optischen und menschlichen Gemetzel sollte man keine Träne nachweinen.

Mein Bester & Ich

USA 2017 (The Upside) Regie: Neil Burger mit Bryan Cranston, Kevin Hart, Nicole Kidman 126 Min.

Das ziemlich bescheuertste Remake ist dies noch nicht, dafür sorgt Til Schweiger in einem Monat mit „Head full of Honey", der amerikanischen Version von „Honig im Kopf". Doch auch die Hollywood-Nachmache des französischen Hits „Ziemlich beste Freunde" ist ziemlich unnötig und peinlich.

Eigentlich ist alles so gleich nachgemacht, dass man dem Nachbau von „Ziemlich beste Freunde" nur als Auswuchs von dummen Nationalismus bezeichnen kann: Der vorbestrafte Schwarze Dell (Kevin Hart) landet bei der Jobsuche in der Welt des querschnittsgelähmten, weißen Milliardärs Philip (Bryan Cranston) und wird vom unzuverlässigen Hallodri zum Freund und Quell neuer Lebensfreude.

Selbst wenn man den naiven Sozial-Kitsch des rätselhaft erfolgreichen Originals akzeptiert, hier heißt es: Wiedersehen macht ärgerlich! Gleich ganze Szenen wurden mit us-amerikanischen Schauspielern in New York nachgedreht: Von Dells Raserei mit einem protzigen Penisverlängerungs-Automobil, die gegenüber den Polizisten als medizinischer Notfall für Philip auf dem Beifahrersitz ausgegeben wird, über die Geburtstagsparty im Millionärs-Gebäude, die durch Dells Pop-Musik aufgemischt wird. Dass der Umgang von Schwarz und Weiß in den USA ein ganz anderer als in Frankreich ist, wurde geflissentlich übersehen und in den USA heftig kritisiert. Gleiches gilt für den Gegensatz arm und reich.

Besonders rätselhaft am ganzen Konstrukt ist die Besetzung mit Kevin Hart, der aktuell als Abschaffer der Oscar-Moderation bekannt ist. Der Blödel-Komödiant („Night school", „Jumanji", „Die Trauzeugen AG") hat nur einen Bruchteil der Ausstrahlung von Omar Sy aus dem französischen Original. Dies mag eine von Harts besseren Schauspiel-Leistungen sein, sie ist immer noch unangenehm grob und klamaukig. Bryan Cranston kann mehr und zeigt in seiner auf den Kopf beschränkten Rolle auch zeitweise etwas davon. Nicole Kidman erstaunt als Philips Assistentin und heimliche Liebe Yvonne Pendleton wieder mit der einmaligen Fähigkeit, völlig unterschiedliche Filme mit den immer gleichen Gesichtsausdrücken vereisen zu lassen.

Der Sinn solcher dummer Nachbauten ist angesichts derartiger Remake-Unfälle fraglicher denn je: Sind wir wirklich nicht in der Lage, Geschichten von Menschen in anderen Ländern mit anderen Sprachen zu folgen? Sind wir so ignorant, dass wirklich alles immer so aussehen muss, wie bei uns vor der Haustüre? „Mein Bester & Ich" kann man am besten mit der kommenden Til Schweiger-Katastrophe „Honey" in einen Sack schmeißen und irgendwo vergessen.

Vice

USA 2019 Regie: Adam McKay mit Christian Bale, Amy Adams, Steve Carell, Sam Rockwell 132 Min.

„Vize-Präsident, das ist doch der Mann, der rumsitzt und wartet, bis der Präsident stirbt." Eigentlich sind sich Lynne und Dick Cheney, eine Art us-amerikanisches Macbeth-Paar, einig. Diesen Job will der Hinterzimmer-Politiker Cheney nicht annehmen, nachdem er schon unter Nixon sowie Reagan gearbeitet hatte, und auch die Sympathien von Papa Bush genoss. Doch der alte Taktiker wittert seine Chance, als Bush Jr. Hilfe braucht. Wie man das politische System der USA von innen heraus aushebeln kann, hat Cheney schon Jahre vorher geplant.

Und so kommt 2001 mit den Anschlägen des 9/11 sein großer Moment. Zuerst ordnet er ohne Genehmigung des Präsidenten Bush das Abschießen von Passagier-Flugzeugen an. Dann startet auf seine Initiative der Überfall auf Afghanistan und später den Irak. Allein der letzte, auf einer Lüge („Massenvernichtungswaffen") basierende Krieg, kostete 600.000 Menschen aus dem Irak das Leben. Zehntausende mehr starben durch den IS, laut „Vice" eine direkte Folge der weltpolitischen Interventionen Cheneys.

