29.12.20

Bridgerton / Netflix


Man nehme von Jane Austen die schönsten Biestigkeiten und Gemeinheiten, tauche das Ganze in ein überbuntes Dekor und fertig ist die unterhaltsame Ballsaison von „Bridgerton": Extrem aufgebrezelt werden die jungen Damen des Hauses Bridgerton und Featherington auf den Heiratsmarkt geworfen. Daphne Bridgerton (Phoebe Dynevor) erwählt die dunkelhäutige Königin (Adjoa Andoh) direkt zum Diamanten der Saison. Doch Daphnes älterer, durchaus lebenslustiger Bruder Anthony (Jonathan Bailey) verwirft alle Kandidaten. Ausgerechnet mit dem rebellischen und heiratsunwilligen Duke of Hastings (Regé-Jean Page) schließt sie einen Pakt: Sie geben das perfekte Paar, um ihre Attraktivität zu erhöhen und um seine Bewerberinnen abzuhalten. Bald gefallen sich die beiden nicht nur in spöttischen Betrachtungen des eitlen Treibens.

Serienschöpfer Chris Van Dusen („Scandal", „Grey's Anatomy") amüsiert sich in „Bridgerton" auf Basis von Julia Quinns Romanen über das London der Regency-Epoche ohne auf Klassenkampf oder Feminismus zu machen. Die achtteilige Serie zeigt witzigerweise ein multiethnisches Paralleluniversum, in dem Hautfarbe keinerlei Rolle spielt! (Das weitere Aussehen, Stand und Vermögen allerdings wohl). Das ist vorzüglich ausgestattet, anständig gespielt und vor allem nett anzusehen. Auf die bonbonfarbenen Süßigkeiten und Intrigen legen sich mit des Dukes Vergangenheit ein paar Schatten, aber mehr interessiert, wer die geheimnisvolle Skandal-Reporterin Lady Whistledown ist.

„Bridgerton", (USA 2020), Regie: Sheree Folkson u.a., mit Phoebe Dynevor, Regé-Jean Page, Jonathan Bailey, acht Folgen á ca. 60 Min., FSK: ab 12

Fosse/Verdon / Joyn

Tanzszenen einer Ehe 

Wo soll man anfangen bei so viel Kreativität, Prominenz und Geschichte? Vielleicht bei der Trophäensammlung: Bob Fosse (1927-1987) ist der einzige Regisseur, der in einem Jahr (1973) die höchste Auszeichnung für den besten Film, das beste Musical und die beste Fernsehsendung erhielt. Einen Regie-Oscar für „Cabaret", einen Tony für Regie und Choreografie bei „Pippin" und drei Emmys für Produktion, Choreografie und Regie von „Liza with a Z". Damit haben wir schon seine langjährige Partnerin Gwen Verdon (1925-2000) vergessen und sind mitten im Film. Denn oft wird Bob Fosse (Sam Rockwell) neben der berühmten Tänzerin und Schauspielerin Verdon (Michelle Williams) als „Möchtegern-Fred Astaire" übersehen. Überhaupt war ihre ganze leidenschaftliche Beziehung über Jahrzehnte auch von einer anhaltenden Konkurrenz bestimmt.

Liebe und Konkurrenz zwischen Fosse und Verdon beginnen beim ersten Vortanzen 1955 für das Musical „Damn Yankees", einer eigenartigen Anmache mit besonderer Chemie. Verdon bekommt 1956 ihren ersten Tony Award als Beste Schauspielerin in einem Musical, 1960 heiraten sie. Mehr als zehn Jahre lang entwickeln sie später das Musical „Chicago", das 1975 Premiere feiert. Es wird allerdings erst ein Erfolg, als Minnelli die erkrankte Verdon ersetzt. Nach einer Herzoperation realisiert Kettenraucher Fosse in einem Jahr gleichzeitig „Chicago" und den Film „Lenny" mit Dustin Hoffman. Mit seinem stark autobiografischen „All That Jazz" gewann das Multitalent 1980 die Goldene Palme in Cannes. Trotz zahlloser Affären auf seiner Seite hilft sich das Paar auch nach der Trennung immer wieder bei ihren Projekten. Bis zu seinem herzzerreißenden Filmtod 1987 wenige Minuten vor einer gemeinsamen Premiere.

Die geniale und berührende Doppelbiografie „Fosse/Verdon" erzählt von der jahrzehntelangen produktiven und Liebes-Beziehung mit virtuosen Zeitsprüngen und oft schmerzhaften Erinnerungen in Tänzen. Die größte Nummer bei vielen bekannten Musical-Songs ist die Montage des Films. Immer wieder gibt es Kompositionen stark emotionaler Momente in Sekundenbruchteilen. Sei es der frühe Stepp-Drill bei Fosse, der als 14-Jähriger auf Varieté-Bühnen von Stripperinnen „entjungfert" wurde (und damit seine notorische Untreue erklären will). Oder Verdons Erinnerung an eine Vergewaltigung als Jugendliche, die ungewollte Schwangerschaft und die Ehe mit dem Vergewaltiger als Start einer Reihe von Erniedrigungen durch Männer.