Diese Karriere eines Massenmörders kommt nun keineswegs moralisch oder stockernst daher. „Vice" erzählt Politik mit wilder Montage wie sein italienischer Seelenverwandter „Il Divo", von Paolo Sorrentino über Giulio Andreotti, nur etwas weniger schrill. Hauptdarsteller Christian Bale scheint den Clip-Stil von seinem „American Psycho" mitgebracht zu haben. Da springen Comics und die Jagd der Löwen aus einem Tierfilm ins Bild. Das Fliegenfischer-Hobby Cheneys ist nicht nur Anekdote, es beschreibt bestens den geduldigen Charakter des abwartenden Politikers. Und wunderbar seine Taktik, wenn er den jüngeren Bush am Haken hat und sich die Vize-Präsidentschaft sichert.

„Hab Acht auf den ruhigen Mann. Während andere sprechen, schweigt er. Während andere handeln, plant er. Und wenn sie endlich ruhig sind, schlägt er zu." So lautet eine passende Text-Einblendung zum schlechten Studenten und Sportler, der als opportunistischer Schleimer unter Vize-Präsident Donald Rumsfeld erst groß raus kommt. Hier ist die Frage des Praktikanten Cheney, woran wir denn eigentlich glauben würden, ein großer Lacherfolg bei Rumsfeld. Und vor der Tür von Nixon und Kissinger bekommt man ein schauerliches Bewusstsein von der mörderischen Macht über das Leben ganzer Dörfer und Länder, dass Cheney scheinbar sehr reizt.

Was „Vice" mit allen seinen hervorragend gespielten, faszinierenden Charakterzeichnungen besonders spannend macht, ist die Rolle von Cheneys eiskalter Frau Lynne (Amy Adams) als treibende Kraft. Wenn Regisseur und Autor Adam McKay den Film mal wieder mit der eigenen, ungewöhnlichen Form spielen lässt und sagt, dass man eigentlich nicht weiß, was im Schlafzimmer der Cheneys besprochen wird, dann gibt es stattdessen deftigen Macbeth in Versen, die zukünftige Verschwörungen feiern. Und der Plan der Grauen Eminenz ist ebenso ruchlos: Er wartet Jahrzehnte auf die Lücke in der Verfassung, die ihn gegen alle demokratischen Prinzipien an die Macht lässt.

Das ist als keineswegs trockener Polit-Spielfilm zwar ein anderes Genre, arbeitet aber zusammen mit Michael Moore an der Analyse der Republikanischen Präsidentschaften. Der Unterschied liegt im personalisierten Schurken als Quell allen Übels, der jedoch wieder eine Blaupause für die Auflösung demokratischer Regeln durch Präsident Trump liefert.

In kurzen Momenten zeigt „Vice" erschreckend, was diese Machtspielchen für Menschen in Korea oder dem Irak bedeuten. Zu diesen Menschen gehören auch die Täter, die US-Soldaten. Womit wir beim überraschenden Erzähler wärem, einem Soldaten, der … aber diese besonders zynische Fußnote der Geschichte soll nicht verraten werden. Sie wird aufgelöst in der menschelnden Schlusssequenz, die parallel zu Cheneys Herz-OP eine Montage seiner Herzlosigkeiten zeigt. Bis hin zum Opfer der eigenen lesbischen Tochter Mard für den konservativen politischen Erfolg der anderen, Liz.

Die Politik-Geschichte eines unscheinbaren Mannes, der hinter vier republikanischen Präsidenten zum Monster wird, macht Regisseur Adam McKay - basierend auf Bücher der Journalisten Jane Mayer und Barton Gellman - zur exzellent inszenierten und getimten Farce. Er bringt damit quasi seinen Banken-Krimi „The Big Short" und die Medien-Absurdität „Der Anchorman" zusammen. Bemerkenswert, unterhaltsam und nachdenklich machend.

17.2.19

Berlinale 2019 Fußnote Policeman (2011) von Nadav Lapid

Nadav Lapid gewann mit „Synonymes" den Goldenen Bären der Berlinale. „Policeman" (Ha-shoter) ist ein früheres Beispiel seines Könnens.


Regie: Nadav Lapid

„Policeman" erzählt eine doppelte Geschichte, die erst langsam zusammenfindet: Die von Yaron, Mitglied einer Antiterrorgruppe, der sich rührend um seine hochschwangere Frau bemüht und zugleich ganz in den martialischen Macho-Ritualen seiner korrupten Einheit aufgeht. Und dann die einer Gruppe von linken Aktivisten, deren zentrale Figur die Bürgertochter Shira ist; eine wild entschlossene, alles Private zurückstellende, zukünftige Terroristin. Sie kommen zusammen, als die engagierten jungen Leute eine dekadente Hochzeit überfallen und Geiseln nehmen. Was sich als harmlose Verwirrung sehen lassen könnte, wird durch brutale Selbstjustiz zum Drama für alle Beteiligten.
Es ist der inner-israelische Konflikt, der „Policeman" zu einem so spannenden wie außergewöhnlichen Film macht, der die Bruchlinien des Landes aufreißt. In einem unermüdlichen Showdown prallen schließlich die beiden Gruppierungen aufeinander. Ein ebenso erwarteter wie überraschender Moment. Die DVD enthält als Bonus ein Gespräch des Filmemachers und Autors Nicolas Wackerbarth mit Regisseur Nadav Lapid.