Bemerkenswert an dieser herausragenden Serie ist der unterschiedliche Charakter der einzelnen Folgen: Erst ist der vierten wird „Cabaret" Thema. Fosses Produzent in München meint 1972, der Regisseur und Choreograph des später berühmten Varieté-Films würde einen „italienischen Neorealisten-Alptraum" drehen und kein Broadway-Musical. Nur durch die herbeigeeilte Ehefrau Gwen gewinnt das Projekt Form und Fahrt. Dabei kommentiert höhnisch der Song „Mein Herr" von Liza Minnelli mit „It was a fine affair" Bobs Affäre mit einer Übersetzerin. Gwen weiß davon und fliegt trotzdem über den Atlantik hin und zurück, um ein Gorilla-Kostüm zu besorgen. Um wiederum enttäuscht zu werden.

Genial, wie Episode sechs Fosses extrem gestresste Situation mit Drogen-, Nikotin- und Sex-Sucht im Stakkato-Stil von „Lenny" beschreibt: Fosse (also Rockwell) sieht und kommentiert sich selbst in der Rolle des provokanten Komikers Lenny Bruce (real gespielt von Dustin Hoffman). Es ist wieder der großartige Schnitt, der die Situation schon beim Zuschauen unerträglich macht.

Die ruhigste, die fünfte Folge spielt fast ohne musikalische Nummer in einem Strandhaus: Kurz nach Fosses erstem Herzinfarkt fällt die Entscheidung, „Lenny" und „Chicago" gleichzeitig zu machen. „Würde dich das nicht umbringen?" „Keine Ahnung, wir werden sehen." Im Kampf „seiner" Frauen haben Gwen und ihr Musical-Projekt leichtes Spiel mit der sehr jungen Ann Reinking (Margaret Qualley, Tochter von Andie MacDowell). Verdons Liebe, die so viel Betrug und Verrat toleriert, ist nach #metoo nicht zeitgemäß, kann aber rühren.

„Fosse/Verdon" brilliert nicht mit schillernder Nummern-Revue, sondern mit einem herzzerreißenden Liebesdrama über acht Episoden. In besten Momenten trennt nur eine dünne Wand Realität und Show wie bei Dennis Potter, dem Schöpfer genial tragischer Film-Musicals wie „The Singing Detective" oder „Pennies from Heaven". Neben dem eindrucksvollen Spiel von vor allem Sam Rockwell ist die Serie auch mit ihren Einblicken in die Geschichte der Pop-Kultur eine Perle. Zu den Freunden von Fosse und Verdon zählten die außerordentlichen Autoren Neil Simon („Ein seltsames Paar", The Odd Couple) und Paddy Chayefsky, der als einer von ganz wenigen sowohl den Oscar in der Kategorie Bestes adaptiertes Drehbuch („Marty") als auch in der Kategorie Bestes Originaldrehbuch („Hospital", „Network") gewann.

„Fosse/Verdon" (USA 2019), Regie: Thomas Kail u.a., mit Sam Rockwell, Michelle Williams, Norbert Leo Butz, Margaret Qualley, acht Folgen von 41-59 Min., FSK: ohne Angabe


28.12.20

Das Neue Evangelium


Was macht dieser schwarze Jesus in Matera, der europäischen Kulturhauptstadt 2019? Der gebürtige Kameruner Yvan Sagnet engagiert sich seit Jahren gegen die mafiöse Ausbeutung von Immigranten in der Landwirtschaft Süditaliens. Der politische Theatermacher Milo Rau verbindet nun in seiner verblüffend schlüssigen Mischung aus Doku- und Fiktion-Film „Das Neue Evangelium" diesen Kampf mit der Passionsgeschichte. Wobei Matera nicht nur als Kulturhauptstadt einlud, der Ort ist ideal für einen Jesus-Film: Drehte doch Pier Paolo Pasolini hier „Das 1. Evangelium – Matthäus" (1964) und Mel Gibson seinen blutrünstigen „Die Passion Christi" (2004). Der Regisseur Rau erklärt dem Hauptdarsteller im Film selbst: Die Halterungen für die Kreuze sind noch im Stein, man braucht nur - Klick - sein Kreuz aufzustellen.

Für andere ist die Stadt nicht ideal: Von den 30 Euro Lohn für einen Tag Arbeit unter glühender Sonne auf den Tomaten-Feldern werden noch Unkosten abzogen. Tausende Immigranten werden hier ausgebeutet. Was würde Jesus dazu sagen? Mit wem er sich heute umgeben würde, zeigt das Casting: Die ehemalige Prostituierte, die sich jetzt für andere engagiert, spielt die biblische Ehebrecherin – „wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein". Der Bürgermeister will nicht den Pilatus geben, sondern das Kreuz für Jesus tragen. Ein erschreckend brutaler Italiener erzählt beim Auspeitschen rassistische Witze; der alte Darsteller von Pasolini spielt wieder den Täufer.

„Das Neue Evangelium" ist mit seinen verschiedenen Strängen erstaunlich dicht gewoben, die Verbindungen sind vielfältig: Eine Szene mit Jesus und den Fischern auf dem See löst die Erinnerung an dramatische Flucht über das Mittelmeer aus. Nach Stürmung des Konsum-Tempels im Film zeigt der Abspann als Ergebnis des Kampfes die erste faire und Mafia-freie Tomatensoße im Supermarkt.