11.2.19

Berlinale 2019 The Boy Who Harnessed the Wind

Großbritannien 2018 Regie: Chiwetel Ejiofor, mit Chiwetel Ejiofor, Maxwell Simba, Lily Banda, Noma Dumezweni, Aïssa Maïga 113 Min.

Und wieder das Thema Netflix, nach „Roma" wieder anlässlich eines besonderen Films, einer Erweiterung des Kinos, die unter klassischen Produktionsbedingungen nicht entstanden wäre: Schauspieler Chiwetel Ejiofor („12 Years a slave") adaptierte für sein Regiedebüt den autobiografischen Roman von William Kamkwamba und spielt zudem den Vater des jungen Helden. Der afrikanische Film „The boy who harassed the wind" beschäftigt sich nicht nur mit den Folgen von Klimawandel und zunehmender Industrialisierung, sondern zeigt auch den Zusammenhang von Armut und den Wert von Bildung als Gegenmittel.

Ein Dorf in Malawi am Anfang der 90er Jahre. Das Leben von der Landwirtschaft darbt vor sich hin. Trotzdem finanziert die Familie den Schulbesuch des 13-jährigen William. Er ist ein kleines autodidaktisches Genie, das die Radios des ganzen Dorfes repariert. Als die Einkünfte nicht mehr reichen, verkaufen andere Bauern den Wald des Dorfes, was den Wassermangel nur vergrößert. So reicht es bald nicht mehr für das Schulgeld, aber William studiert heimlich in der bescheidenen Bibliothek. Er will eine Windmühle konstruieren, um damit ein Bewässerungssystem anzutreiben. Er braucht dafür allerdings das Fahrrad seines Vaters. Derweil wird der Hunger extrem, die Nachbarn prügeln sich um etwas Mehl oder Mais. Von korrupten Politikern ist selbst im Wahlkampf keine Hilfe zu erwarten.

Wie Windenergie Leben retten kann, wäre auch noch lehrreich für Traditionalisten in Europa, die lieber Kohle verheizen als das schadstofffreie Geschenk des Windes zu nutzen. Chiwetel Ejiofor Debütfilm schafft es aber zudem, ein ganzes Bündel an Themen und Entwicklungen in eine mitreißende Erzählung zu bringen. Die kontraproduktive Wirkung von Schulgeld, Klimaprobleme, Landflucht, Vater-Sohn-Konflikt und mehr. Die tollen Bilder der ganz außerordentlich guten Kamera von Dick Pope bringt die Zuschauer vor Ort, lässt in die Umbra-Farben eintauchen, den Staub schmecken und den Wind spüren.

Filmisch könnte man übrigens eine Verbindung zu Jean Rauchs Dokumentation „Madame L'Eau" aus dem Jahr 1992 legen, einem Meilenstein des ethnografischen Films. Damals sorgte die Windrad-Technik der Niederländer für die Bewässerung in Niger.

Der endlosen Reihe „Schauspieler auf dem Regiestuhl" fügt „The Boy..." ein besonders gelungenes Kapitel hinzu. Es ist ab dem 1. März auf Netflix zu sehen.

Alita: Battle Angel

USA 2018 Regie: Robert Rodriguez, mit Rosa Salazar, Christoph Waltz, Jennifer Connelly 122 Min.

Der visionäre James Cameron („Titanic", „Avatar") als Produzent und der ruppige Regisseur Robert Rodriguez („Sin City") sind keine Paarung, die einem direkt einfällt. Bei der lange erwarteten Realverfilmung der Manga-Reihe „Gunnm" von Yukito Kishiro geht es allerdings tatsächlich darum wie man eine futuristische Vision zu einem filmischen Spektakel macht. Kampfroboter mit Menschenköpfen stehen für viel digitaler Technik mit aufgesetzter Schauspielkunst.

Man kann den kindlich staunenden Blick Alitas (Rosa Salazar) gut verstehen, angesichts dieser Zukunfts-Welt: Ein Einrad-Motorrad rast an alten Holz-Türen vorbei, riesige Roboter patrouillieren in den Straßen, Menschen mischen sich mit Cyborgs und über allem schwebt eine gigantische Himmelsstadt. Es ist eine sehr faszinierende Welt, diese Mischung aus alt und futuristisch.

Das Maschinen-Wesen Alita wurde von ihrem Schöpfer oder Vater Ido (Christoph Waltz) auf dem Schrottplatz gefunden. Zu retten war nur der Kopf, der künstliche Körper sollte einst Idos kranke und mittlerweile verstorbene Tochter stützen. Jetzt steht Alita ohne Erinnerungen in einer neuen Welt, an die sie sich aber erstaunlich gut anpasst. Bald wird das liebliche Gesicht in einer zukünftigen Version des brutalen Rollerballs glänzen und als Kampf-Engel beeindrucken.