(www.dasneueevangelium.de - Kinos erhalten 30 Prozent des Ticket-Preises)

„Das Neue Evangelium", (BRD 2020), Regie: Milo Rau, mit Yvan Sagnet, 107 Min., FSK: ab 0

21.12.20

The Midnight Sky / Netflix


Drei Wochen nach dem „Ereignis" lebt nur noch ein Mensch auf der Erde: Ein alter kranker Mann in einer polaren Forschungsstation. Es ist das Jahr 2048. Die Luft ist weltweit verseucht, nur an ein paar Orten können Mensch und Tier überleben. Die Evakuation der Bevölkerung ins All ist abgeschlossen. Der Mann, dem man diese Möglichkeit verdankt, wollte nicht mit: Der bärtige Senior Augustine Lofthouse (George Clooney) hängt an der Flasche und an der Nadel einer Dialyse. Erinnerungen an eine tragische Liebesgeschichte vermischen sich mit Alkohol und Fieberwahn. Da taucht ein mysteriöses stummes Mädchen auf der Station auf. Gleichzeitig ist das Raumschiff Aether ahnungslos im Anflug. Nach einer Jupiter-Mission weiß die Besatzung nichts von der Katastrophe auf der Erde. Sie können nicht nach Hause telefonieren, weil von dort keiner mehr antwortet. Bis Lofthouse sie hört...

Der alte Wissenschaftler Lofthouse ist kein typischer Held, aber er probiert trotzdem, die Aether-Besatzung zu retten. Dafür muss er mit dem kleinen Mädchen zu einer entfernten Funkstation. Gleichzeitig zwingt ein Unfall das Raumschiff auf einen Ausweichkurs durch nicht kartierte Gebiete des Weltalls. Unten wüten Schneestürme, oben drohen Meteoriten-Hagel. Die Erhabenheit intergalaktischer Reisen konkurriert mit polaren Naturspektakeln. Zwei abenteuerliche Trips in unterschiedlichen Dimensionen, doch bei beiden geht es um das Überleben der nächsten Generationen.

Die Verfilmung von Lily Brooks-Daltons Science-Fiction-Roman „Good Morning, Midnight" ist nach Meisterwerken wie „Good Night, and Good Luck", „The Ides of March" oder „Suburbicon" die siebte Regie-Arbeit von George Clooney. Schon die Idee, sich mal nicht krampfhaft jünger zu machen, verdient Applaus. Er kann auch eindrucksvoll Science Fiction, hat reichlich Erfahrung da oben: In Alfonso Cuaróns „Gravity" trudelte er 2013 mit Sandra Bullock im All rum. Im „Solaris"-Remake von Steven Soderbergh spielte Clooney 2002 die menschliche Hauptrolle, die an einer gescheiterten Beziehung oder am hinterhältigen Planeten wahnsinnig wurde.

Doch wie immer geht es dem filmenden Gatten der Menschenrechtsaktivistin Amal Ramzi Alamuddin Clooney um mehr. Um die Lage der Menschheit und der Erde. „Ich befürchte, wir haben nicht anständig auf die Erde aufgepasst, während ihr weg wart", muss Lofthouse der anfliegenden Crew gestehen. Das volle Spannungs-Programm mit Meteoritenschauer und hungrigen Wölfen in der Eiswüste unterbricht starke ruhige Stimmungen zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Dazu ein paar geniale Bilder und Szenen wie das gemeinsame Singen von Neil Diamonds „Sweet Caroline" bei einer Außenreparatur. Zur schwangeren Astronautin wird der Querverweis zu „Alien 3" nahegelegt. Es beeindruckt die Ästhetik von schön vielen Blutstropfen in Schwerelosigkeit.

Bei aller netten Ausstattung dreht sich „Midnight Sky" nicht um Science Fiction-Gimmicks. Die Hauptfigur Lofthouse ist eindrucksvoll tragisch. Wie in Andrei Tarkowskis „Solaris" nach Stanisław Lem führt der weite Weg ins All letztlich nur in Innere des Menschlichen. Der große Film, der auf dem kleinen Schirm gelandet ist, erzählt eine filmische Novelle mit großartiger Pointe, angefüllt von klasse Bildern und Szenen. Wie es sich für die Novelle gehört, brennt sich die tragische Schluss-Note ein. Nicht nur dass der Forscher, der Leben auf fernen Planeten vorantrieb, als einer der letzten auf der Erde zurückbleibt. Das Schicksal hält noch einen besonders bitteren Wermutstropfen für ihn bereit. Und bei all den fantastischen technischen Möglichkeiten der Zukunft wird klar, dass die Erde als Lebensraum ganz schön wichtig ist.

„The Midnight Sky" (USA 2020), Regie: George Clooney, mit George Clooney, Felicity Jones, David Oyelowo, Tiffany Boone, 122 Min., FSK: ab 12

Soul / Disney+


(USA 2020), Regie: Pete Docter, 100 Min., FSK: ab 0

Der Nachfolger vom wunderbar klugen, psychologischen Kinderfilm „Alles steht Kopf" (2015) ist alles andere als ein Kinderfilm: Ein kurz vor seinem Durchbruch verstorbener Soul-Musiker bekommt es in einer himmlischen Zwischenstation mit der widerspenstigen Seele Nummer 22 zu tun. Wie beide zusammen die Schönheit des Lebens entdecken, macht „Soul" zum bunten Nachfolger von Frank Capras Klassiker „Ist das Leben nicht schön?" („It's a Wonderful Life" mit James Stewart).

Pixar, die Zeichentrick-Schmiede auch von „Soul", bleibt das Beste von Disney. Angefangen von der Disney-Melodie, die ganz kläglich von einer Musikklasse herunter gequält wird. Ja, Lehrer Joe Gardner (der Name eines bekannten Jazztrompeters) hat es nicht leicht. Da feiert seine „Ma" die Festanstellung, doch er träumt von einer Karriere als Jazz-Musiker. Dann bietet ihm ein ehemaliger Schüler die Chance seines Lebens am Piano der berühmten Sängerin Dorothea Williams. Doch Joe Gardner stirbt, bevor er am Ziel seiner Träume auftreten kann. Da wundert es nicht, dass Joe von der großen Treppe zum Himmel abspringt. Er landet bei den kleinen unfertigen Seelen, die noch geprägt werden müssen, bevor sie zur Erde schweben. Als angeblicher Mentor bekommt Joe ausgerechnet die Seele Nummer 22 zugeteilt: Ein raffiniertes, zynisches Etwas, das keinesfalls von hier weg will.

Herrlich, der Spaß an Joes wunderbarem Pianosolo. Zynisch komisch der babyblaue Zwerg 22, der nach einem witzigen Unfall bemerkt: „Keine Sorge, man kann eine Seele nicht kaputt machen, das passiert erst auf der Erde." Das hört sich nach einer kommenden Wiedergeburt Woody Allens an. Und spätestens hier wird klar, dass man diese Schwere eines bedeutungslosen und erfolglosen Lebens Kindern nicht unbedingt zutrauen sollte. „Soul" ist ein grandioser erwachsener Zeichentrick. Für jeden Traum-Job hat der Kleine eine ernüchternde Antwort, welche die Blase sofort zerplatzen lässt: Bibliothekar? „Wer träumt nicht davon, einen Job zu haben, der bald weggekürzt wird?"

Selbst die alte Körpertausch-Routine ist in „Soul" umwerfend komisch, wenn der Jazzpianist im Körper einer sehr dicken Katze landet und die Seele, die nie auf die Erde wollte, in seiner Hülle herumstolpert. Zwar verstehen sich die beiden, aber selbstverständlich versteht niemand die Katze. Trotzdem muss sie dem unbeholfenen Menschen sagen, wo es lang geht.

Der Suche nach dem Funken, der die leichtfertig im Vorbeigehen eingeprägten Eigenschaften der neuen Menschen komplettiert, ist eigentlich die Frage nach dem Sinn des Lebens. Dass sich Regisseur Pete Docter wie schon bei „Oben" (2009) und „Alles steht Kopf" (2015) die Antwort nicht leicht macht, führt zu einem überzeugenden und bewegenden Finale.

Während das jazzige New York recht realistisch gezeichnet wurde, erinnern die Engel, die alle Jerry heißen, an eine Picasso-Skizze. Etwas irritierend läuft hier übrigens Elektro-Musik beim Flug ins Paradies, die Hölle oder das Jenseits.

In „Soul" wird aus dem doch etwas zwangsbehafteten Disney-Auftrag „Lebe deinen Traum!" die entspanntere Erkenntnis „Genieße jede Minute deines Lebens!": „It's alright, have a good time and listen to the beat ... you've got soul" klingt es im Abspann.



Ma Rainey's Black Bottom / Netflix


Der letzte Film des früh verstorbenen Darstellers Chadwick Boseman („Black Panther") spielt 1927, ist aber bei aller beschwingten Blues-Musik (Branford Marsalis!) ein erschreckend aktuelles Drama um Diskriminierung von Afro-Amerikanern. Titelfigur dieses hervorragend umgesetzten Kammerspiels im Tonstudio ist die „Mutter des Blues", die legendäre Ma Rainey (Viola Davis). Während sie ihre weißen Produzenten in Chicago mit deftiger Grandezza zappeln lässt, streiten sich die Studiomusiker um die Richtung des nächsten Stücks. Die uralte Diskussion zwischen etwas Innovativem und dem „Wir haben es schon immer so gemacht". Vor allem der ehrgeizige Kornettist Levee (Chadwick Boseman) will Veränderung. Doch statt seines flotten, tanzbaren Solos soll der stotternde Neffe von Ma ein Intro sprechen. 
Man merkt „Ma Rainey's Black Bottom" schnell das Theater als Ursprung an. Der zweifache Pulitzer-Preisträger August Wilson schrieb es als Teil einer Serie von zehn Stücken, die jeweils einem Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts gewidmet sind. 2016 inszenierte Denzel Washington bereits „Fences", ebenfalls mit Viola Davis. Selbstverständlich läuft auch jetzt das Verhältnis von Weißen und Schwarzen mit, das Thema bleibt hochaktuell. Eine der horrenden Geschichten von Gewalt und Unterdrückung ist Bosemans Solonummer, die allein den ganzen Film lohnt. „Ma's" viele weiteren Qualitäten lassen spüren - wie Daniel Kothenschulte in der Frankfurter Rundschau schrieb - dass wir nicht nur das Kino vermissen, sondern auch das Theater.