Berserkers, die „Panzer-Kunst" (auch im Original auf deutsch) beherrschen, sind hier die Ninja und Superhelden. Alita wird sich als Kämpferin aus alten Zeiten herausstellen und eine komplexe Gesellschaft auf den Kopf stellen. Vor allem über Kämpfe mit Maschinen-Monstern, nackten Roboter-Skeletten mit Menschenköpfen. Das sind zwar eindrucksvolle Kreaturen, wenn man gerne mit Baukästen Roboter-Monster zusammenbaut, doch die meisten mittelmäßigen Action-Stars zeigen raffiniertere Kampfmethoden.

Alita hingegen ist ein schöner Charakter, der im Verlauf der Handlung nicht nur technisch immer besser ausgestattet wird, sie macht auch als Person eine Menge Entwicklung mit. Das macht „Alita" bei allem State of the Art-Firlefanz in digitaler Tricktechnik, der ja morgen schon veraltet sein wird, trotzdem zu einem anständigen Film. Waltz gibt witzig den Ido, der als braver Wissenschaftler mit großem Herzen nächtens zum Jäger und Killer übler Roboter wird. Allerdings funktioniert - ebenso wie bei der Realfilm-Version von „Ghost in the Shell" - die Übertragung vom Anine nicht ganz. Der Film präsentiert flott zusammengeflickte Bruchstücke einer Saga und macht letztlich vor allem neugierig auf das Original, den ursprünglichen Manga.

10.2.19

Berlinale 2019 Easy Love

Junges deutsches Kino

Jung und auch system-sprengend hingegen „Easy Love", der Eröffnungsfilm von „Perspektiven". Diese Sektion für den jungen deutschen Film ist der feste Ort für Entdeckungen. Regisseur Tamer Jandali begleitet in seinem „inszenierten Dokumentarfilm" sieben junge Männer und Frauen vier Monate lang mit der Kamera filmstiftungsgefördert durch Köln. Dabei dreht sich alles um Sex, Beziehungen und eventuell auch Liebe. Der Witz bei dieser Bestandsaufnahme einer hedonistischen, egoistischen „Generation Y" ist ein Vexierspiel von Schauspielern, die teilweise ihre eigenen Geschichten verkörpern. Das ist alles fast zum Amüsieren banal, aber auch wunderschön echt.

Berlinale 2019 Grâce à Dieu

Der Fall des Paters Bernard Preynat, der 2016 wegen sexueller Übergriffe auf rund 70 Jungen angeklagt wurde, sorgte in Frankreich schon für viel Wirbel. François Ozon porträtiert in „Grâce à Dieu" die mittlerweile erwachsenen Opfer und zeigt ihre lebenslangen Verletzungen. Die Versuche des Systems Kirche, dies alles zu vertuschen, werden in einer etwas mühsamen Spielfilmhandlung vorgeführt. Ozon („8 Frauen", „Unter dem Sand", „Swimming Pool") stellt hier im Wettbewerb seine Filmkunst für eine notwendige und bewegende Anklage zurück

Berlinale 2019 Systemsprenger

Auf der Festivalschiene Wettbewerb gibt es so gut wie keine Anfänger, der erste deutsche Starter „Systemsprenger" von Nora Fingscheidt ist auch wortwörtlich ein Systemsprenger, weil hier jemand den alten Granden heftig die Aufmerksamkeit klaut. „Systemsprenger" nennt man Kinder, die durch alle Raster der deutschen Kinder- und Jugendhilfe fallen. Wie die neunjährige Benni, die nach kurzer Zeit aus allen Pflegeeinrichtungen wieder raus fliegt. Benni ist aggressiv, hyperaktiv und gewalttätig. Das nimmt der Film in Schnitt und Musik auf. Er geht in seiner Manipulation sehr weit, wenn man wieder um Benni und ihre Opfer bangt. Ein bemerkenswertes Spielfilmdebüt, das jetzt schon heiß diskutiert wird.

Berlinale 2019 The Kidness of Strangers

Der hoffnungsvolle Eröffnungsfilm „The Kidness of Strangers", der zehnte Spielfilm von Lone Scherfig, begann mit einem Aufruf zu mehr Aufmerksamkeit. Nicht gegenüber den Filmen, sondern gegenüber Mitmenschen: Rund um ein ungewöhnliches russisches Restaurant in New York mit dem wunderbar augenzwinkernden Namen „Winterpalast" kreuzen sich die Wege von einer Handvoll Menschen etwas zu oft. Clara versteckt sich ohne Geld, Kreditkarte oder Freunde mit ihren zwei Söhnen vor dem gewalttätigen Ehemann in der frostigen Stadt. Irgendwann wird das Auto abgeschleppt und die drei leben endgültig auf der Straße. Gebannt folgt man Claras verzweifelten Versuchen, die Kinder warm zu halten und ihnen Essen zu klauen. Viele gute Menschen und ein wirklich gefährlicher ergeben diesmal bei Lone Sherfig („Italienisch für Anfänger") ein kleines Glück und dank sympathisch kantiger Figuren die Besonderheit eines komischen Dramas. Sie erzählt mit einer erstaunlichen Leichtigkeit davon, wie leicht jemand auf der Straße landen kann und wie hart die Flucht einer Frau vor einem Gewalttäter ist.

The Kidness of Strangers" öffnet auch die Augen gegenüber den Obdachlosen von Berlin, die dank einer „netten" Entscheidung bei Kälte wieder in den U-Bahn-Räumen übernachten dürfen. Das ist was anderes als das medienwirksame Campen der Cineasten vor dem Ticketschalter. Die Medienvertreter warteten selbst hörbar weniger gespannt auf den Wettbewerb mit einigen alten Berlinale-Bekannten.

Berlinale 2019 Der Goldene Handschuh

mit Jonas Dassler, Margarethe Tiesel, Katja Studt, Martina Eitner-Acheampong, Hark Bohm

Viel erwartete man von Fatih Akins „Der Goldene Handschuh", der Verfilmung des gleichnamigen Romans von Heinz Strunk. Doch der hervorragende Regisseur lieferte seinen ersten richtig schlechten Spielfilm ab und sorgt für eine erste große Aufregung bei der Berlinale.

Die Geschichte des Frauenmörders Fritz Honka und seiner Stammkneipe „Zum goldenen Handschuh" im St. Pauli der Siebzigerjahre ist tatsächlich ein Horrorfilm. Eine Freigabe ab 18 wäre bei den drastisch ins Bild gebrachten Morden und Zerstückelungen der Leichen angebracht. Doch wo guter Horror ein zerrissenes Wesen hinter der Maske des Monsters zeigt, ist hier nur die Maske zu sehen. Bucklig mit krummer, warziger Nase, faulen Zähnen, schiefem Blick und schrägen Gesicht mehr erschreckt dieser Fritz Honka (Jonas Dassler) mehr als er interessiert. Auch die versoffenen Gestalten im Goldenen Handschuh, vor allem die einsamen alten Frauen, werden vorgeführt. Das ist bis zur Unerträglichkeit nicht schön, aber einem trotzdem egal. „Der Goldene Handschuh" hinterlässt noch lange einen üblen Nachgeschmack auf der Netzhaut. Auch wenn Adamo noch so oft zum Gemetzel „Es geht eine Träne auf Reisen" sülzt, diesem furchtbaren Film sollte man keine Träne nachweinen, wenn er in der Versenkung verschwindet.

Literaturverfilmungen haben es immer schwer, ihrer Vorlage gerecht zu werden. Aber hier scheint der Film bei aller Detailverliebtheit der Ausstattung besonders ins Grobe abgerutscht zu sein. Da schätzt man plötzlich von Triers Serienmörder-Gemetzel „The House that Jack built"

Die Blüte des Einklangs

Japan, Frankreich 2018 (Vision) Regie: Naomi Kawase, mit Juliette Binoche, Masatoshi Nagase 110 Min. FSK ab 0

Die Japanerin Naomi Kawase ist die Baum-Umarmerin unter den international berühmten Filmemachern. Seit ihrem frühen Festival-Erfolg "Der Wald der Trauer" (2007) taucht der Wald immer wieder in ihren Filmen auf. Aber auch ohne erzählt sie wunderbar einfühlsam, oft von vorsichtigen Lieben. Zwischen den Menschen, aber eher zu Bäumen oder dem Wasser. Juliette Binoche ist in Kawases neuestem Wald-Stück nur ein Element der Natur.

„Die Blüte des Einklangs" ist wieder so ein still und fein montierter und erzählter Kawase-Film, wie „Kirschblüten und rote Bohnen" (2015) oder „Still the Water" (2014). Die Kamera streichelt geradezu die Flora. In Gespräche geschnitten sind Makro-Aufnahmen vom Wald, ein kleines Farn, eine Ameise. Auf der reduziert vorhandenen Handlungsebene begleiten wir die Französin Jeanne (Juliette Binoche). Sie sucht in den tiefen, undurchdringlichen Wäldern der japanischen Yoshino-Berge nach einer seltenen Heilpflanze. Diese wird „Vision" genannt und blüht der Legende nach nur einmal alle 997 Jahre.

Zwar wirkt die Französin wenig feinfühlig, wie sie sich bei einem Einsiedler einnistet und fröhlich auf Englisch daher plappert, was er anscheinend nicht versteht. Doch als die Liebe leise ausbricht, kann Tomo (Masatoshi Nagase) doch ganz gut Englisch. Zuerst war man versucht, zu sagen, dass der Waldarbeiter vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht. Aber er weiß viel, nur auf einer anderen Ebene. Es irritiert Tomo, dass in der Natur alles anders ist. Wie er spürt man die Störungen im ruhigen Lebens-Rhythmus des Waldes förmlich selbst. Nichts im Wald fühlt sich mehr richtig an, nur die blinde alte Aki, die mit dem Herzen sieht, versteht. Sie ist ja vielleicht auch so alt wie der Wald. Und alles hängt mit dem bevorstehenden Ereignis um die Vision-Pflanze zusammen.