„Ma Rainey's Black Bottom" (USA 2020), Regie: George C. Wolfe, mit Viola Davis, Chadwick Boseman, Glynn Turman, 95 Min., FSK: keine Angabe

15.12.20

Wolfwalkers / Apple TV+


Bereits „Die Melodie des Meeres" (Europäischer Filmpreis 2015) von Tom Moore war ein Kunstwerk, das weit über das Genre des Kinder-Zeichentrick hinaus schien. Der Nachfolger „Wolfwalkers" erzählt mit einem ähnlich wunderbaren Stil von Naturzerstörung durch Zivilisation und Religion in Cromwells Irland. Ein Meisterwerk und der schönste, klügste und reichste (Animations-) Film des Jahres.

Das verwegene Mädchen Robyn träumt davon, wie der Vater Wölfe zu jagen. Doch der große, üble Boss will sie in eine Industrie-Küche stecken, denn „da gehören Frauen hin". Auch diese Emanzipations-Geschichte erzählt „Wolfwalkers", angesiedelt im Irland des Jahres 1650. Oliver Cromwell erobert die Insel mit seinen englischen Truppen. Damit zwingt er den katholischen Bewohnern nicht nur seine puritanische Religion auf, auch „die Natur" muss kontrolliert werden. Der große, geheimnisvolle Wald vor der Stadt fällt immer mehr den Holzfällern zum Opfer. Die werden allerdings schon in der ersten Szene von Wölfen und einem magischen Wesen verjagt.

Robyns alleinerziehender Vater Bill ist Wolf-Jäger für den mächtigen und bösartigen Lordprotektor. Aus übergroßer Sorge um sein Kind verbietet Bill ihr, die Stadt zu verlassen. Doch das neugierige Mädchen und ihr Raubvogel Merlyn lassen sich nicht fernhalten. Im verwunschenen Gestrüpp lernt sie die wilde Mebh kennen. Das rothaarige Wesen, das mit den Wölfen rennt, ist ein „Wolfwalker" – Wolf, wenn sie schläft, und Mensch, wenn sie wach ist.

„Wolfwalkers" ist ungewöhnlich reich an interessanten und weiterführenden Geschichten. Doch erst einmal fasziniert wieder der atemberaubend schöne Stil von „Die Melodie des Meeres" und „Das Geheimnis von Kells". Jede Szene hat Bilder „zum an die Wand hängen": Inspiriert von irischen Holzschnitten sieht man die graue Stadt im Hintergrund als grafisches Element, als vertikales Raster. Da gibt es ein farbenfrohes Mandala mit der Wolf-Familie und in der Mitte Mutter sowie Tochter Wolfwalker. Dann meint man in einem Blumenmeer Klimt zu entdecken. Dann wieder eine strenge Linienführung mit dem Fachwerk der Häuser. Die Zeichnungen sind grafisch und doch voller Leben. Dabei verspielt, nicht perfekt, wenn nicht bereinigte Linien um die Gesichter kreisen. Trotz der Referenz zu irischen Holzschnitten hat man weniger das Gefühl der „Aneignung" als bei Disney-Filmen („Pocahontas"), wo die indigene Kultur oft nur Dekoration ist.

So ergänzen sich wieder Form und Inhalt aufs Reizvollste. Die unmenschliche Strenge des religiösen Eroberers trifft auf freies Leben und freien Stil. Nicht nur mit der Diskussion um Lebensraum für Wölfe hat „Wolfwalkers" dabei hochaktuelle Themen. Durch den raffinierten Perspektivwechsel der verzauberten Robyn erleben wir mit den Sinnen der Wölfe die Zerstörung der Wälder. Soziologisch zeigen die Bilder gar die traurige Menschheitsgeschichte einer Entfremdung von Natur und marxistisch die Entfremdung der eigenen Arbeitskraft im Zuge der Verstädterung.

Eine Geschichtsstunde über die Besetzung Irlands durch England ist dieses Meisterwerk sowieso. Denn mit dem Lordprotektor ist Oliver Cromwell gemeint, der in Irland grausam Kriegsverbrechen beging. Aber auch hier ist „Wolfwalkers" verblüffend modern: Solche Hassprediger führen immer noch bei Christentum, Islam und anderem religiösen Wahnsinn das Wort. 

Ein Kunstwerk, kluge Geschichten und beste Unterhaltung - „Wolfwalkers" begeistert in jeder Hinsicht groß und klein. Das ist relevante Filmkunst auf dem Niveau wie das – wesentlich umfangreichere - Werk von Hayao Miyazaki („Prinzessin Mononoke").

„Wolfwalkers" (Irland, Luxemburg, Frankreich 2020), Regie: Tomm Moore, 103 Min., FSK: ab 6

14.12.20

I'm Your Woman / Amazon Prime Video


Bei den großen Gangster-Filmen sind die Frauen meist Rand-Figuren. Mal schillernd, mal schmerzlich simplifiziert. Der großartig andere Thriller „I'm Your Woman" nimmt konsequent und packend eine Gegen-Perspektive ein: Jean (Rachel Brosnahan) hat nicht viel Ahnung vom Treiben ihres Mannes Eddie. Sie sitzt gut ausgestattet zuhause und bedauert, kein Kind zu haben. Bis Eddie mit einem Baby im Arm zurückkommt - sie dürfe sich einen Namen aussuchen. Eines Nachts muss Jean mit einer Tasche voller Geld und einem Fremden fliehen. Eddie hat sich mit seinem Boss angelegt und wird von dessen Bande gejagt. Selbst wenn die Ehefrau keine Ahnung hat, muss auch sie sich verstecken.

Nur zwischendurch eine knallharte Gangstergeschichte, zeigt „I'm Your Woman" einen Großteil des Films Warten - und das ist richtig interessant. Jean wird immer wieder Fehler machen. So ist selbst der Besuch einer übermäßig fürsorglichen, neuen Nachbarin spannend. Diese Szenen sind besonders gelungen, da eine unbekannte Gefahr droht. 

Die Rolle der Jean ist nicht ganz eine Solonummer, aber Rachel Brosnahan („The Marvelous Mrs. Maisel") trägt den Film hauptsächlich mit ihrem eindrucksvollen Spiel. In den unterschiedlichen Schlupflöchern kommt die junge Frau zur Ruhe und zu sich selbst. Mit dem „Fluchthelfer" Cal (Arinzé Kene) entwickelt sich eine ungewöhnliche Beziehung: Sie dürfen nicht zu persönlich werden, können es aber nicht vermeiden. Im Laufe des Films zeigen sich noch einige überraschende Verbindungen. Auch Cal ist eine äußerst spannende Figur, hat Erfahrung mit Kindern und raucht die Zigarette, die er immer in der Hand hat, nie. Verblüfft stellt man fest, wie wenig es braucht, um einen Menschen zu charakterisieren – wenn es gut gemacht ist.

Bei intensiver Atmosphäre, guten Songs und reizvollem Dekor im Zeitkolorit der 70er gibt es auch äußerst gelungene Momente der Spannung. Das erinnert deshalb nicht nur in der Mode an John Cassavetes' Klassiker „Gloria" mit seiner Frau Gena Rowlands. „I'm Your Woman" stellt in der Karriere von Regisseurin Julia Hart („Fast Color", „Miss Stevens", „Stargirl") einen neuen Höhepunkt dar.

„I'm Your Woman" (USA 2020), Regie: Julia Hart, mit Rachel Brosnahan, Marsha Stephanie Blake, Arinzé Kene, 120 Min., FSK: ab 16

El Cid / Amazon Prime Video ab 18.12.


Ein Gutes hat der Boom der Streaming-Produzenten: Neben Hollywood bekommen jetzt andere Film-Nationen die Chance auf einen Weltmarkt. Serien wie „Dark" und Filme wie „Unorthodox" stoßen auf internationales Interesse. „Spanien" will nun mit seinem Nationalhelden „El Cid" mitmachen. Schon früh inspirierte der sagenhafte Ritter Rodrigo Díaz de Vivar (1045/50 - 1099) aus niederem Adel die Literatur. 1961 gab es den Historienfilm „El Cid" mit Charlton Heston und Sophia Loren. Die neue Serie stellt sich der Legende mit billiger Ausstattung, schwachem Spiel und trivialer Dramaturgie entgegen.

Während der junge Knappe (Jaime Lorente) als Stallbursche und Ritter in Ausbildung mit der schönen Jimena (Lucía Guerrero) flirtet, streiten sich die Kinder von Ferdinand I., ein Bruder, die Ehefrau und andere Konkurrenten um den Thron von León, Kastilien und Galicien. Es gibt Ziegenställe vor der Kathedrale und viele verschwörerische Blicke von mehrheitlich mäßigen Akteuren. Das wirkt wie Mittelalter-Flohmarkt und Laien-Theater. Dass die Kettenhemden schlecht saßen, mag historisch richtig sein, macht aber vor allem in Zeiten von „Game of Thrones" sehr wenig hier. Erst im Finale der ersten Folge bekommt die Sache etwas Schwung. Aber es vergehen lange weitere, bis bei einer großen Schlacht richtig viele Produktionsmitteln rausgehauen werden. Trotz fünf Stunden Laufzeit kommt die Serie in der ersten Staffel nur bis zum Tod Ferdinands 1065. Der eigentliche Aufstieg von El Cid zum Heerführer für Christen und Araber, zum Herrscher über Valencia soll wohl nächste Staffeln füllen. So bleibt der Auftritt von fortschrittlichem Wissen und Toleranz aus dem Orient ein Versprechen, die mythische Ebene um El Cid, „der mit den Vögeln spricht", eine Andeutung. Nur mit ganz viel Willen, sich über historische Details aufzuregen, sollte man diesen simplen Historien-Schinken aussitzen.

„El Cid" (Spanien 2020), Regie: Federico Cueva, mit Jaime Lorente, Alicia Sanz, José Luis García Pérez, fünf Folgen à 60 Min., FSK: keine Angabe

8.12.20

Fatman / VOD


Fast so alt wie die Weihnachtsgeschichte ist die Geschichte der Anti-Weihnachts-Actionfilme: Die Klassiker reichen von Kinderkram wie „Kevin – Allein zu Haus" bis zu Bösem wie „Bad Santa" mit Billy Bob Thornton. Die Rolle des rauen Weihnachtsmannes übernimmt diesmal der ausgewiesene „Dirty Old Man" Mel Gibson. Sein Chris Cringle verzweifelt an der amoralischen Menschheit. Er liefert aber immer, finanziert von der Regierung, mit Hilfe einer Armee von Elfen pünktlich Geschenke aus. Dieses Jahr muss er nicht nur mit Budget-Kürzungen kämpfen. Ein verzogenes reiches Gör hetzt ihm einen Killer auf den Hals, weil es vom Geschenk enttäuscht war.