Während Jeanne nach einer Pflanze sucht, von der sie gar nicht weiß, wie sie aussieht, suchen hier alle Heilung oder einfach Ruhe, ohne dass es ausgesprochen wird. In „Die Blüte des Einklangs" hat alles vor allem tiefere Bedeutung. Selbst wenn Dramatisches passiert, läuft es in einem Bilderfluss mit, der viele an die Machart von Terrence Malick erinnert.

Filme von Naomi Kawase sind ungemein poetisch und sehr eigenwillig. „Die Blüte des Einklangs" erzählt zwar auch vom Kreislauf des Lebens, nur dass hier die Umlaufzeit schon mal 1000 Jahre dauern kann. Ein Glauben an beseelte Natur steckt in den Dingen und Bildern. Dass mit Juliette Binoche ein Star aus Kawases treuem Produktionsland Frankreich mitspielt, spielt eigentlich keine Rolle. Solche banalen, kurzlebigen Konzepte wie „Startum" können ihren Filmen wenig hinzufügen, aber auch nichts antun. So ist die Liebesgeschichte zwischen Jeanne und Tomo eine schöne, das Geschehen um sie herum jedoch vielfach eindrucksvoller. Darin kann man schwelgen oder es als esoterischen Kitsch abtun. Einzigartig ist es auf jeden Fall.

5.2.19

Ailos Reise

Frankreich, Finnland, BRD 2018 Regie: Guillaume Maidatchevsky 86 Min. FSK ab 0

Kann ein niedliches Rentier-Baby tapsigen Kaiser-Pinguinen den Rang auflaufen? Eine neue Tier-Doku drängt in die Kinos, strahlend weiß vereist auch diese. Aber „Ailos Reise" legt beim großen Vermenschlichen für die kleinen Kinogänger einen anderen Ton an den Tag als die unerträglich pathetische „Reise der Pinguine".

Von der Geburt an, mit einem unglaublich schnellen Auf-die-Beine-kommen, folgt die Natur-Doku „Ailos Reise" dem ersten Lebensjahr eines Rentieres. Die Jahreszeiten und der „Kreislauf des Lebens", das Fressen und Gefressenwerden und sogar die Liebe. Ja, das große Menscheln beherrscht auch dieses Tierreich im Hohen Norden. Selbst wenn dieses kindgerechte konservative Familienbild die Möglichkeit der Trennung von Rentier-Eltern andeutet! Minuten nach der Geburt, noch mitten im Staunen über das rasche Aufstehen des Neugeborenen, lässt das Muttertier mit einem Postnatalen Trauma sogar kurz ihr Kind zurück, um es sich dann doch noch mal zu überlegen.

Das war es dann aber auch mit schwierigen Momenten in der ansonsten kindgerechten Tier-Schau. Selbst „erbarmungslose" Raubtiere werden wenig bedrohlich präsentiert, witzige Hermeline übernehmen den Scrat-Part aus „Ice Age", bedrohliche Schnee-Eulen müssen im Gegensatz zu Harry Potter-Exemplaren auch mal essen und die Rolle der Bösewichte spielen Wölfe. Das prädestiniert den Film für ganz kleines Publikum, den Älteren bleiben schöne Naturaufnahmen, wenn man das Dauergequasel ausblenden kann. Wie man überhaupt bei dem dauernden Krach vom Orchester Tiere in Ruhe beobachten konnte, bleibt ein großes Rätsel nicht nur dieses Naturfilms.

Allerdings wählt der von Anke Engelke ohne Anke Engelke-Kapriolen gesprochene Text ganz eigene Töne: Er vermischt spontane Poesie, große Lebensbetrachtungen und extrem simple Erklärungen. „Ailos Reise" beeindruckt mit seinen Bildern, schadet sicher auch nicht in der Erziehung. Ein paar Erklärungen über weniger Disney-hafte Tiere sollten später im Biologie-Unterricht allerdings noch hinzukommen.

4.2.19

Asi mit Niwoh - Die Jürgen Zeltinger Geschichte

BRD 2018 Regie: Oliver Schwabe 94 Min. FSK ab 12

„De Plaat" Jürgen Zeltinger wurde mit seinem kölschen Punkrock in den 1980er-Jahren auch bundesweit zur Kulturfigur. Die massige Gestalt, ein Hauch von Unterwelt und Mitgröhl-Musik, die raffiniert im Dialekt-Trend lag, sorgten für einen kurzen Erfolg. Oliver Schwabe, Regisseur von Spielfilmen („Egoshooter", „Zarte Parasiten") und Musik-Dokus zeigt nun mit wachem Auge für Realsatire einen reifen Zeltinger, der immer noch einen Film wert ist.