„Fatman" ist ein Spaß in der Charakterisierung des deprimierten und übermäßig gerechten Weihnachtsmannes sowie des merkwürdigen Killers mit tiefsitzendem Santa-Hass und Hamsterliebe. Dass in modernen Zeiten die Elfen zwischendurch Waffentechnik produzieren, dass die kleinen Leute mit Kohlenhydrat-Diät (Kekse und Kuchen) sowie 60 Minuten Schlaf am Tag die Muskelmänner beeindrucken, gehört zur netten Verzierung der Action-Geschichte. Die zehn Minuten Geballer von „Mad Chris-Max" könnte man sich schenken. Tatsächlich ist „Fatman" bis auf ein paar originelle Einfälle ziemlich banaler Actionkram mit Lametta und Tannenzweigen. Doch Mel Gibson und seine Weihnachts-Frau Marianne Jean-Baptiste reißen die Sache mit ihren nett gezeichneten Figuren raus. (ghj)

(auf allen gängigen Plattformen)

„Fatman" (Großbritannien, Kanada, USA 2020), Regie: Eshom Nelms, mit Mel Gibson, Walton Goggins, Marianne Jean-Baptiste, 100 Min., FSK: ab 16

7.12.20

The Undoing / Sky



Wenn Bridget Jones das gewusst hätte: Ihr Daniel kann ein ganz fieser Kerl sein... Der charmante Hugh Grant zeigt in der Thriller-Miniserie „The Undoing" unter der exzellenten Regie von Oscar-Gewinnerin Susanne Bier („Love is all you need", „Birdbox") andere Seiten.

Zuerst ist alles glänzend in der Welt der unverschämt Reichen am New Yorker Central Park: Die Therapeutin Grace Fraser (Nicole Kidman) und der Chirurg Jonathan (Hugh Grant) führen immer noch eine lebendige Ehe. Mit trockenem Humor begleitet der Brite ihre Bemühungen, als Helikopter- und Charity-Mutter. Dann verhält sich eine andere, jüngere Mutter der Schule seltsam provokativ gegenüber Grace und wird bald ermordet aufgefunden. Ein Schock für die abgeschottete heile Welt, doch zusätzlich ist Jonathan verschwunden. Grace muss neu definieren, wie sie zu ihrem Ehemann steht.

Nach dem Roman „Du hättest es wissen können" von Jean Hanff Korelitz inszeniert die Dänin Bier ihre Miniserie „The Undoing" äußerst raffiniert: Schon die erste Folge endet mit einem atemberaubenden „Cliffhanger". Bei der zweiten rappelt es dann heftigst in der dramaturgischen Kiste – immer wieder Überraschungen und unglaubliche Szenen. Atemberaubend schaut man an, zu was Menschen fähig sind.

Hugh Grant ist eine Traumbesetzung für die Rolle des gutherzigen Kinder-Onkologen Jonathan. „Für wie charmant halten Sie sich eigentlich?", bemerkt die ebenfalls großartige Figur der Anwältin, um in der Folge diesen Charme vor Gericht einzusetzen. Nicole Kidman, die Veronica Ferres des internationalen Films, ist als Ko-Produzentin zwar das Zugpferd für Trailer und andere Werbung, doch ein eher schwächerer Teil des Films. Mit ihrer berühmten Ausdrucksschwäche wird sie in jeder Szene von Hugh Grant an die Wand gespielt. Sein Gesicht zeigt grandiose Abgründe. Und dann erweist sich Kidmans Film-Vater Donald Sutherland andauernd als „Szenen-Stehler". Ob sein Milliardär Reinhardt kontemplativ im Museum sitzt oder dem Schuldirektor kalt lächelnd erzählt, er sei von einer ganz anderen Generation von Schweinhunden, mit der man sich nicht anlegen wolle. Bis auf die enttäuschende letzte Folge eine fies gute Thriller-Serie.

„The Undoing" (USA 2020), Regie: Susanne Bier, mit Hugh Grant, Nicole Kidman, Donald Sutherland, sechs Folgen à ca. 55 Min., FSK: keine Angabe

The Prom / Netflix ab 11.12.


Hillbillys, Teil 3: Diesmal kommt eine Busladung abgehalfterter Musical-Stars vom Broadway zu den Hinterwäldlern. Es gilt, den Schulball („Prom") von Emma (Jo Ellen Pellman) zu retten, die sich als lesbisch geoutet hat. Die konservative Schulverwaltung kann das zwar nicht verbieten, dafür aber die ganze Party absagen. Ein gefundenes Fressen für Dee Dee Allen (Meryl Streep), Angie Dickinson (Nicole Kidman) und Barry Glickman (James Corden): Die nicht mehr ganz angesagten Broadway-Sänger suchen eine „gute Sache", die ihren Karrieren wieder auf die Sprünge helfen könnte. Selbstrettungs-Maßnahmen wie „We are the world" oder „Band Aid" - nur diesmal mit Lesbierinnen. Wie verzweifelt die Helfer selbst sind, zeigt die Ankunft nach langer Busfahrt: Im wenig glanzvollen Hotel holen sie unerkannt gar ihre Tony-Trophäen aus der Tasche. (Corden bekam ihn 2012 tatsächlich für "One Man, Two Guvnors".) Vergebens – hier gibt es keine Suite, keine Extras.

Als es der weltoffene High-School-Direktor – und Musicalfan - Mr. Hawkins (Keegan-Michael Key) doch eine „diverse" Prom durchboxt, veranstaltet die hinterhältige Elternschulsprecherin (Kerry Washington) heimlich eine Parallel-Party. Jetzt hängen sich die alten Broadway-Schlachtrösser, die erst eigentlich nur ihrem Narzissmus frönen wollten, richtig rein. Nebenbei flirtet Dee Dee mit dem Schuldirektor. Und Barry verarbeitet, dass er nach seinem Coming-out vor Jahrzehnten nicht nur die Prom verpasste, sondern auch von den Eltern rausgeschmissen wurde.

Das Musical „The Prom" macht sich anfangs mit viel Glitzer und Neonfarben über angeblich so weltoffene New Yorker Künstler lustig, die mit großen Solo-Nummern betonen müssen: „Es geht nicht um mich!" Zum Glück ist da auch die bodenständige Emma als wahrer Star. Nach farbenfrohem musikalischem Mobbing in der Turnhalle und munteren Stücken wie „Don't be gay in Indiana" (Sei nicht homo in Indiana) widersetzt sie sich sogar den gängigen Rezepten, mit großen Auftritten Recht zu bekommen. Aber nicht ohne schmissige Einkaufstour mit James Corden und einem Gospel im Einkaufszentrum, um bigotte und homophobe Mitschüler zu bekehren. Das Liebesduett darf nicht fehlen, mit einem ironischen Twist: „Es braucht nur dich und mich - und ein Lied".

Nun ist „The Prom", nach dem gleichnamigen Broadway-Musical von Chad Beguelin, Robert Martin und Matthew Sklar, von der satirischen Bissigkeit her sicher nicht Mel Brooks' „Frühling für Hitler" (The Producers). Aber der Film von Ryan Murphy karikiert das übliche abgehobene und überkandidelte Musical-Theater aufs heftigste, um es dann trefflich und mitreißend wieder anzuwenden. „The Prom" begeistert und macht Spaß, dabei entstehen inmitten aller bunter Banalitäten berührende Geschichtchen, Lieben und Verletzungen. Die Drehbuch-Autoren Ryan Murphy, Bob Martin und Chad Beguelin erklären vor allem über die Figur des Musical-Fans Hawkins den Geist des Genres: Wenn die Gefühle zu groß werden, muss man singen. Um dann nach nur angetäuschter Ignoranz ein herrliches Parade-Beispiel abzuliefern.

Die erstaunliche Newcomerin Jo Ellen Pellman besteht als Emma mit Leichtigkeit und Drew Barrymore-Charme neben James „Carpool-Karaoke" Corden, Oscar-Gewinnerin Meryl Streep und Nicole Kidman, die bei „Moulin Rouge" (2001) das letzte Mal gut gesungen hat. Kidman ist hier allerdings wesentlich besser, weil es mal nicht auf ihre reduzierte Mimik ankommt (siehe „The Undoing"). So schafft es „The Prom", sich bei einer grandios glamourösen Inszenierung wunderbar selbst auf den Arm zu nehmen. Ein großer, bunter Spaß mit viel Herz.

„The Prom" (USA 2020), Regie: Ryan Murphy, mit Meryl Streep, Nicole Kidman, James Corden, Jo Ellen Pellman 126 Min. FSK ab 6

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1.12.20

Uncle Frank / Amazon


Nach „Hillbilly Elegy" schaut sich „Uncle Frank", Publikums-Liebling beim Sundance-Festival, die Gräben zwischen rückständigem Land und offenen Stadtbewohnern an: „Sei wer du sein willst!" Dieser Rat des geliebten Onkel Frank (Paul Bettany) verändert 1969 das Leben der jugendlichen Beth Bledsoe (Sophia Lillis). Vier Jahre später verlässt sie das ländliche Creekville, um in New York zu studieren. Onkel Frank ist dort beliebter Literaturprofessor und lebt zusammen mit seinem langjährigen Partner Wally (Peter Macdissi), wie die etwas unbedarfte Beth langsam entdeckt. Als Franks Vater stirbt, begeben sich die drei auf einen Road Trip in eine noch existente schreckliche Vergangenheit aus Schwulen-Hass, Rassismus und Frauen-Verachtung.

„Uncle Frank" erzählt aus der Perspektive einer jungen Frau mit viel Herz und Verstand, aber ohne Erfahrung. Beth meint tatsächlich, sie hätte noch nie einen Schwulen getroffen, und wird humorvoll über den Gesangslehrer aufgeklärt. Dass ausgerechnet Wally, der Freund aus dem Saudi-Arabien, wo Schwule noch hingerichtet werden, die gefährliche Situation im ländlichen South Carolina nicht ernst nimmt, irritiert etwas. Frank, grandios gespielt von Paul Bettany, zerbricht fast an der testamentarisch festgelegten Verachtung des Vaters und an Resten von Selbsthass. 

Im Happy End der bewegenden, exzellent erzählten Geschichte freut sich die einfältige Schwägerin (Judy Greer) fast hysterisch, dass „Schwule so gut riechen". „Uncle Frank" zeigt sehr viel Verständnis für die zurückgebliebene Familie, aber man will mit den drei anderen Leuten doch schnell wieder nach New York.
 
„Uncle Frank" (USA 2020) Regie: Alan Ball, mit Paul Bettany, Sophia Lillis, Peter Macdissi, 95 Min., FSK: ab 12