Wenn der „Asi mit Niwoh", so einer der Hits von Zeltinger, heute am Teich seine Koi füttert und liegend im Interview über Leben und Band räsoniert, ist das ein krasser Gegensatz zu punkigen Randale-Auftritten von früher. Die Kamera hat ein gutes Auge für die Brüche, wenn im Vordergrund ein Motorrad wegbraust und hinten ein sehr fetter Zeltinger mit seinem E-Scooter durchs Bild zuckelt.

Dabei macht sich das Porträt keineswegs lustig über ihn - das erledigen schon die Zeitzeugen, unter anderem BAP-Frontmann Wolfgang Niedecken, Komponist Arno Steffen und Heiner Lauterbach, der in Köln und Paris einiges mit Zeltinger erlebt hat. Der alte Band-Kumpel Steffen erzählt von der damaligen „Zwangsrekrutierung" durch Zeltinger, bei der sich die Musiker in Hauseingängen versteckt hätten, um nicht in dessen Bands mitmachen zu müssen.

Die Hits wie „Müngersdorfer Stadion" oder „Mein Vater war ein Wandersmann" klingen in alten Auftritte an. Vor allem gelingt Regisseur Schwabe aber, die Feinheiten des Milieus nachzuzeichnen. „De Plaat" war schon immer ein faszinierender Charakter, ein gewisses Maß an Altersweisheit kann sich dabei sehenlassen. Vor allem die unverstellt persönlichen Aussagen von Weggefährten und Zeltinger selbst machen diese lebendige Musik-Doku sehenswert.

Drachenzähmen leicht gemacht 3: Die geheime Welt

USA 2018 (How to train your Dragon 3: The hidden World) Regie: Dean Deblois 104 Min. FSK ab 6

Der überraschend erfolgreiche Animations-Spaß um den Wikinger-Jungen Hicks und seinen Drachen Ohnezahn schwingt sich im dritten Teil zu einer Saga auf. Das beeindruckt zeitweise mit fantastischen Welten, hilft Teenagern beim Balzen, verfällt aber auch immer wieder in die Barbarei großer Klöppereien.

Viele bunte und witzige, große und kleine Drachen - ja das Dorf Berk ist eine Art Drachen-Pokémon geworden, Wellness- und Flüchtlingslager für gejagte Wesen. Hicks leitet als junger Häuptling eine unübersehbare Schar von Drachen und rauer Wikinger. Dabei ist er selbst noch Teenager mit deren typischen Liebes-Problemen. Und auf dieser Kinder- und Jugend-Ebene lebt der kleine Nachtschatten-Drache Ohnezahn seinem Herrchen vor, wie man auf seine Liebe zugeht. Denn es taucht vor Berk plötzlich eine weißer weiblicher Tagschatten-Drachen auf. Dass der ein Köder des gnadenlosen Drachenjägers Grimmel ist, wird später für das nötige Maß an Action sorgen.

Bis dahin schwelgt Hicks allerdings in Rückblenden an den Vater, der ihn das Dorf zur Beaufsichtigung überließ. Und selbst an diesem ziemlich sagenhaften Ort, der seinen Frieden mit den einst feindlichen Drachen gemacht hat, gibt es ein sagenhaftes Land, von dem einst der Vater erzählte. Hicks wird aufgrund der rassistischen Drachenjäger schließlich zum kleinen Moses, der alle - Drachen und Menschen - in ein gelobtes Land führen will. Wie Columbus leitet der Wikinger-Junge eine Expedition zum Rand der Welt. Seine Flotte besteht aus fliegenden Drachen mit Gondeln für ihre Reiter.

Erst der Verlust des Beines von Hicks und jetzt noch so schwerer Stoff - „Drachenzähmen leicht gemacht" schwingt sich zu großer Saga auf, ohne wirklich die Substanz dazu zu haben. So führt auch die Suche nach dem legendären Drachen-Reich zwar zu tollen Bildern mit noch mehr fantastischen Wesen, aber die Lösung für alle Probleme ist mal wieder eine deftige Rauferei. Dazu gibt es noch reichlich Spaß mit sympathischen und hässlichen Figuren sowie eine eigene Liebes-Geschichte für Hicks' Haus-Drachen.

Obwohl die zweite Hälfte des farb- und ideenreichen Zeichentricks wieder ein Übermaß an Action und Luftgefechte zeigt, bekommt er im scheinbaren Ende der Trilogie noch die Kurve zu tieferen Werten: Mit der Entdeckung der eindrucksvollen, magischen Drachenwelt reift bei Hicks die Erkenntnis, dass er seinen geflügelten Weggefährten fliegen lassen muss. Die Idee eines friedlichen Zusammenlebens mit wunderbaren Wesen verschwindet zwar schließlich im Nebel alter Sagen, lebt aber in diesen sympathischen Filmen weiter.

Frühes Versprechen (2017)

Frankreich 2017 (La promesse de l'aube) Regie: Eric Barbier, mit Pierre Niney, Charlotte Gainsbourg 131 Min. FSK ab 6

Sie ist die Mutter aller Helikopter-Mütter! So wie der Schriftsteller, Regisseur, Diplomat und Kriegsflieger Romain Gary in seinem autobiografischen Roman „Frühes Versprechen" (La promesse de l'aube) seine Mutter schildert, kann dieses Leben nur ein tragisch absurder Schelmenroman aus Kriegszeiten werden. Charlotte Gainsbourg besiegt als Mutter Nina die Altersmasken, Pierre Niney kann dem Autoren spät etwas Format geben.

Romain Gary (1914-1980) war einer der schillerndsten Autoren der französischen Literatur. Literat, Filmregisseur, Weltkriegspilot und Diplomat. Er war unter anderem mit Jean Seberg verheiratet, schrieb rund 30 Romane, Drehbücher und Geschichten und benutzte fünf Pseudonyme. So - unter zwei Namen - erhielt er als einziger zweimal den französischen Literaturpreis Prix Goncourt. Dass dies so kommen würde, wusste Nina Kacew (Charlotte Gainsbourg) schon in Armut und unfreundlicher Umgebung seiner Kindheit in Polen. Eine adelige Abstammung fantasiert die energische Person ebenso herbei wie die glorreiche Zukunft ihres völlig überforderten Sohnes.

Dass er als Künstler berühmt werden soll und auch Diplomat, ist klar. Romains Talent zur Musik erweist sich allerdings als schmerzlich beschränkt. Und des Kleinen Leidenschaft für die Malerei wird resolut unterdrückt, denn nachher würde er sich noch wie von Gogh ein Ohr abschneiden. So wird Nina ihr Kind lebenslang zur Schriftstellerei drängen. Um als Näherin zu überleben, inszeniert sie den vermeintlichen Besuch eines Pariser Couturiers - gespielt von einem gedungenen heruntergekommen Schauspieler.

Als der erwachsene Romain irgendwann von Nizza nach Berlin aufbrach, um Hitler umzubringen, gab es dreißig Prozent Ermäßigung der Reichsbahn! Die Autobiografie von Romain Gary ist voller solcher skurriler Details. Trotzdem handelt es sich um eine absurd tragische Figur - der Mensch dahinter fühlte sich erst mit der ersten Buchveröffentlichung wirklich geboren und brachte sich mit 66 Jahren um. Doch „Frühes Versprechen" ist eigentlich die Lebensgeschichte der Mutter von Gary, Nina Kacew. Durch die dicken Masken einiger Jahrzehnte packend von Charlotte Gainsbourg gespielt.

Ansonsten holpert „Frühes Versprechen" durch biographischen Anekdoten und Erinnerungen von Vilnius über Warschau nach Nizza, Paris und Nordafrika. Der Film bleibt dabei erstaunlicherweise an der Oberfläche, der kleine Romain interessiert nicht besonders, allein die Mutter ist eine faszinierende Person. Das Jetzt eines körperlich und seelisch kranken Autoren blitzt in der mexikanischen Rahmenhandlung nur am Rande auf, dabei wäre es interessant zu sehen, was der Leistungsdruck solch einer Mutter für Folgen hat. Ein Thema ist der Antisemitismus, der sich von Polen nach Frankreich durchzieht. In der Armee wird Gary als einziger nicht befördert, die Dreyfus-Affäre klingt nach. Doch selbst als unser Held als einziger von 300 Soldaten nicht befördert wird, macht ihn das in den Augen seiner wahnsinnigen Mutter „zu jemand einzigartigem". Dass Frankreich den Krieg gegen Deutschland verlieren könnte, ist für ihn undenkbar, weil die Mutter eine Niederlage nicht verkraften würde.

Nachdem die Figuren der jüngeren Darsteller wenig eindrucksvoll vorbeiziehen, interessiert die Hauptfigur erst, als Pierre Niney („Frantz", „Yves Saint Laurent") sie spielt. Wenn dieser Romain wie durch ein Wunder in letzter Minute nicht ins zum Absturz verdammte Flugzeug nach England steigt, ist dies wie im Schelmen-Roman. Aber wieder will er nur für die Mutter ein Soldat und Held sein. Das erinnert als Hymne auf die trotz ihres Wahnsinns geliebte Mutter, an die Marcel Pagnol-Biographie „Das Schloss meiner Mutter". Die wurde von Yves Robert 1990 allerdings reich und meisterlich verfilmt.

„Frühes Versprechen" wird als Geschichte eines berühmten Muttersöhnchens, das mit dem Foto der Mutter im Flieger Krieg gegen Deutschland führt, der Person von Romain Gary sicherlich nicht gerecht. Was sonst in ihm vorgeht, weiß man selbst nach zwei Stunden Film nicht. Der Film endet schlüssig mit dem Tod der Mutter.